Artikel von Prof. Dr. Klaus Lange, Veröffentlicht in Sicherheitspolitik

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Artikel von Prof. Dr. Klaus Lange, Veröffentlicht in Sicherheitspolitik
Artikel von Prof. Dr. Klaus Lange, Veröffentlicht in Sicherheitspolitik der
Verwaltung, Wirtschaft und Bevölkerung, Nr. 4 / Juli 2003,
www.sicherheitspolitik.ch
Terrorismus - vor einem Paradigmenwechsel?
Prof. Dr. Klaus Lange
Die nachfolgend skizzierten Informationen, Gedankengänge und
Schlussfolgerungen beruhen vorwiegend auf Gesprächen, die der Autor mit
Sicherheitsexperten verschiedenster Länder geführt hat. Darüber hinaus werden
Eindrücke verwertet und eingearbeitet, die durch Kontakte dort gewonnen wurden,
was man im weitesten Sinn als «Sympathisantenszene » des Terrorismus
bezeichnen könnte. Aus naheliegenden Gründen muss auf die Benennung von
Quellen verzichtet werden.
Wenn im Titel von «Paradigmenwechsel » die Rede ist, dann soll damit nicht
suggeriert werden, dass völlig neue Erkenntnisse vorgestellt werden, wohl aber,
dass das, was man bisher weiss und Hypothesen, die als etabliert gelten können, in
einen breiteren Kontext gestellt werden sollen. Allerdings erscheint dadurch das
Objekt der Überlegungen und Untersuchungen in vielerlei Hinsicht in einem
anderen Licht.
Es gibt eine Vielzahl völlig verschiedener Terrorismen (gemeinsamer Nenner
allerdings ist das grundsätzliche in- Kauf-Nehmen von Zufallsopfern), die sich in
ihrer geographischen Reichweite, in Zielsetzung und Methodik unterscheiden. In
diesem Artikel soll allerdings eine Einschränkung auf jenen Typus von Terrorismus
erfolgen, der mit einem höchst unpräzisen Pauschalbegriff als «islamistischer
Terrorismus» bezeichnet wird.Das Problem
Der 11. 9. 2001 hat eine Lawine von Reaktionen losgetreten: In einer ganzen
Reihe von Staaten, die sich als potentielles Zielobjekt weiterer terroristischer
Operationen ansehen mussten, wurden juristische und organisatorische
«Sicherheitspakete » geschnürt, in den USA kam es zur Etablierung einer eigenen
gigantischen Sicherheitsbehörde. Diese impliziert eine so weitreichende
Umschichtung von Resourcen, dass sogar Experten, die die Bedeutung von
«homeland defence» nie bestreiten würden, trotzdem darauf hinwiesen, dass damit
eine Ausdünnung der Mittel in anderen Bereichen, etwa des Zivilschutzes,
einhergeht, die so weit geht, dass mit grosser Sicherheit immer wieder auftretende
Handlungszwänge (beispielsweise bei der Beseitigung von Schäden, die durch
Unwetter verursacht werden) nur mehr ungenügend flankiert werden können.
Darüber hinaus hat sich in der US-security community das Prinzip der
«anticipatory defence» durchgesetzt, wonach Gefährdungen der nationalen
Sicherheit auch dann schon heute militärisch neutralisiert werden dürfen, wenn die
Realisierung solcher Gefährdung erst in der Zukunft als möglich (nicht: als
feststehend) kalkuliert werden kann.
Des Weiteren wurden im «Windschatten» des «9/11-Schocks» immerhin zwei
Kriege geführt und die militärische- und intelligence- Präsenz der USA in einigen
«Problemregionen », unter anderem von Zentralasien über die fast gesamte
Golfregion und seit neuerem in dem vom Jemen sich bis nach Ostafrika
hinunterziehenden Bogen terroristischen Potentials wesentlich verstärkt.
Der massiven Reaktion auf «9/11» liegt eine altbekannte Erfahrungstatsache mit
zu Grunde: Selten auftretende Gefährdungen mit einem hohen Schadenspotential
werden heftigere Schutzreaktionen hervorrufen, als häufiger auftretende
Gefährdungen mit einem relativ geringen Schadenspotential.
