Mark Twains Huckleberry Finn als umfassende Gesellschaftskritik
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Mark Twains Huckleberry Finn als umfassende Gesellschaftskritik
Martin Mathes Matrikel-Nummer: 1163218 Elisabethstraße 72 45139 Essen Mark Twains Huckleberry Finn als umfassende Gesellschaftskritik Seminar: Huckleberry Finn, SS 1998 Teilgebiet gem. LPO: B4, B5 Dozent: Herr Dr. F. J. Heinemann 14.03.2010 2 Inhalt 1 Einleitung.....................................................................................................4 2 Hucks Erfahrungen mit der Gesellschaft .....................................................6 2.1 Die Fehde ..............................................................................................6 2.2 Die Boggs Episode ................................................................................8 3 Zwei Halunken, die die Gesellschaft ausnutzen ..........................................9 3.1 Die Versammlung .................................................................................9 3.2 „The Royal Nonesuch”........................................................................10 3.3 Die Erbschaft.......................................................................................11 4 Huck nutzt die Bigotterie der Gesellschaft aus..........................................12 4.1 Das Wrack ...........................................................................................12 4.2 Die Pocken ..........................................................................................13 5 Szenen in denen Neger von der Gesellschaft ausgenutzt werden..............14 5.1 Die Hausdiener der Grangerfords........................................................14 5.2 Die Neger als Teil der Erbschaft .........................................................14 5.3 Neger sind keine Leute........................................................................14 5.4 Neger sehen sich selber als Leute........................................................15 5.5 Jim als Opfer .......................................................................................15 6 Huckleberry Finn als Gesellschaftskritik...................................................16 6.1 Gesellschaft .........................................................................................16 6.2 Religion ...............................................................................................16 6.3 Schwindeleien .....................................................................................17 6.4 Gewalt .................................................................................................17 6.5 Hucks Verhalten ..................................................................................18 7 Schlußbemerkungen ..................................................................................19 8 Literaturverzeichnis ...................................................................................20 3 1 Einleitung Mark Twains Buch ist eine beißend ironische Kritik an der Täuschung und Selbsttäuschung der Gesellschaft durch moralische Institutionen wie Kirche oder Tradition. Viele Kritiker und Leser von Huckleberry Finn befassen sich hauptsächlich mit der Frage „Ist Mark Twain ein Rassist und / oder ist sein Buch Huckleberry Finn ein Buch mit rassistischem Inhalt?