Mark Twains Huckleberry Finn als umfassende Gesellschaftskritik

Transcrição

Mark Twains Huckleberry Finn als umfassende Gesellschaftskritik
Martin Mathes
Matrikel-Nummer: 1163218
Elisabethstraße 72
45139 Essen
Mark Twains Huckleberry Finn
als umfassende Gesellschaftskritik
Seminar: Huckleberry Finn, SS 1998
Teilgebiet gem. LPO: B4, B5
Dozent: Herr Dr. F. J. Heinemann
14.03.2010
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Inhalt
1 Einleitung.....................................................................................................4
2 Hucks Erfahrungen mit der Gesellschaft .....................................................6
2.1 Die Fehde ..............................................................................................6
2.2 Die Boggs Episode ................................................................................8
3 Zwei Halunken, die die Gesellschaft ausnutzen ..........................................9
3.1 Die Versammlung .................................................................................9
3.2 „The Royal Nonesuch”........................................................................10
3.3 Die Erbschaft.......................................................................................11
4 Huck nutzt die Bigotterie der Gesellschaft aus..........................................12
4.1 Das Wrack ...........................................................................................12
4.2 Die Pocken ..........................................................................................13
5 Szenen in denen Neger von der Gesellschaft ausgenutzt werden..............14
5.1 Die Hausdiener der Grangerfords........................................................14
5.2 Die Neger als Teil der Erbschaft .........................................................14
5.3 Neger sind keine Leute........................................................................14
5.4 Neger sehen sich selber als Leute........................................................15
5.5 Jim als Opfer .......................................................................................15
6 Huckleberry Finn als Gesellschaftskritik...................................................16
6.1 Gesellschaft .........................................................................................16
6.2 Religion ...............................................................................................16
6.3 Schwindeleien .....................................................................................17
6.4 Gewalt .................................................................................................17
6.5 Hucks Verhalten ..................................................................................18
7 Schlußbemerkungen ..................................................................................19
8 Literaturverzeichnis ...................................................................................20
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1 Einleitung
Mark Twains Buch ist eine beißend ironische Kritik an der Täuschung
und Selbsttäuschung der Gesellschaft durch moralische Institutionen wie
Kirche oder Tradition.
Viele Kritiker und Leser von Huckleberry Finn befassen sich
hauptsächlich mit der Frage „Ist Mark Twain ein Rassist und / oder ist sein
Buch Huckleberry Finn ein Buch mit rassistischem Inhalt?“ (vgl. David
Lyonel Smith; vgl. Eric Lott). Diese Frage geht meiner Meinung nach am
eigentlichen, insgesamt gesellschaftskritischen Inhalt des Buches vorbei
oder berührt ihn nur oberflächlich. Ich meine, die Kritik im Buch richtet sich
nicht nur gegen die Institution der Sklaverei oder die Sklavenhalter, sondern
sie richtete sich gegen die Perversion der moralischen Werte der
Gesellschaft der herrschenden weißen Klasse im Süden der Vereinigten
Staaten von Amerika, die eine Sklavengesellschaft erst möglich machen.
Durch
Hucks
naive
und
blauäugige
Beschreibungen
werden
die
geschilderten Begebenheiten für den Leser offensichtlich moralisch bigott
oder fragwürdig. Das Buch besteht aus zwei Haupthandlungssträngen, der
Reise mit dem Floß auf dem Mississippi, während der Huck langsam zu der
Erkenntnis gelangt, daß Jim ein menschliches Wesen ist, und verschiedene
Episoden am Ufer, in denen Huck Zeuge wird, wie wenig zivilisiert und
menschlich fragwürdig sich die herrschenden Weißen benehmen, die Jim zu
einem nichtmenschlichen Wesen erklären. Die Handlung beginnt am Ufer,
wo Huck von seinem Vater terrorisiert wird, und endet am Ufer in der
grotesken „Befreiung“ Jims aus der Sklaverei. Ist das Floß zuerst Hoffnung
für beide, die Freiheit zu erlangen, so wird es, nachdem es an der Mündung
des Ohio vorbeigetrieben ist, zu einem Vehikel, das in den unabwendbaren
Untergang fährt.
