Die audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren und ein Modell zur

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Die audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren und ein Modell zur
Die audiovisuelle Darstellung des
Unsichtbaren und ein Modell zur
Kategorisierung
Remo Rauscher
DIPLOMARBEIT
eingereicht am
Fachhochschul-Masterstudiengang
Digitale Medien
in Hagenberg
im Dezember 2010
© Copyright 2010 Remo Rauscher
Alle Rechte vorbehalten
ii
Erklärung
Hiermit erkläre ich an Eides statt, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen
und Hilfsmittel nicht benutzt und die aus anderen Quellen entnommenen
Stellen als solche gekennzeichnet habe.
Hagenberg, am 2. Dezember 2010
Remo Rauscher
iii
Inhaltsverzeichnis
Erklärung
iii
Kurzfassung
vii
Abstract
viii
1 Einführung
1.1 Motivation und Struktur . . . . . . . . . . . . . .
1.2 Der Weg zur audiovisuellen Synchronität . . . . .
1.3 Expérience de La Femme Invisible . . . . . . . .
1.4 Die Freud’sche Urphantasie als Quelle des Reizes
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2 Audiovisuelle Wahrnehmung
2.1 Existenz entsteht im Betrachter . . . . . . . .
2.2 Aufmerksamkeit und Selektion . . . . . . . .
2.3 Interkonnektivität der Sinne oder Synästhesie
2.4 Bewegung und Geschwindigkeit . . . . . . . .
2.5 Three Listening Modes . . . . . . . . . . . . .
2.5.1 Causal Listening . . . . . . . . . . . .
2.5.2 Semantic Listening . . . . . . . . . . .
2.5.3 Reduced Listening . . . . . . . . . . .
2.6 Streaming und Gestalt . . . . . . . . . . . . .
2.7 Die räumliche Anziehungskraft des Bildes . .
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3 Soundtheorie und die Terminologie Chions
3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2 Filmische Platzierung auditiver Objekte . .
3.2.1 Onscreen . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.2 Offscreen . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.3 Non-diegetic . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Akusmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.4 Aural Image . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5 Synchrese . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.1 Akzentuierung . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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3.5.2 False Synch Points . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Acousmêtre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 Modellbildung und Fragestellung
4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 Die begriffliche Dehnbarkeit des Acousmêtre . . . . . . .
4.3 Modell zur Kategorisierung der Unsichtbarkeit im Film .
4.4 Modell der aktiven Synchrese . . . . . . . . . . . . . . .
4.4.1 Einteilung in interne und externe Faktoren . . . .
4.4.2 Synchrese mit der Zusatzeigenschaft der Aktivität
4.4.3 Modellbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . .
4.5 Definition der Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
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5.1 Einführung und Beispielführung . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
5.2 Einsatz und Wirkung interner Faktoren . . . . . . . . . . . . 45
5.2.1 Auditive Erweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
5.2.2 Notwendigkeit visueller Hinweise . . . . . . . . . . . . 48
5.2.3 Die Blicke der Sichtbaren . . . . . . . . . . . . . . . . 51
5.2.4 Transformation zum mentalen Abbild . . . . . . . . . 55
5.2.5 Gestalttheorie im Verhältnis zur partiellen Unsichtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
5.2.6 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
5.3 Die suggestive Kraft externer Faktoren . . . . . . . . . . . . . 63
5.3.1 Kadrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
5.3.2 Unkonventionelle Kamerafahrten . . . . . . . . . . . . 66
5.3.3 Musik als narrative Brücke . . . . . . . . . . . . . . . 70
5.3.4 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
5.4 Ausblick und Bezug zum Diplomprojekt . . . . . . . . . . . . 71
6 The Streets of the Invisibles
6.1 Umsetzung und Bezug zum Modell . . . . . . . . .
6.2 Suggestive Wirkung der Animation . . . . . . . . .
6.2.1 Bewegung durch Kamera Animation . . . .
6.2.2 Subjektive Kamera im Dialog . . . . . . . .
6.2.3 Synchrese auf Ebene des Reduced Listening
6.3 Text als narrative Brücke . . . . . . . . . . . . . .
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7 Schlußbemerkungen
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7.1 Aussagekraft des Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
7.2 Abschließender Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Inhaltsverzeichnis
vi
A Inhalt der CD-ROM
83
A.1 PDF-Dateien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
A.2 Online-Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
A.3 Video-Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Literaturverzeichnis
85
Kurzfassung
Die vorliegende Arbeit thematisiert im Allgemeinen die Darstellungsformen
der Unsichtbarkeit im Film und versucht diese im Speziellen auf deren Sonderstellung im Sinne der Bild-Ton-Beziehung zu untersuchen. Dazu werden
relevante Begriffe aus dem Bereich der Wahrnehmung und Soundtheorie erläutert, um folglich ein Modell vorzustellen, das den Effekt der Synchrese
im Verhältnis zur aktiven Teilnahme seitens des Rezipienten betrachtet. Anhand der erarbeiteten Faktoren werden ausgewählte Szenen vier relevanter
Verfilmungen analysiert, um anschließend dessen Relevanz zum vorgestellten
Modell zu überprüfen. Abschließend soll das Diplomprojekt Parallelen zum
Animationsfilm herstellen und ebenfalls Einzug in das Modell finden.
vii
Abstract
This thesis discusses the display forms of invisibility in the movies and focuses on their exceptional position within the relationship between image and
sound. According to terms in the field of perception and sound theory a new
model is introduced, that considers the effect of Synchresis in the ratio of active participation of the recipient. Besides a detailed examination of several
stated influences concerning the visual representation of invisibility, selected
scenes out of four movies are discussed to verify their relevance according to
the presented model. Finally, the diploma project demonstrates the model’s
adaptability in the field of animated film in comparison to the results of the
analysis.
viii
Kapitel 1
Einführung
1.1
Motivation und Struktur
Unsichtbarkeit ist ein immer wiederkehrendes Thema in der Filmgeschichte, was sich an der Vielzahl an diesbezüglichen Produktionen ablesen lässt.
Die dabei entstehende Bild-Ton-Beziehung findet in der Literatur sehr wenig Beachtung, wohingegen die philosophische Natur des Themas bereits
vielfach diskutiert wurde. Im Zusammenhang mit dem erstellten Diplomprojekt The Streets of the Invisibles entstand die Idee zu dieser Arbeit und in
weiterer Folge gaben die Werke von Michel Chion den nötigen Anstoß sich
dieser Thematik anzunähern. Dahingehend finden neben Fachbegriffen aus
der audiovisuellen Wahrnehmung auch relevante Begriffe aus der Soundtheorie und im Speziellen die Terminologie Michel Chions Anwendung in dieser
Arbeit. Nach dem ersten Kapitel, das einen geschichtlichen Rückblick und
einen kurzen Einblick in die Psychologie des verantwortlichen Reizes geben
soll, werden relevante Begriffe im Hinblick auf die weiterführenden Analysen
angeführt. Hierbei wurden vier bedeutende Verfilmungen des Genres ausgewählt, um das vorgestellte Modell der aktiven Synchrese zu untermauern
und die konstatierten Einflussgrößen derartiger Darstellungen zu erläutern.
Im abschließenden Kapitel soll der erstellte Diplomfilm ebenfalls Einzug in
das Modell finden und auf etwaige Parallelen zu den herangezogenen Beispielen untersucht werden.
1.2
Der Weg zur audiovisuellen Synchronität
Die Wurzeln der audiovisuellen Synchronität bzw. unser Verlangen das Gehörte gleichzeitig mit Bildern zu verknüpfen, reichen weit vor die Erfindung
des ersten Apparates zurück, der Bild- und Tonaufzeichnungen gleichzeitig
abzuspielen vermochte. Musik und Malerei könnte man als die elementaren Grundbausteine bezeichnen, die unseren Pionieren dienten, um erstmals
Analogien zwischen Bild und Ton herzustellen. So versuchte bereits Pythago1
1. Einführung
2
ras die einzelnen Töne der Musik einem sichtbaren äquivalent einer Farbskala
zuzuordnen und könnte somit als Begründer der Farbmusik gelten. Auch bei
Aristoteles lassen sich vergleichbare Ansätze finden. In seinen Notizen zu
“über die Sinne und was diese erfassen können” 1 beobachtet er, dass Farben in einer natürlichen Reihenfolge mit harmonischen Intervallen auftreten (vgl. [34]). Von Leonardo Da Vinci wird behauptet, er habe während
höfischer Feierlichkeiten in Begleitung zu Musik mittels bemalter Glasfilter
Farben an die Wände projiziert, was man heute wohl am ehesten als “LiveVisuals” bezeichnen würde. überlieferungen zufolge, soll sich Da Vinci auch
Musiker bestellt haben, die ihn beim Malen der Mona Lisa begleiteten und
inspirieren sollten.
Als erstes technisches Gerät im Rahmen der Farbmusik gilt heute das
Optische Cemablo 2 von Louis-Bertrand Castel aus dem Jahre 1729, das als
Vorreiter für die zahlreich folgenden Erfindungen der nächsten 150 Jahre
gilt. Neben anderen Vertretern untersucht Moses Mendelssohn 1755 in seiner
Schrift über die Empfindungen das synchrone Wahrnehmen von Musik und
Farbe erstmals auf seine emotionalen Wirkungen. Karl von Eckartshausen,
seinerseits Erfinder einer Farborgel, behandelte die Farb-Ton-Analogie sogar
in einem musiktherapeutischen Kontext.
Das 1870 von Frédéric Kastner erfundene Pyrophon schaffte es beinahe
in eine von Richard Wagners Opern, in denen es Wagner bereits ein Anliegen
war die audio-visuellen Künste als Gesamtwerk anzusehen und seine Werke
nach diesem Prinzip zu konzipieren.
Die Musikinszenierung mit einem Orchester im Bühnengraben, das die
Aufmerksamkeit des Publikums ganz auf das Zusammenspiel von Musik und
Bühnenbild fokussierte, gilt als ein Vorläufer kinematographischer Aufführungen [21].
Am Ansatz Wagners ist zu erkennen, dass sowohl in der Oper, als auch
im Theater mit der wechselseitigen Beziehung von Bühnenbild und Musik
gezielt gestaltet wurde. Als nächster Schritt sollten auch Geräusche dafür
sorgen, das Gesehene zu untermalen bzw. zu bereichern.
So existierten um 1900 sogenannte Magic Lantern-Vorführungen, bei denen Lichtbilder – ähnlich einer Diaprojektion – an eine Leinwand projiziert
wurden und neben Erzählern und musikalischer Begleitung auch Geräuschemacher für zusätzliche Untermalung sorgten. Was im Theater weitgehend
dem Percussionist zugeteilt war, übernahmen in diesen frühen Anfängen des
heutigen Kinos sogenannte Sound-Makers. Ihre Aufgabe war es, die Geschehnisse auf der Bühne bzw. auf der Leinwand mit passenden Geräuschen zu
untermalen. Anfänglich arbeiteten große Gruppen dieser Effects-Man hinter
der Leinwand oder im Orchestergraben, und produzierten mit allen erdenklichen Gegenständen, die jeweils benötigte Geräuschkulisse. Diese Sound1
2
Origninal-Titel “Peri Aitheseos kai Aistheton”
Original-Titel: “Clavecin oculaiere”
1. Einführung
3
Making Devices reichten über Hupen, Glasscherben in Eimern, Kinderrasseln, Trommeln und Platzpatronen, bis hin zu bellenden Hunden, die gezielt
Effekte beim Zuseher auslösen sollten.
Diese Entwicklung zog natürlich auch ins kommende Zeitalter des Kinos
und damit des Stummfilms ein. Derartige Vorführungen wurden sehr schnell
zu Publikums-Attraktionen und lockten somit immer mehr zahlende Gäste
ins Kino. Aus Platzgründen war es jedoch nicht immer möglich, die aus bis zu
15 Leuten bestehende Crew, hinter oder vor einer Leinwand unterzubringen.
Ganz zu schweigen von der Vielzahl an benötigten Gerätschaften.