“ (vgl. David Lyonel Smith; vgl. Eric Lott). Diese Frage geht meiner Meinung nach am eigentlichen, insgesamt gesellschaftskritischen Inhalt des Buches vorbei oder berührt ihn nur oberflächlich. Ich meine, die Kritik im Buch richtet sich nicht nur gegen die Institution der Sklaverei oder die Sklavenhalter, sondern sie richtete sich gegen die Perversion der moralischen Werte der Gesellschaft der herrschenden weißen Klasse im Süden der Vereinigten Staaten von Amerika, die eine Sklavengesellschaft erst möglich machen. Durch Hucks naive und blauäugige Beschreibungen werden die geschilderten Begebenheiten für den Leser offensichtlich moralisch bigott oder fragwürdig. Das Buch besteht aus zwei Haupthandlungssträngen, der Reise mit dem Floß auf dem Mississippi, während der Huck langsam zu der Erkenntnis gelangt, daß Jim ein menschliches Wesen ist, und verschiedene Episoden am Ufer, in denen Huck Zeuge wird, wie wenig zivilisiert und menschlich fragwürdig sich die herrschenden Weißen benehmen, die Jim zu einem nichtmenschlichen Wesen erklären. Die Handlung beginnt am Ufer, wo Huck von seinem Vater terrorisiert wird, und endet am Ufer in der grotesken „Befreiung“ Jims aus der Sklaverei. Ist das Floß zuerst Hoffnung für beide, die Freiheit zu erlangen, so wird es, nachdem es an der Mündung des Ohio vorbeigetrieben ist, zu einem Vehikel, das in den unabwendbaren Untergang fährt. Eintretende, laßt alle Hoffnung fahren!. (Dante, dritter Gesang) 4 Um diesem Untergang zu entgehen, müssen Huck und Jim eine Möglichkeit finden, das Floß zu verlassen ohne von der Gesellschaft verurteilt zu werden. 5 2 Hucks Erfahrungen mit der Gesellschaft Eine Auswahl aus dem Buch, in denen Huck mit Bigotterie, Selbsttäuschung oder fragwürdiger Moral konfrontiert wird. 2.1 Die Fehde Huck ist als Gast im Haus der Grangerfords aufgenommen worden (Seite 154 ff1) und schildert das Anwesen als seine ideale Vorstellung von stilvollem Leben und seine Bewohner als Idealbilder eines Gentlemans des Südens und seiner Familie. Er sieht in der Behausung der Grangerfords einen zivilisatorischen Glanzpunkt, erwähnt aber in seiner Naivität penibel die angestoßenen Nippesfiguren, die Wachstuchtischdecken und die nicht ganz richtig funktionierende Uhr (Seite 159), die das Bild der Zivilisation etwas fadenscheinig erscheinen lassen. Diesem Idealbild gegenüber, oder vielleicht ist es sogar notwendiges Mittel zur Darstellung aller Höhen und Tiefen der beschriebenen Zivilisation, steht die Fehde mit den Sheperdsons, eine Familie die selbst in den Äußerungen der Grangerfords (Seite 168) keinen anderen Makel hat als eben den, mit den Grangerfords verfeindet zu sein. Next Sunday we all went to church, about three mile, everybody a-horseback. The men took their guns along, so did Buck, and kept them between their knees or stood them handy against the wall. The Sheperdsons done the same. It was pretty ornery preaching - all about brotherly love, and such-like tiresomeness; but everybody said it was a good sermon, and then they all talked it over going home, and had such a powerful lot to say about faith, and good works, and free grace, and preforeordestination, and I don’t know what all, that it seem to me one of the roughest Sundays I had run across yet. (Seite 169) 1 Seitenangaben ohne Zusatz beziehen sich auf Mark Twains Huckleberry Finn 6 Die Schilderung des Kirchenbesuchs erschafft ein Bild, in dem die verfeindeten Familien zusammen in der Kirche sitzen, die Revolver und Flinten griffbereit. Der Priester predigt eindringlich über brüderliche Liebe, was Huck selbst eher ermüdend findet, aber die Grangerfords unterhalten sich noch auf dem Heimweg angeregt darüber und alle sind der Ansicht es wäre eine gute Predigt gewesen (vgl. J. Q. Hays Seite 132). Huck wird auch in die Fehde mit einbezogen, er wird