Eintretende, laßt alle Hoffnung fahren!.
(Dante, dritter Gesang)
4
Um diesem Untergang zu entgehen, müssen Huck und Jim eine
Möglichkeit finden, das Floß zu verlassen ohne von der Gesellschaft
verurteilt zu werden.
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2 Hucks Erfahrungen mit der Gesellschaft
Eine Auswahl aus dem Buch, in denen Huck mit Bigotterie,
Selbsttäuschung oder fragwürdiger Moral konfrontiert wird.
2.1 Die Fehde
Huck ist als Gast im Haus der Grangerfords aufgenommen worden
(Seite 154 ff1) und schildert das Anwesen als seine ideale Vorstellung von
stilvollem Leben und seine Bewohner als Idealbilder eines Gentlemans des
Südens und seiner Familie. Er sieht in der Behausung der Grangerfords
einen zivilisatorischen Glanzpunkt, erwähnt aber in seiner Naivität penibel
die angestoßenen Nippesfiguren, die Wachstuchtischdecken und die nicht
ganz richtig funktionierende Uhr (Seite 159), die das Bild der Zivilisation
etwas fadenscheinig erscheinen lassen.
Diesem Idealbild gegenüber, oder vielleicht ist es sogar notwendiges
Mittel zur Darstellung aller Höhen und Tiefen der beschriebenen
Zivilisation, steht die Fehde mit den Sheperdsons, eine Familie die selbst in
den Äußerungen der Grangerfords (Seite 168) keinen anderen Makel hat als
eben den, mit den Grangerfords verfeindet zu sein.
Next Sunday we all went to church, about three mile,
everybody a-horseback. The men took their guns along, so did
Buck, and kept them between their knees or stood them handy
against the wall. The Sheperdsons done the same. It was pretty
ornery preaching - all about brotherly love, and such-like
tiresomeness; but everybody said it was a good sermon, and
then they all talked it over going home, and had such a powerful
lot to say about faith, and good works, and free grace, and
preforeordestination, and I don’t know what all, that it seem to
me one of the roughest Sundays I had run across yet.
(Seite 169)
1
Seitenangaben ohne Zusatz beziehen sich auf Mark Twains Huckleberry Finn
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Die Schilderung des Kirchenbesuchs erschafft ein Bild, in dem die
verfeindeten Familien zusammen in der Kirche sitzen, die Revolver und
Flinten griffbereit. Der Priester predigt eindringlich über brüderliche Liebe,
was Huck selbst eher ermüdend findet, aber die Grangerfords unterhalten
sich noch auf dem Heimweg angeregt darüber und alle sind der Ansicht es
wäre eine gute Predigt gewesen (vgl. J. Q. Hays Seite 132). Huck wird auch
in die Fehde mit einbezogen, er wird verfolgt nachdem Buck auf Harney
Sheperdson geschossen hat (Seite 166). Trotzdem bleibt Huck in dieser
mehr als gefährlichen Situation und macht keinen Versuch, von sich aus die
Grangerfords zu verlassen.
Durch die gemeinsame Flucht von Sophia Grangerford und Harney
Sheperdson eskaliert die Fehde zur finalen Konfrontation. Männliche
Mitglieder beider Familien treffen aufeinander, um sich gegenseitig
umzubringen. Für Gnade oder Versöhnung spricht niemand aus den
Familien. Huck erreicht die Stadt, in der die beiden Gruppen
aufeinandertreffen erst verspätete. Er erfährt von Buck, daß dessen Vater
und Brüder erschossen wurden. Huck wird Zeuge wie sein Freund Buck von
Sheperdsons erschossen wird. Den Tod seines Freundes Buck schildert er
wie der Zuschauer eines Theaterstückes. Er flieht in die unschuldige, aber
offensichtlich zum Untergang verurteilte, Sicherheit des Floßes.