Schon bald entwickelte man erste Apparate, die in der Lage sein sollten,
ein Standard-Repertoire an Effekten zu produzieren. So entwickelte JeanCharles-Scripion Rousselot 1907 das Multiphone, das bis zu 60 (in Kombination bis zu 150) verschiedene Sound-Effekte lieferte. Weitere Geräte, wie
etwa das Drumona oder das Cinofonium beinhalteten Effekten auch ein voll
funktionsfähiges Piano und konnten somit prinzipiell auch noch das Orchester ersetzen.
Neben gewonnener Flexibilität und Raum profitierten die Theater- und
Kinobetreiber auch von der einfachen Bedienung dieser Geräte. Was anfangs
viel Talent, Übung und Personal erforderte, konnte nun von einem einzigen
Laien erwartet werden.
Unter dieser Weiterentwicklung litt folglich aber auch die Qualität der
Synchronisation. Ein zu frühes oder zu spätes Einsetzen eines Effekts konnte leicht die erzeugte Stimmung zerstören bzw. Situationen ungewollt ins
Lächerliche ziehen. Andererseits wurden talentierte Operatoren solcher Maschinen bald selbst zur Attraktion. Simultanes Klavierspiel und Auslösen der
Sound-Effekte rückte diese Personen dementsprechend in den Vordergrund
und sorgte wieder für höhere Besucherzahlen.
Der wohl bedeutenste technische Meilenstein gelang Thomas Edison mit
der Patentierung des Kinematographen im Jahre 1888, welcher heute als
erste Filmkamera der Welt gilt. Bemerkenswert dabei ist die Tatsache, dass
Edison im Patent bereits vorschlug, die Aufnahmen von bewegten Bildern
mit Tonaufnahmen zu koppeln. Edisons Chefingenieur William K. L. Dickson
widmete sich folglich verstärkt um die Weiterentwicklung dieser Idee und
begrüßte Edison nach seiner Rückkehr von einem Auslandsaufenthalt mit
den folgenden Worten über die Leinwand [22]:
“Good Morning, Mr. Edison, glad to see you back. I hope you are
satisfied with the kinetophonograph.”
Trotz deutlicher Schwierigkeiten bei der Synchronisierung der Bild- und
Tonaufzeichnungen, wurde das Kinetophon 1895 erstmals öffentlich vorgeführt. Es zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab, wie einst bei der Enstehung der Farbklaviere. Eine große Anzahl an Erfindern auf der ganzen
Welt griffen Edisons Idee auf und versuchten mit unterschiedlichen Ansätzen die problematische Synchronisierung in den Griff zu bekommen. Das
1. Einführung
4
Hauptproblem stellte die synchrone Aufnahme von Bild und Ton auf unterschiedlichen Geräten dar. So wurde der älteste erhaltene Tonfilm im Herbst
1894 auf Edisons Kinetoskop in Verbindung mit dem Phonographen parallel
aufgezeichnet.
Bei der Weltausstellung in Paris 1900 präsentierte Henry Joly erstmals
ein System, das mittels einer Zeigervorrichtung in der Lage war, eine synchrone Aufnahme von Bild und Ton zu gewährleisten bzw. zu kontrollieren.
Jolys Vorrichtung war aufgrund seiner universellen Kompatibilität mit unterschiedlichsten Geräten besonders wertvoll.
Bald entwickelten sich kurze Tonfilm-Installationen zum Highlight auf
Jahrmärkten und Varieté-vorführungen und galten beim Publikum weitgehend als rein technische Attraktion. Hauptaugenmerk lag auf der Produktion
von kurzen Live-Shows mit Tanz- und Gesangseinlagen. Synchronsound wurde in dieser anfänglichen Phase ausschließlich wegen seiner representativen
Eigenschaften populär.
Gründe für die eher schleppende Verbreitung der Talking Pictures in der
Vorkriegszeit lagen vor allem an der immer noch fehlerhaften Synchronisation und den unterentwickelten Lautsprechersystemen. Zusätzlich hatte der
Stummfilm den Vorteil der einfachen Austauschbarkeit der Bildtafeln und
konnte somit leichter und kostengünstiger international verkauft werden.
Erst mit der Einführung mechanischer und elektrischer Sync-Systeme
und der Erfindung von Druckluft-Verstärkern konnten größere Theatersäle
beschallt werden. Probleme in der Synchronisation bestanden dennoch, da
die endgültige Handhabung immer noch dem Vorführer am Projektor unterlag.
Der eigentliche Durchbruch gelang 1926 mit der Erfindung des Vitaphon.
Ein Nadeltonverfahren, das mittels der Frequenz des Wechselstroms Projektor und Plattenspieler miteinander synchronisierte. Als erster Film, der diese
Technik nutzte, feierte Don Juan (Warner Bros.) Premiere. Als erster mit
Musik vertonter Spielfilm, ersetzte dieser erstmals das Live-Orchester.
Als erster Talkie ging 1927 der Jazz Singer in die Geschichte des Tonfilms
ein. Obwohl dieser ursprünglich als reiner Musikfilm geplant war, wurden
auf Anregung des Hauptdarstellers zwei Sprecheinlagen am Ende des Films
eingearbeitet. Dass hier der Dialog, der im Theater immer an die breite Masse
gerichtet war, erstmals intim präsentiert wurde, gilt als weiterer Meilenstein
dieser Entwicklung und überzeugte nun auch die Skeptiker des Tonfilms von
dessen Potenzial für zukünftige Produktionen.
Mit dem Umschwung zu längeren narrativen Filmen, entfaltete sich auch
das gestalterische Spektrum des Tonfilms, der somit auch künstlerisch in direkter Konkurrenz zum Stummfilm stand. Die filmtechnische Erweiterung
entfachte aber bald einen grundsätzlichen Streit um die ursprüngliche ästhetik des Mediums. Der Stummfilm, der als Kunstobjekt eher der Elite vorbehalten war, sollte sich nun auch der breiten Masse offenbaren und wurde
daher von der Kunstwelt vehement abgelehnt.
1. Einführung
5
René Clair beschimpfte den Tonfilm als denaturierendes Monstrum, welches das Kino zum Arme-Leute-Theater machen wird [28]. Andere künstlerische Filmemacher sahen die Umstellung als Angriff auf die Autonomie der
Bildsprache und betrachteten vor allem die paraphrasierenden Methoden der
anderen Filmemacher, als Entwürdigung ihrer Kunst an, wie aus Eisensteins,
Pudowkins und Grigorijs Manifest zum Tonfilm [14] deutlich hervorgeht:
Den Ton in diesem Sinne zu verwenden, würde aber die Zerstörung der Montage-Kultur bedeuten, denn jegliche ÜBEREINSTIMMUNG zwischen dem Ton und einem visuellen MontageBestandteil schadet dem Montagestück, indem es dieses von seiner Bedeutung löst. Dies wird sich zweifellos als nachteilig für
die Montage erweisen, da es sich in erster Linie nicht auf die
Montage-Teile auswirkt, sondern ihre ÜBERLAGERUNG. NUR
EINE KONTRAPUNKTISCHE VERWENDUNG des Tons in
Beziehung zum visuellen Montage-Bestandteil wird neue Möglichkeiten der Montage-Entwicklung und Montage-Perfektion erlauben.
Charlie Chaplin nahm 1930 in seinem Film City Lights [8] eine gekonnt
kritische Stellung gegenüber dem Tonfilm ein, indem er den Ton entgegen
seiner zudachten Aufgaben als komödiantisches Element benutzte. Zu Beginn
des Films lässt er bei einer öffentlichen Ansprache die Mundbewegungen der
Figuren durch Instrumente imitieren und räumt den Charakteren damit eine
noch nie da gewesene Haltung ein.
Pioniere wie Chaplin legten mit ihren innovativen Arbeiten die Grundsteine für den gestalterischen Umgang mit Bild und Ton. Wofür Michel Chion fast 100 Jahre später ein eigenes Fachvokabular entwickelte, nahm hier
seinen Anfang und öffnete ein immenses Sprektrum an künstlerischen Möglichkeiten. Berufe wie Sound-Designer, Foley Artist und Synchronsprecher
etablierten sich nach und nach zu alltäglichen Bestandteilen der Filmbranche.
Die Vielzahl der audio-visuellen Möglichkeiten konnte von nun an erforscht, analysiert und gezielt eingesetzt werden. Wahrnehmungspsychologische, sowie künstlerische Aspekte, nahmen gezielt Einfluss auf die Planung
und Erzählweise der inszenierten Bilder, die kurz nach dem Laufen auch im
Sprechen und Musizieren ihr Eigenleben entwickeln durften und bis heute
immer wieder neue Wege in unsere Köpfe finden.
1.3
Expérience de La Femme Invisible
H. G. Wells Roman The Invisible Man, erstmals veröffentlicht 1897, bereicherte die Sciencefiction Literatur ebenso wie in weiterer Folge die Entwicklung des Genres auf der Leinwand. Überraschenderweise gehen die ersten
1. Einführung
6
Versuche die Unsichtbarkeit in audiovisueller Form darzustellen weit vor die
Veröffentlichung des Romans zurück. John Matlock berichtet in seinem Artikel The Invisible Woman and Her Secrets Unveiled [20] über eine Jahrmarkt
Attraktion, die sich in Paris anfang 1800 mit dem Namen “Expérience de La
Femme Invisible” bewarb. Dabei betraten die Besucher eine Halle, die nur
ein einziges Ausstellungsstück beherbergte [20, S. 176]:
In the middle of a fully daylit room measuring 120 feet in periphery with a ceiling height of 12 feet, containing no furniture or
decor, is suspended by a very thin rope a ball of Bohemian glass,
fully visible from every angle. At each of the four angles of the
horizontal circle of this ball four Acoustic horns are fit, forming
a circle of more than 20 feet around which one can circumlate
freely without any obstacle since the ball is separated from each
wall of the room by more than 18 feet.
Mittels der vier Acoustic horns war man in der Lage die Stimme einer
jungen Frau zu hören, die sich mit den Besuchern in fließendem Deutsch
und Französisch unterhalten konnte und die über jedes erdenkliche Thema
bescheid wusste. Zum allgemeinen Erstaunen war diese unsichtbare Frau in
der Lage alles im Raum zu sehen, vorgehaltene Objekte zu beschreiben, ja
sogar ihr Atem war auf Wunsch durch die Hörner spürbar. Wenn man sie
fragte, wo sie sich in der Glaskugel befinde, antwortete sie, sie läge auf dem
Rücken. Unantastbar, jedoch akustisch allgegenwärtig, fesselte die unsichtbare Frau die Blicke der Besucher an die hängende Glaskugel.
Die Invisible Woman Show wurde sehr schnell zur landesweiten Attraktion und bestach paradoxerweise durch die visuelle Abwesenheit des eigentlichen Spektakels. Ende des Jahres 1800 existierten bereits drei Shows mit
unsichtbaren Frauen in Paris, die Presse kommentierte das Geschehen pausenlos und bald gab es sogar Vaudeville-Vorführungen über die unsichtbare
Frau. Später belagerten Illusionisten und Magier die von der Revolution beschädigten Kirchen und präsentierten in ihren Shows die neuen Wunder der
Wissenschaft, wo Magie über die Physik zu herrschen vermochte und sorgten
abermals für reißerische Schlagzeilen. Matlock kommentiert die Anziehungskraft der Shows rundum La Femme Invisible mit folgender Ansicht [20, S.
176]:
What viewers experienced of the Invisible Woman was not just
her corporeal absence but her acoustic presence. But still more
than that: through her answers to their questions, they learned
that she could see them as perfectly as they failed to see her.
Drawn in by her panoptic charms, viewers came to witness this
invisible woman as she held them in her field of vision.
1. Einführung
7
Abbildung 1.1: Anonyme Gravur aus La Femme Invisible von E. J. Ingannato, die das Geheimnis um die technische Realisierung der Femme Invisible
zu illustrieren versucht. (Quelle: [20, S. 180]
Ihre visuelle Abwesenheit wurde demnach erst durch ihre akustische Gegenwart und ihre Fähigkeit die Besucher zu sehen zur eigentlichen Attraktion. Auch die Ungewissheit um etwaige dahintersteckende Tricks und darüber
vorherrschende Vermutungen der Besucher bereicherten die Gerüchteküche
und steigerten somit die Popularität dieser Shows.