verfolgt nachdem Buck auf Harney Sheperdson geschossen hat (Seite 166). Trotzdem bleibt Huck in dieser mehr als gefährlichen Situation und macht keinen Versuch, von sich aus die Grangerfords zu verlassen. Durch die gemeinsame Flucht von Sophia Grangerford und Harney Sheperdson eskaliert die Fehde zur finalen Konfrontation. Männliche Mitglieder beider Familien treffen aufeinander, um sich gegenseitig umzubringen. Für Gnade oder Versöhnung spricht niemand aus den Familien. Huck erreicht die Stadt, in der die beiden Gruppen aufeinandertreffen erst verspätete. Er erfährt von Buck, daß dessen Vater und Brüder erschossen wurden. Huck wird Zeuge wie sein Freund Buck von Sheperdsons erschossen wird. Den Tod seines Freundes Buck schildert er wie der Zuschauer eines Theaterstückes. Er flieht in die unschuldige, aber offensichtlich zum Untergang verurteilte, Sicherheit des Floßes. Die Moral und Tradition die von den Grangerfords und Sheperdsons vertreten wird, gestattet es sich einerseits eine Predigt über Brüderlichkeit anzuhören, andererseits dabei die Waffen griffbereit zu haben. Nicht einmal die Kirche, im normalen Verständnis ein heiliger Ort des Friedens, wird als solcher respektiert. Zumindest wird damit gerechnet, daß die andere Familie diesen Ort nicht respektiert. Sich gegenseitig umzubringen ohne den Grund dafür zu kennen, wird als normal angesehen. Der eigene Tod wird gleichmütig in Kauf genommen. Das Normale, die Liebe der Sophia Grangerford und des Harney Shepardson wird als verwerflich angesehen. Myra Jehlen sieht in ihrem Aufsatz (Myra Jehlen, Seite 104) Colonel Grangerford als Verkörperung von Hucks Vater in einer übersteigerten, 7 perfektionierten Form. Die eher beiläufige Brutalität von Pap ist in ihm zu einer „zivilisierten“ Form von Gewalt kumuliert. 2.2 Die Boggs Episode In der Episode (Seite 203 ff) tauchen zwei archetypischen Elemente des „Wilden Westens“ auf. Zuerst die Verteidigung der persönliche Ehre ohne Rücksicht auf die Lächerlichkeit und Überzogenheit der Reaktion und dann die Bereitschaft der „braven“ Bürger durch Lynchen diese Tat zu ahnden. Huck ist unbeteiligter Beobachter, bezieht weder Position, noch nimmt er teil am Spektakel. Er wird selbst beiläufiges Opfer von Boggs trunkenen Drohungen. Der Text gibt die Schmähungen des Betrunkenen wieder, genauso wie die Warnung von Colonel Sherburn. Am Rande des Geschehens agieren die Bürger der Stadt, die zu Anfang den, bekanntermaßen harmlosen, Betrunkenen anfeuern und später versuchen, ihn an weiteren Schmähreden zu hindern. Huck ist zu Beginn fasziniert, erwartet wie die anderen Zuschauer ein harmloses Spektakel. Später, als der Colonel kaltblütig den unbewaffneten Boggs erschießt, schildert er dessen letzte Atemzüge genauso distanziert, eher fasziniert fürs Detail als mitleidig, fast wie eine Photographie. Er wird von dem Ausbruch von Gewalt, sowohl der des Colonels als auch der des lynchbereiten Mobs abgestoßen. Trotzdem bleibt er weiter als Zuschauer vor Ort. Die Art und Weise wie der Colonel sich gegen den Mob nur mit Worten verteidigt wird genauso distanziert geschildert wie vorher der Mord. Erst nachdem offensichtlich keine weiteren Ereignisse zu erwarten sind, zieht Huck sich schließlich in die Phantasiewelt des Zirkus’ zurück. 