Von daher können auch die massiven Reaktionen nach den Anschlägen von New
York und Washington als verständlich und, - als solche -, (nicht unbedingt in ihren
konkreten Manifestationen) auch als rational angesehen werden, wenn man noch
einen Faktor in das globale Bild einfügt, nämlich die grundsätzliche
Zugriffsmöglichkeit terroristischer Organisationen auf Massenvernichtungsmittel.
Damit aber ist ein so extrem hohes Schadenspotential gegeben, das auch bei
geringer Eintrittsfrequenz jede Vorbeugung rechtfertigen würde, wenn zwei weitere
Voraussetzungen als gegeben angesehen werden können:
1.
Die Bereitschaft der Terroristen, Massenvernichtungsmittel auch tatsächlich
einzusetzen und
2.
Die Möglichkeit sich Massenvernichtungsmöglichkeiten zu verschaffen
und diese auch effektiv zum Einsatz zu bringen.
Dass beide Voraussetzungen als positiv gegeben anzusehen sind, darüber sollte
man sich keinen Illusionen hingeben: Wer bereit ist, einige tausend Zufallsopfer zu
weltanschaulichen Demonstrationszwecken dadurch in Kauf zu nehmen, dass er
Verkehrsflugzeuge in Wolkenkratzer fliegt oder fliegen lässt, dürfte auch wenige
Hemmungen haben, Massenvernichtungsmittel einzusetzen. Auch hinsichtlich der
Möglichkeit sich Massenvernichtungsmittel zu beschaffen, sollte man sich nicht
von den Chören der Beschwichtiger einschläfern lassen: Jede nicht-staatliche
Organisation, die über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, über ein gewisses
Minimum an Erfahrung in konspirativen Operationen und die Verschwiegenheit
auch nur einer Provinzbank, könnte sich früher oder später biologische, chemische,
radiologische oder nukleare Waffen bzw. deren sämtliche Komponenten auf dem
mehr oder weniger grauen Markt heute kaufen. Nota bene: Es gibt hierbei keinerlei
grundsätzlichen und unüberwindlichen Schwierigkeiten, sondern allenfalls
unterschiedliche Grad der Schwierigkeit bei Beschaffung und/oder Herstellung!
Damit aber liegt eine Frage auf der Hand, die uns näher an das Problem heranführt,
das wir in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus haben. Diese Frage lautet:
Warum, wenn die beiden oben skizzierten Voraussetzungen gegeben sind, sind, mit
Ausnahme des zweimaligen Sarin-Einsatzes durch die Aum- Sekte, terroristische
Operationen unter Einsatz von Massenvernichtungsmitteln bisher ausgeblieben?
Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen?
Darauf wurden bisher eine ganze Reihe von Antworten angeboten, von denen die
folgenden diskutiert werden sollen:
1.
Der Überwachungs- und Verfolgungsdruck durch Nachrichtendienste und
Sicherheitsorgane ist so gross, dass es heute faktisch unmöglich ist, spektakuläre
Operationen unter Einsatz von Massenvernichtungsmitteln durchzuführen.
2.
Durch den Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan hat der Terrorismus die
Basis verloren, die er zur Durchführung von Grossoperationen benötigen würde.
3.
Mit Ausnahme einiger unbedeutender regionaler Terroristengruppen gibt es
keine terroristischen Organisationen, die in echter Unabhängigkeit von Staaten
agieren. Da diese Staaten aber massive Sanktionen im Fall des Einsatzes von
Massenvernichtungsmitteln durch «ihre» Terroristen fürchten müssten, werden sie
diese so lange nicht «von der Leine lassen», bis sie sich durch Aufbau eines
eigenen Abschreckungspotentials vor solchen Sanktionen sicher fühlen können.
Das aber ist heute noch in keinem der als Terrorismussponsoren in Frage
kommenden Staaten der Fall und somit halten sie «ihre» Terroristen in ihren
Aktionen unterhalb der Schwelle, oberhalb welcher sie Sanktionen befürchten
müssten.
4.
Terroristische Organisationen agieren wissentlich oder unwissentlich unter
«falscher Flagge». Die tatsächlichen Auftraggeber haben aber kein Interesse daran,
dass ihre Beauftragten zu grosse Schäden hervorrufen und dadurch das System der
internationalen Beziehungen und/oder auch einfach die Weltwirtschaft so weit
destabilisieren, dass Kühe, die man eigentlich melken will, geschlachtet werden.
