Mylène Farmer – ein gut gehütetes Geheimnis

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Mylène Farmer – ein gut gehütetes Geheimnis
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Artikel über Mylène Farmer in: L’Evénement du Jeudi (3.-9.2.2000)
Übersetzung durch Peter Marwitz (März 2000)
Mylène Farmer – ein gut gehütetes Geheimnis
Wer ist sie? Fünfzehn Jahre legt die mysteriöseste aller Stars bereits falsche Fährten aus. Morbide
Neurotikerin? Bei lebendigem Leib Gehäutete? Vortäuscherin? Während ihre Tour fortgesetzt
von Emmanuel Sepchat
wird, wollen wir einen Zipfel des Schleiers lüften.
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er Romantiker Chopin hieß Frédéric-François mit Vornamen. Francesco Barracato hat daraus seinen Bühnennamen gemacht. Der Schauspieler Mel Ferrer hat
Agostino Ferrari beeindruckt. Er wurde Nino Ferrer. Frances Farmer – Hollywood-Star der Jahre 1930 und 40 – wurde mehrere Jahre in psychiatrische Anstalten eingeschlossen, unter Elektroschocks und Insulininjektionen gesetzt, mißhandelt und von
den Pflegern zur Prostitution gezwungen und schließlich einer Lobotomie unterzogen.
Mylène Gauthier beschloß, sich Mylène Farmer zu nennen.
Jenseits der hellen Stimme, hoch und jugendlich, ist es unmöglich, die komplexe
Psychologie von Mylène Farmer zu ignorieren. Ende Januar, anläßlich der NRJ Music
Awards, weinte sie im Fernsehen, von den Emotionen bei der Übergabe ihrer drei
Trophäen überwältigt. Von Gefühlen überwältigt wie auch bei all ihren Konzerten ihrer
aktuellen Mylenium-Tour, bei denen am Ende die Tränen fließen.
Geschlagen, verletzt und mißhandelt in ihren Videoclips, all die Beklemmungen der Seele singend, die Blicke
fliehend und sich vor der Kamera ausziehend, präsentiert Mylène Farmer im großen Stil ein Bild klinischer Symptome. Es ist nicht zuletzt dies, was bei ihr am meisten fasziniert und ihre Bedeutung in der französischen Musikszene
ausmacht: schließlich gehören die öffentlichen Schmerzen von Barbara, die morbiden Doppeldeutigkeiten von
Trenet, der moralische Masochismus von Lama zum geachtetsten Repertoire französischer Musik. Aber wo all die
Mädchen den Mund halten und nur ein paar zarte Schmeicheleien und kleine Verdrießlichkeiten eingestehen, legt
Mylène Farmer den Finger auf unheilvolle Faszinationen, psychische Leiden und gestörte Liebe. Sie bietet
Intensität, Sex, Verwirrung/Bestürzung in allen Variationen.
Mylène Farmer taucht 1984 erstmals mit dem Singen eines Abzählreims in der Region der Top 50 auf: «Un maman
a tort/ Deux c’est beau l’amour/ Trois l’infirmière pleure/ Quatre je l’aime/ Cinq il est d’mon droit/ Six de tout toucher/
Sept j’m’arrête pas là/ Huit j’m’amuse» («Eins – Mama liegt falsch/ Zwei – Liebe ist schön/ Drei – die Schwester weint/
Vier – lieb sie/ Fünf – es ist mein Recht:/ Sechs – alles berührn/ Sieben – da stopp ich nicht/ Acht – macht Spaß»).
Die Türen des Showbiz öffnen sich ihr, auch wenn Maman a tort kein besonders großer Hit ist: 100.000 verkaufte Exemplare im Gegensatz zu den Millionen von Toute première fois von Jeanne Mas. Doch im Vergleich zu den provinziellen Abgründen von Jeanne offenbaren die sapphischen (lesbischen) Eingeständnisse und der Duft der psychiatrischen Anstalt bereits einen deutlichen Unterschied. Und der Geist von Frances Farmer zeigt sich noch klarer:
ein Jahr zuvor, im September 1983, war der Film Frances mit Jessica Lange, der den Leidensweg der amerikanischen
Schauspielerin schilderte, in Frankreich angelaufen.