8 3 Zwei Halunken, die die Gesellschaft ausnutzen Szenen in denen der Duke und der King die moralischen Bigotterie ausnutzen um die Bürger zu schröpfen. Die beiden Charaktere, der King und der Duke scheinen im Buch einen Hauptzweck zu erfüllen, Huck in einer Reise nach Art der Göttlichen Komödie die Täuschbarkeit und Schlechtigkeit der Gesellschaft vor Augen zu führen. Trotz ihrer Schwindeleien und moralischen Verdorbenheit, die sowohl Huck (Seite 185) als auch Jim (Seite 196) sehr bald bemerken, entwickelt Huck eine gewisse Sympathie für die beiden, so sehr daß er sogar versucht sie vor dem Teeren und Federn zu warnen (Seite 301), obwohl sie Jim versetzt haben, um sich Geld für Alkohol zu beschaffen. 3.1 Die Versammlung Bei der Schilderung der religiösen Versammlung (Seite 191 ff) wird Twains Gesellschaftskritik besonders deutlich, eigene Erlebnisse verflicht er hier mit moralischen und ethischen Zeiterscheinungen und uramerikanischen Vorurteilen und Weltsichten. Well, the first I knowed, the king got agoing; and you could hear him over everybody; and next he went a-charging up on to the platform and the preacher he begged him to speak to the people, and he done it. He told them he was a pirate - been a pirate for thirty years, out in the Indian Ocean, and his crew was thinned out considerable, last spring, in a fight, and he was home now, to take out some fresh men, and thanks to goodness he’d been robbed last night, and put ashore off of a steam-boat without a cent, and he was glad of it, it was the blessedest thing that ever happened to him, because he was a changed man now, and happy for the first time in his life; and poor as he was, he was going to start right off and work his way back to the Indian Ocean and put the rest of his trying to turn the pirates into the true path; for he could do it better than anybody else, being 9 acquainted with all the pirate crews in that ocean; and though it would take him a long time to get there, without money, he would get there anyway, and every time he convinced a pirate would say to him “Don’t thank me, don’t you give me no credit, it all belongs to them dear people in Pokeville camp-meeting, natural brothers and benefactors of the race - and that dear preacher there, the truest friend a pirate ever had! (Seite 193 f) Die Teilnehmer der Versammlung sind bereit, für eine phantastische Geschichte, deren Präsentator ein völlig Fremder ist, eine beträchtliche Summe zu spenden. Die Gesellschaft ist derartig in ihrer Selbsttäuschung gefangen, daß die Idee einer Hinterfragung tabu ist. Die Versammlung überschüttet den Fremden, der zugibt zu den schlimmsten Verbrechern der Welt zu gehören, mit mehr Freundlichkeit als je ein Schwarzer erwarten kann. Es fällt niemandem ein, den Fremden nach seinem Namen zu fragen, er ist ein Weißer, das reicht. Diese Episode weist auch eine gewisse Parallelität zu der Episode um Hucks Vater (Seite 72 f) auf, in welcher der neue Richter versucht Hucks Vater in einem anständigen Menschen zu verwandeln. Den Mißerfolg kommentiert der Richter so: The judge he felt kind of sore. He said he reckoned a body could reform the ole man with a shot-gun, maybe, but he didn’t know no other way. (Seite 72) 3.2 „The Royal Nonesuch” Die wohl dreisteste Halunkerei des Dukes und des Kings ist die sensationell angekündigte Abendvorstellung mit anscheinend anstößigem Inhalt (Seite 213 ff). Die Beiden nutzen die Sensationsgier der Bürger aus und spekulieren gleichzeitig auf deren Rachegelüste. Das Bild das Twain hier von der Gesellschaft einer Kleinstadt gibt, ist entlarvend. Die Zuschauer 10 des ersten Abends werden eigentlich nur von Neugier und Sensationslust in die Vorstellung gelockt, daß sie den anderen Bürgern nicht die Wahrheit über die Vorstellung sagen wird vom Duke und King als feststehende Tatsache in ihre Pläne mit einbezogen und das sich schließlich alle Bürger, welche die erste Vorstellung und die zweite Vorstellung besucht haben zusammentun um die Halunken zu bestrafen wird von den beiden ebenfalls erwartet (Seite 216). Nur die eigene Schadenfreude der Bürger, die die anderen Bürger nicht warnen, ermöglicht die zweite Vorstellung und nur die Rachlust und Bereitschaft zur Lynchjustiz ermöglicht es den Halunken, noch ein drittes Mal Eintrittsgelder zu kassieren. So ist zwar die erste Untat die der beiden Halunken, aber die folgenden werden nur durch die braven Bürger ermöglicht. 