Von der Drogerie „zur Birke“

Transcrição

Von der Drogerie „zur Birke“
Von der Drogerie „zur Birke“ im Dorf Wetzikon-Kempten
zur Apotheke Drogerie Kempten in der Stadt Wetzikon
Für Richard Merz begann die Drogistenkarriere in Stein am Rhein in der Apotheke „Zum Morenkönig“.
Er wuchs in Affoltern am Albis auf und machte dort die Lehre. Mit dem Töffli vertrieb er für die
Apotheke „Zum Morenkönig“ die Hamol®Crème, eine Salbe aus Hamamelisextrakt, welche in
Wollishofen an der Seestrasse 252 hergestellt worden war. Sein Ziel war es jedoch eine eigene Drogerie
zu führen. Diesen Traum verwirklichte er vor 90 Jahren. 1926 kam er mit seiner Familie zufällig nach
Wetzikon-Kempten. Hier stand der ehemalige Farbwarenladen von Frau Maag an der Bahnhofstrasse
242 zum Verkauf. Als 34jähriger Drogist erwarb er dieses Haus und eröffnete die „Drogerie zur Birke“.
Das Haus hatte zwei Eingänge, einen für die Drogerie und einen privaten für die Familie. Auffällig waren
die grossen schönen Schaufenster des Ladens.
Drogerie zur Birke mit grossen Schaufenstern zur Zeit von Richard Merz (Privatarchiv Hanni Berger)
Blick von Drogerie zur Birke auf die Bahnhofstrasse
und den Brandplatz mit dem Bauernhaus mit Wiese,
auf welcher Wäsche aufgehängt wurde und auf das
Sattlerhaus
(Postkarte 1930er Jahre Archiv Ortsgeschichte Wetzikon).
Aktuelle Situation (Foto Kulturdetektive 2016)
Die Drogerie war klein. Richard Merz hatte keine Angestellten und nur selten einen Lehrling, denn das
Einkommen reichte nur knapp für die eigene sechsköpfige Familie. Kunden waren vorwiegend
Fabrikarbeiter aus der Textilfabrik Schellenberg in Kempten. Die Drogerie zur Birke war lange Zeit die
einzige Drogerie in Wetzikon. In den 1950er Jahren kam in der neu erbauten Ladenpassage vor den
Sternblöcken eine zweite Drogerie dazu. Neben der Drogerie gab es zwei Apotheken, diejenige von
August Gretler (Apotheke Gretler 1887 – 1967) an der Farbstrasse 4 (vgl. Spurensuche Telefonnummer
Von der Drogerie „zur Birke“ im Dorf Wetzikon-Kempten zur Apotheke Drogerie Kempten in der Stadt Wetzikon
1
0901 8620 00/code 22) und diejenige von Ernst Raths (Bahnhofapotheke gegründet 1935) an der
Bahnhofstrasse 16 (vgl. Spurensuche Telefonnummer 0901 8620 00/code 12).
Drogerieartikel und Kolonialwaren
Zusätzlich zu den Drogerieartikeln verkaufte Merz auch Kolonialwaren, die er bei Usego
(Einkaufsgenossenschaft für Lebensmittel) eingekauft hatte. Hülsenfrüchte, Mehl, Kaffee, Nüsse und
Teigwaren, Hörnli z.B. wurden in Säcken oder Kisten geliefert und nach Wunsch abgewogen, in kleinere
Gebinde gepackt und verkauft.
Von der Möbelpolitur über Borwasser zu Bodenwichse, welche von Drogist Merz auf dem Herd
hergestellt wurde, verkaufte er in Kempten alles, sogar Benzin für das Auto. Damals hatten nur
Drogerien und Apotheken eine Verkaufsbewilligung für Alkohole, wie das Leichtbenzin Ligroin.
