Was weiß der film über die Räume des
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Was weiß der film über die Räume des
Stephan Günzel Eine Frage der Perspektive oder: Was weiß der Film über die Räume des Computerspiels? Ausgehend von den Möglichkeiten, wie sich Film und Computerspiel zueinander verhalten können, sowie im Blick auf zwei Fallstudien (Lola rennt und eXistenZ) wird in der Untersuchung die mediale Besonderheit digitaler Bildschirmspiele herausgestellt. Diese Eigenschaft des Mediums besteht jenseits der Streitfrage, ob Computerspiele in erster Linie ludisch oder narrativ zu begreifen sind. Nach einer Skizze der ‚Wende zum Raum‘ in der Computerspielforschung wird mit Hilfe des dialektischen Raumverständnisses von Henri Lefebvre das Computerspiel hinsichtlich einer dreifachen Räumlichkeit beschrieben und daran anschließend an Filmbeispielen (Doom, Alien versus Predator und Elephant) aufgezeigt, wie das Wissen von diesen Strukturen in Filmen anzutreffen ist. I. Zum Verhältnis von Film und Computerspiel 1.Grundsätzliches 1.1. Computerspiel als Film Das Verhältnis von Film und Computerspiel kann verschieden sein: Das in der Vergangenheit zumeist anzutreffende Verhältnis bestand darin, dass mit dem Film versucht wurde, ein erfolgreiches Computerspiel zu adaptieren. Einschlägiges Beispiel hierfür ist die Verfilmung des Spieleklassikers Tomb Raider im gleichnamigen Film Tomb Raider (USA/D/UK/J 2001, Simon West) mit Angelina Jolie in der Rolle der Lara Croft, der wie das Spiel zahlreiche Sequels hatte.1 Ein weiteres Beispiel ist das in seiner Interaktion vergleichbare Spiel Max Payne von 2001, welches wie Tomb Raider sowohl als Spiel wie auch in der Verfilmung Max Payne (USA 2008, John Moore) mit Mark Wahlberg kommerziell überaus erfolgreich war. Ganz anders als es die Bezeichnung von ‚Spielfilm‘ für die Filme des Erzählkinos jedoch nahelegt, ging in beiden Verfilmungen gerade das verloren, was das Computerspiel als Medium und die Erfahrung desselben in seiner Nutzung allererst auszeichnet. Gemeint ist damit nicht die Interaktivität, welche die beiden Medien per se und wohl unüberbrückbar trennt;2 gemeint ist damit der Umstand, dass Lara Croft und Max Payne im Spiel stets in der Rückansicht erscheinen, so dass sich aus der Steuerung der Spielfigur durch den virtuellen Raum der Eindruck einer Verfolgerkamera ergibt. Eben jene Perspektive fehlt im Film Tomb Raider gänzlich. Stattdessen werden die Figur der Lara Croft und das Setting der Spielwelt übernommen und damit beziehungsweise darin eine Geschichte erzählt oder vielmehr Handlungen 1 2 Vgl. dazu umfassend Deubner-Mankowsky, Lara Croft. Die mediale Zwischenform stellt dahingehend die DVD dar, insofern sie ein Rekombinieren der Filmkapitel erlaubt. Vgl. dazu Distelmeyer, Game-Mentalität. 170 Stephan Günzel und Ereignisse gezeigt, die so auch in Indiana Jones-Filmen zu finden sind. (Allenfalls findet sich mit dem ‚Bullet-Time‘-Modus – also der Extremzeitlupe, die im Spiel Max Payne zur Erhöhung der Reaktionsmöglichkeiten gegenüber Gegnern gewählt werden kann – ein filmischer Hinweis auf das Spiel. Dieser Modus wiederum stammt jedoch ursprünglich aus dem Film und gelangte in The Matrix (USA/AUS 1999, Laurence und Andrew Wachowski) zur Berühmtheit. Somit ist er nicht mehr als ein bloßer Hinweis darauf, dass das Computerspiel diese Interaktionsmöglichkeit aufweist.) 1.2. Film als Computerspiel Eine andere, heute übliche Weise, wie sich Film und Computerspiel zueinander verhalten, besteht darin, dass die Spiele ihrerseits eine ‚Fortsetzung‘ des Films sind oder zugleich mit dem Film im Franchising veröffentlicht werden. Bereits kurz nach der ersten Verfilmung der von 1962 stammenden Comic-Vorlage The Amazing SpiderMan (USA, Tom Blank u.a.) als Fernsehserie in den Jahren 1977 bis 1979, die in Europa auszugsweise zusammengefasst als drei Kinofilme gezeigt wurde, gab es 1982 mit Spider-Man für die Atari 2600-Konsole ein Videospiel, in dem die Geschichte des Superhelden nachgespielt werden konnte. Während das Spiel damals eher indifferent gegenüber der Frage war, ob nun der Film oder der Comic (wenn nicht gar der Cartoon von Ralph Bakshi (USA 1967–70)) umgesetzt wurde, beziehen sich die jüngeren Spider-Man-Spiele dezidiert auf die Neuverfilmungen, die seit 2002 mit Tobey Maguire in der Hauptrolle veröffentlicht wurden. Das zugehörige Spiel heißt sodann auch Spider-Man: The Movie und wurde gar zwei Wochen vor dem Kinostart des Films veröffentlicht. Ähnlich wie bei der Adaption des Spiels durch den Film besteht die Übernahme allein darin, die Figuren und das Setting zu übernehmen, ohne dabei die Spezifik des Mediums zu berücksichtigen, welches die Vorlage bildet. (Allein die Stimmen im Spiel werden von den Originalschauspielern gesprochen.) Im Film sind dies in erster Linie die Schnitte und Perspektivwechsel, welche im Computerspiel weitgehend verloren gehen. (Ausnahmen bilden sogenannte Cut-Scenes in Computerspielen, wenn etwa in Max Payne Motive für das Handeln der Figur vermittelt werden sollen und kleine Einschubfilme im Letterbox-Format – also mit den filmsignifikanten schwarzen Streifen am unteren und oberen Bildrand – die Interaktion unterbrechen, die durchaus auch Schnitte und Perspektivwechsel aufweisen können.) Vielmehr lehnt sich Spider Man: The Movie an das ursprüngliche Spider Man-Spiel an, insofern es wie dieses ein sogenannter Platformer ist, also ein Spiel, bei dem innerhalb jedes Levels eigene Ebenen existieren, die es zu erreichen gilt. Im Fall von Spider Man sind das 1982 wie auch 2002 Hochhausdächer, nur werden diese 2002 freilich in (nichtsteroskopischem) 3D dargestellt. So nimmt es denn nicht wunder, dass das den dritten Teil des Films von 2007 flankierende Spiel ehrlicherweise Spider Man: The Game heißt. 1.3. Medienaneignung Diese beiden (zueinander reziproken) Verhältnisse, in denen Film und Computerspiel stehen, zeugen somit eher von einem gegenseitigen Nicht-Wissen als von einem Wissen darüber, was die jeweilige Vorlage auszeichnet. Es liegt eine regelrechte Medienvergessenheit vor, die durch die Konzentration auf die Erzählung beziehungsweise die Handlungselemente der Akteure und Settings eher verstärkt denn entborgen wird. Eine Frage der Perspektive 171 Entgegen dieser seit Anbeginn der Medienbegegnung anzutreffenden Entwicklung gibt es jedoch noch ein anderes Verhältnis zwischen Film und Computerspiel: Dieses besteht darin, dass der Film (oder im Gegenzug das Computerspiel) eben nicht den Inhalt, sondern die Form des Spiels (beziehungsweise des Films) adaptiert. Die in solcher Weise gelingenden Adaptionen übernehmen dabei meist nicht ein konkretes Spiel (oder einen konkreten Film), sondern übernehmen mediale Aspekte des anderen Mediums. In dem Computerspiel Shadow of the Colossus von 2006 etwa sind die Entscheidungsoptionen derart limitiert, dass die Nutzer zur erfolgreichen Beendigung des Spiels gar nicht anders können, als die ihnen im Weg stehenden Giganten zu töten. Zwar bieten die meisten Computerspiele letztlich keine Möglichkeit, sogenannte Endgegner, die am Level- oder Spielende anzutreffen sind, zu umgehen – jedoch ist mit deren Tötung in Shadow of the Colossus verbunden, dass die Spielfigur nach dem gewonnen Kampf von aus dem sterbenden Koloss ausgreifenden Strömen gepackt wird, die die Figur der Spieler wie Fangarme umschlingen und ihr so alle Interaktionsmöglichkeit nehmen (das heißt auf narrativer Ebene: sie töten), woraufhin die Figur wieder zum Ausgangspunkt zurückversetzt wird. Während der Spieleforscher Miguel Sicart damit den Beweis erbracht sieht, dass Computerspiele Reflexion über das eigene Tun ermöglichen (die Spieler können sich in der Handlungspause angesichts ihrer Niederlage nach dem Sieg selbst ethisch befragen),3 wird für die Frage nach dem Verhältnis von Film und Computerspiel deutlich, wie es im Computerspiel möglich ist, den Film unter interaktiven Bedingungen zu remediatisieren (eben als den Wegfall der Interaktivität, wobei die Cut-Scene nicht einfach dem Plot oder der Handlung storybildende Erklärungen hinzufügt, sondern indem die Cut-Scene – um die es sich letztlich auch bei Shadow of the Collossus handelt – dezidiert Handlungsunfähigkeit im interaktiven Medium herstellt). 1.4. Überblick Im Folgenden soll jedoch vor allem die solcherart formal gelungene Umsetzung des Mediums Computerspiel im Film betrachtet werden. Hierfür wird ein Genre gewählt, das sich für die filmische Umsetzung geradezu aufdrängt, da die Spielfom die grundlegende Eigenschaft jedes Films besitzt: die Sichtweise der Kamera als zentralperspektivische Darstellung des Raums. Diese im Deutschen sogenannten Egoshooter stellen zugleich eine Herausforderung für die medienwissenschaftliche Untersuchung des Computerspiels dar, da es gerade ihre Inhalte sind, welche sie belanglos oder vor allem geschmacklos erscheinen lassen. Für eine medienwissenschaftliche Erforschung waren sie daher lange Zeit nicht anders von Interesse denn hinsichtlich der Frage, ob sie die in ihnen gezeigte Gewalt und das Blutvergießen auch im wirklichen Leben zur Folge haben.4 Die ‚inhaltistische‘ Annäherung an das Medium Computerspiel führte gegen Ende des letzten Jahrhunderts zum Aufstieg der Game Studies, die sich im Zeichen einer dezidierten Spieleforschung als Ludologie gegen den Ansatz der Narratologie stellte. Zu Beginn des neuen Jahrtausends führte sie letztlich auch zu einem Umdenken in der medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Computerspielen. Im vorliegenden 3Vgl. Sicart, Ethic, S. 216. 4 Vgl. dazu auch die Metastudie von Lee/Peng, Effects. 