3.3 Die Erbschaft Diese Episode zeigt welche Energie die beiden Halunken bereit sind, aufzubringen, nur um an noch mehr Geld zu gelangen. Ihre bedenkenlos vorgetragenen Lügenmärchen färben auf Huck ab, wobei seine Fähigkeiten ihn hier deutlich im Stich lassen (Seite 236 ff). Die beiden Halunken aber nutzen gnadenlos aus, daß nichts die Gesellschaft mehr täuscht als scheinbare Ehrlichkeit und Vertrauensseligkeit. Ihre Bereitschaft den fehlenden Geldbetrag für die sechstausend Dollar, zufälligerweise die gleiche Summe, die Tom und Huck vom Schatz des Räubers erhalten (Seite 49), beizusteuern, und anschließend das Geld den Töchtern zu übergeben, geschieht in beiderseitigen Einvernehmen, dadurch die Gesellschaft noch mehr für sich einzunehmen. (Seite 230 f). 11 4 Huck nutzt die Bigotterie der Gesellschaft aus Szenen in denen Huck selbst die moralischen Defizite ausnutzt oder davon profitiert, daß die Gesellschaft sich auf fragwürdige Moral gründet. 4.1 Das Wrack Huck versucht in dieser Episode sich an die Normen der Gesellschaft zu halten, auf seine Art. Er und Jim sind der Gang auf dem Wrack entkommen (Seite 126), aber Huck hat Mitleid mit den Halunken, die auf dem, dem Untergang geweihten, Wrack gestrandet sind (Seite 127). Als vom Floß aus am Ufer eine Ansiedlung zu sehen ist (Seite 128), rudert Huck ans Ufer, um jemanden zu finden, der zum Wrack fährt. Da er nicht die Wahrheit über sich erzählen will, spinnt er eine Lügengeschichte. In diese flicht er geschickt die beiläufigen Informationen ein, die ihm sein Gesprächspartner, der Betreiber eines Fährbootes, gibt (Seite 129). Um seine Absicht zu erreichen behauptet er schließlich, auf dem Wrack befände sich eine Verwandte eines reichen Bürgers der Stadt. Diesem Anreiz kann der Fährmann nicht widerstehen und startet zu einer Rettungsfahrt. Es ist offensichtlich, daß der Fährmann nicht aus purer Hilfsbereitschaft bereit ist zum Wrack zu fahren (Seite 130). Erst der Anreiz, die Verwandte eines reichen Bürgers zu retten, also die Aussicht auf eine hohe Belohnung, stimmt ihn um. Hucks Bemühungen sind schließlich aber doch nicht erfolgreich, da das Wrack sich im Sturm und wegen der starken Strömung losgerissen hat, und flußabwärts treibt (Seite 131). Es liegt so tief im Wasser, daß nach Hucks Meinung, kaum jemand an Bord überlebt hat. Das Fährboot umkreist zwar das Wrack, kommt aber nicht nahe genug heran, um sicher daran festzumachen. Nach einiger Zeit gibt der Fährbootkapitän auf, wohl auch aus Sorge um die eigene Sicherheit. 12 4.2 Die Pocken Eine Gesellschaft an der Grenze der Zivilisation lebt von der gegenseitigen Hilfsbereitschaft und dieses Ideal wird auch von den religiösen Gemeinschaften der weißen amerikanischen Gesellschaft laut gepredigt. Die Furcht vor Ansteckung läßt die beiden Männer im Ruderboot (Seite 147 ff) aber fast jegliche Hilfsbereitschaft vergessen. Ihr Rat, wie sich Huck stromabwärts verhalten soll, um seine Chancen zu erhöhen, Hilfe zu erhalten, mutet an wie das St. Florians Prinzip: „Heiliger Sankt Florian, verschon mein Haus, zünd’ andere an!