Gereinigtes Benzin gehörte neben anderen Lösungsmitteln wie Aceton, Chloroform, Ethanol und
Toluol etc. ins normale Sortiment einer Drogerie. Merz führte so auch neben der Apotheke Raths in
Unterwetzikon eine zweite Benzinverkaufsstelle in Wetzikon. „Von Hand mussten wir das Benzin
einpumpen“, erinnert sich Hanni Berger-Merz, die Tochter, noch heute sehr genau. „Es kamen
vielleicht zwei Autos pro Woche!“
Die Waren kamen per Bahn und Frachtbrief am Bahnhof Kempten an, wo man sie mit dem Leiterwagen
abholte. Per Post kamen nur sehr kleine Pakete. Briefe konnte man damals beim Zug einwerfen, was
laut Frau Berger-Merz viel schneller ging als per Post.
Hauseigener Hustensirup
Alle Drogerien verkauften als Hausspezialität den eigenen Hustensirup, so auch Drogist Merz. Aus alten
Rezeptbüchern, die leider nur unvollständig vorhanden sind, ist die Zusammensetzung des süssen
Thymian-Hustensirups überliefert. Solche Sirups seien auch noch 2016, vor allem im Winter ein
Verkaufsrenner, erzählt die Apothekerin Edith Kleisner, die einen Sirup nach altem Rezept von
Hanspeter Wiedmer immer noch herstellt.
Ferien kannte Familie Merz nicht und für die Kinder war es selbstverständlich, dass sie im familiären
Betrieb mithalfen.
Während dem Krieg, als der Vater im Aktivdienst war, führte die Mutter den Betrieb.
Friedens- und Bezirksrichter
Richard Merz wurde 1943 Friedensrichter. Während den Verhandlungen musste die Familie die Stube
räumen, was sehr einschneidend war, wurde hier doch tagsüber genäht.
Erst als Richard Merz am 9. Mai 1954 als Laienrichter ans Bezirksgericht gewählt wurde, hatte die
Familie die Stube wieder ganz fürs sich. Diese Verhandlungen fanden in Hinwil am Bezirksgericht statt.
Beide Ämter prägten den Drogisten Merz menschlich sehr. Er hat für die Öffentlichkeit viel geleistet.
In Wetzikon kannte man ihn als markante Persönlichkeit, die überall gern gesehen war.
Nachfolge
Vater Richard Merz stellte sich vor, dass Sohn Walter in seine Fussstapfen treten und die Drogerie
übernehmen würde. Doch dieser entschied sich nach einem Praktikum in einer Apotheke für das
Medizinstudium und wurde Arzt.
Der Tochter Hanni dagegen gefiel es schon als Kind besser beim Vater in der Drogerie als bei Faden
und Nadel der Mutter. Sie absolvierte die Lehre als Drogistin in der väterlichen „Drogerie zur Birke“.
Doch aus ihrem Traum, die Drogerie zu übernehmen wurde nichts. Das ist ihr sehr schwer gefallen.
An der höheren Fachschule für Drogisten in Neuenburg lernte sie ihren zukünftigen Mann Heinz Berger
kennen, der andere Zukunftspläne hatte.
1961 ging das Geschäft an die Gebrüder Wiesmer über. Sie zogen an den heutigen Standort in einen
Neubau an die Bahnhofstrasse 257. Typisch für diese Zeit ist die eingeschossige Ladenpassage mit
Von der Drogerie „zur Birke“ im Dorf Wetzikon-Kempten zur Apotheke Drogerie Kempten in der Stadt Wetzikon
2
verschiedenen Geschäften wie einer Poststelle, einer Drogerie, einem Coiffure und einem Radio/TV
Geschäft mit einem Dutzend vorgelagerten Parkplätzen.
1975 übernahm das junge Drogisten-Ehepaar Hanspeter und Vreni Wiedmer, das wie Richard Merz
zufällig nach Wetzikon-Kempten gekommen war, die „Drogerie zur Birke“ und führte sie 40 Jahre lang
bis 2015 als Drogerie Wiedmer weiter.
Seit Oktober 2015 schreibt die Apothekerin Edith Kleisner die Erfolgsgeschichte unter dem neuen
Namen „Apotheke Drogerie Kempten“ fort. Was schon bei Drogist Merz ein Thema war, verwirklicht
die Apothekerin Edith Kleisner 90 Jahre nach der Gründung der ersten Drogerie: Sie erweiterte die
Drogerie mit einer modernen Apotheke.