In den Reaktionen zur La Femme Invisible sind durchaus Parallelen zu
The Invisible Man erkennbar, wo die Ursache für die Unsichtbarkeit zwar
nicht übernatürlicher, dafür wissenschaftlicher Natur ist und mit den selben
Grundzutaten phantasiereiche Spannung erzeugt wird. Auch das Element der
Allgegenwärtigkeit und die damit verbundene Überlegenheit gegenüber den
Sichtbaren dürfte bei beiden darstellenden Formen - in Show und Literatur
- hauptverantwortlich für den Erfolg des neu entdeckten Themas sein.
1.4
Die Freud’sche Urphantasie als Quelle des Reizes
Die Darstellung des Unsichtbaren bzw. der Unsichtbarkeit als Fähigkeit eines
Charakters ist ein immer wiederkehrendes Thema in der Filmgeschichte. Die
1. Einführung
8
Erfolge dieser Filme lassen sich einerseits an den zahlreichen Remakes und
Spin-Offs 3 ablesen, die für eine facettenreiche Vielfalt an Ausprägungen und
Ursachen des Unsichtbaren gesorgt haben, und anderseits sprechen dessen
Verkaufszahlen für die Anziehungskraft, die der Gedanke der Unsichtbarkeit
auf das Publikum offensichtlich ausübt.
In Giving up the ghosts führt Katherine A. Fowkes dieses Phänomen
auf die Urphantasien (Primal phantasies), ein Begriff aus der Psychoanalyse von Sigmund Freud, zurück und schildert weiters die Zusammenhänge
zwischen der Darstellung von Unsichtbarkeit - im Falle ihres Buches sind es
hauptsächlich Geister - und dessen Verbindung zur audiovisuellen Vorstellungskraft [16, S. 78]:
Both the ghost’s invisibility and its disembodied voice relate to
what Freud and others call primal fantasy. Because the power
of invisibility is paradoxically but inextricably related to speech
(since ghosts often reveal their presence through speech), the interplay between seeing and speaking sheds insight into a dilemma
concerning the precarious origin of the subject. If both seeing
and speaking become contested sites of identification and subjectivity in ghost films, their manipulation must be explained as
both psychoanalytic and cinematic phenomena. Thus, the effect
of disembodied voices and invisible characters elicits a fantasy
scenario that connects the “marvelous” qualities of the ghosts to
their rise in the deployment of a primal fantasy.
“Sehen, ohne dabei gesehen zu werden” vergleicht Fowkes [16, S. 79] mit
einer Art “sadistischem Voyeurismus” bzw. dessen masochistischer Qualitäten bezüglich der Unsichtbarkeit. Vor allem die Darstellung von Liebesszenen
unter Anwesenheit von unsichtbaren Beobachtern erfreut sich aussergewöhnlicher Beliebtheit im Kino und spiegelt sich in zahlreichen Filmszenen wieder.
Unter anderem nennt Fowkes dabei exemplarisch eine Szene aus Memoirs of
an Invisible Man [7], welche den Unsichtbaren Zeuge eines beinahen Seitensprungs seiner zukünftigen Freundin werden lässt. Diese voyeuristische bzw.
zugleich masochistische Position, die der Rezipient oft gemeinsam mit dem
Protagonisten einnimmt, lässt sich auf Freuds Theorien zur Urphantasie zurück führen, die das Kind beim Beobachten des Sexualverkehrs der Eltern
beschreiben. Die Ohnmacht über diese Situation bzw. dessen traumatische
Folgen dienen nur allzu oft als Grundlage für Projektionen derartiger Stoffe. Beispielsweise findet sich der Protagonist in Defending Your Life [5] als
3
Als Remake bezeichnet man die Neuaufbereitung eines schon in ähnlicher oder gleicher filmischen Form präsentierten Stoffes, wohingegen das Spin-Off sich lediglich eines
Teilaspekts widmet und diesen aus einer neuen Perspektive oder in überarbeiteter Form
bearbeitet. Beispiel: Der Erfolg Scooby-Doo, Where Are You! (1969) führte zu zahlreichen
Spin-Offs, wie Richie Rich Scooby-Doo Show (1980) oder What’s new Scooby-Doo? (2002),
u. v. m..
1. Einführung
9
Geist in einer Zwischenwelt gefangen und wird gezwungen sich peinliche und
unangenehme Szenen seines eigenen Lebens als Film anzusehen. So muss er
beispielsweise die Streite eine Eltern erneut aus passiver Distanz durchleben
und wird auch als dafür verantwortlich gezeichnet.
Diese passive Haltung, dieses untätige Beobachten, ohne Einfluss auf das
Geschehen zu haben, dient Albert Brooks in diesem Film als Metapher für
die freudschen Urphantasien und dessen traumatischer Auswirkungen und
Quellen, die in bekannter Manier immer in der frühen Kindheit zu finden
sind. Aus dieser psychoanalytischen Sicht beschreibt Fowkes auch die Wahrnehmung bzw. die Rezeption von Filmen, indem der Rezipient auch im Kino
eine fast identische Stellung inne hat [16, S. 83]:
Because the spectator and the actor are never in the same place
at the same time, cinema is the story of missed encounters, of
“the failure to meet of the voyeur and the exhibitionist whose approaches no longer coincide.” The temporal and spatial slippages
that characterize the film viewing experience are thus inextricably linked to both primal fantasies and to the conundrums of
subjecthood that film ghosts seem to work through in their voyeurism, invisibility, and in their ineffective attempts to communicate. The paradoxical nature of the ghost expresses the temporal
and spatial slippages from which fantasy is born and which the
cinematic experience re-creates.
Die Angst unter ständiger Beobachtung von unbemerkten Unsichtbaren
zu stehen, wird laut Fowkes beim “Durchleben” derartiger Szenen verarbeitet
und fungiert als compensatory reversal, wie Fowkes diesen Vorgang nennt [16,
S. 84].
Demnach erschuf H. G. Wells mit seinem Roman The Invisible Man [35]
bereits im Jahre 1897 eine Drehbuchvorlage mit großem Potential für das Kino, ohne dabei gewusst haben zu können, welche Auswirkungen dies auf die
Entwicklung der Filmgeschichte haben wird. Die Idee, dass nun neben Geistern auch Menschen die Fähigkeit der Unsichtbarkeit in sich tragen könnten,
beflügelte natürlich ebenso die Phantasie der Kinobesucher, wie auch der
Drehbuchautoren spätestens seit der Verfilmung des Romans im Jahre 1933
durch James Whale [36].
Kapitel 2
Audiovisuelle Wahrnehmung
Der Wahrnehmungsapparat des Menschen gehorcht diversen Einflüssen, die
beim Gestalten audiovisueller Inhalte beachtet werden sollten. Grundsätzlich
darf behauptet werden, dass wir uns in einer Kultur befinden, die überwiegend vom Visuellen beherrscht wird. Chion erweitert diese These [9, S. 33]
durch den Zusatz, dass unsere visuelle Wahrnehmung dadurch viel stärker
trainiert wurde, als unsere auditive. Was demnach zufolge hat, dass visuelle
Reize, im Gegensatz zu auditiven, um ein vielfaches bewusster wahrgenommen werden. Somit hat sich unsere Kultur im Laufe der Zeit eine Vielzahl
audiovisueller Anwendungsmuster antrainiert, welche dadurch wiederholt ihre Bestätigung gefunden haben. Derartige mediale Codes können durchaus
vom Gestalter gezielt eingesetzt werden und dürfen dadurch mit bestimmten Erwartungshaltungen beim Rezipienten in Verbindung gebracht werden.
Zudem sorgen aber auch grundsätzliche physiologische Eigenschaften für eine generelle Basis, die für die Mehrheit der Rezipienten geltend gemacht
werden kann. Die Wurzeln der audiovisuellen Wahrnehmung befinden sich
demnach in der Natur des Menschen, wodurch diverse physiologische Faktoren in Hinsicht auf den gezielten Einsatz audiovisueller Inhalte nicht außer
Acht gelassen werden sollten. Dieses Kapitel soll relevante Themen diesbezüglich beleuchten und für ein breiteres Verständnis im weiteren Verlauf der
Arbeit sorgen.
2.1
Existenz entsteht im Betrachter
Beim Betrachten eines audiovisuellen Werkes – sei es ein Ausstellungsstück
in einem Museum oder ein Kinofilm – versuchen wir intuitiv das Wahrgenommene zu interpretieren und auf seine mögliche Aussage zu prüfen oder
seinen tieferen Sinn zu hinterfragen. Dabei bietet sich eher selten die Möglichkeit den Macher direkt danach zu fragen. Das Werk muss für sich selbst
sprechen bzw. seine Wirkung autonom entfalten.
Was ist nun dieses es, dieses “Ding”, das wirken soll? Das Kunstwerk
10
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
11
selbst? Die Erfahrungen, die wir beim Betrachten sammeln? Barry Spinello
beschreibt in [31] den Prozess der Entstehung und Wahrnehmung audiovisueller Inhalte folgendermaßen:
Imagine the following scenario: the art object, be it a painting
or composed piece of music, is not "the thing". The object is
but a residue of "the thing". The real "thing" is the interneural
connectivity within the artist that caused the object to come into
existence.
Diese interneuralen Verbindungen, die demnach beim Erschaffen im Kopf
des Künstlers das Objekt erst ins Leben gerufen haben, sollen im Idealfall
auch gleichermaßen beim Betrachten desselben entstehen. Das Kunstwerk
an sich fungiert hierbei lediglich als Verbindungsglied zwischen Künstler und
Betrachter. Diese Kommunikation kann folglich nur stattfinden, wenn beide Partner über ähnliche Wahrnehmungsmechanismen verfügen und die beabsichtigten Assoziationen seitens des Künstlers, sich auch im Betrachter
dementsprechend ausbreiten.
2.2
Aufmerksamkeit und Selektion
Die Wahrnehmung von äußeren Reizen wird hauptsächlich durch unsere Fähikeit zur Aufmerksamkeit und Selektion gesteuert. Wobei Flückinger in [15,
S. 244] einen starken Zusammenhang zwischen den beiden Modi postuliert:
Beide ergeben sich aus der Notwendigkeit, ein komplexes Reizangebot so zu strukturieren, dass der Informationsfluss den biologischen Gegebenheiten des zentralen Nervensystems und den
Anforderungen des Organismus optimal entspricht.
Das Reizangebot, wie es Flückinger nennt, stellt für unseren Wahrnehmungsappart einen permanten Überfluß an zu verarbeitenden Informationen
dar. Somit erscheint es nur als logisch, dass dieses Angebot einer starken
Strukturierung unterliegen muss, um einen einigermaßen kohärenten Sinneseindruck im Rezipienten zu hinterlassen. In diesem Zusammenhang bemerkt sie ebenfalls, dass psychologische Studien und Experimente zu derartigen Konzepten zum Großteil auf auditiver Ebene stattfinden, da die Verarbeitung und die resultierenden Reaktionen beim Rezipienten viel genauere
Rückschlüsse ergeben, als diese im visuellen Bereich messbar wären.
Klas Dykhoff präsentiert 2002 [13] ein Forschungsergebnis, welches die
Bandbreite bzw. die Kapazitäten unserer Sinneswahrnehmung in “bits per
second” demonstrieren soll (Tabelle 2.1). Hier wird ersichtlich, dass unsere audiovisuellen Sinne – Sehen und Hören – in einem Verhältnis von 100:1
stehen. Das bedeutet, dass anscheinend nicht allein unsere medialen Gewohnheiten bzw. unsere visuell dominierte Gesellschaft für die Unausgewogenheit
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
12
Tabelle 2.1: Brandbreite der Sinneswahrnehmung laut Dykhoff
Sinn
Bits/Sekunde
Sehen
10.000.000
Hören
100.000
Tasten
1.000.000
Schmecken
1.000
Riechen
100.000
Summe
11.201.000
der audiovisuellen Wahrnehmung verantwortlich zu sein scheinen. Die Gründe dafür sind durchaus auch auf unsere physischen Kapazitäten zurück zu
führen. In seinem Artikel wird ebenfalls dargestellt, dass unsere Aufmerksamkeit, also die “Daten”, die tatsächlich und bewusst verarbeitet werden,
lediglich bei ca. 16 bis 40 Bits/Sekunde liegen. Dies würde bedeuten, dass
die Gesamtheit der Sinneseindrücke, die bei über 11 Millionen Bits/Sekunde
liegt, im Verhältnis von 275.000:1 zu den tatsächlich wahrgenommen steht.