“ Es kümmert sie nicht, daß dann die Gemeinde flußabwärts eventuell von der Krankheit heimgesucht wird, wenn die Erkrankten dort landen würden. Hucks Aufbau dieser Lügengeschichte um die angeblichen Kranken auf dem Floß ergibt nur dann Sinn, wenn ihm von vornherein klar ist, daß die Reaktion der Männer so und nicht anders sein wird. Das Huck am Ende mit zwanzig Dollar in Gold auf das Floß zurückkehrt, ist dem eher hilflosen Versuch der beiden Männer zuzuschreiben, ihre Angst vor Ansteckung durch eine großzügige Geste zu kaschieren. 13 5 Szenen in denen Neger von der Gesellschaft ausgenutzt werden Twain schildert das Sklavendasein der Schwarzen nur beiläufig, aber beschreibt treffend ihre Entmenschlichung durch die weiße Gesellschaft. 5.1 Die Hausdiener der Grangerfords Die Schilderung des Reichtums geschieht viel ausführlicher als die wenige Verweise auf die schwarzen Sklaven der Familie. Die Zahl der insgesamt der Familie gehörenden Sklaven, über einhundert, wird als Maß des Reichtums angegeben.. Huck wird ein Neger als Leibsklave zugeteilt (Seite 165), den er auch konsequent als seinen Neger bezeichnet (Seite 170). Die genauen Aufgaben der Leibsklaven schildert er nicht, bemerkt dazu aber, daß sein Sklave nicht viel zu tun habe, weil er, Huck, es nicht gewohnt sei. Der Sklave seines Freundes Buck, habe es da viel schwerer und müsse ständig auf den Sprung sein. 5.2 Die Neger als Teil der Erbschaft Die Neger werden die ganze Zeit nur als Besitz und Wert betrachte, erst als Huck den Verdacht aufbringt, sie hätten das Geld (Seite 249), werden sie vom Duke und King als Menschen angesehen. Die beiden Halunken bewundern das, vermeintliche, schauspielerische Talent der Neger. Der Leser wird durch Hucks Gedanken darauf hingewiesen, daß die Sklaven in Wirklichkeit doppelte Opfer sind. 5.3 Neger sind keine Leute Als Huck die Identität von Tom annimmt, erklärt er sein verspätetes Ankommen mit einem Unfall des Dampfers auf dem er reiste (Seite 290 f). Er erzählt, der Dampfer wäre auf Grund gelaufen und um nicht den Namen der Sandbank nennen zu müssen, baut er die Geschichte sofort weiter auf, indem er hinzufügt, ein Zylinderkopf wäre explodiert. ‘It warn’t the grounding - that didn’t keep us back but a little. We blowed out a cylinder-head.’ 14 ‘Good gracious! Anybody hurt?’ ‘No’m. Killed a nigger.’ ‘Well, it’s lucky; because sometimes people do get hurt.’ Es wird nicht gefragt ob es ein Sklave oder ein freier Neger war, von denen es auch im Süden einige gegeben hat (Bruce Collins, Seite 45), sondern es wird nur unterschieden zwischen Leuten und Negern. Den Negern wird hierbei nicht der Status eines empfindungsfähigen Wesens zugebilligt. Es ist auffällig, daß Huck hier, entgegen seiner Erfahrung und seinen Gefühlen für Jim, den er schon viel früher (Seite 186) als „people“ (Leute) bezeichnet, den rassistischen Standpunkt von Pap (Seite 78) vertritt. 5.4 Neger sehen sich selber als Leute In der Episode um die religiöse Versammlung (Seite 191), treffen Huck, der Duke und der King als einzigen anwesenden Bewohner der Ortschaft einen alten, kranken Neger. When we got there, there warn’t nobody stirring; streets empty, and perfectly dead and still, like Sunday. We found a sick nigger sunning himself in a back yard, and he said everybody that warn’t too young or too sick or too old, was gone to campmeeting, about two miles back in the woods. (Seite 191) In dieser Aussage des Negers werden auch die Neger zu den Bewohnern der Stadt gerechnet. Twain zeigt hier, daß die Neger sich als Teil der Gesellschaft wahrnehmen. 