Interview mit Hanni Berger-Merz, Tochter von Drogist Richard Merz
Die Apothekerin Edith Kleisner pflegt den Kontakt zur
Gründerfamilie. Besuch bei Hanni Berger-Merz in Thayngen
(Foto Kulturdetektive 2016)
Sie sind die Tochter von Richard Merz und auch Drogistin. Warum haben Sie die Drogerie damals
nicht übernommen?
Ich habe die Lehre bei Vater gemacht, er war ein sehr strenger Lehrmeister. Anschliessend arbeitete ich
in Wollishofen in der Drogerie Metzger und besuchte die höhere Fachschule für Drogisten in Neuenburg,
wo ich meinen Mann kennen lernte. Ich hätte die Drogerie meines Vaters gerne übernommen, aber
mein Mann hatte andere Pläne.
Wie war das Leben als Tochter des Drogisten Merz?
Als Kinder des Drogisten hatten wir keine besondere Stellung, der Drogist war nicht so angesehen wie
der Arzt oder Apotheker. Wir vier Kinder mussten mithelfen und Ferien gab es keine.
An den Abenden sassen wir um den Stubentisch und haben gelesen, genäht oder Radio gehört.
Diskutiert, wie man das heute macht, haben wir sehr selten.
Um 21 Uhr gingen wir ins Bett, denn es war kalt im Haus. Erst nach dem 2. Weltkrieg, in den 1950er
Jahren wurde das Heizöl als neues Heizmaterial aktuell. Eine Zentralheizung bekamen wir als der Vater
an Blasenkrebs erkrankte und auf Kälte empfindlich reagierte.
Auch einen Kühlschrank und eine Waschmaschine bekamen wir nach dem Krieg. Ein Telefon hatten wir
wegen der Drogerie schon früh.
Von der Drogerie „zur Birke“ im Dorf Wetzikon-Kempten zur Apotheke Drogerie Kempten in der Stadt Wetzikon
3
Als Friedensrichter führte der Vater die Verhandlungen zu Hause. Wir mussten ihm die Stube
überlassen. Oft drangen laute Worte oder Diskussionen durch die Türe. Der Vater hat alle Fälle
handschriftlich in ca. 10 Büchern protokolliert.
Als Bezirksrat musste er für die Verhandlungen ans Bezirksgericht nach Hinwil und wir hatten die Stube
wieder für uns.
Mögen Sie sich noch an die Zeit mit den Lebensmittelmarken während dem Krieg erinnern?
Einmal pro Monat bekamen wir als Drogerie und Wiederverkäufer Lebensmittelmarken für Brot,
Schokolade, Seife, Milch, Butter etc. Die Menge hing von der Grösse des Betriebes ab.
Oft tauschten die Leute Marken untereinander aus, vor allem Milch- und Butter- gegen Fleischmarken.
Trotz den Marken konnte man sich nicht alles leisten, was man gerne gehabt hätte.
Hatten sie ein Labor um zum Beispiel Bodenwichse oder Hustensirup herzustellen?
Nein, das hatten wir nicht. Wir kochten die technischen Waren auf dem Herd, füllten sie in
Vorratsbehälter und verkauften sie dann in kleineren Gebinden nach Wunsch des Kunden.
Brauchten Sie Herstellungsbewilligungen?
Wir brauchten natürlich eine Betriebsbewilligung für die Drogerie, die nur ein in Neuenburg
diplomierter Drogist erhalten konnte. Darin inbegriffen waren sowohl die Herstellungsbewilligung wie
auch die Bewilligung zum Verkauf von Alkohol. Früher konnte man Bier, Wein und Schnaps nur in
Drogerien und Apotheken erwerben.
Würden Sie heute den Drogistenberuf nochmals erlernen?
Auf jeden Fall, nach wie vor finde ich diesen Beruf sehr interessant. Privat lebten wir als die Kinder noch
klein waren die klassische Aufteilung: Mein Mann hat gearbeitet und ich war als Frau zu Hause mit drei
Kindern. Deshalb habe ich mit 50 Jahren die grosse Chance gepackt meinen Traum zu verwirklichen und
habe im Schaffhausischen eine Drogerie als Geschäftsführerin geleitet. So habe ich meinen Traum doch
wahrmachen können.