172 Stephan Günzel Beitrag wird diese zentrale Debatte zunächst rekonstruiert, nicht nur um zu zeigen, dass Paradigmen der Medienwissenschaft selbst eine Folge der Medienentwicklung sind. So ließe sich die These vertreten, dass der Unterschied zwischen filmischer Adaption des Spieleinhalts und filmischer Adaption der Spielform die Forschungsperspektive insofern präjudiziert, als dass narratologische Ansätze den Fokus der ersten Umsetzungsform übernehmen5 und ludologische Ansätze den Fokus der zweiten. Darüber hinaus lässt sich zeigen, dass die Wende zum Spiel einen Spatial Turn impliziert,6 insofern Computerspiele nicht (wie vielfach in der Ludologie geschehen) einfach der Menge aller (auch nichtdigitalen) Spiele zugeschlagen werden, sondern die spezifische Medialität des Computerspiels ernst genommen wird. Ausgehend hiervon werden dann die Räume des Computerspiels – im Besonderen des Egoshooters, der das Medium formal radikalisiert – im Hinblick auf verschiedene filmische Adaptionsversuche untersucht, um zu zeigen, ob und was der Film von den Räumen des Computerspiels weiß. 1.5. Exkurs: Spiel und mögliche Welten im Film Zwei Beispiele für die formale Adaption des Computerspiels, bei denen nicht die Räumlichkeit von Spielen im Vordergrund steht, wohl aber (räumliche) Spielstrukturen, seien vorab bereits exemplarisch genannt:7 Lola rennt (D 1998, Tom Tykwer) und eXistenZ (CAD/GB 1999, David Cronenberg). Während letztere sich auch auf der Inhaltsebene mit dem Computerspiel auseinandersetzt, gibt erster allein ein paar Hinweise darauf. a) Lola rennt Die weitgehende inhaltliche Absenz des (Computer-)Spiels in Lola rennt hat dazu beigetragen, dass die Besonderheit des Films, einen Abschnitt erzählter Zeit drei Mal in Variation zu zeigen, dahingehend interpretiert wurde, dass es sich um mögliche, wenn nicht gar parallel existierende Welten handelt. Ersteres entspräche der philosophischen Annahme möglicher Welten, wie sie in der Gegenwart insbesondere von David K. Lewis und Nicolas Rescher im Anschluss an das dem Theodizee-Gedanken von Leibniz zugrundeliegende Theorem vertreten wird.8 Zweites entspricht dem physikalischen (als ‚Schrödingers Katze‘ bekannten) Paradoxon, wonach die Wirklichkeit oder der Zustand einer Welt erst dann in Erfahrung gebracht werden kann, wenn eine Messung in ihr vorgenommen wird – im Falle von Lola rennt also: wenn die Protagonisten des Films die jeweilige Welt ausagieren. Bis dies geschieht, sind alle drei Möglichkeiten gleich wahrscheinlich; im Sinne der Theorie möglicher Welten existieren sie nebeneinander. Lola rennt zeigt somit nur Möglichkeiten auf, die sie in ihrer Virtualität belässt.9 Auch wenn Tom Tykwer selbst Hinweise in Richtung der Möglichkeitstheoreme gegeben hat, muss der Film nicht ausschließlich so interpretiert werden; insbesondere 5 Vgl. so etwa Hartmann, Literatur. 6 Vgl. dazu auch Günzel, Spatial Turn. 7Zu einer Symptomatik von Annäherung des Kinos an das Computerspiel vgl. Distelmeyer, Spieltheorie. 8Zur Anwendung auf fiktionale Welten vgl. einschlägig Ryan, Possible Worlds. 9 In diesem Sinne hat vor allem Ruth Perlmutter argumentiert und Lola rennt interpretiert. – Vgl. Perlmutter, Possible Worlds. Eine Frage der Perspektive 173 da im Film der erste Lauf von einem Casino-Croupier mit dem Ende der Geldsetzung („nichts geht mehr“) und dem Beginn des Spiels eröffnet wird, wie auch der Polizist am Anfang sagt, dass nun ‚das Spiel beginnt‘. So kann vielmehr ein Aspekt hervorgehoben werden, der Filme, welche die Möglichkeit der Wirklichkeit thematisieren, zumeist auszeichnet. So wird auch in dem für die Virtualisierung erzählter Zeit im Film einschlägigen L’année dernière à Marienbad (F 1961, Alain Resnais) das Spiel(en) thematisiert, insofern der Ehemann der von den Protagonisten umworbenen Frau die übrigen Hotelgäste mit einer Variante des Nim-Spiels (bei dem eine oder mehrere Reihe(n) von Streichölzern von den Spielern abwechselnd weggenommen werden) zum Grübeln bringt, da er dieses immer gewinnt. Tatsächlich existiert zu diesem Spiel eine Gewinnstrategie, die zum sicheren Erfolg führt, sofern das Spiel von demjenigen begonnen wird, der sie befolgt. Die narrative Einbindung eines konkreten Spiels kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass auch die Ereignisse im Hotel im Sinne des Spiels zu verstehen sind: das vermeintliche Miteinander als Spiel der ‚feinen Gesellschaft‘, das Umwerben der Frau als Balzspiel und freilich der Film überhaupt als Spiel mit der Möglichkeit (von Realität). Lola rennt in die Tradition des ‚Spiel‘-Films einzuordnen, würde somit den Aspekt der möglichen Welt um den des Spiels ergänzen oder das eine durch das andere vielleicht gar ersetzen, wenn die Möglichkeit als dem Spiel inhärent angesehen wird: Das dreimalige Durchlaufen desselben Möglichkeitsraums nämlich entspricht der klassischen Struktur von Spielen der Automaten- oder Spielhallen-Ära. Bei den danach benannten ‚Arcade-Games‘ wurden die Ansprüche von Monetarisierung (seitens der Betreiber) und von Vergnügen (seitens der Spieler) dadurch in ein Gleichgewicht zu bringen versucht, dass mit einem Bezahlvorgang drei Optionen gekauft wurden, das Spiel zu spielen, es im besten (jedoch sehr seltenen) Fall zu Ende zu spielen, vor allem aber, um sich in die High Score-Liste eintragen zu können. Übernommen wurde diese Struktur wiederum von den Pinball-Geräten, bei denen das, was im Spiel narrativ als ‚Leben‘ firmierte, die Bälle waren – oder vielmehr der eine Ball, der drei Mal ins Spielfeld geschossen werden konnte. Lola ist nun dieser Ball im Flipperautomaten, der drei Mal in seine Welt geschossen wird und beim dritten Mal tatsächlich an das erhoffte Ziel kommt – was im Computerspiel beispielsweise bei Super Mario, in dem die von den Spielern kontrollierte Figur Mario ebenfalls permanent rennt, am Ende zum Stillstand kommt und dann mit der Prinzessin in trauter Zweisamkeit dargestellt wird (dagegen wird bei Tykwer in der Geschlechterumkehr von Lola ihr geliebter Manni errettet). b) eXistenZ Wie bereits angedeutet, tritt im Falle von Cronenbergs eXistenZ der Zusammenhang mit dem Computerspiel deutlicher hervor: Die Handlung des Films dreht sich um eine Spielkonsole mit einer Biomechanik, durch welche die Nutzer (einmal mit einer Art Nabelschnur über das Rückenmark mit dem eigentlich selbst nur aus einem Controller bestehenden Gerät verbunden) über ihre Vorstellungskraft Spielfiguren steuern können, die genau so wie sie selbst aussehen. Dieser Vorgang einer totalen Immersion wird gegen Ende des Films dann dazu genutzt, die bis dahin vermeintlich klar geschiedenen Ebenen zwischen wirklicher Welt und Welt des Spiels ineinander fallen zu lassen oder vielmehr (und so gesehen steht auch eXistenZ in der Tradition von L’année dernière à 174 Stephan Günzel Marienbad) die bis dahin als solche hingenommene ‚Wirklichkeit‘ als ein bereits ablaufendes Spiel (namens ‚transCendenZ‘) zu dekuvrieren, ohne den Zuschauern Gewissheit darüber zu geben, ob dies nun die letztliche Ebene der Wirklichkeit ist. Doch es ist nicht dieser Aspekt der Immersion und der damit einhergehenden Ebenenverwechslungen, welcher spezifisch wäre für Computerspiele – ganz im Gegenteil sind dies eher Mythen, die über digitale Spiele kursieren –, sondern inszenatorische Details, wie der (auch in Filmen zuvor schon anzutreffende) plötzliche Wechsel zu einem Handlungsort, der wie diejenigen im Computerspiel keinen inhaltlichen Bezug zum vorhergehenden haben muss, sondern schlichtweg die Welt des nächsten Levels ist, oder das Ausloggen aus dem Spiel, welches im Film durch den Ausruf „eXistenZ is paused“ angekündigt wird, auf den dann wiederum der Zusammenbruch der Figur folgt. Vor allem aber tritt Cronenbergs Wissen über Computerspielstrukturen zu Tage, wenn er die beiden Protagonisten, nachdem sich diese zum ersten Mal gemeinsam in das Spiel eingeloggt haben und also in dessen Welt(en) eingetaucht sind, als gesteuerte Spielfiguren auf eine andere Figur treffen lässt, die vom Programm gesteuert wird. Dieser sogenannte Non-Player-Charakter, der Betreiber eines Spieleladens, von dem sie wiederum eine Miniaturausgabe des Bioports erwerben und ein Spiel im Spiel spielen, muss vorlaufend zu dem Einsatz dieser Konsole im Film in einem Hinterzimmer, wo er ihnen die legal nicht in der (Spiel-)Welt erhältliche Konsole aushändigen will, angesprochen werden, um eine Handlung zu provozieren, das heißt in diesem Fall, um eine Auskunft zu erhalten. Bis die erfahrene Spielerin (die auf der bis dahin bestehenden Realitätsebene auch die Entwicklerin des Spiels ist) dem Novizen den Hinweis gibt, die Figur anzusprechen, verhält sich diese merkwürdig: Sie sitzt nahezu apathisch auf einer Kiste und bewegt in langsamer Rotation allein den Kopf. Hierbei handelt es sich um eine Sonderform des computerspieltypischen „ambience act“10, wie ihn Alexander Galloway nennt, also um eine Umgebungshandlung, welche das Programm ohne Zutun der Spieler ausführt. Im Gegensatz beispielsweise zum Vorbeilaufen einer nicht-handlungsrelevanten Figur ist das, was in eXistenZ filmisch aufgegriffen wird, ein „micromovement“11, das dem Spieler in Situationen, in denen das Spiel zwar nicht pausiert, er aber dennoch aktuell nicht handelt, signalisiert, dass das Spiel noch läuft. II.Spieletheorie 1. Ludologie vs. Narratologie 1.1. Ludologie In der Grundlagendebatte der Computerspielforschung des vergangenen Jahrzehnts werden zumeist zwei entgegengesetzte Positionen stark gemacht: einmal diejenige der Narratologie und zum anderen diejenige der Ludologie.12 Während Narratologen ein 10 11 12 Galloway, Gamic Action, S. 10. Galloway, Gamic Action, S. 10. Der Terminus Ludology geht auf Gonzalo Frasca aus dem Jahr 1998 zurück, der den Ansatz rückblickend wie folgt bestimmt: „Ludology can be defined as a discipline that studies games in general, and video games in particular.