Nur wenig vorher haben Laurent Boutonnat und Jerôme Dahan, zwei junge Männer, die ihre Karriereanfänge
zwischen Kino und Musik haben, ein Lied geschrieben – Maman a tort. Dahan hat eine Bekannte mit kastanienbraunem Haar, die davon träumt, Schauspielerin zu werden, aber eine Abscheu davor empfindet, sich vor anderen
zu zeigen. Sie ist ein wenig verloren. Sie sagt, keine Erinnerungen an ihre Kindheit in Kanada zu haben – wo sie geboren wurde, weil ihr Vater, Ingenieur, an dem Bau eines Staudammes arbeitete. Ihre Ankunft in Frankreich – in Villed’Avray – im Alter von 10 Jahren, zusammen mit ihren drei Geschwistern, scheint wie eine Traumatisierung. Seitdem
hatte sie kaum einen Weg zur Entfaltung gefunden: viel Reiten, drei Jahre im Schauspielkurs Florent, einige alberne
Modefotos... Boutonnat und Dahan haben mit ihr die Platte aufgenommen. Ein dritter, Bertrand Lepage, hat Mylène
Farmer ins Music Business eingeführt. Dieses Lied, das so zu ihr paßte, hat Mylène dennoch nicht selbst geschrieben: Jerôme Dahan hatte den Text verfaßt, bevor er sie überhaupt kannte. Er hat sich für sie eine Karriere à la
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Françoise Hardy erträumt, eine zerbrechliche Person, verwundet, rassig. Boutonnat und Lepage dachten eher an
Jeanne Mas und ihre flammende Aufmachung. Dahan verläßt die drei noch vor den Aufnahmen zum ersten Album
1986.
Boutonnat wird der Begleiter von Mylène Farmer, ihr Komponist und er lädt sich für die
Presse die Rolle des Pygmalions auf. Lepage ist kultiviert, intelligent, depressiv. Er wird ihr
Manager, ihr Produzent, aber er bleibt im Schatten. Er ist der Älteste des Trios, derjenige, der
seine Bücher, seine Ideen, seine Konzepte teilt. Mylène Gauthier ist nicht aus Bestimmung
Sängerin geworden, sondern per Zufall. Dafür hat sie ihren Namen getauscht und ihre Haare
gefärbt. Sofern sie uns nicht selbst eines Tages darüber aufklärt, wird man niemals wissen, ob
sie etwas von ihrer Persönlichkeit geändert hat, um Mylène Farmer zu werden und ob es wirklich ihre wahren Obsessionen sind, von denen sie singt und die sie zeigt.
Die Jahre mit Lepage sind düstere Jahre. Die 18. Jh.-Clips zu Libertine oder Pourvu
qu’elles soient douces verbergen paradoxerweise ein wenig die Finsternis der sonstigen
Texte – Tod, Reue, Einsamkeit. Als sie 1989 endlich das erste Mal auf Tournee geht, ist sie in
dämmriges Zwielicht eingehüllt, das Bühnenbild erinnert an einen Friedhof.
Ein gewisser mylènischer Mythos stellt sich dort dar. «Trotzdem», erklärt heute Thierry Suc, seit vielen Jahren ihr
Manager und bereits Co-Produzent der ersten Tour, «Edgar A. Poe war nur ein Abschnitt für sie. Seitdem hat sie sich
entwickelt, und ich habe den Eindruck, daß manche bei dem Image (von damals) stehengeblieben sind.» 1989
trennt sie sich in der Tat von Bertrand Lepage. Dieser wird den langsamen Abstieg in die Hölle zwischen Exzessen,
beruflichen Pleiten und Depressionen kennenlernen. Er begeht 1998 Selbstmord.