Die Moral und Tradition die von den Grangerfords und Sheperdsons
vertreten wird, gestattet es sich einerseits eine Predigt über Brüderlichkeit
anzuhören, andererseits dabei die Waffen griffbereit zu haben. Nicht einmal
die Kirche, im normalen Verständnis ein heiliger Ort des Friedens, wird als
solcher respektiert. Zumindest wird damit gerechnet, daß die andere Familie
diesen Ort nicht respektiert. Sich gegenseitig umzubringen ohne den Grund
dafür zu kennen, wird als normal angesehen. Der eigene Tod wird
gleichmütig in Kauf genommen. Das Normale, die Liebe der Sophia
Grangerford und des Harney Shepardson wird als verwerflich angesehen.
Myra Jehlen sieht in ihrem Aufsatz (Myra Jehlen, Seite 104) Colonel
Grangerford als Verkörperung von Hucks Vater in einer übersteigerten,
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perfektionierten Form. Die eher beiläufige Brutalität von Pap ist in ihm zu
einer „zivilisierten“ Form von Gewalt kumuliert.
2.2 Die Boggs Episode
In der Episode (Seite 203 ff) tauchen zwei archetypischen Elemente des
„Wilden Westens“ auf. Zuerst die Verteidigung der persönliche Ehre ohne
Rücksicht auf die Lächerlichkeit und Überzogenheit der Reaktion und dann
die Bereitschaft der „braven“ Bürger durch Lynchen diese Tat zu ahnden.
Huck ist unbeteiligter Beobachter, bezieht weder Position, noch nimmt
er teil am Spektakel. Er wird selbst beiläufiges Opfer von Boggs trunkenen
Drohungen. Der Text gibt die Schmähungen des Betrunkenen wieder,
genauso wie die Warnung von Colonel Sherburn. Am Rande des
Geschehens agieren die Bürger der Stadt, die zu Anfang den,
bekanntermaßen harmlosen, Betrunkenen anfeuern und später versuchen,
ihn an weiteren Schmähreden zu hindern. Huck ist zu Beginn fasziniert,
erwartet wie die anderen Zuschauer ein harmloses Spektakel. Später, als der
Colonel kaltblütig den unbewaffneten Boggs erschießt, schildert er dessen
letzte Atemzüge genauso distanziert, eher fasziniert fürs Detail als mitleidig,
fast wie eine Photographie. Er wird von dem Ausbruch von Gewalt, sowohl
der des Colonels als auch der des lynchbereiten Mobs abgestoßen. Trotzdem
bleibt er weiter als Zuschauer vor Ort. Die Art und Weise wie der Colonel
sich gegen den Mob nur mit Worten verteidigt wird genauso distanziert
geschildert wie vorher der Mord. Erst nachdem offensichtlich keine weiteren
Ereignisse zu erwarten sind, zieht Huck sich schließlich in die Phantasiewelt
des Zirkus’ zurück.
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3 Zwei Halunken, die die Gesellschaft ausnutzen
Szenen in denen der Duke und der King die moralischen Bigotterie
ausnutzen um die Bürger zu schröpfen.
Die beiden Charaktere, der King und der Duke scheinen im Buch einen
Hauptzweck zu erfüllen, Huck in einer Reise nach Art der Göttlichen
Komödie die Täuschbarkeit und Schlechtigkeit der Gesellschaft vor Augen
zu führen. Trotz ihrer Schwindeleien und moralischen Verdorbenheit, die
sowohl Huck (Seite 185) als auch Jim (Seite 196) sehr bald bemerken,
entwickelt Huck eine gewisse Sympathie für die beiden, so sehr daß er sogar
versucht sie vor dem Teeren und Federn zu warnen (Seite 301), obwohl sie
Jim versetzt haben, um sich Geld für Alkohol zu beschaffen.
3.1 Die Versammlung
Bei der Schilderung der religiösen Versammlung (Seite 191 ff) wird
Twains Gesellschaftskritik besonders deutlich, eigene Erlebnisse verflicht er
hier
mit
moralischen
und
ethischen
Zeiterscheinungen
und
uramerikanischen Vorurteilen und Weltsichten.