Zu 1: Der Überwachungs- und Verfolgungsdruck ist so gross
Obwohl es nicht bestritten werden kann, dass die Vorwarn- und Kontrollschwellen
inzwischen beträchtlich angehoben worden sind, wäre es doch eine gefährliche
Illusion zu glauben, dass man zum Einsatz von Massenvernichtungsmitteln bereite
und dazu fähige Organisationen nachrichtendienstlich ausreichend im Griff hat.
Und auch die rigorosesten Kontrollprozeduren an den Grenzen oder auch im
Inneren von Zielländern wären für hochmotivierte Terroristen keine grundsätzlich
unüberwindlichen Hindernisse; vor allem auch schon deshalb nicht, weil,
vielleicht mit Ausnahme von kompletten nuklearen Sprengköpfen, es sich um
«dual use»- Mittel handeln würde, die in allen potentiellen Zielländern aus
Komponenten erstellt werden könnten, deren Aneignung keine grundsätzlichen
Schwierigkeiten entgegenstehen würde.Zu 2: Basis verloren
Auch der Glaube, dass die Beseitigung des Taliban- Regimes den Niedergang des
Terrorismus besiegelt hat und alle nachfolgenden Aktionen deshalb nur noch
«letzte Zuckungen » eines schliesslich im Sterben befindlichen Organismus sind,
muss mit Fragezeichen versehen werden: «9/11» bedurfte letztlich nicht der
afghanischen Basis und selbst wenn sich bis jetzt noch keine andere angeboten
haben sollte, - vorausgesetzt der Terrorismus käme ohne eine solche nicht aus -, was
ebenfalls bezweifelt werden darf, dann muss darauf hingewiesen werden, dass
Afghanistan mitnichten unter ausreichender Kontrolle der Regierung in Kabul und
ihrer ausländischen Verbündeten steht. Ernstzunehmende Informationen deuten
vielmehr darauf hin, dass sich ganze Provinzen mehr und mehr der Kontrolle
Kabuls entziehen und auch in einigen Regionen der Einfluss der Taliban wieder
soweit konsolidiert ist, dass sie ohne weiteres als Basis des Terrorismus fungieren
könnten, wenn das denn überhaupt eine entscheidende Voraussetzung für dessen
Handlungsfähigkeit wäre. Das Ausbleiben von Grossoperationen des Typus «9/11»
kann nicht mit den Vorgängen in Afghanistan erklärt werden, vor allem dann nicht,
wenn man sich vor Augen hält, wie gross die Zahl von «failed states» eigentlich ist,
die jederzeit die Funktion eines «Flugzeugträgers des Terrorismus» übernehmen
könnten.Zu 3: Keine echte Unabhängigkeit von Staaten
Diese Hypothese zählt zu den wirklich interessanten, vor allem wenn Hinweise aus
sehr ernst zu nehmenden Quellen zutreffen, nach denen einsatzbereite
Massenvernichtungsmittel in einigen Zielländern vorhanden sind, die deshalb
noch nicht zum Einsatz gekommen sind, weil die grundsätzlichen Informationen
dazu gewonnen werden konnten und die Zielländer daraufhin so massive
Drohungen an alle möglichen Sponsorenstaaten gerichtet haben, dass diese auf
eine Freigabe bisher verzichtet haben.
Aber auch wenn es stimmt, dass der Terrorismus in weitem Mass von staatlichen
Interessen und staatlicher Steuerung nicht unabhängig ist, muss doch im Zuge der
Entstaatlichung des Systems der internationalen Beziehung mit der Emanzipation
des Terrorismus hin zu einem transnationalen Phänomen, gerechnet werden. Dann
gilt: Je transnationaler der Terrorismus, umso geringer der Einfluss von
Sponsorenstaaten und um so grösser seine tatsächliche Gefährlichkeit.Zu 4:
Organisationen agieren unter «falscher Flagge»
Auch diese Hypothese, kann erheblich zum Verständnis des bisherigen
Ausbleibens wirklich katastrophaler Aktionen beitragen. Das Bild der
kollabierenden Türme des WTC in der Erinnerung, mag es zynisch erscheinen, von
«wirklich katastrophalen Aktionen» zu sprechen. Aber wenn man sich vor Augen
hält, welches Ausmass an konkreter Verseuchung und psychologischem
Zusammenbruch die technisch nicht unvorstellbare Ausbringung bestimmter
radioaktiver Materialien verursachen würde (eine entsprechende Kalkulation
wurde unlängst in der «Sicherheitspolitik» angestellt), dann wird deutlich, dass
allen möglichen Befürchtungen extrem weite Grenzen zu setzen sind.