“ (Frasca, Simulation, S. 222) – Eine frühe Verwendung des Terminus findet sich jedoch bereits bei dem Flow-Theoretiker Mihaly Csikszentmihalyi. Vgl. Csikszentmihalyi, Being Human. Eine Frage der Perspektive 175 Computerspiel als interaktive Erzählung auffassen, verstehen Ludologen dieses vor allem als digitales Spiel: Für die Narratologie ist das Computerspiel demnach nur eine Geschichte, welche in anderer Form als etwa der Literatur umgesetzt wurde, ohne dass sich die Erzählung dadurch wesentlich ändern würde. Ebenso wie sich ein Film nur graduell von einem Roman unterscheide, so differiere auch das Computerspiel nur wenig von einer schriftlich niedergelegten Geschichte:13 Stets gebe es eine Person oder Figur, die im Zentrum der Handlung stehe, und stets lasse sich ein Erzähler identifizieren, aus dessen Position die Geschichte erzählt wird. Aber auch von Ludologen wird das Computerspiel als nur unwesentlich verschieden von etwas bereits Bekanntem angesehen: Denn das Bildschirmspiel ist für diese Position die Fortsetzung eines Echtraumspiels mit anderen Mitteln, das heißt, eine digitale Umsetzung der Regeln eines Brett-, Papier- oder Denkspiels. Ludologische Analysen vergleichen Computerspiele daher nicht mit gedruckten oder gefilmten Geschichten, sondern mit analogen Spielen, deren Erforschung dadurch letztlich auch wieder eine Konjunktur erfahren hat. Ludologen wie Narratologen negieren folglich auf je eigene Weise, dass Computerspiele eine Eigenschaft aufweisen, durch welche sie von einer Erzählung oder von einem herkömmlichen Spiel über die Spielmittel, also die Hard- und Software, den Rechner und das Programm hinaus zu unterscheiden wären. Vielmehr sind beide der Ansicht, dass was und wie Computerspiele sind, sich auch ohne Computer realisieren ließe. Dabei wird die einfache Tatsache übergangen, dass alle Computerspiele sich dadurch auszeichnen, Erscheinungen auf einem Bildschirm zu sein. Computerspiele sind in erster Linie Bilderscheinungen und als solche deutlich von Literatur, Film und auch von anderen Spielen unterschieden. Daher liegt die Besonderheit auch nicht allein in der Interaktivität – da es diese ja bereits auch zwischen spielenden oder kommunizierenden Menschen gibt –, sondern sie liegt in der Manipulationsmöglichkeit des interaktiven Bildes selbst: Computerspiele sind, wie Constanze Bausch und Benjamin Jörissen treffend schreiben, „‚erspielte‘ Bilder“.14 Die mediale Differenz wird von narratologischer wie auch von ludologischer Seite durchaus mitgedacht, und ganz notwendigerweise rekurrieren beide in ihren Beschreibungen von Computerspielen immer auf etwas ‚als Spiel‘ oder ‚als Geschichte‘, das als bildhaft Vermitteltes angenommen wird – ohne aber diesem besonderen Status des Computerspiels Rechnung zu tragen und das heißt: mit der Beschreibung des Computerspiels bei diesem ‚als Bild‘ anzusetzen. 1.2. Das Computerspiel als Medium Dass es sich beim Computerspiel um ein eigenständiges Medium handelt, hat bereits 2001 der Filmwissenschaftler Mark Wolf mit dem Titel seines Buches The Medium of the Video Game, deutlich gemacht. Gleichwohl führt der von Wolf zugrundegelegte Medienbegriff dazu, dass er letztlich die Prämisse von Ludologie und Narratologie bestätigt: Denn für Wolf bedeutet Medium wiederum nur Mittel, weshalb er im hierfür einschlägigen Kapitel seines Buches schlichtweg die Geschichte der Computer(spiel) 13 14 Die Arbeiten von Janet H. Murray betonen die Kontinuität von herkömmlicher Erzählung und Narration im virtuellen Raum. Auch wenn Computerspiele nur am Rande thematisiert werden, gilt ihre Monografie Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace von 1997 als Klassiker der narratologischen Computerspielforschung. Bausch/Jörissen, Spiel, S. 347. 176 Stephan Günzel systeme rekapituliert.15 Freilich gibt es keine Computerspiele ohne Computer oder seine Vorformen, doch ist das genau der Aspekt, der in der alltäglichen Mediennutzung meist irrelevant ist. In der alltäglichen Praxis wird nämlich nicht mit dem Programm oder der Hardware gespielt, sondern es wird mit Bilderscheinungen interagiert, deren Weise des Zustandekommens für die Bildbenutzung (dem Spielen) nicht bekannt sein muss. Anders gesagt ist das, was das Computerspiel zu einem eigenständigen, von Film und Buch, aber auch vom herkömmlichen Spiel, unterschiedenen und unterscheidbaren Medium macht, das durch den Spieler manipulierbare Bild. Erst dies macht die spezifische Medienform des Computerspiels oder seine Medialität aus.16 1.3. Probleme der Narratologie Der Frage nach den Grundlagen von Computerspielforschung haben sich in der letzten Dekade die vor allem in Nordamerika und Skandinavien beheimateten Game Studies verpflichtet.17 Die in diesem Zuge vorgeschlagene Differenzierung zwischen Narratologie und Ludologie hatte einen konkreten Anlass und mehrere Implikationen: Unmittelbarer Anlass war der Umstand, dass Literatur-, aber auch Filmwissenschaftler begannen, sich mit Computerspielen zu befassen, ohne die Spielerfahrung oder das Spielerlebnis erkennbar in ihre Analysen einzubeziehen. So scheint es für Narratologen ausgemacht, dass für die Wissenschaften der älteren Medien ein Spiel als Geschichte gegenüber dem Film immer minderwertig bleiben wird: „In terms of traditional narrative meaning, games“, so der Medienwissenschaftler Andrew Darley, „are even more shallow than the blockbuster movie or the music video.“18 Vorrangiges Erkennungsmerkmal der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen sind dabei Beschreibungskategorien, welche sich aus den Beständen der Philologien speisen: So wird ein Spiel stets als Text angesehen, der quasisprachlich vermittelt ist. Kurz gesagt „übertrugen“ die Narratologen „relativ unkritisch Schemata zur Beurteilung narrativer Medien (insbesondere von Film und Roman) auf das virtuelle Medium Computerspiel“19, wie es in einem Arbeitspapier der Bundeszentrale für politische Bildung formuliert wird. Das Paradigma des Textes, in dem Computerspiele von Narratologen behandelt wurden, führte letztlich dazu, dass sich ein bestimmter Spielekanon der Narratologie herausgebildet hat, der vor allem Spiele umfasst, die entweder auf einer vorausgehenden Erzählung basieren oder eine solche in anderen Medien generieren. Das heißt, die Beschreibung ist somit nicht allein durch die Vorgehensweise bedingt, sondern darüber hinaus auch durch die Auswahl der Spiele: Im Besonderen sind Adventure- oder Rollenspiele die 15Vgl. Wolf, Video Game. 16 So formuliert Markus Rautzenberg prägnant: „Eine Analyse des Bildschirmspiels setzt zwingend einen Medienbegriff voraus, ohne den die Beschreibung des Phänomens gar nicht erst zustande käme, denn die basalen Bedingungen der Möglichkeit von Bildschirmspielen werden erst durch deren mediale Verfasstheit gewährleistet.“ Rautzenberg, Spiegelwelt, S. 13. 17 Von Espen Aarseth, Markku Eskelinen, Marie-Laure Ryan und Susana Tosca wird seit 2001 die gleichnamige Onlinezeitschrift herausgegeben. – Für den Versuch einer Themeneingrenzung vgl. auch Eskelinen, Game Studies. 18 Darley, Culture, S. 154. 19 Witting u.a., Computerspiel, S. 1. Eine Frage der Perspektive 177 bevorzugten Genres, aus denen die Exempel in narratologischen Analysen stammen, ohne dass dieses Auswahlkriterium dabei reflektiert wird.20 Im selben Zuge verhandeln Narratologen oftmals digitale Kommunikationsformen wie Internetforen, Multi-User-Dungeons und (Mehrspieler-) Online-Rollenspiele oder virtuelle Welten, die aber eher Plattformen bieten, auf denen virtuelle Parallelgesellschaften kultiviert werden,21 als dass es sich um Spiele im engeren Sinne handelt, welche auf dezidierten Regeln basieren und sowohl räumlich als auch zeitlich begrenzt sind. In dem 2003 freigeschalteten Second Life etwa findet ein Spielen in einem anderen Sinne statt als bei sonstigen Computerspielen: Es wird dort vorrangig mit der Identität gespielt.22 Computerspiele können aus Sicht der Narratologie damit zumeist nur als Derivate oder Hybriden zwischenmenschlicher Kommunikation thematisch werden, nicht aber als ein spezifisches Medium. Gleichwohl tragen narratologische Analysen zum Verständnis dieser neuen Kommunikationsformen bei und können ihrerseits eine Basis für deren Beschreibung bilden, jedoch verliert ein solchermaßen „offener Textbegriff“23 sein medienanalytisches Beschreibungspotenzial. Angesichts der narratologisch eingeschränkten Sicht auf Computerspiele bündelte der finnische Spieletheoretiker Markku Eskelinen stellvertretend für die ludologische Schule in der Gründungsnummer von Game Studies seinen Ärger in dem seither vielzitierten Statement: „If I throw a ball at you I don’t expect you to drop it and wait until it starts telling stories.“24 Eskelinens Unmut bezog sich auf die aus dem literaturwissenschaftlichen Herangehen resultierende Hierarchisierung der Spiele. Der erste Schritt zu einem eigenständigen spieletheoretischen Ansatz wurde überraschenderweise jedoch nicht dadurch gemacht, dass man sich von ludologischer Seite Computerspielen zugewandt hätte, in denen kein erkennbarer Text vorkommt. Dies wurde in der Folge zwar auch getan, der eigentliche Einsatz bestand aber in etwas anderem: Das Vorgehen bestand darin, mit den ureigenen Mitteln der literaturtheoretischen Betrachtung zu zeigen, dass selbst der eingeschränkte Spielekanon sich nicht hinreichend analysieren ließ. Ein Hauptargument der Ludologen war hierbei, dass selbst wenn eine Geschichte im Computerspiel vorliegt, diese gänzlich anders strukturiert ist als in ihrer herkömmlichen Form: Literatur wird linear rezipiert. Spiele sind demgegenüber zwar nicht gänzlich nichtlinear, unterscheiden sich von einem gedruckten Text aber durch die Möglichkeit, dass der ‚Leser‘ zwischen Alternativen wählen und damit den Fortgang der Geschichte verändern kann. 1.4. Plot und Story des Computerspiels Eine Grundunterscheidung der Narratologie, die bereits 1929 von dem englischen Literaturwissenschaftler Edward Forster vorgebracht wurde, kann diesen Unterschied 20 21 22 23 24 Von hier aus wurde besonders der mythologische Charakter der Spiele betont, der besonders durch die Herkunft der Spielfiguren aus Fantasy-Romanen oder Kinofilmen bedingt ist. Vgl. etwa Wessely, Star Wars. Vgl. dazu Taylor, Worlds, und Lober, Virtuelle Welten. Was letztlich der Logik des Internets als dem hier entscheidenden Medium geschuldet ist. Vgl. hierzu einschlägig Turkle, Leben. Gunzenhäuser, Spielkultur, S. 52. Eskelinen, Gaming Situation. 