Well, the first I knowed, the king got agoing; and you could
hear him over everybody; and next he went a-charging up on to
the platform and the preacher he begged him to speak to the
people, and he done it. He told them he was a pirate - been a
pirate for thirty years, out in the Indian Ocean, and his crew
was thinned out considerable, last spring, in a fight, and he was
home now, to take out some fresh men, and thanks to goodness
he’d been robbed last night, and put ashore off of a steam-boat
without a cent, and he was glad of it, it was the blessedest thing
that ever happened to him, because he was a changed man now,
and happy for the first time in his life; and poor as he was, he
was going to start right off and work his way back to the Indian
Ocean and put the rest of his trying to turn the pirates into the
true path; for he could do it better than anybody else, being
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acquainted with all the pirate crews in that ocean; and though it
would take him a long time to get there, without money, he
would get there anyway, and every time he convinced a pirate
would say to him “Don’t thank me, don’t you give me no credit,
it all belongs to them dear people in Pokeville camp-meeting,
natural brothers and benefactors of the race - and that dear
preacher there, the truest friend a pirate ever had!
(Seite 193 f)
Die Teilnehmer der Versammlung sind bereit, für eine phantastische
Geschichte, deren Präsentator ein völlig Fremder ist, eine beträchtliche
Summe zu spenden. Die Gesellschaft ist derartig in ihrer Selbsttäuschung
gefangen, daß die Idee einer Hinterfragung tabu ist. Die Versammlung
überschüttet den Fremden, der zugibt zu den schlimmsten Verbrechern der
Welt zu gehören, mit mehr Freundlichkeit als je ein Schwarzer erwarten
kann. Es fällt niemandem ein, den Fremden nach seinem Namen zu fragen,
er ist ein Weißer, das reicht.
Diese Episode weist auch eine gewisse Parallelität zu der Episode um
Hucks Vater (Seite 72 f) auf, in welcher der neue Richter versucht Hucks
Vater in einem anständigen Menschen zu verwandeln. Den Mißerfolg
kommentiert der Richter so:
The judge he felt kind of sore. He said he reckoned a body
could reform the ole man with a shot-gun, maybe, but he didn’t
know no other way.
(Seite 72)
3.2 „The Royal Nonesuch”
Die wohl dreisteste Halunkerei des Dukes und des Kings ist die
sensationell angekündigte Abendvorstellung mit anscheinend anstößigem
Inhalt (Seite 213 ff). Die Beiden nutzen die Sensationsgier der Bürger aus
und spekulieren gleichzeitig auf deren Rachegelüste. Das Bild das Twain
hier von der Gesellschaft einer Kleinstadt gibt, ist entlarvend. Die Zuschauer
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des ersten Abends werden eigentlich nur von Neugier und Sensationslust in
die Vorstellung gelockt, daß sie den anderen Bürgern nicht die Wahrheit
über die Vorstellung sagen wird vom Duke und King als feststehende
Tatsache in ihre Pläne mit einbezogen und das sich schließlich alle Bürger,
welche die erste Vorstellung und die zweite Vorstellung besucht haben
zusammentun um die Halunken zu bestrafen wird von den beiden ebenfalls
erwartet (Seite 216). Nur die eigene Schadenfreude der Bürger, die die
anderen Bürger nicht warnen, ermöglicht die zweite Vorstellung und nur die
Rachlust und Bereitschaft zur Lynchjustiz ermöglicht es den Halunken, noch
ein drittes Mal Eintrittsgelder zu kassieren. So ist zwar die erste Untat die
der beiden Halunken, aber die folgenden werden nur durch die braven
Bürger ermöglicht.
3.3 Die Erbschaft
Diese Episode zeigt welche Energie die beiden Halunken bereit sind,
aufzubringen, nur um an noch mehr Geld zu gelangen. Ihre bedenkenlos
vorgetragenen Lügenmärchen färben auf Huck ab, wobei seine Fähigkeiten
ihn hier deutlich im Stich lassen (Seite 236 ff). Die beiden Halunken aber
nutzen gnadenlos aus, daß nichts die Gesellschaft mehr täuscht als
scheinbare Ehrlichkeit und Vertrauensseligkeit. Ihre Bereitschaft den
fehlenden Geldbetrag für die sechstausend Dollar, zufälligerweise die
gleiche Summe, die Tom und Huck vom Schatz des Räubers erhalten (Seite
49), beizusteuern, und anschließend das Geld den Töchtern zu übergeben,
geschieht in beiderseitigen Einvernehmen, dadurch die Gesellschaft noch
mehr für sich einzunehmen. (Seite 230 f).