Dykhoff geht davon aus, dass ein Großteil der übrigen Reize unverarbeitet
bleibt, ein weiterer Teil aber doch ins Unterbewusstsein fließt.
Die Aufmerksamkeit dabei in eine bestimmte Richtung zu lenken, ist
demnach eine natürliche Notwendigkeit, die dem Organismus das Überleben versichert bzw. davor bewahrt, der Reizüberflutung zu unterliegen. Ein
typisches Beispiel dafür ist der erstmals 1953 durch den Akustiker Cholin
Cherry beschriebene Cocktailparty-Effekt. Dieser beschreibt die Fähigkeit
des auditiven Apparats aus mehrschichtigen Klangmischungen einen einzelnen Informationsstrang zu verfolgen. Flückinger beschreibt den Effekt sehr
treffend [15, S. 244]:
Die Fokussierungsfähigkeit des Ohrs in der Cocktailparty-Situation
wird vom Gehirn gesteuert und ist entsprechend stark mit psychischen Vorgängen verknüpft. Weiter ist diese Funktion eng an
die semantische Ebene gebunden. Fehlende Bruchteile werden
aufgrund des Bedeutungszusammenhangs ergänzt. Dieser Prozess gründet auf dem Bedürfnis nach verständlichen, sinnvollen
Ganzheiten. Einen solchen Prozess können wir beim Musikhören beobachten. Je nach Interessenslage, musikalischer Bildung
oder psychischer Verfassung können wir einzelnen Stimmen folgen, uns auf Motive konzentrieren oder auf rhythmische Elemente
reagieren. Wir hören die Musik beiläufig als Ganzes oder wandern
sozusagen analytisch darin herum.
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
13
Bemerkenswert dabei ist, dass Flückinger im selben Zusammenhang das
Kapazitätsproblem, wie es auch Dykhoff konstatiert, zur Sprache bringt.
Sie weist jedoch darauf hin, dass es dieses Phänomen eher als limitierten
Vorratsraum als durch den Begriff des Engpasses zu interpretieren gilt. Vor
allem dadurch, weil Studien aus den 60er Jahren das Flaschenhalsmodell
grundlegend in Frage gestellt haben und feststellten, dass der Kapazitätsvorrat auf verschiedene Tätigkeiten aufgeteilt werden kann, wie Flückinger
beschreibt [15, S. 247]:
Diese verschiedenen Tätigkeiten können in unterschiedlichem Maß
miteinander interferieren. Ähnliche Aufgabenstellungen in einem
spezifischen Modus interferieren stärker als unterschiedliche Aufgabenstellungen in verschiedenen Modalitäten. Das bedeutet auf
unseren Gegenstand angewendet, dass es schwieriger ist, mehrere
akustische Informationen simultan zu verarbeiten als gleichzeitig
dargebotene optische und akustische Reize; mit anderen Worten,
dass die simultane Verarbeitung komplexer Reizstrukturen leichter fällt, wenn Auge und Ohr daran beteiligt sind.
Im Bezug auf audiovisuelle Medien, vor allem im Film, wo auf semantischer Ebene Informationen transportiert werden müssen, erweitern diese
Erkenntnisse das Verständnis für die Wichtigkeit von beispielsweise Lippensynchronität. Sofern der Mund des Schauspielers im Verlauf des Sprechens
sichtbar bleibt, erhöht dies mit Sicherheit auch die Verständlichkeit seiner
Worte.
Willkürliche und unwillkürliche Aufmerksamkeit
Nun stellt sich berechtigterweise die Frage, inwiefern nun die Aufmerksamkeit der Willkür unseres unterbewussten Selektionsmechanismus unterliegt
und welche Faktoren dies beinflussen können. Grundsätzlich geht man davon aus, dass jeglicher Reiz von unserem Wahrnehmungsapparat gefiltert und
interpretiert wird und folglich individuell abgehandelt werden muss. Der britische Neuropsychologe Richard Gregory findet dafür 1994 in [18, S. 13] eine
sehr aussagekräftige Formulierung:
[...] perception involves going beyond the immediately given evidence of the senses: this evidence is assessed on many grounds
and generally we make the best bet, and see things more or less
correctly. But the senses do not give us a picture of the world
directly; rather they provide evidence for the checking of hypothesis about what lies before us. Indeed, we may say that the
perception of an object is an hypothesis, suggested and tested by
sensory data.
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
14
Wie werden nun diese Hypothesen gebildet bzw. kognitive Mechanismen
in Gang gesetzt und wie testet unser Wahrnehmungsapparat die eingehenden
“Daten”? Grundlegend unterscheidet hierzu Bordwell [3, S. 31] zwei “Richtungen”, in der diese Analyse stattfinden kann. Zum einen im Top-Down-Prozess,
wo bestimmte Erfahrungen, Wahrscheinlichkeiten und Erwartungshaltungen
eine große Rolle spielen und dem Verarbeitungsprozess vorangestellt werden.
Hierbei wurde festgestellt, dass diese Voreinstellungen, mit denen einzelne
Wahrnehmungsprozesse bzw.-aufgaben verbunden sind, in erheblichem Maße
die Reizinterpretation lenken können, wie Flückinger [15, S. 248] Experimente aus den 70er Jahren beschreibt:
Damit wurde auch klar, dass Einstellungen, Motivationen, Hypothesen und Antizipationen die gesteuerte Aufmerksamkeit beeinflussen. Die Aufmerksamkeit hängt demnach mit zentralen Prozessen der Reizinterpretation und der aktiven Konstruktion einer
kohärenten Repräsentation zusammen.
Der Begriff des Top-Down-Prozesses hat sich aufgrund seiner besonders geeigneten Anwendungsmöglichkeit in der Filmtheorie stark etabliert.
Flückinger führt hierzu einige Kategorien an, nach denen dieser Vorgang
ablaufen kann [15, S. 248]:
• Voreinstellung: Ausgelöst durch stereotypische Abläufe, welche die
Aktivierung des Zusehers beträchtlich erhöhen können. Ein klassisches
Beispiel dafür wäre der Zirkuseffekt, wie ihn Flückinger [15, S. 236]
nennt. Hierbei atnizipiert die gezielte Stille die akut hereinbrechende
bzw.. laute Gefahr, die dadurch vom Rezipienten bereits geahnt werden
kann.
• Wahrscheinlichkeit: Abläufe, die einer bestimmten Wahrscheinlichkeit entsprechen, werden leichter verarbeitet als gegenteilige. Somit
wird die Erwartungshaltung beim Rezipienten bestätigt, was den weiteren Verlauf der Handlung maßgeblich unterstützen kann.
• Priming oder Primacy Effekt: Dieser beschreibt die Voreinstellungen, die bereits beim ersten Auftreten eines Charakters gesetzt werden.
Bordwell [3, S. 38] spricht hier von einem semantischen Register, das
unmittelbar etabliert und für weitere Daten geöffnet wird. Nachfolgende Eindrücke können nun diese Erwartungshaltung bestätigten bzw.
absichtlich negieren. So erfüllt beispielsweise das Leitmotiv 1 eine ähnliche Rolle.
• Mentale Repräsentation: Vergleichbar mit dem bereits weiter oben
angeführten Zitat Gregory’s, bestimmen diverse Erwartungshaltungen
1
Fachbegriff aus dem Sounddesign, der die Erkennungsmelodie eines Charakters, wie
z. B. Indiana Jones oder Superman, betitelt und die oft dazu benutzt wird, um diesen voranzukündigen bzw. dessen Auftritt begleitet, um den Wiedererkennungswert zu steigern.
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
15
die Rezeption eingehender Reize mit “gespeicherten”, mentalen Repräsentationen, was wiederum zu einem ständigen Abgleich bzw. der Überprüfung mit vergangenen Erfahrungen führt.
Neben den angeführten Faktoren für die mehr oder weniger willkürliche Beeinflussung der Aufmerksamkeit spielen natürlich auch unterbewusste
Prozesse eine bedeutende Rolle, die von Bordwell [3, S. 31] als Bottom-UpModell bezeichnet werden. Dabei werden Rückschlüsse und Beurteilungen
äußerer Reize erst nach dessen Eintreffen bzw. Erkennen verarbeitet. Ein
plakatives Beispiel dafür ist das Beurteilen von Farbwerten. So trifft z. B. das
reflektierte Licht einer farbigen Oberfläche auf die Netzhaut und wird erst
durch die nachgehende geistige Analyse als beispielsweise Grün identifiziert.
Weiters spricht Flückinger [15, S. 251] im Allgemeinen vom Regelbruch, der
widerum unwillkürlich zur Steigerung der Aufmerksamkeit des Rezipienten
führen kann:
Einen Regelbruch muss man sich als Durchbrechung einer Ereignissequenz vorstellen, die durch eine implizite oder explizite
Regularität gekennzeichnet ist. Bei einem falschen Ton in einer
Musikdarbietung, der einen solchen Regelbruch veranschaulicht,
werden die Regeln durch die vorausgehende Organisation des musikalischen Materials bestimmt.
Dieser Effekt kann neben falschen Tönen in einem Musikstück auch durch
jegliche andere Veränderungen erzielt werden, sofern diese eine entsprechende
Erwartungshaltung beim Rezipienten zu durchbrechen vermögen. Ein spannendes Beispiel diesbezüglich stellt eine Sequenz aus Les Ventres [17, 2:263:30] dar, wo zwar das musikalische Thema an sich fortgeführt wird, jedoch
der plötzliche Ausstausch der Instrumentierung und rhythmische Zerlegungen einen abruten Wechsel hervorbringen und somit unweigerlich die Aufmerksamkeit des Zusehers aktivieren.
Neben derartigen Intensitäts- bzw. Tonalitätsveränderungen bewirkt im
selben Zusammenhang auch die sogenannte Orientierungsreaktion eine starke Aktivierung der Aufmerksamkeit. Flückinger [15, S. 252] unterscheidet
diese Reaktion von den willkürlichen Prozessen dahingehend, dass keine Onsets oder Offsets 2 die Bedeutsamkeit des Reizes darstellen, sondern diese
mehr auf semantischer Ebene zu finden sind. Ein greifbares Beispiel dafür
ist die naturgemäße Empfindlichkeit im Bezug auf die Wahrnehmung des
Eigennamens. Ebenso spiegeln sich hochgradige Sensibilisierungen auf physischer Ebene wieder, wobei Flückinger [15, S. 252] weitere Beispiele, wie den
menschlichen Schrei oder das Geräusch des Erbrechens anführt.
2
Plötzliche ansteigende Veränderungen in Lautstärke, Tonhöhe, usw. werden als Onsets
bezeichnet. Das gegenteilige Absteigen derartiger Eigenschaften widerum als Offsets.
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
2.3
16
Interkonnektivität der Sinne oder Synästhesie
Die unterschiedlichen Modalitäten unserer Wahrnehmung (Sehen, Hören,
Riechen, ...) beeinflussen sich zum Großteil gegenseitig, ohne dass es auch
nur annähernd bewusst also solche Interkonnektivität wahrgenommen wird.
Klas Dykhoff vergleicht hierbei den Vorgang des Schmeckens und legt offen,
dass es hier unweigerlich zu derartigen Überlappungen der Sinne kommen
kann [13, S. 5]:
If I’m given small pieces of apple and pear, I can quite easily tell
which is one or the other, although they look the same. Why?
Because I can taste the difference? No, obviously not. Humans
can only distinguish between four different tastes: salt, sweet,
bitter and sour. The rest is smell. Despite this (and despite the
fact that most people are aware of this), we believe that we taste
the difference, because our minds tell us so.
Was Chion [9, S. 134] als Visualists of the ear und Auditives of the eye
bezeichnet, basiert auf der selben Grundlage, nämlich dass eingehende Reize erst durch den Empfänger (z. B. das Ohr) registriert werden, aber im
Anschluss auf jede Sinnesmodalität erweitert bzw. diese bestätigen können.