Von der Drogerie „zur Birke“ im Dorf Wetzikon-Kempten zur Apotheke Drogerie Kempten in der Stadt Wetzikon
4
Ich lernte damals viel dazu über die Kräuter und ihre Anwendungen (z. B. Spagyrikprodukte von Heidak).
Das hat mir sehr entsprochen, denn ich war schon immer von den Pflanzen und ihren Wirkungen
begeistert.
Was fällt Ihnen auf, wenn sie nach Wetzikon kommen?
Es hat sich viel verändert zum Guten und zum Schlechten. Zwischen dem Friedhof und der
Bahnhofstrasse gibt es nur noch Wohnblöcke, Wetzikon franst bald bis zum Rosinli aus. Während dem
Krieg bis ca. 1955 veränderte sich Wetzikon kaum. Als Kind hatte ich noch nie eine Baustelle gesehen.
Der grosse Bauboom begann in den 1960er Jahren.
Eines ist aber immer noch wie früher: Kempten ist Kempten, Wetzikon liessen wir Kemptner damals
links liegen!
Edith Kleisner, Sie sind die neue Apothekerin in der Apotheke Drogerie Kempten.
Mit 50 konnte ich meinen Traum vom Aufbau der eigenen Apotheke an einem idealen Standort neben
der Post Kempten mit den zahlreichen Parkplätze unmittelbar vor der Apotheke Drogerie verwirklichen.
Die vom Ehepaar Wiedmer professionell geführte Drogerie mit ihrem umfassenden Sortiment an
Naturheilmitteln, Kosmetikprodukten und Drogerieartikeln bildete dazu die ideale Voraussetzung. Eine
Apotheke führt oft nur schulmedizinische Heilmittel. Drogerien dagegen sind auf Naturheilmittel,
Kosmetik und Haushaltprodukte spezialisiert.
Die ehemalige Drogerie Wiedmer habe ich mit einem Herstellungslabor, Arbeitsplätzen und einem
Beratungsraum ergänzt. Im Untergeschoss werden über 1'500 verschiedene Arzneimittel in einem
Roboter gelagert, Dieser befördert die Medikamente auf Kommando ins Verkaufslokal hinauf.
Im zweiten Bildungsweg schloss ich das Pharmaziestudium ab. Dieses Studium ist eine Kombination aus
verschiedenen Naturwissenschaften wie Chemie, Botanik, Medizin und Betriebswirtschaft. Ich
interessierte mich schon immer für die Pflanzen und ihre Wirkung.
In der intensiven Familienphase arbeitete ich Teilzeit in verschiedenen Apotheken im Zürcher Oberland.
Mein Mann ist in Kempten aufgewachsen und der Schwiegervater führte eine Zahnarztpraxis in
Unterwetzikon. So fühlte ich mich von Anfang an heimisch in Wetzikon-Kempten.
Heute ist es Frauen möglich zu studieren und neben der Familie zu arbeiten. Nicht selbstverständlich
ist es hingegen, dass sich zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort eine solch tolle Möglichkeit bietet
und eine Frau den Mut hat, die Gelegenheit zu packen und ihren Traum mit der Unterstützung ihrer
ganzen Familie Wirklichkeit werden zu lassen. Die Apothekerin Edith Kleisner hat den Mut und die
Unterstützung ihrer Familie.
Sie freut sich sehr, dass sie nun in Wetzikon-Kempten eine Apotheke Drogerie eröffnen konnte.
Schauen Sie doch einmal in der Apotheke Drogerie Kempten, an der Bahnhofstrasse 257, 8623 Wetzikon
hinein, Edith Kleisner und ihre Mitarbeiterinnen freuen sich auf Ihren Besuch!
Claudia Fischer-Karrer/Kulturdetektive
Interview April 2016
Von der Drogerie „zur Birke“ im Dorf Wetzikon-Kempten zur Apotheke Drogerie Kempten in der Stadt Wetzikon
5

Documentos relacionados