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4 Huck nutzt die Bigotterie der Gesellschaft aus
Szenen in denen Huck selbst die moralischen Defizite ausnutzt oder
davon profitiert, daß die Gesellschaft sich auf fragwürdige Moral gründet.
4.1 Das Wrack
Huck versucht in dieser Episode sich an die Normen der Gesellschaft zu
halten, auf seine Art. Er und Jim sind der Gang auf dem Wrack entkommen
(Seite 126), aber Huck hat Mitleid mit den Halunken, die auf dem, dem
Untergang geweihten, Wrack gestrandet sind (Seite 127).
Als vom Floß aus am Ufer eine Ansiedlung zu sehen ist (Seite 128),
rudert Huck ans Ufer, um jemanden zu finden, der zum Wrack fährt. Da er
nicht die Wahrheit über sich erzählen will, spinnt er eine Lügengeschichte.
In diese flicht er geschickt die beiläufigen Informationen ein, die ihm sein
Gesprächspartner, der Betreiber eines Fährbootes, gibt (Seite 129). Um seine
Absicht zu erreichen behauptet er schließlich, auf dem Wrack befände sich
eine Verwandte eines reichen Bürgers der Stadt. Diesem Anreiz kann der
Fährmann nicht widerstehen und startet zu einer Rettungsfahrt. Es ist
offensichtlich, daß der Fährmann nicht aus purer Hilfsbereitschaft bereit ist
zum Wrack zu fahren (Seite 130). Erst der Anreiz, die Verwandte eines
reichen Bürgers zu retten, also die Aussicht auf eine hohe Belohnung,
stimmt ihn um.
Hucks Bemühungen sind schließlich aber doch nicht erfolgreich, da das
Wrack sich im Sturm und wegen der starken Strömung losgerissen hat, und
flußabwärts treibt (Seite 131). Es liegt so tief im Wasser, daß nach Hucks
Meinung, kaum jemand an Bord überlebt hat. Das Fährboot umkreist zwar
das Wrack, kommt aber nicht nahe genug heran, um sicher daran
festzumachen. Nach einiger Zeit gibt der Fährbootkapitän auf, wohl auch
aus Sorge um die eigene Sicherheit.
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4.2 Die Pocken
Eine Gesellschaft an der Grenze der Zivilisation lebt von der
gegenseitigen Hilfsbereitschaft und dieses Ideal wird auch von den
religiösen Gemeinschaften der weißen amerikanischen Gesellschaft laut
gepredigt. Die Furcht vor Ansteckung läßt die beiden Männer im Ruderboot
(Seite 147 ff) aber fast jegliche Hilfsbereitschaft vergessen. Ihr Rat, wie sich
Huck stromabwärts verhalten soll, um seine Chancen zu erhöhen, Hilfe zu
erhalten, mutet an wie das St. Florians Prinzip: „Heiliger Sankt Florian,
verschon mein Haus, zünd’ andere an!“ Es kümmert sie nicht, daß dann die
Gemeinde flußabwärts eventuell von der Krankheit heimgesucht wird, wenn
die Erkrankten dort landen würden.
Hucks Aufbau dieser Lügengeschichte um die angeblichen Kranken auf
dem Floß ergibt nur dann Sinn, wenn ihm von vornherein klar ist, daß die
Reaktion der Männer so und nicht anders sein wird. Das Huck am Ende mit
zwanzig Dollar in Gold auf das Floß zurückkehrt, ist dem eher hilflosen
Versuch der beiden Männer zuzuschreiben, ihre Angst vor Ansteckung
durch eine großzügige Geste zu kaschieren.
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5 Szenen in denen Neger von der Gesellschaft ausgenutzt werden
Twain schildert das Sklavendasein der Schwarzen nur beiläufig, aber
beschreibt treffend ihre Entmenschlichung durch die weiße Gesellschaft.