Was Mylène angeht, so gleitet sie von der schwarzen Messe zum New Age, auch wenn der Film Giorgino, dessen
Gallionsfigur auf den Plakaten sie 1994 ist, diese Weiterentwicklung noch etwas verwischt. Boutonnat trug diese
düstere Geschichte eines verzweifelten Dorfs mitten im Winter schon lange in sich. Die Dreharbeiten spielten sich
unter polarähnlichen Bedingungen in der Slowakei ab; der Film kostete zwischen 55 und 80 Mio. Francs und lief nur
drei Wochen in den Kinos: mit insgesamt 60.309 Besuchern ist er einer der größten finanziellen Fehlschläge des französischen Films.
Der Schock war furchtbar, aber die schwarzen Schleier begannen sich zu heben. Boutonnat wird von nun an nur
noch ihr Komponist sein. Mylène verbringt einige Monate in den Vereinigten Staaten und stürzt sich wieder in die
Arbeit. Knapp ein Jahr später erscheint 1995 die Single XXL und dann das Album «Anamorphosée». Überall steht sie
im Licht: helles Cover, nackte Beine und eine blendende Lightshow auf ihrer zweiten Tournee (Anm. P.M.: Bereits
mit «L’autre...», 1991, deutete sich diese Wende zum Hellen an). Letztes Jahr (1999) berauschte das Album «Innamoramento» die Radios mit zarten/frivolen Refrains, und ihre aktuelle Tour ähnelt manchmal beinahe einem New
Age-Kult (Anm. P.M.: Keine Ahnung, wie der Autor auf diese absurde Assoziation verfallen ist!! Mit „New Age“ hat
Mylènes Musik & Show nichts zu tun.), gebadet in Licht, das unheimlich nach „III. Millennium“ aussieht, obwohl
ihre Show inzwischen auch wieder viele dunkle Momente hat. Mylène war es, die das Gemälde von H.R. Giger (dem
Schöpfer des Monsters von Alien) aussuchte, nach dem die enorme, bewegliche Göttinnen-Statue konstruiert wurde, die die Bühne der Mylenium-Tour beherrscht.
Mylène Farmer ist, auch wenn einige das glauben mögen, niemandes Schöpfung/Marionette. Es ist immer sie, die
entscheidet und alles kontrolliert. «Niemals», stellt Thierry Suc fest, «hat Mylène je irgend etwas gegen ihren Willen
oder gegen ihren Geschmack getan.» Darüber hinaus ist sie unentschlossen. «Dieses Jahr wird es nach Beendigung
der Tournee ein Live-Album geben. Was nächstes Jahr gemacht wird? Ich weiß es nicht», gibt Thierry Suc zu. Und später? «Ich glaube nicht, daß es so bald ein neues Album geben wird, aber noch einmal, ich weiß es nicht.» Weil sie kaum
mit den Medien spricht, nicht mit ihren Fans kommuniziert, sich vom Pariser Leben fern hält und ihre beruflichen
Kontakte auf ein Minimum reduziert, stellt man sie sich zurückgezogen, distanziert vor. Sie zieht es einfach vor, zu
schweigen – und zu arbeiten.
Denn Mylène Farmer ist ein Workaholic, eine Perfektionistin. Andere Künstler ihres Bekanntheitsgrades geben
sich damit zufrieden, der Fertigstellung eines Clips zwei oder drei Stunden zu opfern. Sie nicht. Ihre Regisseure sind
verblüfft von ihrer Verfügbarkeit, ihrer Geduld und Aufmerksamkeit während der mehrtägigen Dreharbeiten. Es ist
nicht etwa ein Double, sondern sie selbst, die sich im Clip zu Je te rends ton amour nackt in eine Blutlache auf den
Boden einer Kirche legt. Und ebenfalls sie, die für XXL stundenlang an eine Dampflokomotive gebunden bleibt.
Es ist wahr, daß es nicht eine gewöhnliche Sängerin ist, die in den Clips erscheint, sondern Charaktere, dargestellte Erzählelemente, lang gereifte Atmosphären. Eine Schauspielerin. Man sendet ihr regelmäßig Drehbücher.