178 Stephan Günzel allgemein fassen: die Differenz von plot und story.25 Im Unterschied zur story, welche die Fülle der erzählten Einzelereignisse in ihrer zeitlichen Abfolge meint, bezieht sich plot nach Forster nur auf solche Ereignisse, zwischen denen ein logischer oder kausaler Zusammenhang besteht: „A plot is also a narrative of events, […] but the sense of causality overshadows it.“26 Die story ergibt sich also aus der Tätigkeit des ‚Erzählens‘ im wörtlichen Sinne als Auf- oder Her‚zählen‘ von einzelnen (realen oder fiktionalen) Tatsachen, der plot hingegen ist die ‚Han ung als der wirkursächliche Zusammenhang zwischen diesen. Der Unterschied zwischen story und plot beziehungsweise Erzählung und Handlung(en) wird etwa dann augenfällig, wenn die Leser eines Buchs oder die Besucher eines Films nach der Rezeption gefragt werden, ‚worum es ging‘. Zumeist wird dann die story rekapituliert und etwa von amourösen Verwicklungen berichtet, nicht aber die Liebesszenen als plot im Detail beschrieben. Diese Ebene der Handlung, die Forster „an organism of a higher type“27 nennt, ist damit eine Konstruktion von raumzeitlichen Zusammenhängen, von denen Autoren oder Filmemacher erwarten können, dass Leser oder Betrachter sie während der Rezeption aufdecken und aus ihnen eine (variable) story herauslesen, die im Vergleich zum plot vergleichsweise banal sein kann. So werden auch Computerspieler auf die Frage danach, um was es in einem konkreten Spiel geht, oftmals versuchen, eine story aus den Kausalzusammenhängen abzuleiten: Etwa wird rekapituliert, es habe einen Unfall in einer Marsstation gegeben und deren Arbeiter hätten sich nun in Zombies verwandelt, die es im Spiel zu töten gilt. Nicht zuletzt auf Spieleverpackungen und in der Werbung finden sich solche Versuche, aus der Handlung eine Erzählung abzuleiten, was einer der Hauptgründe ist, warum Computerspiele für manche Menschen wenig interessant oder gar stumpfsinnig erscheinen. Die mediale Besonderheit von Computerspielen liegt aber gerade nicht auf der Ebene der Erzählung, sondern auf derjenigen der Handlung: Während die Erzählung in der Interpretation der Rezipienten variieren kann, variiert im Computerspiel auch die in anderen Medien ansonsten unveränderliche Handlung. So haben Spieler gegebenenfalls die Möglichkeit, um die Zombies herumzugehen, die sie töten könnten, oder sie in einer beliebigen Reihenfolge zu töten. Diese Wahlmöglichkeit hat der Leser des Buchs oder der Betrachter des Films nicht: Einzig kann er das Buch weglegen oder die Augen schließen.28 Die Handlung eines Spiels ist folglich nicht gänzlich vorgegeben, allenfalls sind die Möglichkeiten der Variation durch das Programm oder die Rechnerkapazität begrenzt; und freilich gibt es in vielen Spielen eine ‚ideale Handlung‘, die (wie etwa 25 26 27 28 Im russischen Formalismus wurde die ähnlich gelagerte Unterscheidung von ‚Fabel‘ und ‚Sujet‘ verwendet, im französischen Strukturalismus diejenige von histoire und discours, wobei hiermit bereits eine Verschiebung verbunden ist, die den Unterschied von story und plot nach Forster einebnet und beiden gegenüber die (dahinterliegende) Narration als ein Drittes treten lässt. Forster, Aspects, S. 87. Forster, Aspects, S. 44. Aber auch wenn man diese Ansicht nicht teilt und meint, im einzelnen Computerspiel liegt dennoch eine letztlich linear rezipierte story vor, so hat man damit einfach die Ebenen der Analyse verschoben. Vielmehr müsste man nun zugestehen, dass der plot in das Spiel hineingenommen wurde und also nun die Ebene der story einnimmt. Dann ist Handeln im Spiel ein Verursachen von Folgen, die eine story in der Bildausgabe zu Folge haben. Eine Frage der Perspektive 179 Speedruns zeigen) die Erzählung in möglichst kürzester Zeit vermitteln – einem Ziel, das durchaus disziplinierenden Charakter für die Performance der Nutzer hat.29 1.5. Ergodik Aus dem Kreis der erst später so genannten Ludologen war es vor allem der heute am Center for Computer Games Research der Kopenhagener IT‑Universität lehrende Chefherausgeber von Game Studies, der Norweger Espen Aarseth, welcher 1997 mit seinem Buch Cybertext erstmals versuchte, die Eigenständigkeit der Computerspiele – und entsprechend die ihrer Analyse – in solcher Hinsicht herauszustellen. Wie der Titel unmissverständlich zeigt, hält Aarseth am Begriff des Textes fest. Das ist auch kein Widerspruch zum ludologischen Anliegen, denn dieses vertritt nicht die Auffassung, dass Computerspiele keine narrativen Elemente aufweisen,30 sondern nur, dass sie zufolge der Form ihrer Rezeption nicht wie schriftlich niedergelegte Erzählungen zu begreifen seien. Aarseth hat in seiner ersten monografischen Arbeit, die bisweilen als Gründungsdokument der Ludologie gehandelt wird, daher wenig auf existierende Theorien des Spiels und Spielens rekurriert als sich vielmehr zum Ziel gesetzt, die besondere Erzählweise in Computerspielen aufzuzeigen. Aarseths Fokus liegt auf der Labyrinthstruktur der nonlinearen Erzählung eines Computerspiels, deren Status er durch den Neologismus Cybertextualität kenntlich zu machen sucht. Beschrieben werden soll damit die Eigenart der Computerspielerzählform, die Handlung ‚steuern‘ zu können, insofern zwischen Alternativen gewählt werden kann. Anders als beim Buch, bei dem Sprünge allenfalls durch Blättern oder innerhalb einer Erzählung durch explizite Vor- und Rückgriffe möglich sind, ist es eine Eigenschaft von Computerspielerzählungen, die sich aus den Handlungen ergeben, dass eine Entscheidung insgesamt Einfluss auf den Spielverlauf hat;31 also etwa, dass der Weg durch das Spiellabyrinth mit einer bestimmten Waffe oder dem Schlüssel aus einem Zimmer leichter fällt oder überhaupt erst möglich wird, denn ohne das entsprechende Werkzeug. Aarseth weist die Narratologie damit auf die Andersartigkeit des Spiels gegenüber jeder bisher bekannten Form von Literatur hin:32 „A nonlinear text is […] not simply one fixed sequence of letters, words, and sentences but one, in which 29 Es gibt durchaus mediale Übergangsphänomene; Texte etwa, in welchen Leser die Möglichkeit haben, sich nach einer Passage zu entscheiden, wie als nächstes gehandelt werden soll. Zu denken ist hier vor allem an Rayuela von Julio Cortázar aus dem Jahr 1963. Als eigenständige Literaturform ist sie jedoch vor allem eine Adaption der Computerspiellogik: Zu denken ist hier etwa an das Buch des Informatikers und Brettspielentwicklers Wolfgang Kramer Palast der Rätsel von 1995. Auch wenn hierfür wiederum Vorläufer in Kabbalistik, der chinesischen Antike (‚I Ging‘) oder auch bereits in der frühen Science Fiction Literatur genannt werden können, so ist die dezidierte Form der Aneinanderreihung von Räumen und deren Verschaltung eine Invention des Computerzeitalters. 30Vgl. Frasca, Ludologists. 31 „I refer to the idea of a narrative text as a labyrinth, a game, or an imaginary world, in which the reader can explore at will, get lost, discover secret paths, play around, follow the rules, and so on.“ Aarseth, Cybertext, S. 3. 32 Aarseth unterscheidet hierfür zwischen dem, was gelesen wird und dem, wovon gelesen wird. Erstes sei bei herkömmlicher Literatur identisch. Nur bei Computerspielen (oder Hypertexten und in MUDs) trete der Unterschied offen zu Tage: „[W]hen you read from a cybertext, you are constantly reminded of inaccessible strategies and paths not taken, voices not heard. Each decision will make some parts of the text more, and others less, accessible, and you may never know the exact results of your choices; that is, exactly what you missed.“ Aarseth, Cybertext, S. 3. 180 Stephan Günzel the words or sequences of words may differ from reading to reading because of the shape, conventions, or mechanisms of the text.“33 Der für diese neue Textsorte von Aarseth in Anschlag gebrachte Terminus ist derjenige der ergodic literature. Ergodische Literatur im Sinne Aarseths ist eine Narrationsform, in welcher die Handlungsabfolge des Spiels aus einer Arbeit (gr. ergon) der Spieler resultiert. Der kausale Zusammenhang liegt zufolge Aarseths als Weg (gr. hodos) vor. Auch nach Aarseth kann gelten: Nicht die Erzählung im Sinne der story zeichnet daher Computerspiele aus, sondern die kausale Verknüpfung der Erzählelemente oder Ereignisse, die im Durchlaufen des Spielraums in Beziehung gebracht werden. 2. Die Wende zum Raum 2.1. Aarseth: Allegorien des Raums Drei Jahre nach der Veröffentlichung seiner Monografie Cybertext merkt Aarseth an, dass der Räumlichkeit in der Analyse von Computerspielen nicht nur eine „zentrale Rolle“ zukommt, sondern sie „sogar als definierendes Merkmal von Computerspielen angesehen werden“ kann.34 Ganz gegenteilig zu der sich aufdrängenden Assoziation mit William Gibsons Schlagwort des ‚Cyberspace‘ (auch wenn dieser in dem Roman Neuromancer von 1984 selbst durch Computerspiele inspiriert wurde)35 geht es Aarseth nicht um eine Ontologie des digitalen Spielraums, sondern darum, anhand der Raumdarstellungen den Gegenstand zu spezifizieren:36 „Die Weise der Darstellung von Raum ist daher auch eine gute Grundlage für die Klassifikation von Computerspielen.“37 Eine hierfür wichtige Unterscheidung ist diejenige zwischen darstellendem und dargestelltem Raum (entsprechend der filmtheoretischen Unterscheidung von Erzählzeit und erzählter Zeit). Während für Wolf alle Computerspielbilder per se dargestellten Raum zeigen,38 also Raumrepräsentationen sind, kann darüber eine neue Richtung der Computerspielanalyse auf Grundlage von Räumlichkeit eingeschlagen werden, die sich von der Prämisse einer apriorischen Repräsentationalität aller Bilder abwendet. Zwar können Elemente des Computerspiels als Repräsentationen angesprochen werden, aber nicht alles, was das Interaktionsbild zeigt, sind schon Re‑Präsentationen. Aarseth selbst schlägt hierbei die übergreifende Bezeichnung der Allegorie vor. Solcherart sind Computerspielbilder für Aarseth Verdichtungen oder Sinnbilder von Raum;39 er betont jedoch, dass es im Spiel selbst nicht um das Verhältnis zum realen Raum geht, sondern um die durch das Bild ermöglichten Handlungen. Auch in diesem Sinne sind Computerspiele Raumallegorien: Es sind verdichtete Aktionsmuster. 