Wobei die eigentliche Herkunft des Eindrucks im Endeffekt nicht mehr bewusst verarbeitet wird, sondern vielmehr ein Gesamteindruck von Bild und
Ton bzw. eine audiovisuelle Einheit entsteht. So beschreibt Chion auch aus
eigener Erfahrung, dass Eindrücke, die als visuell in unserer Erinnerung gespeichert wurden, oftmals rein akustischer Natur sind. Räumliche Parameter,
wie z. B. die kalte und reflexionsreiche Akustik eines Gefängnisses, die dessen
visuelle Repräsentation kaum darzustellen vermag, jedoch durch die räumliche Extension erst auf auditiver Ebene wahrnehmbar wird. Interessanterweise werden derartige audiovisuelle Eindrücke oftmals als rein visuell empfunden und allein dem Gesichtssinn zugeschrieben. Ebenso verhält es sich auf
umgekehrtem Wege. Als Paradebeispiel dient Chion [9, S. 137] hierfür der
Stummfilm, wo die Abwesenheit der Tonspur bzw. eine akustisch synchrone Repräsentation des Bildes vollkommen wegfällt und trotzdem an unser
auditives Gedächtnis appelliert wird:
When kinetic sensations organized into art are transmitted through
a single sensory channel, through this single channel they can
convey all the other senses at once. The silent cinema on one
hand and concrete music on the other clearly illustrate this idea.
Silent cinema, in the absence of synch sound, sometimes expressed sounds better than could sound itself, frequently relying on
a fluid and rapid montage style to do so. Concrete music, in its
conscious refusal of the visual, carries with it visions that are
more beautiful than images could ever be.
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
17
Derartige “Visionen”, die rein durch akustische Charakteristika hergerufen werden, finden sich auch in anderen Definitionen, wie z. B. des Acoustmêtre (siehe Kapitel 3.6) oder dem Aural Image (siehe Kapitel 3.4) wieder.
Wo auditive Reize ins Reich der visuellen Wahrnehmung verlagert werden
und somit für eine intermodale Verknüpfungen sorgen. Diese Theorien sollen
für diese Arbeit vor allem dann relevant werden, wenn auf konkrete Beispiele
bezüglich der innerbildlichen Darstellung des Unsichtbaren eingegangen wird
(siehe Kapitel 5).
2.4
Bewegung und Geschwindigkeit
Allein die technischen Grundlagen, die für die Illusion einer flüssigen Darstellung von Bewegung auf der Leinwand oder die stufenlose Abbildung von
Schallwellen auf einer Compact Disc notwendig sind, veranschaulichen bereits die fundamentalen Unterschiede unserer audiovisuellen Sinne im Bezug
auf die Wahrnehmung von Bewegung. Das Auge begnügt sich bekannterweise
mit 24 Bildern pro Sekunde, um eine Aneinanderreihung von Einzelbildern
als flüssige Bewegung wahrzunehmen. Im direkten Vergleich wird in der technischen Abbildung von kontinuierlichen, akustischen Signalen (z. B. AudioCD) mit einer wesentlich höreren Abtastrate gearbeitet, um den Eindruck
eines kontinuierlich verlaufenden Signals bzw. eine natürliche Repräsentation eines akustischen Erreignisses zu erreichen. Chion kommentiert dieses
Ungleichgewicht, wie folgt [9, S. 11]:
The eye perceives more slowly because it has more to do all at
once; it must explore in space as well as follow along in time.
The ear isolates a detail of its auditory field and it follows this
point or line in time. (If the sound at hand is a familiar piece
of music, however, the listener’s auditory attention strays more
easily from the temporal thread to explore spatially.) So, overall,
in a first contact with an audiovisual message, the eye is more
spatially adept, and the ear more temporally adept.
Hier wird klar ersichtlich, dass auf auditiver Ebene Bewegung viel detaillierter wahrgenommen werden kann als auf visueller und somit dem Rezipienten beträchtlich höhere Geschwindigkeiten zugemutet bzw. von diesem
um ein vielfaches schneller verarbeitet werden können. Im Gegenzug dazu
steht die Fähigkeit des Auges räumliche Tiefe und Zusammenhänge schneller und einfacher erfassen zu können. Als besonders bemerkenswert gilt hierbei wieder die suggestive Kraft der auditiven Ebene visuelle Bewegung zu
suggerieren. Deutlich wird dies unter anderem beim Emblematic Sync Point
(Siehe Kapitel 3.5.1), der durch seine erhöhte symbolische Wirkung die innerbildliche Bewegung erst wahrnehmbar macht. Ein zusätzliches Beispiel führt
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
18
Chion mit einer Szenenbeschreibung aus The Empire Strikes Back an [9, S.
12]:
... in making The Empire Strikes Back, when director Irving Kershner needed a door-closing effect he sometimes simply took a static shot of the closed door and followed it with a shot of the door
open. As a result of sound editing, with Ben Burtt’s “psssht”,
spectators who have nothing before their eyes besides a straight
cut nevertheless think they see the door slide open.
Dieser hier stattfindende Mehrwert3 kann viele Facetten der Bild-TonBeziehung bereichern und demnach auch für paradoxe audiovisuelle Illusionen verantwortlich sein.
2.5
Three Listening Modes
Die von Chion verwendeten Begriffe Causal, Semantic und Reduced Listening
zeigen auf, dass auditive Ereignisse auf unterschiedlichen Ebenen empfangen
und interpretiert werden können. Die damit verbundenen Perspektiven der
Analyse begründen viele Motive des Sounddesigns und ermöglichen eine gezielte Herangehensweise beim Gestalten audiovisueller Werke. Weiters sollen
diese Begrifflichkeiten im weiteren Verlauf der Arbeit zu einem breiteren
Verständnis der Analysen beitragen.
2.5.1
Causal Listening
Causal Listening ist jener der drei Modi, der uns wahrscheinlich am häufigsten begegnet. Egal ob im Kino oder im Alltag, etwas eben Gehörtes,
nichtwissend woher es kommt oder was es verursacht hat, verlangt instinktiv nach einer Erklärung bzw. einer Art Beschreibung. Auf der Suche nach
diesen grundlegenden Aspekten, wird das Gehörte automatisch mit unserem
Erfahrungsschatz an auditiven Erinnerungen abgeglichen, um so ein möglichst akkurates Bild darüber zu gewinnen. Nur durch diese Kombination an
Erfahrung und einem möglicherweise damit verbundenen Bildinhalt, können
neben der Quelle auch weitere Informationen freigelegt werden, wie Chion [9, S. 26] prägnant schildert:
... the sound produced by an enclosed container when you tap it
indicates how full it is.
3
Als Added Value oder Mehrwert bezeichnet Chion den expressiven oder informativen
Mehrwert eines Bildes, der erst durch eine Erweiterung auf auditiver Ebene zustande
kommt und somit den Gesamteindruck wesentlich bereichert.
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
19
Betrachtet man die auditive Wahrnehmung aus dieser Perspektive, so
könnte man Causal Listening mit dem einfachen Sammeln von Informationen bezüglich spezifischer Eigenschaften der Quelle beschreiben. Jedes auditive Objekt wird zunächst auf seine Herkunft und etwaige Zusatzinformationen untersucht und eingeordnet. Der Vorgang der Synchrese (siehe 3.5)
spielt hierbei eine führende Rolle, da er mit sofortiger Wirkung ein auditives
Objekt mit einem visuellen Ereignis verknüpft und somit unmittelbar eine
mögliche Quelle suggeriert. Sobald diese Quelle nicht im Bild repräsentiert
wird, muss auf Erfahrungswerte des Zusehers zurück gegriffen werden, sofern
ein auditives Ereignis eine tragende Rolle spielen soll.
So assoziiert man beispielsweise ein Bellen oder Miauen unmittelbar mit
der dementsprechenden Quelle. Obwohl hierbei spezifische Informationen,
wie z. B. über die Rasse oder Fellfarbe des Tieres, verborgen bleiben, werden
entsprechende Register beim Rezipienten geöffnet, die wiederum stereotypische Informationen über den Handlungsort enthalten können. So stellt z. B.
ein Vogelgezwitscher in den meisten Fällen ein klares Zeichen für ein naturbezogenes Umfeld dar.
In diesem Zusammenhang haben sich im Laufe der Zeit verschiedenste
Codes etabliert, die dementsprechend als Informationsträger für Handlungsräume oder unspezifische Objekte funktionieren können und im heutigen
Sound Design längst als Selbstverständlichkeit betrachtet werden. Analog
dazu findet hier ein Prozess statt, den Chion [9] mit dem Begriff Aural Image
(siehe 3.4) näher beschreibt.
2.5.2
Semantic Listening
Auf Ebene des Semantic Listening beschäftigen ausschließlich inhaltliche Informationen unsere Wahrnehmung. Das Gehörte soll dahingehend auf seine
Aussage untersucht und dekodiert werden. Das setzt dementsprechend voraus, dass beide Vertragspartner – Sender und Empfänger des Signals – eine
gemeinsame Sprache sprechen. Somit wird natürlich die gesprochene Sprache
zum Hauptträger semantischer Informationen.
Somit darf angenommen werden, dass der Prozess des Semantic Listening
nur innerhalb eines etablierten Systems existieren und auch nur dort seine Informationen den teilnehmenden Vertragspartner offenlegen kann. Wenn nun
z. B. innerhalb einer erzählten Handlung eine gemeinsame Sprache vereinbart wird, so kann diese auch im weiteren Verlauf angewandt werden, was
keineswegs eine allgemein gültige Sprache im herkömmlichen Sinn bedeuten
muss.
So stellt z. B. in The Village [30] das Erklingen der Alarmglocken ein
derartiges Signal dar, das die weiteren Schritte in der Handlung maßgeblich
beeinlfußt. Nach einmaliger Einfürung kann dieses Signal fortwährend benutzt werden, um diesen Ausnahmezustand einzuläuten. Kein gesprochenes
Wort, sondern das Läuten der Glocke wird somit zum Informationsträger
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
20
und besitzt dadurch eine erhöhte Aussagekraft.
So gesehen, kann jedes auditive Ereignis zum Träger semantischer Informationen umfunktioniert und dementsprechend eingesetzt werden, sofern es
im Vorfeld mit einer klaren Bedeutung behaftet und ein gemeinsamer Code
vereinbart wurde.
2.5.3
Reduced Listening
Reduced Listening ist ein Begriff, der auf Pierre Schaeffer zurück geht und aus
dem Bereich der konkreten Musik entstanden ist. Es beschreibt das Hören,
das sich abgesehen von semantischen und kausalen Faktoren, ausschließlich
auf die materielle Beschaffenheit von auditiven Ereignissen bezieht. Hierbei stehen diverse Eigenschaften z. B. Tonhöhe, Klangfarbe oder Lautstärke
im Mittelpunkt der Analyse. Derartige Beschaffenheiten lassen sich mit zunehmender Komplexität nur mehr schwer mit herkömmlichen sprachlichen
Mittel beschreiben und fordern deswegen ein eigenes individuelles Vokabular,
das Schaeffer 1967 in Traité des objects musicaux [29] etablierte.
Ein derartiges Vokabular führt unweigerlich zu Mehrdeutigkeiten, die die
Grenzen zwischen den Three Listening Modes sehr schnell verschwimmen
lassen können, wie Chion [9, S. 29] treffend beschreibt:
“This is a squeaky sound”, you say, but in what sense? Is “squeaking” an image only, or is it rather a word that refers to a source
that squeaks, or to an unpleasant effect?
Solche spezifischen Beschreibungen auditiver Ereignisse sind offensichtlich schwer in Worte zu fassen, was vermuten lässt, dass Sprache auf metaphorischer Ebene besser mit Bildern, als mit Tönen kommunizieren kann.
Ein derartiges squeaky kann somit als Adjektiv in allen drei beschriebenen
Listening Modes seine Anwendung finden. Sofern es die Quelle beschreibt,
steht es für die kausale Herkunft des Tons, handelt es sich um einen assoziiertes Bild, könnten damit Informationen semantischer Herkunft transportiert
werden, wobei ein unangenehmer Effekt wohl am ehesten dem Reduced Listening zuzuschreiben ist.