5.1 Die Hausdiener der Grangerfords
Die Schilderung des Reichtums geschieht viel ausführlicher als die
wenige Verweise auf die schwarzen Sklaven der Familie. Die Zahl der
insgesamt der Familie gehörenden Sklaven, über einhundert, wird als Maß
des Reichtums angegeben.. Huck wird ein Neger als Leibsklave zugeteilt
(Seite 165), den er auch konsequent als seinen Neger bezeichnet (Seite 170).
Die genauen Aufgaben der Leibsklaven schildert er nicht, bemerkt dazu
aber, daß sein Sklave nicht viel zu tun habe, weil er, Huck, es nicht gewohnt
sei. Der Sklave seines Freundes Buck, habe es da viel schwerer und müsse
ständig auf den Sprung sein.
5.2 Die Neger als Teil der Erbschaft
Die Neger werden die ganze Zeit nur als Besitz und Wert betrachte, erst
als Huck den Verdacht aufbringt, sie hätten das Geld (Seite 249), werden sie
vom Duke und King als Menschen angesehen. Die beiden Halunken
bewundern das, vermeintliche, schauspielerische Talent der Neger. Der
Leser wird durch Hucks Gedanken darauf hingewiesen, daß die Sklaven in
Wirklichkeit doppelte Opfer sind.
5.3 Neger sind keine Leute
Als Huck die Identität von Tom annimmt, erklärt er sein verspätetes
Ankommen mit einem Unfall des Dampfers auf dem er reiste (Seite 290 f).
Er erzählt, der Dampfer wäre auf Grund gelaufen und um nicht den Namen
der Sandbank nennen zu müssen, baut er die Geschichte sofort weiter auf,
indem er hinzufügt, ein Zylinderkopf wäre explodiert.
‘It warn’t the grounding - that didn’t keep us back but a
little. We blowed out a cylinder-head.’
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‘Good gracious! Anybody hurt?’
‘No’m. Killed a nigger.’
‘Well, it’s lucky; because sometimes people do get hurt.’
Es wird nicht gefragt ob es ein Sklave oder ein freier Neger war, von
denen es auch im Süden einige gegeben hat (Bruce Collins, Seite 45),
sondern es wird nur unterschieden zwischen Leuten und Negern. Den
Negern wird hierbei nicht der Status eines empfindungsfähigen Wesens
zugebilligt. Es ist auffällig, daß Huck hier, entgegen seiner Erfahrung und
seinen Gefühlen für Jim, den er schon viel früher (Seite 186) als „people“
(Leute) bezeichnet, den rassistischen Standpunkt von Pap (Seite 78) vertritt.
5.4 Neger sehen sich selber als Leute
In der Episode um die religiöse Versammlung (Seite 191), treffen Huck,
der Duke und der King als einzigen anwesenden Bewohner der Ortschaft
einen alten, kranken Neger.
When we got there, there warn’t nobody stirring; streets
empty, and perfectly dead and still, like Sunday. We found a sick
nigger sunning himself in a back yard, and he said everybody
that warn’t too young or too sick or too old, was gone to campmeeting, about two miles back in the woods.
(Seite 191)
In dieser Aussage des Negers werden auch die Neger zu den Bewohnern
der Stadt gerechnet. Twain zeigt hier, daß die Neger sich als Teil der
Gesellschaft wahrnehmen.
5.5 Jim als Opfer
Jim wird zum Schluß Opfer. Er wird zur Marionette der Phantasie von
Tom Sawyer. Alle Versuche Jims und Hucks, der Lächerlichkeit seiner
Pläne zu entgehen, werden durch Toms Enthusiasmus hinweggefegt (Seite
307 ff). Im ganzen Buch ist Jim selten so hilflos wie während der
„Befreiung“ durch Tom und Huck.