33 Aarseth, Nonlinearity, S. 51. 34 Aarseth, Allegorien, S. 301. 35Vgl. Gibson, Art. 36Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Cyberspace-Schlagwort im Computerspielkontext und einer Konturierung von Aarseths Ansatz vgl. Newman, Videogames. 37 Aarseth, Allegorien, S. 301. 38Vgl. Wolf, Space. 39 Auch wenn Aarseth einen Weg aus dem Repräsentationsparadigma sucht, so bleibt er diesem doch auch verhaftet, wenn er schreibt, dass Computerspiele als Allegorien „Kommentare der Unmöglichkeit“ seien, „realen Raum darzustellen“ (Aarseth, Allegorien, S. 317). Die Nichtrepräsentationalität des Bildes ist demnach nur Ergebnis der unzureichenden Bildtechnik, womit der Cyberspace oder Immersivität ermöglichende Bildträger nach wie vor den heuristischen Horizont bilden. Eine Frage der Perspektive 181 Zur Spezifikation nimmt Aarseth Anleihen in der Raumsoziologie, namentlich bei Henri Lefebvre und dessen Theorie der gesellschaftlichen Produktion von Raum.40 Lefebvre differenzierte drei Momente sozialer Räumlichkeit: einmal die räumliche Praxis (frz. pratique spatiale), sodann Raumrepräsentationen oder Repräsentationen von Raum (frz. représentations de l’espace) sowie zuletzt Repräsentationsräume (frz. espaces de représentation). Es handelt sich hierbei abermals nicht um substantielle Bestimmungen, sondern um Funktionen oder Handlungsperspektiven, womit Lefebvres Systematik Entsprechungen zur Fokalisationstheorie Gerard Genettes aufweist,41 insofern die räumliche Praxis eine subjektive Handlungsperspektive oder die vagrante Fokalisation, die Raumrepräsentation eine allwissende Handlungsperspektive oder die Nullfokalisation und der Repräsentationsraum die Verbindung aus beiden bezeichnet. Anders als in der Fokalisationstheorie, die vor allem auf den Unterschied zwischen den Perspektiven abzielt, betont Lefebvre in seiner Raumtheorie, dass die drei unterschiedlichen Perspektiven aufeinander bezogen werden müssen. Das dialektische Schema kann daher im besonderen Maße für eine Beschreibung von Computerspielen nutzbar gemacht werden: So nimmt Aarseth an, dass Computerspiele stets „formale Relationssysteme“ (Raumrepräsentationen) sein können, wie zugleich auch „symbolische Bilder“42 (Repräsentationsräume). Zudem kann in Computerspielen eine primäre Raumpraxis im Sinne der subjektiven Perspektive vorliegen.43 2.2. Lefebvre: Dialektik der Raumproduktion Die Dreiteilung Lefebvres rekurriert damit auf die Verwobenheit von wahrgenommenem Raum (frz. espace perçu), konzipiertem Raum (espace conçu) und gelebtem Raum (espace vécu); die Momente des Wahrgenommenen oder die Perzepte (perçu), des Geplanten oder der Konzepte (conçu) sowie das Gelebte (vécu) sind dabei als gegenseitig bedingt zu verstehen. Das heißt, der gelebte Raum als Ausdruck des Repräsentationsraums ist bereits wieder Grundlage des primären Raumhandelns und kann nicht losgelöst hiervon bestehen. Der Eintritt ins Spiel bedeutet demnach den Eintritt in die Dialektik des Spielraums. Damit gibt es keine der drei Perspektiven separat, sondern immer nur im Verhältnis zu einer der anderen. Besonders dem ‚dritten Raum‘ kommt damit keinerlei Eigenständigkeit zu: Er existiert nur durch das Verhältnis zwischen wahrgenommenem und konzipiertem Raum oder eben als Raumerleben.44 Die Raumrepräsentationen fungieren daher als Negation: Der Blick auf eine Karte als omniprä40 Ein Hinweis auf diesen zumeist übersehenen Ausgangspunkt von Aarseths Raumbeschreibung gibt Taylor, Video Games, S. 18. 41Vgl. Genette, Erzählung, S. 121–124. 42 Aarseth, Allegorien, S. 311. 43 Bereits vier Jahre nach Lefebvre hat Eric Rohmer den Raum des Filmbildes mit einem vergleichbaren Schema differenziert: Für ihn ist der Bildraum die Menge aller im Bild dargestellten Elemente. Die Summe aller einzelnen Bildräume ergibt einen architektonischen Raum: So wenn etwa im Schuss-Gegenschuss-Verfahren ein Zimmer mit der Relation der Protagonisten in Szene gesetzt wird. Auf diesem Wege kommt ein filmischer Raum zustande, der die ideelle Summe aller architektonischen Einzelräume ist, der aber nie vollständig abgebildet werden kann oder muss, da die Konstruktion des gelebten Raums letztlich durch den Bildbetrachter geschieht. Vgl. Rohmer, Faustfilm. 44 So schreibt Edward Soja im Anschluss an Lefebvre: „Alles kommt im Dritt-Raum zusammen: Subjektivität und Objektivität, das Abstrakte und das Konkrete, das Reale und das Imaginäre, das Wißbare und das Nicht-Vorstellbare, das sich Wiederholende und das sich Unterscheidende, Struktur und 182 Stephan Günzel sente Sichtweise oder Nullfokalisation negiert den individuellen Blick der streunenden Perspektive und erweitert darüber den Aktionsraum. Mittels Karten als Repräsentationen von Raum wird die bloß subjektive Perspektive durch eine Übersicht ergänzt. Dieses Wissen um den Standpunkt wiederum verändert die Raumpraxis. Spieler, denen im Kartenmodus Ziele oder Gegner angezeigt werden, agieren anders als Spieler, welchen diese Ansicht nicht gegeben ist. Die Gottesperspektive geht darüber in die subjektive Perspektive ein, und es bildet sich das Bewusstsein eines Drittraums durch die Überlagerung beider Perspektiven. Wie der postkoloniale Theoretiker Homi K. Bhabha betont, auf den dieser Terminus des thirdspace zurückgeht, ist das besondere dieser Räume, dass sie sich zwar aus zwei identifizierbaren Teilen und getrennten Ursprüngen zusammensetzen, ihre Kombination aber eine neue Originarität entstehen lässt, die nicht mehr durch die beiden Teile allein beschreibbar ist.45 Dies trifft auch auf die Perspektivverschränkung in Computerspielen zu, die durch das Sehenhandeln permanent in Veränderung begriffen sind: „Die Raumrepräsentationen sind“, so Lefebvre, „von einem stets relativen und sich verändernden Wissen […] durchdrungen. Sie sind also objektiv und dennoch korrigierbar.“46 2.3. Lefebvre und das Computerspiel Eine direkte Anwendung Lefebvres auf das Computerspiel findet sich bei Axel Stockburger, der in seiner Dissertation von 2006 über Modalities of Space Lefebvres Dialektik jedoch nicht auf das Bild, sondern auf das allgemeine Setting anwendet. Er bezieht sich hierbei zunächst auf den Ansatz des finnischen Spieletheoretikers Aki Järvinen, der zwischen dem Programm und der Hardware als System, der Bildausgabe als „Repräsentation“ und dem Interface als der Schnittstelle zur Praxis unterscheidet.47 Im Blick auf Lefebvre erweitert Stockburger dieses Strukturmodell und identifiziert letzteres – die Aktionen des Spielers an der Schnittstelle – mit dem Moment des gelebten Raums nach Lefebvre. Wird dieser von Lefebvre mit dem allgemeinen „Repräsentationsraum“ einer Gesellschaft gleichgesetzt, so geht Stockburger den umgekehrten Weg und meint, beim Computerspiel sei das (soziale) Umfeld – ob zu Hause, in der Spielhalle oder im Netzwerk gespielt wird – gerade das erste räumliche Moment, das bei Lefebvre dem „wahrgenommenen Raum“ entspricht.48 Stockburger verzichtet also bereits darauf, das bei Järvinen noch einbezogene System (Hardware und Software) als für die räumliche Praxis relevant zu betrachten. Wie Järvinen jedoch summiert Stockburger das Bildgeschehen insgesamt als Repräsentation oder mit Lefebvre als Raumrepräsentation. Dazu zählten alle Regeln ebenso wie die fiktional-narrativen Anteile des Spiels.49 Genau hierKraft, Geist und Körper, Bewusstsein und das Unbewusste, das Disziplinierte und das Transdisziplinäre, Alltagsleben und unabschließbare Geschichte.“ Soja, Trialektik, S. 96f. 45Vgl. Bhabha, Third Space, S. 211. 46 Lefebvre, Produktion, S. 339. [Hervorhebung SG] 47Vgl. Järvinen, Elements. 48Vgl. Lefebvre: Produktion, S. 333. 49„Firstly, user space is the physical location of the ‚spatial practice‘ emerging from the gameplay. It has a social dimension, since it is the location of players who meet and interact with each other. Accordingly, within Lefebvre’s triad it can be identified with ‚perceived space‘. Secondly, the modalities of narrative space and rule space are language based abstract dimensions and thus belong to the realm of Eine Frage der Perspektive 183 durch geht aber der Differenzierungszugewinn, der sich mit Lefebvre bezüglich des Computerspielbildes erzielen lässt, wieder verloren, insofern das Bild als ganzes abermals auf seine Repräsentationsfunktion als eine vermeintliche Bildeigenschaft reduziert wäre. Ferner ist zwar zutreffend, dass das Interface zum Spielen unerheblich ist, die Interfaceaktion ist aber selbst Teil des Bildes, ohne das es kein Aktions-, sondern nur ein Bewegungsbild wäre. Bevor also ein Spieler in einem dem Bild äußerlichen Repräsentationsraum agiert, ist er im Spiel bereits durch den Umgang mit dem Simulationsbild in die räumliche Praxis des Computerspiels einbezogen. Es gibt Raumrepräsentationen im Computerspiel selbst. Dabei handelt es sich um Bildschirmansichten von Darstellungen, die wiederum den Raum des Spiels topografisch zur Ansicht bringen. Diese können als großflächige Karten vorliegen; sie können aber auch in Form von Radaransichten auftreten, die räumliche Informationen über die unmittelbare Umgebung der Spielfigur vermitteln. Karten können dauerhaft angezeigt sein oder vom Spieler eingeblendet werden. Sie können den ganzen Bildschirm einnehmen oder in die primäre Ansicht integriert sein. Sie können den Spielraum in Form einer physischen Geografie oder nur Informationen über die Relation zu anderen Spielfiguren anzeigen. Bei keinem anderen Spieletyp tritt die Dialektik des Raums derart deutlich hervor wie beim Egoshooter: Vor allem hier ist die primäre Bildinteraktion in Form einer subjektiven Handlungsperspektive gegeben, die durch eine kartografische Repräsentation des Spielraums unterstützt, ergänzt und darüber verändert wird. Der Egoshooter ist also nicht nur als Computerspiel der Inbegriff dieses Mediums, sondern auch der prototypische Fall der Konstitution eines gelebten Raums. 