2.6
Streaming und Gestalt
Der Begriff des Streamings betitelt die Fähigkeit unseres Gehörs bestimmte
Klänge aus komplexeren Klangmustern zu extrahieren. Was auf semantischer Ebene hauptsächlich durch den Cocktail-Party-Effekt stattfindet (siehe Abschnitt 2.2), findet im Streaming auf der Ebene des Causal Listenings
seine Anwendung. Wobei gewisse Aspekte auch durchaus dem Reduced Listening zuzuordnen sind. Folgendes Beispiel von Flückinger veranschaulicht
das grundlegende Konzept sehr treffend [15, S. 253]:
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
21
Wenn eine Kutsche bei Regen von einem Pferd über Kopfsteinpflaster gezogen wird, so können problemlos drei verschiedene
Klangobjekte identifiziert werden: das rhythmische Klacken der
Hufe auf Stein, das Rumpeln der Kutsche und das breitbandige,
kontinuierliche Geräusch des Regens.
Selbiger Effekt ist, wie bereits erwähnt, auch bei der Wahrnehmung von
Musik zu beobachten (siehe 2.2), wenn von einer rein auditiven Rezeption
die Rede ist. In einer audiovisuellen Situation, wie sie ein Film beispielsweise
darstellt, unterstützen natürlich visuelle Elemente den Effekt des Streamings
in erhöhtem Maße (siehe Kapitel 3.5 zur Synchrese). Diese Gruppierung von
Strömen, woher auch der Name stammt, findet sich ebenso in der Gestaltpsychologie wieder, wo auch Flückinger [15, S. 253] Bezüge offenlegt. Das
Streben nach sinnvollen Ganzheiten scheint unserer Psyche ein grundlegendes Bedürfnis und maßgeblich verantwortlich für die Erkennung bzw. Extrahierung von komplexen Mustern aus mehrschichtigen Reizfluten zu sein.
2.7
Die räumliche Anziehungskraft des Bildes
Die Wahrnehmung der räumlichen Eigenschaften eines Geräuschs bzw. einer
Stimme gehorchen auf der Leinwand anderen Gesetzten als in einer naürlichen Umgebung. Wie auch das Causal Listening beschreibt, gilt unsere
erste Aufmerksamkeit beim Hören eines auditiven Ereignisses der Quelle,
dem Wo im Raum. Zieht man in Betracht, dass bei künstlicher Reproduktion, wie man den Tonspur eines Filmes immer nennen kann, vielschichtige
Faktoren in dessen Wiederaufbereitung miteinfließen und somit die Charakteristik der Wiedergabe beeinflussen. Chion erläutert dies mittels folgendem
Beispiel [9, S. 28]:
Take the sound of the felt-tip pen with which I am writing this
draft. The sound’s two main sources are the pen and the paper.
But there are also the hand gestures involved in writing and, further, I who am writing. If this sound is recorded and listened to
on a tape recorder, sound sources will also include the loudspeaker, the audio tape onto which the sound was recorded, and so
forth.
Nun sind es mit Sicherheit antrainierte Sehgewohnheiten, die uns im Kino glauben lassen, das Gehörte käme direkt von der Leinwand und dessen
Akteuren. Dabei ist es vollkommen belanglos, ob es sich um eine Mono-,
Stereo- oder Sourround-Beschallung handelt, um diesen Effekt zu forcieren.
Diese räumliche Verschiebung findet allein auf mentaler Ebene des Rezipienten statt, welche die vermeintliche Quelle eines auditiven Reizes unweigerlich
mit der ihr am wahrscheinlichsten zugehörigen auf der Leinwand verbindet.
2. Audiovisuelle Wahrnehmung
22
Ohne Rücksicht auf realistische räumliche Hörverhältnisse. Diese mentale Lokalisierung führt Chion auf eine charakteristische Beziehung zwischen Bild
und Ton zurück [9, S. 71]:
Thus to mental localization, determined more by what we see
than by what we hear (or rather by the relationship between the
two), we may oppose the absolute spatialization made possible
by multitrack film sound.
Was zum einen durch den Effekt der Synchrese (siehe Kapitel 3.5) die
Illusion einer audiovisuellen Einheit erzwingt, kann sich im gegengesetzten
Fall auch ausserhalb des Field of Vision (Sichtfeldes) befinden. Beispielsweise kann sich die räumliche Position eines Charakters durch dessen hörbare
Schritte aus dem Bild bewegen und dort Offscreen (siehe 3.2.2) weiterhin
dem Geschehen beiwohnen, obwohl sich dies in keiner Weise mit der akustischen Realität verbinden lässt.
Kapitel 3
Soundtheorie und die
Terminologie Chions
3.1
Einführung
Michel Chion ist ein französischer Komponist, Schriftsteller und Professor
an der Universität Paris. In seinen zahlreichen Essays und einigen Büchern
beschäftigt er sich eingehend mit der Bild-Ton-Beziehung im Film und entwickelte im Zuge seiner Theorien eine allgemein anerkannte Terminologie
im Bereich des Tonfilms. Vor allem durch seine detaillierten Definitionen
bestimmter auditiver Elemente im Film hat Chion das diesbezügliche Fachjargon wesentlich bereichert und bezieht Chion dadurch eine weltweite Pionierstellung, weswegen viele Bezeichnungen auch in dieser Arbeit ihren französischen Titel tragen. Im nun folgenden Kapitel werden relevante Begriffe
und Modelle beschrieben, um für den weiteren Diskurs ein möglichst klares
Vokabular zu schaffen.
3.2
Filmische Platzierung auditiver Objekte
Um diverse Bild-Ton-Realtionen eindeutig beschreiben zu können, bedarf es
einer klaren Abgrenzung der möglichen Räume bzw. Platzierungen, die auditive Objekte im audiovisuellen Gefüge einnehmen können. Die eindeutige
Absteckung dieser Grenzen wurde in der Theorie vielfach diskutiert und gilt
heute immer noch für um umstritten, da einige Bild-Ton-Relationen sich
nicht eindeutig kategorisieren lassen. Da dem Autor das Schema von Michel
Chion aus Audio-Vision: Sound on Screen [9] am deutlichsten und aktuellsten erscheint, wird dieses im weiteren Verlauf der Arbeit seine Anwendung
finden.
23
3. Soundtheorie und die Terminologie Chions
3.2.1
24
Onscreen
Als Onscreen Sound bezeichnet Chion [9, S. 73] auditive Objekte, deren
Quelle im Bild zu sehen ist, als solche identifiziert wird und demnach der
filmischen Realität angehört. So stellt z. B. das Gesicht eines sprechenden
Schauspielers, dessen Mundbewegungen sich synchron zur auditiven Ebene
bewegen, ein klares Onscreen-Objekt dar.
3.2.2
Offscreen
Generell definieren sich Elemente des Offscreens durch die Abwesenheit ihrer sichtbaren Quelle im Bildausschnitt. Diese müssen jedoch einen handlungsorientierten Bezug zur filmischen Realität darstellen, um nicht als nondiegetic zu gelten (siehe 3.2.3). Ginge nun beispielsweise ein sprechender
Charakter in ein angrenzendes Zimmer und verließe somit den sichtbaren
Handlungsraum, der durch den Kameraausschnitt begrenzt wird, würde sich
dessen akustische Position vom Onscreen- in den Offscreen-Bereich verlagern.
Relativer und absoluter Offscreen-Raum
Obwohl die Grenzen von On- und Offscreen räumlich klar gegliedert sind,
soll dies nicht bedeuten, dass keine intermodalen Verbindungen diesbezüglich möglich wären. So lässt uns Chion [9, S. 85] erkennen, dass OffscreenElemente immer wieder einen starken Einfluss auf den innerbildlichen Handlungsraum ausüben und eine untrennbare audiovisuelle Einheit bilden können:
We only have to close our eyes at a film or look away from the
screen to register the obvious: without vision, offscreen sounds
are just as present – at least as well-defined acoustically speaking – as onscreen sounds. Nothing allows us to tell the two
apart. Acousmatized and reduced to an ensemble of sounds that
certainly constitute a soundtrack worthy of the name, the film
completely changes.
Als eher subtiles Beispiel führt Chion hier Les vacances de Monsieur
Hulot [32] an, wo er uns speziell bei den Szenen am Strand, zum Weghören einlädt. Die akustisch dargebotene Idylle der badenden und fröhlichen
Menschen wird erst hörbar, sobald die Bilder der offensichtlich genervten
Badegäste vom Rezipienten absichtlich ausgeblendet werden und somit den
gesamten Charakter der Szene verwandeln.
Plakativer wird die Bedeutung von Offscreen Sound, der relativ zum Onscreen-Geschehen verknüpft ist, durch Positionen, wie sie beispielsweise die
Mutter in Psycho [19] einnimmt. Obwohl die Quelle dieser Stimme dem absoluten Offscreen angehört, wäre ohne ihr Dasein das innerbildliche Geschehen
3. Soundtheorie und die Terminologie Chions
25
bedeutungslos und stellt somit den grundlegenden Mehrwert dieser Szenen
dar.
Aktiver und passiver Offscreen-Raum bzw. UKOs
Das eben angeführte Beispiel lässt sich unmittelbar mit dem Prinzip des Active Offscreen verbinden. Damit meint Chion [9, S. 85], dass gewisse OffscreenElemente die Fähigkeit besitzen die aktive Aufmerksamkeit des Rezipienten
auf sich zu lenken, wie demnach auch die Mutter in Psycho. Elemente, die im
Rezipienten Fragen und das dazugehörige Verlangen nach der Identität bzw.
der Quelle evozieren. Hierbei führt Flückinger auch den Begriff des UKO ein
(Unidentifiziertes Klangobjekt), dessen Herkunft und Beschaffenheit den Rezipienten vor ein Rätsel stellen und damit auch in die Kategorie des aktiven
Offscreen fallen würden. Flückinger trifft die Defnition sehr zielgenau [15, S.
129]:
Das UKO kann man als offenes, unterdeterminiertes Zeichen verstehen, dessen Vagheit verwundbare Offenheit und gleichzeitig
neugierige Spannung erzeugt. Als Leerstelle im Text ist es wie eine Projektionsfläche für die individuelle, subjektive Bedeutungserzeugung des Zuschauers. Das nicht eindeutige Klangobjekt stellt
eine Frage, und der Zuschauer wird versuchen, das Rätsel durch
Interpretation zu lösen.
Dem passiven Offscreen gehören hingegen auditive Elemente an, dessen
Auftreten keine besondere Aufmerksamkeit beim Rezipienten weckt und somit eher passiv wahrgenommen werden. Dazu zählt vor allem die Klasse der
Territory Sounds, dessen Hauptaugenmerk auf der akustischen Darstellung
der szenischen Umgebung beruht und für die jeweils nötige Athmosphäre
sorgen. Sie erfüllen damit eine eher stabilisierende Funktion, wie Chion es
beschreibt [9, S. 85]:
Passive offscreen sound, on the other hand, is sound which creates an atmosphere that envelops and stabilizes the image, without
in any way inspiring us to look elsewhere or to anticipate seeing
its source. Passive offscreen space does not contribute to the dynamics of editing and scene construction – rather the opposite,
since it provides the ear a stable place (the general mix of a city’s
sounds), which permits the editing to move around even more
freely in space, to include more close shots, and so on, without
disorienting the spectator in space.
Chion nennt derart orientierungsbezogene Elemente auch Elements of the
auditory setting [9, S. 85], deren Hauptfunktion darin besteht den szenischen
Raum über die Grenzen des Bildausschnitts hinweg zu erweitern und für eine
klare Orientierung darin zu sorgen.
3. Soundtheorie und die Terminologie Chions
3.2.3
26
Non-diegetic
Diesen Begriff verwendet Chion für auditive Objekte, dessen Quelle sich weder innerhalb des präsentierten Bildausschnittes befinden, noch der filmischen Handlung angehören. Elemente, die sozusagen eine extra-diegetische 1
Funktion erfüllen. Hierbei kann unter folgenden Kategorien unterschieden
werden:
• Voice-Over Kommentar: Der klassische Sprecher aus dem Off 2 , wie
er im kommerziellen Dokumentarfilm oftmals zu finden ist.