Die Hypothese ist vor allem auch deshalb interessant, weil einer ihrer wichtigen
Aspekte die Affinität von nicht unbedeutenden wirtschaftlichen Subjekten und
Terrorismus beinhalten kann. Dieser Aspekt ist in der bisherigen Debatte zum
Thema weitgehend vernachlässigt worden. Tatsache ist: Ganze Firmengruppen, mit
den Schwerpunktregionen, Ostafrika, Mittlerer Osten, Süd- und Südostasien, lassen
beträchtliche Teile ihrer Einkünfte in jene Bereiche sozial- religiös geprägter
Strukturen diffundieren, in denen die Manager des Terrorismus ihr menschliches
Potential aufwachsen sehen können. Wenn man dann noch einen Schritt weiter
geht und von einer zunehmenden Symbiose dieser wirtschaftlichen Entitäten und
den terroristischen Strukturen ausgeht, woran wenig Zweifel bestehen kann, dann
muss man auch die Frage stellen, ob es vorstellbar ist, dass, wenn «Symbiose» nicht
mit «Einbahnstrasse » verwechselt werden darf, jene Wirtschaftsunternehmen nicht
auch über ihre Anteile in der Wirtschaft potentieller Zielländer dort
Verhaltensweisen fördern, die im Interesse des Terrorismus liegen: Nicht
auszuschliessen ist beispielweise, dass ein Unternehmen «X» mit Schwerpunkt in
einem westlichen Land, in dem ein Unternehmen «Y» mit starker Affinität zu
terroristischen Strukturen grosse Teile von Anteilen hält, Einfluss im Sinne seines
«Partners », etwa auf gewisse Regierungsentscheidungen zu nehmen versucht. Man
benötigt nicht allzu viel Phantasie um sich vorzustellen, dass Drohungen mit
Kapitalentzug bzw. Verlust von Arbeitsplätzen, eine Regierung zu freundlicherem
Verhalten gegenüber einem Land veranlassen, das Terrorismus sponsert, nutzt oder
auch vielleicht nur duldet, als das ohne die wirtschaftliche Interdependenz der Fall
wäre. Dass es solche Fälle bereits gegeben hat, darüber sollte kein grosser Zweifel
bestehen.
In allen oben skizzierten Hypothesen ist mehr oder weniger Wahrheit enthalten,
trotzdem sagen uns diese Wahrheiten noch nicht allzu viel darüber, wie der uns
beschäftigende Terrorismus strukturiert ist und wie er funktioniert. Der Grund dafür
dürfte darin liegen, dass jeder Analytiker dazu neigt, seine Überlegungen auf der
Basis seiner Erfahrungen d. h. auch in dem Rahmen anzustellen, den ihm sein
soziokultureller Hintergrund zur Verfügung stellt.
Unsere Theorien über den Terrorismus sind in diesem Sinn soziomorph. Das ist
unser Hauptproblem.Einige Unterscheidungen
Wie Miles Kahler in seinem für das Jahrestreffen der APSA (29.8. - 1.9.2002,
Boston, MA) verfassten Paper skizziert, geht es bei der theoretischen und
praktischen Auseinandersetzung mit dem uns beschäftigenden Typ von Terrorismus
um «states versus networks», wobei es dem westlichen Denken ausserordentlich
schwer fallen dürfte (das sind darauf aufbauend die Gedanken des Autors) sich von
der seiner Erfahrungswelt entnommenen Vorstellung von zwar demokratisch
legitimierten, aber doch hierarchischen Entscheidungsprozessen und einer das
Handeln des grösseren Ganzen bestimmenden Zweckrationalität zu lösen.