5.5 Jim als Opfer Jim wird zum Schluß Opfer. Er wird zur Marionette der Phantasie von Tom Sawyer. Alle Versuche Jims und Hucks, der Lächerlichkeit seiner Pläne zu entgehen, werden durch Toms Enthusiasmus hinweggefegt (Seite 307 ff). Im ganzen Buch ist Jim selten so hilflos wie während der „Befreiung“ durch Tom und Huck. 15 6 Huckleberry Finn als Gesellschaftskritik 6.1 Gesellschaft Twain stellt eine Gesellschaftsstruktur vor, deren herrschende Klasse die Neger als Individuen nicht wahrnimmt. Dabei ist es egal, ob ein Weißer selber Sklaven besitzt oder nicht, denn nur 30 % der Weißen in den Südstaaten waren selber Sklavenhalter (Collins, Seite 48). Individualität erlangen Neger nur wenn sie fliehen, dann wird ein Steckbrief von ihnen erstellt (Seite 195). Selbst Huck, in dem sich während der Reise die Erkenntnis entwickelt, daß Jim ein Individuum ist, beschränkt diese Erkenntnis meistens auf diesen einen, speziellen Fall. Die Neger sehen sich als unterdrückten Teil der Gesellschaft. Ihnen ist bewußt, daß sie in der weißen Gesellschaft des Südens kaum Fürsprecher haben. In letzter Konsequenz sind sie bereit sich auch gegen die unmenschlichen Normen der Gesellschaft zu stellen. Jim will, wenn er in Sicherheit ist, versuchen seine Frau und Kinder ebenfalls zu befreien (Seite 145 f). Wenn möglich mit legalen Mitteln, also nach den Normen einer Gesellschaft die ihm entmenschlicht hat, aber wenn dieses nicht möglich ist, auch mit illegalen Mitteln. 6.2 Religion Die im Buch beschriebene Selbsttäuschung und Bereitschaft, blauäugig auf Lügenmärchen hereinzufallen, solange sie nur mit dem richtigen Reflexwörtern wie „neuer Mensch“, „geläuterter Sünder“, „zurück auf den Pfad der Tugend“ etc. gespickt sind, scheint Mark Twain als eine der Schwächen seiner Gesellschaft aufzufassen, da er gleich zwei solche Szenen in dem Buch schildert. Mark Twain hat in seiner Jugend selber an solchen „Meetings“ (Seite 193) teilgenommen und später darüber berichtet (vgl. The Autobiography of Markt Twain, Seite 90 und S 279 f). Solche Versammlungen überzogen die USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in regelrechten Wellen, wobei die Ausrichtung nach einzelnen Bekenntnissen wohl eher diffus war. Die 16 großen Kirchen, seien es nun Baptisten, Methodisten oder auch Katholiken, waren intern in verschiedene Flügel gespalten und hatten sowohl Befürworter der Sklaverei als auch deren Gegner in ihren Reihen (vgl. Bruce Collins, Seite 11 f). Die Kirchen in den Nordstaaten waren eher gegen die Sklaverei, die in den Südstaaten eher dafür. Twains Familie war nicht übermäßig religiös oder auch nur enger an eine Kirche gebunden (vgl. John Q. Hays, Seite 7 f). Den verschiedenen Bekenntnissen, religiösen Bewegungen oder auch mystizistischen Auswüchsen, mit denen Twain in Hannibal in Kontakt kam, stand er eher skeptisch und distanziert gegenüber. John Q. Hays (vgl. J. Q. Hays Seite 122 ff) postuliert für Twains eigene Weltsicht eine Mischung und auch einen Widerstreit aus Erleuchtung und Calvinismus und sieht diesen inneren Konflikt, materialisiert in seinem Meisterstück Huckleberry Finn. 6.3 Schwindeleien Ein weiteres, mehrmals vorkommendes, Handlungselement ist die Ermöglichung eines noch größeren Betruges oder einer Schwindelei durch die Niedertracht und üblen Absichten derjenigen, die zuerst getäuscht werden. Sei es nun Hucks erfundene Pockenerkrankung seiner Familie auf dem Floß, die ihm zwanzig Dollar einbringt oder die zwei weiteren Vorstellungen des „Royal Nonesuch“ des Dukes und des Kings, die nur deshalb Zuschauer anlocken, weil die eine Gruppe die anderen nicht warnt und dann alle die beiden Ganoven bestrafen wollen. 