2.4. Raumbild des Egoshooters Egoshooter zeichnet aus, dass sie nicht nur eine Essenz des Computerspiels sind, sondern dass sie auch diejenigen Aspekte von Bildräumlichkeit in sich vereinigen können, die in Computerspielen sonst nur getrennt vorkommen: Das Interaktionsbild eines Egoshooters konstituiert sich in der Reziprozität von perspektivischer Raumansicht und Repräsentationen des Bildraums. Es spielt dabei keine Rolle, ob die Karte den ganzen Bildschirm ausfüllt oder nur als Teil eines Displays in der primären Bildschirmansicht integriert ist; in jedem Fall entspricht die Karte dem von Lefebvre als Raumrepräsentation ausgewiesenen Darstellungsmodus von Räumlichkeit. Sie ist der Bestandteil, welcher die Integration des streunenden Aktionspunktes leistet. Subjektive Raumansicht und übersubjektive Raumdarstellung sind im Spiel miteinander verschränkt und konstituieren das Computerspiel als Raumerfahrung. Es ist daher nicht nur angebracht vom Computerspiel als einem Aktions- oder Interaktionsbild zu sprechen, insofern die Bildwahrnehmung aus der Manipulation der erscheinenden Bildob‚conceived space‘. Thirdly, the modality of kinaesthetic space is closely linked with Lefebvre’s notion of ‚lived space‘, since it designates the bodily link between player and game, which is established through the interface in conjunction with the non-verbal sets of spatial symbols produced by the audiovisual representational modality of space.“ (Stockburger, Rendered Arena, S. 82. [Hervorhebungen im Original]) Auch in Michael Nitsches Untersuchung von Computerspielräumen findet sich ein solches Verständnis, wenngleich dieser nicht nur drei, sondern fünf Räume unterscheidet: den computergestützten Regelraum, den vermittelten Bildraum, den sich darüber ausbildenden Vorstellungsraum, den wirklichen Raum, in dem gespielt wird, sowie den sozialen Raum des Spiels. Vgl. Nitsche, Video Game, S. 15f. 184 Stephan Günzel Abb. 1: Subjektive Kamera in Go West (1925) Abb. 2: Subjektive Kamera in Doom (2005) jekte hervorgeht, sondern auch von einem ‚Raumbild‘. Das Computerspiel zeigt nicht mehr wie noch das statische Tafelbild eine starre Raumansicht, wobei der Offscreenbereich jenseits des Rahmens im Bild ein Gegenstand der Imagination bleibt, sondern lässt den Raum in zwei komplementären Modi erfahrbar werden: einmal durch die Manövrierbarkeit des Bildrahmens, das andere Mal in der Darstellung des Raumwissens. III.Egoshooter als Film Es überrascht und ist zugleich auch konsequent, dass es kaum Versuche gibt, die Raumerfahrung eines Egoshooters filmisch zu fassen. Zwar gibt es im Film immer wieder den Einsatz oder vielmehr die Einstellung einer subjektiven Kamera oder gar Einstellungen, in denen eine Waffe am unteren Bildrand in den Raum hineinragt. Alexander Galloway hat gar zeigen können, dass diese Bildeinstellung zuerst im Film anzutreffen ist und bereits mit Go West (USA 1925, Buster Keaton) in Szene gesetzt wurde50 − nur dass hier anstelle der Waffe die Hörner eines Stiers zu sehen sind (Abb. 1–2). 1.Erstraum: Doom Die in das Bild hineinstehende Waffe für die Verfilmung eines Egoshooters zu nutzen, ist daher naheliegend. Eine solche Umsetzung findet sich etwa in Doom (USA 2005, Andrzej Bartkowiak): Die gut sechsminütige Sequenz, bei welcher Jon Farhat, der Visual Effects Supervisor des Films, Regie führte, zeigt den Lauf durch einen Korridor aus der Ichperspektive. Der Film-DVD wurde die Szene im Rahmen einer Produktionsdokumentation als Kurzfilm unter dem Titel First Person Shooter beigegeben; und tatsächlich ist der Ausschnitt selbst eine Zusammenfassung von Stilelementen aus verschiedenen Egoshooterspielen, gleichwohl Aussehen der Figuren und Ausstattung der Räume an Doom 3 angelehnt sind. Anders als im Spiel verschwindet die Waffe teilweise aus dem Bild, was vor allem dem Breitbildformat geschuldet ist, durch das die Waffe in der Vertikalen weit über die Bildmitte hinausragt. Auch werden Vergrößerungsfokussierungen durch das Visier der Waffe dargestellt, was ebenfalls kein Element der 50Vgl. Galloway, Origins, S. 58f. Eine Frage der Perspektive 185 Abb. 3–4: Fadenkreuzansicht und Spiegelblick in Doom (2005) Spielvorlage ist, aber dennoch in einer Zusammenfassung von Spielelementen enthalten sein muss. Für den Medienwechsel ist ferner bezeichnend, dass Anfang und Ende der Sequenz ihrerseits für diese Differenz exemplarisch sind: Der Beginn wird durch eine Spiegelsequenz markiert, in welcher der bislang als Protagonist von außen zu sehende Darsteller die Position zugewiesen bekommt, die dem Zuschauer des Bildes qua Augenpunkt der Bildperspektive zukommt (Abb. 3–4). Kann die kontingente Möglichkeit, im Spiel eine Darstellung der Origo als Spiegelung des Marines im Toilettenraum zu sehen, als Versuch interpretiert werden, den Ort des Egos mit einer Identität oder gar Psyche zu versehen (wodurch das Spiel narrativiert wird), so kann die Filmsequenz gegenläufig verstanden werden: als der Abzug der Identität vom Ego der Figur durch die Spiegelszene. Das Ende dagegen entspricht dem Beginn einer Cutscene in Doom 3, mit einer Kamerafahrt aus dem Kopf des Egos heraus (Abb. 5–6); nur dass im Film der Protagonist von der linken Seite ins Bild tritt, unmittelbar gefolgt vom Schnitt auf die Außensicht. Der Film breitet daher also nicht nur wie etwa Tomb Raider die Hintergrundgeschichte des Spiels aus, sondern führt tat- 186 Stephan Günzel Abb. 5–6: Ingamemoviesequenz in Doom 3 (2004) sächlich auch Darstellungsweisen des Spiels vor Augen und greift Stilmittel der Verbindung von narrativen und ludischen Elementen auf. Ein Element von Egoshooterspielen wird weder in der Egosequenz noch im weiteren Film berücksichtigt: die übergeordnete Raumorientierung. 2.Zweitraum: Alien vs. Predator Dennoch gibt es Filme, die versuchen, auch den Kartenmodus von Computerspielen zu berücksichtigen und sich der übergreifenden Raumerfahrung anzunähern: Die Verfilmung des Spiels Biohazard von 1996, die sechs Jahre später mit dem amerikanischen Namen des Spiels Resident Evil (D/UK/F 2002, Paul W. S. Anderson) in die Kinos kam, zeigt wiederholt eine dreidimensionale Kartendarstellung des unterirdischen Gebäudekomplexes, aus dem sich die Protagonisten im Film befreien müssen (im Spiel selbst wird dagegen ohne Kartenmodus allein auf der Ebene des über dem unterirdischen Forschungslabor liegenden Hauses gespielt). Die im Film animierte Karte steht jedoch in der Tradition der dreidimensionalen Raumrepräsentation, wie sie durch die Atomap von Descent (Abb. 7) realisiert wurde und zuletzt auch als innerdiegetische Darstellung in Dead Space vorliegt (Abb. 8). Die Funktion der Kartendarstellung im Film resultiert gänzlich aus der Narration: Die Karte wird nicht als Navigationshilfe der Protagonisten gezeigt, sondern demonstriert dem Bildbetrachter, an welcher Stelle des Labyrinths sich die Akteure befinden. Doch selbst wenn die Karte in der Verwendung durch die Filmfiguren gezeigt würde, bliebe dies immer noch eine Darstellung der Verwendung einer Karte und wäre keine Exemplifikation der Navigationserfahrung und Wegfindung (allenfalls die einzelnen Stationen des Films können als ein Abarbeiten von Aufgaben angesehen werden, wie sie in Computerspielen anzutreffen sind). Vergleichbares gilt auch für einen weiteren Film von Anderson: An Alien vs. Predator (USA/CAD/GB/D 2004, Paul W. S. Anderson) ist zunächst bemerkenswert, dass er in der gleichen Weise, in der er die beiden getrennten Filmvorlagen zusammenführt, auch originäre Elemente des Computerspielens einbezieht. Hierzu gehört in erster Linie, dass der Schauplatz der Ereignisse – der Spielraum −, welcher in der Filmerzählung geografisch unter dem Eis der Antarktis Eine Frage der Perspektive Abb. 7: Holografische Kartenansicht in Resident Evil (2002) 187 Abb. 8: Innerdiegetische Kartenansicht in Dead Space (2008) Abb. 9–10: Holografische Kartenansicht und Predatorsichtweise in Alien vs. Predator (2004) verortet wird, zunächst aktiviert werden muss, insofern die außerirdischen Jäger die Pyramide, in der sich das Labyrinth befindet, aktivieren – sprich: hochfahren (Abb. 9). Hierdurch werden jene Menschen auf den Ort aufmerksam, die dann ungeplant in das Spiel eintreten, welches die Predatoren mit den Aliens ausüben und das darin besteht, die Aliens in dem Labyrinth auszusetzen und zu jagen. Dabei finden wiederum nicht nur Ausstattungsmerkmale Berücksichtigung, sondern auch die bereits im Film Predator (USA 1987, John McTiernan) eingeführte Infrarotsichtweise (Abb. 10); wohingegen die erst 1994 mit dem Spiel Aliens vs. Predator etablierte Sichtweise der Aliens (die in den Alien-Filmen nicht exemplifiziert wird) keine Verwendung findet. Die Sequenzen hingegen, in denen die Suche und Verfolgung durch das Labyrinth um- 188 Stephan Günzel gesetzt ist, erfolgt in der Außenansicht. Auch Alien vs. Predator vergibt damit letztlich die Chance, die besondere Raumerfahrung eines Computerspiels zum Ausdruck zu bringen. 