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6 Huckleberry Finn als Gesellschaftskritik
6.1 Gesellschaft
Twain stellt eine Gesellschaftsstruktur vor, deren herrschende Klasse
die Neger als Individuen nicht wahrnimmt. Dabei ist es egal, ob ein Weißer
selber Sklaven besitzt oder nicht, denn nur 30 % der Weißen in den
Südstaaten waren selber Sklavenhalter (Collins, Seite 48). Individualität
erlangen Neger nur wenn sie fliehen, dann wird ein Steckbrief von ihnen
erstellt (Seite 195). Selbst Huck, in dem sich während der Reise die
Erkenntnis entwickelt, daß Jim ein Individuum ist, beschränkt diese
Erkenntnis meistens auf diesen einen, speziellen Fall.
Die Neger sehen sich als unterdrückten Teil der Gesellschaft. Ihnen ist
bewußt, daß sie in der weißen Gesellschaft des Südens kaum Fürsprecher
haben. In letzter Konsequenz sind sie bereit sich auch gegen die
unmenschlichen Normen der Gesellschaft zu stellen. Jim will, wenn er in
Sicherheit ist, versuchen seine Frau und Kinder ebenfalls zu befreien (Seite
145 f). Wenn möglich mit legalen Mitteln, also nach den Normen einer
Gesellschaft die ihm entmenschlicht hat, aber wenn dieses nicht möglich ist,
auch mit illegalen Mitteln.
6.2 Religion
Die im Buch beschriebene Selbsttäuschung und Bereitschaft, blauäugig
auf Lügenmärchen hereinzufallen, solange sie nur mit dem richtigen
Reflexwörtern wie „neuer Mensch“, „geläuterter Sünder“, „zurück auf den
Pfad der Tugend“ etc. gespickt sind, scheint Mark Twain als eine der
Schwächen seiner Gesellschaft aufzufassen, da er gleich zwei solche Szenen
in dem Buch schildert.
Mark Twain hat in seiner Jugend selber an solchen „Meetings“ (Seite
193) teilgenommen und später darüber berichtet (vgl. The Autobiography of
Markt Twain, Seite 90 und S 279 f). Solche Versammlungen überzogen die
USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in regelrechten Wellen, wobei
die Ausrichtung nach einzelnen Bekenntnissen wohl eher diffus war. Die
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großen Kirchen, seien es nun Baptisten, Methodisten oder auch Katholiken,
waren intern in verschiedene Flügel gespalten und hatten sowohl
Befürworter der Sklaverei als auch deren Gegner in ihren Reihen (vgl. Bruce
Collins, Seite 11 f). Die Kirchen in den Nordstaaten waren eher gegen die
Sklaverei, die in den Südstaaten eher dafür.
Twains Familie war nicht übermäßig religiös oder auch nur enger an
eine Kirche gebunden (vgl. John Q. Hays, Seite 7 f). Den verschiedenen
Bekenntnissen,
religiösen
Bewegungen
oder
auch
mystizistischen
Auswüchsen, mit denen Twain in Hannibal in Kontakt kam, stand er eher
skeptisch und distanziert gegenüber.
John Q. Hays (vgl. J. Q. Hays Seite 122 ff) postuliert für Twains eigene
Weltsicht eine Mischung und auch einen Widerstreit aus Erleuchtung und
Calvinismus und sieht diesen inneren Konflikt, materialisiert in seinem
Meisterstück Huckleberry Finn.
6.3 Schwindeleien
Ein weiteres, mehrmals vorkommendes, Handlungselement ist die
Ermöglichung eines noch größeren Betruges oder einer Schwindelei durch
die Niedertracht und üblen Absichten derjenigen, die zuerst getäuscht
werden. Sei es nun Hucks erfundene Pockenerkrankung seiner Familie auf
dem Floß, die ihm zwanzig Dollar einbringt oder die zwei weiteren
Vorstellungen des „Royal Nonesuch“ des Dukes und des Kings, die nur
deshalb Zuschauer anlocken, weil die eine Gruppe die anderen nicht warnt
und dann alle die beiden Ganoven bestrafen wollen.