• Pit Music: Das Bild begleitende Musikuntermalung ohne jeglichen
Bezug zum Ort, Zeit oder Geschehen der szenischen Handlung. Abgeleitet vom Begriff des klassischen Orchestergraben, wo das Bühnengeschehen vom Publikum unbemerkt begleitet werden konnte.3
3.3
Akusmatik
Der Begriff der Akusmatik stammt ursprünglichen vom griechischen akusmatikoi ab und beschreibt jene, die nur hörend teilnehmen. In weiterer Folge
wurde der Begriff acousmatique erstmals 1955 den französischen Komponisten Jéôme Peignot und Pierre Schaeffer im Bezug auf dessen Werke im Bereich der Musique concrète benutzt, welche sich ausschließlich auf die Wahrnehmung der akustischen Eigenschaften eines auditiven Ereignissen konzentriert und dessen eigentliche Quelle nicht vor Augen hat. Selbiges Prinzip
beschreibt auch der Begriff der Akusmatik: Hören ohne dabei die eigentliche
Quelle sehen zu können.
Chion unterscheidet hier zwischen zwei Szenarien, nach denen auditive
Ereignisse in den akusmatischen Zustand treten können [9, S. 72]:
In a film an acousmatic situation can develop along two different scenarios: either a sound is visualized first, and subsequently
acousmatized, or it is acousmatic to start with, and is visualized
only afterward. The first case associates a sound with a precise
image from the outset. This image can then reappear with greater or lesser distinctness in the spectator’s mind each time the
sound is heard acousmatically. It will be an “embodied” sound,
identified with an image, demythologized, classified. The second
case, common to moody mystery films, keeps the sound’s cause
a secret, before revealing all. The acousmatic sound maintains
suspense, constituting a dramatic technique in itself.
1
Diegese bezeichnet den narrativen Handlungsraum, wobei extra-diegetische Elemente
keinen Bezug dazu aufweisen.
2
Kurzform für Offscreen, siehe 3.2.2
3
Das Gegenteil zur Pit Music wird als Screen Music bezeichnet und besitzt ihren Ursprung innerhalb des filmischen Handlungsortes.
3. Soundtheorie und die Terminologie Chions
27
Die Anwendung dieses dramaturgischen Mehrwerts ist in etlichen Filmklassikern zu beobachten. So zeigen z. B. M [24] oder Psycho [19], dass dieses Hinauszögern der Enthülung bzw. die Frage nach der physischen Gestalt
eines Charakters den Spannungsbogen erheblich bereichern können. Die Ungewissheit um das eigentliche Aussehen der rein auditiv präsenten Figuren
beflügeln in beiden Fällen die Vorstellungskraft des Rezipienten und trägt
damit auch zur Steigerung der filmischen Immersion 4 bei.
3.4
Aural Image
Auditive Reize, die im akusmatischen Zustand rezipiert werden und folglich die Vorstellungskraft im Rezipienten zur Erzeugung eines mentalen Abbildung des Gehörten beanspruchen, nennt man im Allgemeinen das Aural
Image. Hierbei findet ein ständiger Wechsel zwischen den bereits erwähnten
Hörmodi Causal- und Reduced Listening statt. Sofern das Gehörte mehrdeutige Lösungen anbietet, spielen Faktoren, wie z. B. Klangfarbe oder Räumlichkeit eine bedeutende Rolle auf der Suche nach der verantwortlichen Quelle. In [4, S. 3] beschreibt Bridgett diesen Wechsel wie folgt:
Somewhere in-between these two modes is where ‚Aural Imagery‘
appears, as one’s own interpretation on a non- linguistic, but
sensual aural level of what these sounds may represent, is in flux
between the sound itself and an index of possible causal images
based on the unique “experience map” of each individual.
Diese Experience Map, wie er sie bezeichnet, kann sowohl mit audiovisuellen Erinnerungen, als auch mit rein auditiven Informationen befüllt sein. So
findet z. B. ein jeder Radiosprecher seinen individuellen Platz im Gedächtnis
eines Zuhörers und wird automatisch mit einem Aural Image versehen. Je
nach Beschaffenheit der Stimme, werden auf Ebene des Reduced Listenings
eine Fülle an Zusatzinformationen produziert, im Register derjenigen Person
vermerkt und gespeichert. So wird z. B. eine langsame, rauhe und basslastige
Stimme intuitiv mit einem eher älteren und korpulenten Mann besetzt.
Einen besonderen Stellenwert nehmen in diesem Zusammenhang Synchronstimmen bei übersetzten Kinofilmen ein. Sobald eine Stimme mit einem
bestimmten Gesicht bzw. einer Person verknüpft wird, nimmt diese auch die
körperlichen und visuellen Eigenschaften des Schauspielers an. Enthüllungen
über das wahre Gesicht hinter einer Synchronstimme ernten deswegen in den
meisten Fällen Verwunderung, da das aufgebaute Bild im Gedächtnis mit der
wahren Erscheinung nicht mehr vereinbart werden kann.
4
Immersion ist ein Begriff, der auf die Filmtheorien von Béla Balázs aus dem Jahr 1938
zurückgeht und das Eintauchen des Rezipienten in die filmische Realität beschreibt [1, S.
215]
3. Soundtheorie und die Terminologie Chions
3.5
28
Synchrese
Synchrese ist eine Kombination aus Synthese und Synchronismus, erfunden
von Michel Chion, einem der bedeutensten Theoretiker auf dem Gebiet der
audiovisuellen Medien. In seinem Buch Audio-Vision: Sound on Screen [9, S.
63] beschreibt er den Vorgang der Synchrese folgendermaßen:
Synchresis ... is the spontaneous and irresistible weld produced
between a particular auditory phenomenon and visual phenomenon when they occur at the same time. This join results independently of any rational logic.
Die Abwesenheit von jeglicher rationaler Logik macht die Synchrese zum
eigentlichen Phänomen. Sie ist prinzipiell dafür Verantwortlich, dass seit Beginn des Tonfilms auch die absurdesten Verknüpfungen zwischen Bild und
Ton für wahr oder zumindest potenziell möglich gehalten werden und somit
die eigentliche Grundlage für die Postsynchronisation im Kino bildet. Das
hängt vor allem damit zusammen, dass unser auditiver Wahrnehmungsapparat relativ leicht beeinflussbar zu sein scheint.
Geprägt durch den spielerischen Drang eine Bewegung mit einem spezifischen Klang zu versehen, zeigt sich der Vorgang der Synchrese bereits im
frühen Kindesalter, wenn z. B. beim Spielen mit Matchbox-Autos ein lautstarkes Quietschen die Vollbremsung symbolisieren soll. Auf vergleichbare
Weise haben auch viele andere Stereotypen den Weg in unser kollektives
Soundgedächtnis gefunden. Einmal akzeptierte Klänge, wie die eines Laserschwerts, eines Dinosauerierschreies oder dem Zermalmen von Gliedmaßen
wurden erst durch ihre Etablierung im Kino ins allgemeine Repertoire aufgenommen. Dabei ist es völlig belanglos, ob die beigefügten Sound Effekte der Wahrheit entsprechen könnten oder nicht. Sobald die Grenzen der
menschlichen Erfahrung überschritten werden, das heißt, wenn es Ereignisse
zu vertonen gilt, dessen natürlich erzeugter Klang höchstens erahnt werden
kann, sorgt allein der Effekt der Synchrese für Glaubhaftigkeit, wie Flückinger in [15, S. 277] verdeutlicht:
Wenn es darum geht, solche Drehbuchideen und optische Tricks
mit einem Klang zu versehen, hat die Stunde der echten Audiophilen geschlagen. Mit kühner Imagination greifen sie zu einer
Dose Hundefutter, um das sumpfige Schlürfen des flüssigen Terminators zu generieren, wie Gry Rydstrom für Terminator 2. Es
ist das Glück dieser Leute, dass die Zuschauer in einer visuell dominierten Kultur leben und daher nicht in der Lage sind, sich die
tatsächliche Quelle eines Klangobjekts – das Hundefutter nämlich – zu vergegenwärtigen.
Sofern ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit erreicht wird, können eine
Vielzahl an verschiedenen Sounds ein bildliches Ereignis glaubhaft begleiten.
3. Soundtheorie und die Terminologie Chions
29
Wichtig ist nur, dass gewisse Grundparameter in Einklang gebracht werden,
um den Zuseher zu überzeugen. So würde bespielsweise ein helles Klacken
von Stöckelschuhen niemals die Schritte eines stampfenden Riesenroboters
begleiten dürfen.
3.5.1
Akzentuierung
Wenn sich Bild und Ton im audiovisuelle Gefüge an gewissen Momenten
punktuell Begegnen, spricht man von Akzentuierung. Ähnlich wie in der Musik, wird dadurch versucht, einzelnen Momenten eine besondere Stellung zu
verleihen bzw. die Aufmerksamkeit gezielt zu lenken.
Die damit erhöhte Symbolkraft eines solchen Moments hat Chion dazu
bewegt, diesen Effekt als Emblematic Sync Point [9, S. 60] zu bezeichnen.
Dieser lässt sich am einfachsten anhand des Faustschlages und dem damit
verbundenen Punch-Effekt erklären.
Der Faustschlag, als unmittelbarer Moment, der aufgrund der zeitlichen
Auflösung des Filmes seine Wirkung nur für einen kurzen Augenblick entfalten kann und somit Gefahr läuft, vom Rezipienten nicht bemerkt zu werden, bedarf einer gezielten Akzentuierung, wie Flückinger [15, S. 142] diese
Momente bezeichnet. Sie kritisiert damit den Begriff des Synchronisationspunktes, den Chion verwendet, da er lediglich eine Markierung zur zeitlichen
Justierung von Bild und Ton definieret. Sie möchte vielmehr darauf hinweisen, dass es eher darum geht ...
... einzelne Momente im optischen Kontinuum durch simultane
Montage eines Klangobjekts zu privilegieren, ...
Hinzu kommt, dass wiederum durch den Effekt der Synchrese jegliche
rationale Logik missachtet werden darf und somit gestalterischer Freiraum
offengelegt wird. Der Faustschlag, dessen natürliche akustische Auswirkungen sich eher in Grenzen halten, gehört aufgrund seiner Übertreibung zu den
gepflegesten Stereotypen des Sounddesigns.
Das Prinzip der Übertreibung, das eigentlich aus dem Bereich der Animation stammt, findet hier ebenso seine Anwendung, wie folgende Definition
aufzeigt:
Exaggeration is used to accentuate an action or idea. You often
must exaggerate a motion or effect to ensure that the audience
catches it. Exaggeration works in conjunction with anticipation
and staging to direct the audience’s attention to the action that
you want them to see. Anticipation sets up the action, staging
ensures that the action occurs where it can be seen, and exaggeration makes sure the action is not so subtle that the audience
fails to notice it.
3. Soundtheorie und die Terminologie Chions
30
Filme wie Vier Fäuste für ein Halleluja [2] und auch viele andere Westerparodien mit Bud Spencer und Terence Hill entfalten genau dadurch ihren
Charme und ihre einzigartige Komik.
Selbstsprechend, dass Akzentuierungen auch auf subtile Weise eingesetzt
werden können, lenken Sie jedoch in allen Fällen die Aufmerksamkeit des
Rezipienten und symbolisieren damit einen mehr oder weniger plakativen
Fingerzeig im audiovisuellen Kontinuum eines Bewegtbildes.
3.5.2
False Synch Points
Der False Synch Point kreiert eine Verbindung zwischen Bild und Ton, die
rein physisch eigentlich nicht vorhanden ist. Dies funktioniert durch den
gezielten Aufbau einer spezifischen Erwartungshaltung beim Rezipienten, die
im Endeffekt nur zur Hälfte belohnt wird. Auf akustischer Ebene findet das
Ereignis statt, wohingegen die visuellen Auswirkungen absichtlich verborgen
bleiben. Der bemerkenswerte Effekt hat zufolge, dass die fehlenden visuellen
Konsequenzen rein auf mentaler Ebene stattfinden. Dem Rezipienten bleibt
quasi keine andere Wahl, als den Handlungsstrang selbst zu vervollständigen,
wie folgende Szenenbeschreibung verdeutlicht [9, S. 60]:
The best-known example is the suicide scene of a corrupt and
compromised official in John Huston’s The Asphalt Jungle. We
see him lock himself into his office, open a drawer, take out the
gun; then, we hear the gunshot only, because the visual editing
transports us elsewhere. For reasons of taste? Not entirely ...