3.Drittraum: Elephant Dass es trotz der medialen Differenz zwischen Film- und Simulationsbild möglich ist, die Raumerfahrung filmisch umzusetzen, belegt Elephant (USA 2003, Gus Van San). Dass der Film sich genau dadurch auszeichnet, dürfte zunächst überraschen, da Computerspiele in Elephant zwar auf der inhaltlichen Ebene beiläufig vorkommen, der Film bislang aber nicht hinsichtlich seiner formalen Parallelen zum Computerspiel untersucht wurde. Beachtung sowie Auszeichnung (Goldene Palme in Cannes) und gleichfalls Kritik fand beziehungsweise widerfuhr dem Film vor allem durch seine Sujets: ein Schulmassaker, das von zwei Jugendlichen kaltblütig ausgeführt wird. Der Regisseur Gus Van Sant verarbeitet in seinem Werk die Morde an der Columbine High School in Littleton vom 20. April 1999. Der Ort und die Schule werden seither synonym gebraucht für Amokläufe jugendlicher Gewalttäter. Van Sants Variation des Themas ist außergewöhnlich, weil er einen anderen Weg wählt als Dokumentarfilme, die versuchen, den Tathergang zu rekonstruieren, oder die wie Bowling for Columbine (CAD/USA/D 2002, Michael Moore) eine dezidierte Aussage bezüglich der Ursachen treffen (und etwa die Waffenlobby verantwortlich machen). Ganz im Gegenteil wird mit Van Sants Film keine Erklärung für die Tat gegeben und wohl auch nicht gesucht. Das mag zum Teil daran liegen, dass der Film zusammen mit Schülern und Laiendarstellern entwickelt beziehungsweise gedreht wurde; es also ein offenes Werk ist, bei dessen Zustandekommen sich Deutungen der Ereignisse überlagert haben mögen. Doch bemerkenswert an dem Film ist gleichwohl, dass er – absichtlich oder nicht – auf der Erzählebene denkbare Motive oder Gründe für eine solche Tat aufruft, die jedoch größtenteils an einer späteren Stelle wieder konterkariert werden. Elephant kann damit über seinen semidokumentarischen Charakter hinaus nicht nur als Kommentar zu den Ereignissen von Littleton interpretiert werden, sondern durchleuchtet zugleich den Diskurs über derartige Fälle aus der jüngeren Vergangenheit, wie sie sich in Deutschland an den Attentaten von Erfurt oder Winnenden festmachen lassen. So zeigt der Film, wie einer der Täter in der Schule gemobbt wird, aber zugleich ein intaktes Elternhaus hat, das ihm Rückhalt bietet. Dieser Widerspruch ist wohl auch der einzige Umstand im Film, bei dem eine Parallele zum Leben der Littleton-Attentäter Eric Harris und Dylan Klebold behauptet werden kann, so dass Van Sant diesen Grundwiderspruch auch zum Erzählprinzip des Films erhoben haben mag. Das Attentat von Littleton fand am Geburtstag von Adolf Hitler statt, auf den beide auch in ihren Tagebuchaufzeichnungen ausdrücklich Bezug nehmen. Im Film werden entsprechend Dokumentaraufnahmen aus der Nazizeit gezeigt, die auf einem Fernseher in der Wohnung des einen Attentäters laufen. Eingedenk der Äußerungen von Harris und Klebold kommentieren die beiden Attentäter im Film diese Dokumente jedoch in einer Weise, die überrascht und von Filmkritikern wie beispielsweise Andreas Kilb Eine Frage der Perspektive 189 nicht strukturell gewürdigt wird, wenn er dies für eine der „misslungenen Szenen“51 des Films hält. Auch der Potsdamer Medien- und Kulturwissenschaftler Heiko Christians bezeichnet die Ausschnitte in seiner Studie über die Geschichte und Kultur des Amoks als „zitathaft und unproportoniert“52. Doch ganz im Gegenteil lässt Van Sant die Attentäter eindeutig und anders als die wirklichen Attentäter aussagen, dass sie die Menschen für einfältig halten, welche auf die Demagogie der Nazis hereinfallen. Der Film hebt also auch hier das Klischee vom Neonazismus eines Schulattentäters auf. Neben der Faszination für menschenverachtende Regime zählt auch Homophobie zu den gängigen Erklärungen oder vermuteten Motiven jugendlicher Schulattentäter. Entsprechend ist im Film eine Selbsthilfegruppe für homosexuelle Schüler zu sehen, die zur Tatzeit im Schulgebäude versammelt ist und in der ein etwaiges Ziel der Attentäter vermutet werden kann. Doch die meisten von ihnen überleben nicht nur die Tat, sie sind auch gar nicht das explizite Ziel der Amokläufer. Gar werden die Amokläufer selbst vor der Tat miteinander zärtlich und küssen sich beim gemeinsamen Duschen. Auf diese Weise ruft Van Sant in dem Film viele der kursierenden Deutungen und denkbare Motive für eine derartige Tat auf und lässt doch keine als Erklärung gelten.53 Der Film setzt auf der Erzählebene damit die Geltung von Ursachenerklärungen außer Kraft. Es ist damit kein schlichtes Fehlen von Gründen, wie der Philosoph Jacques Rancière meint,54 sondern vielmehr deren Isostenthie als dem gleichwertigen Gegeneinanderstehen zweier Gründe. Elephant ist im engsten methodischen Sinne selbst eine phänomenologische Reflexion, indem er sich in der Beschreibung eines Urteils oder der Richtigkeit einer Erklärung enthält. Van Sant übt mit dem Film epoché und vollzieht also genau das, was Edmund Husserl als die Voraussetzung für jedwede fundierte Phänomenbeschreibung ansah. So schreibt Charles Martig, der Filmbeauftragte des katholischen Mediendienstes der Schweiz, treffend: „Gus Van Sant schildert die Ereignisse, ohne darüber zu urteilen.“55 Das mutet bisweilen kaltherzig an, ist aber gerade deshalb exakt. Denn umgekehrt kommt es auch an keiner Stelle zu einer Verherrlichung der Tat oder der Täter, geschweige denn bieten sich Identifikationsmöglichkeiten. Die Filmerzählung ist nicht unmoralisch, sondern schlichtweg amoralisch, was insbesondere durch die verstörend ruhige Atmosphäre und die langsame Erzählweise unterstrichen wird, die aber gerade deshalb wie eine Darstellung in Echtzeit wirkt. So schreibt Christians, dass „die Kamera [sich] dem Tempo der Akteure [anpasst]“56 und Martig spricht von einer „Anti-Dramatik“.57 51 52 53 54 55 56 57 Kilb, Elephant, o.S. Christians, Amok, S. 282. Allenfalls die leichte Erhältlichkeit von Schusswaffen wird ohne eine entsprechende Aufhebung im Film dargestellt und kann damit als ein Statement Van Sants gewertet werden, das in der Nähe der deutlichen Aussagen Moores steht. „Elephant se met, lui, en dehors de toute considération de justice et de toute perspective causale.“ Rancièr, Nouvelles fictions, S. 96. Martig, Gewalt, o.S. Christians, Amok, S. 281. Martig, Gewalt, o.S. 190 Stephan Günzel Abb. 11: Infilmgame in Elephant (2003) Abb. 12: Alex beim Klavierspielen in Elephant (2003) a) Erstraum: Perspektive Sicher ist Van Sants Film nicht das einzige Beispiel für Urteilsenthaltung, nur ist er der bislang einzige Film, der dies im Kino mit Stilmitteln des Computerspiels umsetzt: Denn in Elephant werden die Ereignisse wie in einem Videospiel gezeigt. Das geschieht jedoch nicht plakativ; also etwa dadurch, dass das Filmbild in einer groben Auflösung dargestellt würde und eine Pixelgrafik imitierte, sondern weitaus subtiler: So etwa dadurch, dass Van Sant für die Darstellung nicht das traditionelle Breitbildformat des Kinos von 16:9 wählt, das Computerspielverfilmungen meist zugrundeliegt, sondern das Monitorformat von 4:3, welches sowohl der traditionellen Fernsehdarstellung als auch dem klassischen Monitorformat entspricht. Es sind vor allem formale Aspekte, die das Computerspiel als Sichtweise im Film präsent sein lassen, ohne es vordergründig zu adressieren. Gleichwohl gibt es auch deutlichere Hinweise auf Computerspiele: So ist in einer Sequenz – als sich die beiden Attentäter zu Hause im Hobbyraum befinden – kurz ein Spiel zu sehen, das einer der beiden Jugendlichen spielt und das Van Sant eigens für den Film hat anfertigen lassen, da ihm untersagt wurde, das zunächst vorgesehene Spiel Counter-Strike zu verwenden, welches gemeinhin als Vorlage für Jugendliche gilt, die zur Waffe greifen und willkürlich Menschen töten.58 Vielmehr lehnen sich die animierten Figuren und die Umwelt an das Setting von Van Sants vorhergehendem Film Gerry (USA 2002, Gus Van Sant) an, in dem es – sofern sich hier überhaupt ein Sujet ausmachen lässt − um die Suche oder vielmehr das gegenseitige Sich-Verlieren der beiden Protagonisten in der Wüste geht, wobei einer den anderen letztlich zum Sterben zurücklässt. In Elephant ist diese einzige digital generierte Szene eingebettet in einen Abschnitt, in dem Beethovens Komposition Für Elise zu hören ist: Während der eine Attentäter das Computerspiel bedient und aus der Egoperspektive auf Bildobjekte in einer Wüstenlandschaft schießt (Abb. 11), versinkt der andere in diesem Standardstück für Klavierschüler (Abb. 12). Auch hier übt der Film somit inhaltlich epoché, indem er die beiden Beschäftigungen als zwei Möglichkeiten der Freizeitgestaltung gleichwertig (oder vielmehr: wertfrei) nebeneinander stellt. 58 Das auserkorene Lieblingsspiel der Littleton-Attentäter war hingegen Doom: „25. Dinge, die mich unterscheiden. 1. Meine Liebe zu einem Computerspiel namens DOOM. Doom ist wirklich ein Teil meines Lebens. […] Ich weiß so gut wie alles, was es über das Spiel zu wissen gibt, und das, glaube ich, unterscheidet mich vom Rest der Welt. […] Doom ist so in mein Hirn eingebrannt, dass meine Gedanken fast immer mit dem Spiel zu tun haben. […] Ich werde mich zwingen, zu glauben, dass sie alle nur Monster aus DOOM sind […]. Wie beim Egoshooter: Sie oder ich. Ich muss meine Gefühle ausschalten.“ Eric Harris zitiert nach Gaertner, Hass, S. 29f. und S. 161. [Hervorhebungen im Original] Eine Frage der Perspektive 191 Abb. 13: Egoperspektive in Elephant (2003) Abb. 14: Egoperspektive in Counter-Strike Source (2004) b) Zweitraum: Karte Neben dem expliziten Bezug auf Egoshooter durch das Infilmgame werden noch zwei weitere Hinweise gegeben, die jedoch weniger offenkundig sind, wenngleich der erste eindeutig ist. In der Mitte des Films, in der die Tat als in Planung befindlich dargestellt wird, aber bereits Bilder der nachfolgenden Ereignisse gezeigt werden, ist für einen kurzen Moment am unteren Bildrand die Mündung eines Gewehrs zu sehen, das in den Bildraum hineinragt (Abb. 13). Die Einstellung wird so auch in die Nähe zu CounterStrike gerückt (Abb. 14). Es ist dies der wohl auffälligste Grundzug von Egoshootern – neben ihrer allgemeinen Perspektivität, die jedoch im Film keine besondere Differenz markieren würde. Der andere Hinweis muss nicht als Bezugnahme durch Van Sant gedeutet werden, kann aber aus der Gesamtanlage des Films als solche interpretiert werden: Ebenfalls in der 192 Stephan Günzel Abb. 15: Kartenansicht in Elephant (2003) Planungssequenz und geradezu als Wendepunkt der Narration, in dem die Erzählung beginnt, von der Tatplanung über die Vorausblicke zur Tatausführung zu springen, wird eine Karte mit dem Grundriss der Schule gezeigt, welche die beiden kommenden Attentäter im Hobbyraum auf den Tisch legen und anhand derer sie sich verständigen, wer welchen Weg durch das Gebäude nimmt (Abb. 15). Die Karte dient ihnen als Hilfsmittel zur Orientierung und gleichzeitig zur taktischen Organisation, erfüllt also genau diejenige Funktion, welche sie in Egoshooterspielen hat. Auch das direkte Zeigen der Kartendarstellung und nicht nur des Umstandes, dass sie in Gebrauch ist, lässt eine Parallele zur