6.4 Gewalt
Im Buch wird Huck mehrmals Zeuge von Gewalt, die ohne Anlaß
ausbricht, und sich dann ohne Maß bahnbricht. Sei es die Fehde der
Grangerfords
und
Sheperdsons,
der
kaltblütig
einen
betrunkenen
erschießende Colonel Sherburn, der Mob der daraufhin versucht den
Colonel zu lynchen oder der Mob der schließlich den Duke und den King
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teert und federt. In all diesen Fällen ist Hucks Beschreibung distanziert, egal
wie sehr er persönlich betroffen ist.
6.5 Hucks Verhalten
Hucks Verhalten in vielen Situationen ist als direkte Antithese zum
vorherrschenden
gesellschaftlichen
Verhalten
gesetzt.
Sei
es
im
Grundkonflikt der Geschichte, ein Weißer, der einem Neger bei der Flucht
hilft, oder bei der Kirchenepisode, in der Huck im Gegensatz zu den
schießwütigen Grangerfords und Sheperdsons nicht begeistert von der
Predigt sprich. Es ist Huck, der die amerikanischen Ideale, Freiheit und
Hilfsbereitschaft auslebt. Er versucht selbst für die Schurken auf dem Wrack
eine Rettung zu organisieren. Hucks Reaktion erscheint also oft als ein
Vehikel für Twains Kritik an der Gesellschaft.
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7 Schlußbemerkungen
Die umfassende Gesellschaftskritik überwiegt im Buch, sowohl
inhaltlich als auch künstlerisch gegenüber der Kritik oder auch nur der
Beschäftigung mit dem Problem der Sklaverei. Hucks und Jims Reise hinab
in die „Hölle“ (vgl. Dante) wird zu einer Bestandsaufnahme der
Gesellschaft, wie sie Twain erscheint. Die Aberwitzigkeit, sowohl der
Vorstellung, ein entflohener Sklave „fliehe“ tiefer in den Süden, als auch der
Versuche Hucks, sich in einer Gesellschaft zurechtzufinden, deren Werten
er immer weniger traut, deren Werte sich ihm immer mehr als Fassade
zeigen, wenn nur jemand ihn hinter die Kulissen schauen läßt. Diese Rolle
übernehmen der Duke und der King, die zwar von Huck als Schurken
erkannt werden, deren Entlarvung er aber aus Sorge um seine und Jims
Sicherheit verhindert. Hucks Komplizenschaft mit den Schurken mag eine
Andeutung für Twains Gefühl der eigenen Verstrickung in die
Sklavenhaltergesellschaft des Südens sein.
Janet A. Rich meint in ihrer Dissertation (J. A. Rich, Seite 207 f), daß
der Versuch, den King und den Duke vor dem Teeren und Federn zu warnen
(Seite 301 f), aus der wachsenden Selbsterkenntnis Hucks entsteht. Er
erkennt mit der Zeit, daß er selber als Teil der weißen Gesellschaft ebenso
schuldig ist wie die beiden, da er direkt oder indirekt von der Sklaverei
profitiert hat. Sie meint also, Twain setzt die Hilflosigkeit der Sklaven gegen
ihr Schicksal mit der Hilflosigkeit der Bürger gegenüber den Halunken
gleich.
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8 Literaturverzeichnis
Mark Twain: The Adventures of Huckleberry Finn. London, Penguin,
1985
Charles Neider (ed.): The Autobiography of Markt Twain. New York,
Harper, 1959
Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Eduard Kaiser
Forrest G. Robinson (ed.): The Cambridge Companion to Twain.
Cambridge, Cambridge University, 1995
Myra Jehlen: Banned in Concord: Adventures of Huckleberry Finn and
Classic American Literature. In: The Cambridge Companion to Twain, Seite
93 - 115
David Lyonel Smith: Black Critics and Mark Twain. In: The Cambridge
Companion to Twain, Seite 116 - 128
Eric Lott: Mr. Clemens and Jim Crow: Twain, Race, and Blackface. In:
The Cambridge Companion to Twain, Seite 129 - 152
Janet A. Rich: The Dream of Riches and the Dream of Art. New York &
London, Garland, 1987
John Q. Hays: Mark Twain and Religion. New York, Bern, Frankfurt,
Paris, Peter Lang, 1988
Bruce Collins: The Origins of America’s Civil War. London, Edward
Arnold, 1981
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