Was uns aber bei der Untersuchung terroristischer Entitäten des Al Qaida- Typus
begegnet, ist etwas ganz anderes: Wir finden ein ausserordentlich hohes Mass an
Dezentralisierung, einen hochflexiblen «Markt» an menschlichem Potential und
einen überraschend kleinen Führungskern, der seine Aufgabe weniger in der
Steuerung konkreter Operationen sieht, als vielmehr in seiner «Katalysatorfunktion
» als Einiger der sich zum «Krieg gegen die Kreuzfahrer» berufen fühlenden
«islamischen Massen». Kahler formuliert dazu so: « Al Qaeda´s organizational
success may have lain in ist combination of a network organization with hierarchy
at the core and a fluid «market» supplying personnel and resources at the periphery
of the organization » (Kahler, ibid.)
Zur Skizzierung des Charakters einer solchen Organisation kann ein musikalischer
Vergleich nützlich sein: Es handelt sich nicht um ein europäisches Orchester, das
seine Partituren zwar in Grenzen interpretierend, aber doch am Notenblatt hängend
in Musik umsetzt, sondern eher um eine Jazzband, die zwar ein vorgegebenes
Thema spielt, aber dabei der Improvisation der einzelnen Musiker maximalen
Freiraum lässt. Das Ideal Ideal wäre dann erreicht, wenn die Improvisation der
einzelnen Musiker sich quasi «stichwortgebend» zu einem neuen Gesamteindruck
des vorgegebenen Themas zusammenfügt. So gesehen war der Einsturz des WTC
ein Beispiel dafür, wie gelungene Improvisation sich zu einem terroristischen
Gesamteindruck mit gewaltiger Wirkung auf alle Adressaten, zusammenfügen
kann.Wo stehen wir heute?
Einer der am besten über die terroristische Szene, ihre Entwicklungsdynamik und
Perspektiven informierten Gesprächspartner gab mir auf die Frage, wann was zu
erwarten sei an neuen Anschlägen, die Antwort: «Der Westen versteht nicht, was der
Araber unter «Weisheit der Wüste» versteht, er kann nicht nachvollziehen, dass die
Leute, die das wachsende Potential der Ablehnung westlicher Werte,
Handlungsweisen und Zweckrationalität gegen den Westen zu organisieren
versuchen, vor allem andere Zeitvorstellungen haben und viel Geduld. »
Diese Einschätzung kann zu einer realistischen Beurteilung führen: Es geht den
Urhebern des Terrors um spektakuläre Anschläge vor allem nur zu dem Zweck, um
das antiwestliche Potential, das sich als Folge von mit Globalisierung
zusammenhängenden Abkoppelungsprozessen ganzer Gesellschaften bildet,
zusammenzuschweissen. Nicht der Anschlag als solcher ist also das Ziel, sondern
die Schaffung eines Identifikationsrahmens mittels der mit dem Anschlag
freigesetzten Symbolik. Es geht zum heutigen Zeitpunkt also nicht in erster Linie
um den Schaden, der angerichtet wird, sondern um die dadurch geförderte
Konstituierung und Festigung einer zur westlichen alternativen Lebenswelt. Vor
diesem Hintergrund erscheinen die Zeitpläne der Terroristen als wesentlich
langfristiger angelegt, als die Abwehrstrategien westlicher Designer von
«Sicherheitspaketen».
Wir haben es also mit einem Gegner zu tun, der geduldiger ist, dessen
organisatorische Strukturen ungemein flexibel sind und der mit einem wachsenden
Human- und Wirtschaftspotential rechnen kann, wie der obige Hinweis auf gewisse
wirtschaftliche Interdependenzen und ihre Konsequenzen, nahelegen sollte.
Angesichts eines solchen Gegners erscheint als einzig rationale Verhaltensweise
eine Doppelstrategie, die die Abwehr konkreter Bedrohungen durch intelligente
Aufklärung ermöglicht und gleichzeitig durch geduldige und höchst flexible
Strategien die «Gewaltmärkte» auszutrocknen versucht, deren sich die Terroristen
bedienen.
Diese Doppelstrategie, so muss allerdings befürchtet werden, wird erst dann
ernsthaft in Angriff genommen werden, wenn die Kosten, die sich daraus ergeben,
dass eine aufwachsende bedrohliche Gegenwelt ignoriert wird, überhaupt nicht
mehr verdrängt werden können. Da die Terroristen bisher erfolgreich unterhalb der
Schwelle einer Totalreaktion bleiben, also erfolgreiche «Salamitaktik » betreiben,
wird die notwendige Doppelstrategie wohl noch lange auf sich warten lassen.