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«Nichts hat ihre Aufmerksamkeit gefesselt», bemerkt Thierry Suc, der diesen Mangel an Inspiration bedauert. Ihren
kurzfilmartigen Clips hingegen mangelt es daran nicht: sie stirbt in Libertine und Tristana, geht in California auf
den Strich, boxt in Je t’aime mélancolie, wird in Beyond my control lebendig verbrannt, in Comme j’ai mal wird ihr
Gewalt angetan. Das ist die leidende Mylène. Aber es gibt hier auch die romantische Persönlichkeit, die die Ordnung
der Dinge in Sans logique oder Désenchantée auf den Kopf stellt, sich in Pourvu qu’elles soient douces als hedonistisch zeigt oder unversehrt der Feuersbrunst von Souviens-toi du jour... entkommt.
So vielfältig/wechselnd, daß es beinahe schon widersprüchlich erscheint. «Das ist sehr wohl sie», sagt Thierry Suc
über ihr Bild in der Öffentlichkeit. «Es ist ein Teil von ihr, mit dem man sich zufriedengeben muß», nuanciert JeanRemy Gaudin-Bridet, der Gründer und Leiter ihres größten Fan-Clubs. Und wenn mal ein wenig von ihrem sonst so
zurückgezogenen Leben zu Tage tritt, ist es zuweilen das Gegenteil von dem Bild, das man sich von ihr macht. So wie
ihre Freundschaft mit Salman Rushdie, den sie bei einer Vernissage in einer Londoner Galerie kennengelernt hat. Sie
sehen sich regelmäßig, und Rushdie ist eigens mit seinen Leibwächtern von London nach Paris geflogen, um ihr
Konzert in Bercy zu besuchen.
Da man von ihr nur das sieht, was sie zeigt, provoziert Mylène Farmer auch leicht Skandale. Letztes Jahr hat sie mit
den Strömen von Blut im Clip von Je te rends ton amour und den Anspielungen auf eine vage abweichende Sexualität (ein Masochismus, der eher auffällig/einmalig ist als krankhaft) die Fernsehsender in Aufruhr versetzt. Gestört?
«Die Schöpfung heilt sicher nicht», stellt sie in einem der besten ihrer seltenen Interviews fest, das sie mit dem belgischen Magazin TéléMoustique geführt hat. «Die Psychoanalyse interessiert mich intellektuell. Man kann ohne Zweifel von seinen Neurosen geheilt werden, aber ich habe Leute gesehen, die nach einer Therapie noch neurotischer
waren als vorher. (...) Selbst, wenn ich eine Analyse gemacht hätte oder gerade machen würde, würde ich es nicht
erzählen. (...) Man muß meinen Erklärungen des Augenblicks mißtrauen. Die Dinge bleiben nicht die gleichen. Das
ist eine der Lehren des Buddhismus.»
Im Einklang mit den aktuellen Strömungen kommt Mylène Farmer auch mit den orientalischen Einsichten in
Berührung. Wie alle diejenigen, bei denen die Kindheit schlecht verheilt ist, ist sie wandelbar und doch immer
ähnlich: die Grundlage, die Art, der Nachweis ihres Unbehagens kann sich entwickeln/verändern, doch der Schmerz
bleibt, beunruhigend, bedrohlich. Aber gezähmt. Genau darin bildet Mylène Farmer eine Einheit mit ihrer Zeit:
nicht genau zu fassen/definieren, schöpft sie trotzdem in jedem Augenblick aus allem, was sie unterstützen/erleichtern kann: Marquis de Sade, Buddhismus, der Tanz, Poe, katholische Symbolik, Egon Schiele... Und scheu, zurückgezogen hinter Tränen oder der Nacktheit eines schönen Körpers, verteidigt sie sich gegen die Erinnerungen und die
Einsamkeit. Dem Blick und den Fragen entflohen. Wie Barbara sagte: sie ist eine Frau, die – eine andere – singt.
Mylène Farmer, geborene Gauthier, 38 Jahre.