6.4 Gewalt Im Buch wird Huck mehrmals Zeuge von Gewalt, die ohne Anlaß ausbricht, und sich dann ohne Maß bahnbricht. Sei es die Fehde der Grangerfords und Sheperdsons, der kaltblütig einen betrunkenen erschießende Colonel Sherburn, der Mob der daraufhin versucht den Colonel zu lynchen oder der Mob der schließlich den Duke und den King 17 teert und federt. In all diesen Fällen ist Hucks Beschreibung distanziert, egal wie sehr er persönlich betroffen ist. 6.5 Hucks Verhalten Hucks Verhalten in vielen Situationen ist als direkte Antithese zum vorherrschenden gesellschaftlichen Verhalten gesetzt. Sei es im Grundkonflikt der Geschichte, ein Weißer, der einem Neger bei der Flucht hilft, oder bei der Kirchenepisode, in der Huck im Gegensatz zu den schießwütigen Grangerfords und Sheperdsons nicht begeistert von der Predigt sprich. Es ist Huck, der die amerikanischen Ideale, Freiheit und Hilfsbereitschaft auslebt. Er versucht selbst für die Schurken auf dem Wrack eine Rettung zu organisieren. Hucks Reaktion erscheint also oft als ein Vehikel für Twains Kritik an der Gesellschaft. 18 7 Schlußbemerkungen Die umfassende Gesellschaftskritik überwiegt im Buch, sowohl inhaltlich als auch künstlerisch gegenüber der Kritik oder auch nur der Beschäftigung mit dem Problem der Sklaverei. Hucks und Jims Reise hinab in die „Hölle“ (vgl. Dante) wird zu einer Bestandsaufnahme der Gesellschaft, wie sie Twain erscheint. Die Aberwitzigkeit, sowohl der Vorstellung, ein entflohener Sklave „fliehe“ tiefer in den Süden, als auch der Versuche Hucks, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, deren Werten er immer weniger traut, deren Werte sich ihm immer mehr als Fassade zeigen, wenn nur jemand ihn hinter die Kulissen schauen läßt. Diese Rolle übernehmen der Duke und der King, die zwar von Huck als Schurken erkannt werden, deren Entlarvung er aber aus Sorge um seine und Jims Sicherheit verhindert. Hucks Komplizenschaft mit den Schurken mag eine Andeutung für Twains Gefühl der eigenen Verstrickung in die Sklavenhaltergesellschaft des Südens sein. Janet A. Rich meint in ihrer Dissertation (J. A. Rich, Seite 207 f), daß der Versuch, den King und den Duke vor dem Teeren und Federn zu warnen (Seite 301 f), aus der wachsenden Selbsterkenntnis Hucks entsteht. Er erkennt mit der Zeit, daß er selber als Teil der weißen Gesellschaft ebenso schuldig ist wie die beiden, da er direkt oder indirekt von der Sklaverei profitiert hat. Sie meint also, Twain setzt die Hilflosigkeit der Sklaven gegen ihr Schicksal mit der Hilflosigkeit der Bürger gegenüber den Halunken gleich. 19 8 Literaturverzeichnis Mark Twain: The Adventures of Huckleberry Finn. London, Penguin, 1985 Charles Neider (ed.): The Autobiography of Markt Twain. New York, Harper, 1959 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Eduard Kaiser Forrest G. Robinson (ed.): The Cambridge Companion to Twain. Cambridge, Cambridge University, 1995 Myra Jehlen: Banned in Concord: Adventures of Huckleberry Finn and Classic American Literature. In: The Cambridge Companion to Twain, Seite 93 - 115 David Lyonel Smith: Black Critics and Mark Twain. In: The Cambridge Companion to Twain, Seite 116 - 128 Eric Lott: Mr. Clemens and Jim Crow: Twain, Race, and Blackface. In: The Cambridge Companion to Twain, Seite 129 - 152 Janet A. Rich: The Dream of Riches and the Dream of Art. New York & London, Garland, 1987 John Q. Hays: Mark Twain and Religion. New York, Bern, Frankfurt, Paris, Peter Lang, 1988 Bruce Collins: The Origins of America’s Civil War. London, Edward Arnold, 1981 20