Darstellung im Computerspiel bestehen, wo es ebenfalls auf die Präsentation der Karte für den Nutzer als aktuellem Bildbetrachter ankommt. Doch selbst wenn diese Hinweise auch anders interpretiert werden können, die maßgebliche Darstellung und Bezugnahme auf Egoshooter geschieht durch formale Grundzüge. Das Monitorformat ist eines davon, weit bestimmender ist jedoch ein Aspekt, welcher die Erzählung ebenso strukturiert wie die Aufhebung der Motive durch eine gegenläufige Darbietung von Erklärungen. Van Sant legt seinem Film das spezifisch räumliche Erleben eines Computerspiels zugrunde. Das geschieht jedoch nicht dadurch, dass etwa wie in Doom konzentrierte Durchläufe mit Tötungen in subjektiver Sichtweise zu sehen sind. Dies ist, wie gesagt, nur in einem Moment des Filmbildes der Fall. c) Drittraum: Weg Ganz im Gegenteil vollzieht Van Sant in der Filmerzählung einen regelrechten Spatial Turn, insofern sich die erzählte Zeit nach einer räumlichen Bedingung richtet. Dabei ist die Erzählzeit des Films weitaus größer. Das ist im Kino zunächst nichts Besonderes und Rück- oder Vorblicke, wie sie in Elephant anzutreffen sind, liegen auch in anderen Filmen vor. Selten ist das Verhältnis zwischen den beiden Zeitebenen aber derart ausgeprägt: Die dominierende Zeit ist die Zeit des Attentats, das eine Dauer von etwa zehn Minuten hat, bei einer Gesamtlänge des Films von etwa 70 Minuten. Alle anderen Szenen des Films, die Informationen über die Charaktere beinhalten, sind zu diesem Zeitpunkt bereits vergangen. (Die Vorausblicke im Keller und die Planung auf Grundlage der Karte entpuppen sich so gegen Ende des Films als die gegenwärtigen Ereignisse der Erzählung.) Relevant hinsichtlich der formalen Anlehnung an Computerspiele ist, Eine Frage der Perspektive 193 Abb.: 16: Zusammenstellung von Kameransichten der Hauptprotagonisten in Elephant (2003) dass die räumliche Begrenzung der erzählten Jetztzeit im Film sich aus den Gängen und Zimmern der Schule herleitet, die auf der Karte im Grundriss zu sehen waren. Es ist jener Umstand, der in der bisherigen Einschätzung nicht genügend beachtet wurde oder gegenläufig interpretiert wird. So meint Martig, Van Sant lässt offen, wie wir uns als Zuschauer zu diesen [Ereignissen, SG] stellen, ob wir darauf eintreten oder doch lieber in einer sicheren Distanz dazu bleiben möchten. Mit einer brillanten Komposition von Kamerafahrten gibt er keinen festen Standpunkt vor, sondern wählt ein Verfahren, das verschiedenste Perspektiven berücksichtigt. Diese Form der Rezeptionsästhetik ist riskant, weil sie − gegen die Sehgewohnheiten des Identifikationskinos − auf der Offenheit des Werkes insistiert.59 Doch Van Sant wählt sehr wohl einen festen Standpunkt, und während es auf der inhaltlichen Ebene tatsächliche keine Festlegung gibt, so ist die ästhetische Form doch umso strenger und kohärenter. Wenn freilich unter ‚Perspektive‘ diejenige eines Protagonisten verstanden wird, wechselt sie; wenn darunter aber ein Stilelement des Bildes verstanden wird, dann hält es sie durch. Vielmehr gilt es genau zu analysieren, was es heißt, wenn, wie wiederum Christians schreibt, sich die einzelnen Szenen „nicht einfach kausal aneinander[fügen], sondern sich wiederholen, ohne eine Kausalität nahezulegen“.60 Van Sant zeigt insgesamt vier Durchläufe durch das Schulgebäude (Abb. 16), die durch ihre Verteilung in der Erzählzeit des Films zunächst unzusammenhängend erscheinen. Dass diese Durchläufe gleichzeitig stattfinden und raumzeitlich miteinander 59 60 Martig, Gewalt, o.S. Christians, Amok, S. 281. 194 Stephan Günzel Abb. 17: Verfolgerkamera in Elephant (2003) Abb. 18: Dritte Person-Perspektive in Max Payne 2: The Fall of Max Payne (2003) verbunden sind, wird mit dem Hinzukommen jedes weiteren Durchgangs an jeweils einer Raumstelle deutlich: nämlich an dem Punkt, an dem sich die Wege kreuzen oder begegnen, wobei der letzte Durchlauf als einziger später ansetzt als die ersten drei und diese gewissermaßen bündelt. Die Begegnung wird zudem durch das Ertönen der Schulglocke betont. Bei den Protagonisten handelt es sich zunächst um einen Jungen, der gleich am Anfang des Films eingeführt wird (Abb. 17), als ihn sein betrunkener Vater zur Schule fährt. Er wird als Einziger der Verfolgten die Ereignisse überleben, da er den Attentäter beim Eintritt in die Schule – als sie ihre Waffen noch nicht gezogen haben − begegnet und von diesen gar gewarnt wird. Der zweite Durchlauf durch die Schule zeigt einen Jungen, der andere Schüler für eine Projektarbeit mit der Kamera portraitiert; der dritte Durchlauf schließlich ein Mädchen, das vom Sportunterricht, wo sie aufgrund ihrer körperlichen Konstitution und ihres Aussehens verspottet wird, zu ihrem Job in der Eine Frage der Perspektive 195 Abb. 19–20: Rückansicht eines Autos und von Alex mit Opfer (unscharf) in Elephant (2003) Schulbibliothek eilt. Alle drei Protagonisten treffen sich im Moment, als das Tonsignal des Stundenwechsels erfolgt, an der gleichen Stelle des Schulgebäudes, so dass ein und dasselbe Ereignis aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln (in der Erzählzeit versetzt) gezeigt wird. Jeder Durchlauf wird aber nach derselben formalen Maßgabe gezeigt, die für das Kino ebenso ungewöhnlich und markant ist wie die Vermehrung der Sichtweisen eines Ereignisses. Es handelt sich dabei um die Perspektive einer dritten Person – eben diejenige, wie sie in den Max Payne-Spielen anzutreffen ist (Abb. 18). Van Sant führt also nicht nur den ergodischen Raum von Computerspielen als die Summe der aktualisierten Wege vor Augen, sondern nutzt in ausschließlich diesen Szenen die Darstellungsform von Shooterspielen, in denen das Ego als Leibkörper in das Bild eingerückt ist. Die Eingangssequenz, in der besagter Schüler von seinem Vater zur Schule gefahren wird (Abb. 19), mutet daher wie ein Establishing Shot der filmischen Form selbst an, insofern der Wagen durch die Straßen der Kleinstadt schlingernd (und dennoch wie ein Railshooter die Spur haltend) ebenfalls aus der Verfolgerperspektive zu sehen ist. Der letzte Durchlauf mit den Attentätern erscheint zudem auch nur anfänglich in der Perspektive der dritten Person und wechselt dann auf die üblich frontale Darstellung des Films über (Abb. 20). Der Umschlagspunkt als das Verlassen der Computerspielbildform ist hierbei wiederum durch eine Besonderheit ausgezeichnet, mit der 196 Stephan Günzel zugleich auf formaler Ebene eine vergleichbare epoché geübt wird wie auf der Ebene der Narration qua Aussetzung der möglichen Motive. Nachdem die Attentäter ihr erstes Opfer (das Mädchen in der Schulbibliothek) aus kürzester Entfernung mit einem Gewehrschuss töten, wird das Bild unscharf beziehungsweise fokussiert die Kamera die Waffe und nicht die Opfer. In diesem Filmbild liegt damit das Gegenteil dessen vor, was in Computerspielen anzutreffen ist, in denen zumeist jede Bildebene, aber insbesondere diejenige der anzuvisierenden Bildobjekte deutlich gezeigt wird. Elephant ist an dieser Stelle regelrecht antiskopophil, indem kein Ansatz zur Befriedigung von Schaulust gegeben wird. Die formale Basis des Films bildet wesentlich das Wegesystem des Schulgebäudes, nicht als bloße Architektur, sondern als hodologischer Raum, als ein Raum, der von Menschen, Protagonisten oder Handlungsorigos genutzt wird. So offenkundig sich Van Sant mit dem Film also eines Urteils über die Ursachen der Tat enthält, so sehr bettet er die Ereignisse doch in den Raum des Computerspiels als mediale Form ein. Es ist dabei weniger entscheidend, dass Van Sant unterstellt werden kann, dass er sich letztlich doch an einer Erklärung versucht und das Computerspiel zur alleinigen Ursache erhebt; ja geradezu das Computerspiel pathologisiert. Denn es könnte von der Immanenz und Absolutheit der Form, in welcher die Gegenwart der Ereignisse erzählt wird, darauf geschlossen werden, dass es in einer Welt, die wie ein Computerspiel wahrgenommen wird, nur konsequent ist, Menschen auch wie in einem Computerspiel zu behandeln. Entscheidender als diese Deutung, welche der Film auch zulässt, ist vielmehr, dass Van Sant als einer der Wenigen ein Verständnis für den Aufbau von Computerspielen an den Tag legt. Van Sant hat die medialen Eigenschaften des Computerspiels verstanden, ohne dies zur Schau zu stellen. Abbildungen Abb. 1: Go West Screenshot von DVD (Image Entertainment 1999). Abb. 2–4: Doom Screenshot von DVD (Universal Pictures Germany 2005). Abb. 5–6: Doom 3 Screenshot von PC-Spiel, Ingamemoviesequenz (Activision 2004). Abb. 7: Resident Evil Screenshot von DVD (Highlight 2010). Abb. 8: Dead Space Screenshot von PC-Spiel (Electronic Arts 2008). Abb. 9–10: Alien vs. Predator Screenshot von DVD (Twentieth Century Fox Home Entertainment 2005). Abb. 11: Elephant Screenshot von DVD, Infilmgame (Studiocanal 2004). Abb. 12–13, 15–17 & 19–20: Elephant Screenshot von DVD (Studiocanal 2004). Abb. 14: Counter-Strike: Source Screenshot von PC-Spiel (Electronic Arts 2004). Abb. 18: Max Payne 2: The Fall of Max Payne Screenshot von PC-Spiel (Rockstar Games 2003). Medien Games Biohazard (Capcom 1996, PS) Counter-Strike (Minh Le/Jess Cliffe 2000, PC) Eine Frage der Perspektive 197 Dead Space (Visceral Games 2008, PC) Descent (Interplay Productions 1995, PC) Doom 3 (id Software 2004, PC) Doom (id Software 1993, PC) Max Payne 2: The Fall of Max Payne (Remedy Entertainment 2003, PC) Max Payne (Remedy Entertainment 2001, PC) Shadow of the Colossus (Team Ico 2005, PS2) Spider-Man: The Game (Treyarch 2007, PS3) Spider-Man: The Movie (Gray Matter Interactive 2002, PC) Spider-Man (Atari 1982, Atari 2600) Tomb Raider (Core Design 1996, Play Station) Filme Anderson, Paul W. S: Alien vs. Predator, USA/CAN/GB/D 2004. Anderson, Paul W. S.: Resident Evil, D/UK/F 2002. Bakshi, Ralph: Spider-Man (TV-Serie), USA 1967–70. Bartkowiak, Andrzej: Doom, USA 2005. Blank, Tom u.a.: The Amazing Spider-Man (TV-Serie), USA 1977–79. Cronenberg, David: eXistenZ, CAN/GB 1999. 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