Auch wenn die Erwartungshaltung auf visueller Ebene in diesem Fall enttäuscht wurde, konnte dennoch eine klare Aussage in der filmischen Handlung
präsentiert werden. Zumindest seitens des Rezipienten scheint der Selbstmordversuch des Protagonisten geglückt zu sein, beinhaltet dennoch die
Möglichkeit für dessen Überleben und bereichert somit die Vielschichtigkeit
im Lauf der dargestellten Geschichte.
Weiters beflügelt ein False Synch Point die Imagination des Rezipienten,
indem er den visuellen Fluß teilweise mit eigenen Bildern bestücken kann
und somit – ähnlich wie beim Lesen eines Buches – tiefer in die Materie
eindringen lässt.
3.6
Das Acousmêtre
Aufbauend auf den akusmatischen Zustand, den ein auditives Ereignis unter
visueller Abwesenheit seiner Quelle erreicht (siehe 3.3), definierte Chion in
The Voice in cinema [10, S. 21] den Begriff des Acousmêtre wie folgt:
When the acousmatic presence is a voice, and especially when
this voice has not yet been visualized – that is, when we cannot
3. Soundtheorie und die Terminologie Chions
31
Abbildung 3.1: Filmstill aus Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder aus 1931 [24], das als Sinnbild für das Acousmêtre verstanden werden
kann und von Michel Chion diesbezüglich mehrmals als Beispiel verwendet
wird.
yet connect it to a face – we get a special being, a kind of talking
and acting shadow to which we attach the name acousmêtre.
Der Grund für die bildliche Andeutung des sprechenden Schattens ist
auf die Beispielführung Chions zurück zu führen, die als Paradebeispiel des
Acousmêtre gerne auf M [24] assoziiert (siehe Abbildung 3.1). Der Schatten
als visueller Hinweis auf die Präsenz des Mörders im filmischen Offscreen
erzeugt zwar einen visuellen Hinweis auf das Aussehen der unbekannten Figur, überschreitet aber laut Chion bereits die nötigen Erfordernisse, die für
die Etablierung des Acousmêtre notwendig sind. So lässt sich eine unbekannte Stimme am Telefon oder die Stimme eines Radiosprechers auch in diese
Kategorie der Soundtheorie einordnen. Hingegen stellt z. B. das klassische
Voice-Over bzw. der Kommentar in diesem Sinne kein Acousmêtre dar, da
kein Bezug zum Handlungsraum besteht und sozusagen “mit keinem Fuß im
Bild” steht [10, S. 24]:
The acousmêtre , as we have noted, cannot occupy the removed
position of commentator, the voice of the magic latern show. He
must, even if only slightly, have one foot in the image, in the
space of the film; he must haunt the borderlands that are neither
the interior of the filmic stage nor the proscenium – a place that
has no name, but which the cinema forever brings into play.
Dieses Proszenium 5 kann im Medium Film eine Vielzahl an Ausprägungen und Konstellationen bedeuten und wurde laut Chion erst durch die Einführung des Tonfilms erschaffen, da sich die Stimme aus dem theaterspe5
Ein Begriff aus dem Theater, der den vordersten, zwischen dem Vorhang und der Rampe gelegenen Teil einer Bühne betitelt. Quelle: http://de.wiktionary.org/wiki/Proszenium,
abgerufen am 2. November 2010
3. Soundtheorie und die Terminologie Chions
32
zifischen Offstage deutlich von der Stimme aus dem Offscreen unterscheidet [10, S. 23]. Als Gründe führt Chion die unterschiedlichen Darstellungsfaktoren an, wie z. B. die physischen Grenzen des Filmbildes nicht mit denen
der Theaterbühne vergleichbar sind und somit eine Stimme aus dem hinteren
Bereich der Bühne keineswegs in die Kategorie des Acousmêtre fallen darf.
Als weitere essentielle Eigenschaft führt Chion die mögliche Enthüllung
der visuellen Quelle (De-Acousmatization) als Kriterium an und assoziiert
dies sogar mit dem Ausdruck der Entjungferung des symbolischen Status,
den das Acousmêtre in sich tragen kann [10, S. 23]. Zudem ordnet er dieser speziellen Bild-Ton-Relation regelrecht magische Kräfte zu, die in ihrer
“jungfräulichen” Form große Symbolkraft besitzen können [10, S. 23]:
In the case where it remains not-yet-seen, even an insignificant
acousmatic voice becomes invested with magical powers as soon
as it is involved, however slightly, in the image. The powers are
usually malevolent, occasionally tutelary. Being involved in the
image means that the voice doesn’t merely speak as an observer
(as commentrary), but that it bears with the image a relationship of possible inclusion, a relationship of power and possession
capable of functioning in both directions; the image may contain
the voice, or the voice may contain the image.
Auch wird die zwingende Unterscheidung zum Voice-Over betont, dessen
immaterieller Charakter zwar Parallelen zum Acousmêtre aufweist, jedoch
keinen direkten Bezug zum Handlungsraum darstellen kann und lediglich
das Geschehen kommentieren kann. Die besitzergreifenden Zwischenstellung
des Acousmêtre assoziiert Chion mit vier grundlegenden Eigenschaften bzw.
symbolischen Kräften, die der körperlosen Stimme im Film zuschreibbar sind
[10, 24]:
• Allgegenwärtig: Da die Quelle der Stimme im Bild nicht lokalisiert
werden kann und demnach auf einen immateriellen Ursprung zurück
zu führen ist, wird dem Acousmêtre eine omnipräsente Stellung eingeräumt. So stellt z. B. die allgegenwärtige Stimme von Hal aus 2001: A
Space Odyssey [23] ein derartiges Beispiel dar.
• Allsehend: Die körperlose Stimme, wie sie z. B. die Stimme eines
Erpressers am Telefon darstellt, erhält diese übergeordnete Stellung,
durch ihre bestimmende und oft beobachtende Darstellung. Ausgelöst
durch die Ungewissheit über den Aufenthaltsort dieser Figuren und die
ausschließlich auditive Präsenz wird im Rezipienten, sowie im narrativen Kontext dieser gottgleiche Anschein erweckt.
• Allwissend und allmächtig: Die Assoziation zur Allgegenwärtigkeit
evoziert folglich auch die allwissende Stellung der körperlosen Stimme,
3. Soundtheorie und die Terminologie Chions
33
da auch die Möglichkeit das Gesamtgeschehen immer und überall beobachten zu können, dies miteinschließt. In besonderen Fällen werden
diese Fähigkeiten sogar noch um eine allmächtige Funktion erweitert.
Vor allem dann, wenn die gesprochenen Worte eine unmittelbare Auswirkung auf das Geschehen im Handlungsraum bewirken können.
Die körperlose Stimme kann im filmischen Kontext eine Vielzahl an Variationen und Stellungen einnehmen und deshalb ist es auch schwierig den Begriff des Acousmêtre auf einen allgemeinen Nenner zu bringen. Chion selbst
versucht dies durch die Spezifizierung des Complete Acousmêtre [10, S. 21],
das die ganzheitlich auditive Darstellung der Stimme bezeichnet, ohne dabei
die Quelle im Verlauf des Films jemals zu enthüllen.
Kapitel 4
Modellbildung und
Fragestellung
4.1
Einführung
Der Gedanke der Unsichtbarkeit und der phantasiebereichernde Reiz, den
diese Thematik mit sich bringt, wurde bereits in Kapitel 1 geschildert. Doch
neben einer Vielzahl an narrativen Ansätzen birgt diese Thematik ebenso
abwechslungsreiche Möglichkeiten für komplexe Begegnungen zwischen Bild
und Ton. Im Zuge der Recherchen und vor allem beim Sichten diverser Filmbeispiele entwickelte sich diesbezüglich eine eigenständige Theorie, welche
den stattfindenden Wahrnehmungsprozess zu kategorisieren versucht bzw.
den Effekt der Synchrese in diesem Zusammenhang aus einer neuen Perspektive betrachtet. Dieses Modell wird im folgenden Abschnitt vorgestellt
und soll im weiteren Diskurs anhand von ausgewählten Beispielen untersucht
werden.
Weiters scheint es in diesem speziellen Feld der Filmtheorie an entsprechenden analytischen Modellen zu mangeln bzw. begegneten dem Autor keine relevanten Ansätze. Aus diesem Grund sollen auch Beobachtungen und
Gedankenmodelle Einzug in den Diskurs finden, um somit einen eventuellen
Nährboden für weitere Ansätze zu schaffen und die diesbezügliche Theorie
zu bereichern.
4.2
Die begriffliche Dehnbarkeit des Acousmêtre
Der Effekt der Synchrese wurde im Abschnitt 3.5 geschildert und besticht
vor allem durch sein Stattfinden abseits jeglicher rationaler Logik bezüglich der Sinnhaftigkeit der verknüpften Elemente. Allein die Synchronität
der Begegnung eines visuellen und auditiven Reizes in Raum und Zeit reicht
für die mentale Fusion bzw. Verknüpfung zwischen Bild und Ton, und hinterlässt im Rezipienten einen einheitlichen, wenn auch teilweise paradoxen
34
4. Modellbildung und Fragestellung
35
Gesamteindruck.
Nun erweitert das Thema der Unsichtbarkeit den filmischen Raum um eine vergleichbar irrationale Ebene. Charaktere, dessen innerbildliche Präsenz
neben visuellen Hinweisen zum Großteil durch auditive Reize gewährleistet
wird, stellen für den Effekt der Synchrese ein komplett neues theoretisches
Umfeld dar, welches Chion im Abschnitt A Phantom Body: The Invisible
Man [9, S. 129] dem Begriff des Acousmêtre (siehe 3.6) zuordnet:
The acousmêtre is this acousmatic character whose relationship
to the screen involves a specific kind of ambiguity and oscillation
that I have analyzed extensively in La Voix au cinema. We may
define it as neither inside nor outside the image. It is not inside,
because the image of the voice’s source – the body, the mouth –
is not included. Nor is it outside, since it is not clearly positioned
offscreen in an imaginary “wing”, like a master of ceremonies or
a witness, and it is implicated in the action, constantly about to
be part of it. This is why voices of clearly detached narrators are
not acousmêtres. Why invent such a barbarous term? Because I
wish not to be limited to terms for voices or sounds but rather
to explore an entire category of characters specific to the sound
film, whose wholly specific presence is based on their character’s
very absence from the core of the image.
Wie bereits im Abschnitt 3.6 erläutert, besitzt das Jargon der Soundtheorie keinen spezifischer Begriff, der den Sonderfall der Stimme eines unsichtbaren Charakters beschreiben würde. Das Acousmêtre bezeichnet zwar
die allgemeine Beziehung, die eine körperlose Stimme mit gewissem Bezug
zur innerbildlichen Handlung darstellt, bleibt aber für den speziellen Fall
der Unsichtbarkeit lediglich ein Oberbegriff. Chion, dessen Bemühungen in
seinen beiden Werken Audio-Vision: Sound on Screen [9] und The voice in
cinema [10] eine klare Terminologie für dieses weite theoretische Feld zu
entwickeln, klar ersichtlich sind, konnte viele Gebiete klar eingrenzen bzw.
entsprechende Definitionen entwickeln, die den diesbezüglichen wissenschaftlichen Diskurs zweifellos bereichert haben, die aber im Hinblick auf das hier
behandelte Szenario lediglich Andeutungen enthalten. Weiters lässt folgender marginaler Kommentar erkennen, dass eine detailliertere Einteilung dieser facettenreichen Bild-Ton-Beziehungen ins Unendliche gehen würde, einige
Spezialfälle aber trotzdem einer genaueren Betrachtung würdig wären [10, S.
19]:
It would be amusing to invent more and more neologisms, for
example to distinguish whether or not we can put a face to the
invisible voice. However, I prefer to leave the definition of the
acousmêtre open, to keep it generic on purpose, thus avoiding
the tendency to subdivide ad infinitum.
4. Modellbildung und Fragestellung
36
Nun soll diese Arbeit nicht in die erwähnte “Unendlichkeit” möglicher
Subdefinitionen des Acousmêtre führen, sondern sich der Bild-Ton-Relation
der filmisch dargestellten Unsichtbarkeit widmen und sich dieser auf Basis
der Terminologie Chions im weiteren Diskurs annähern, um möglicherweise
einen tieferen Einblick in dieses audiovisuelle Phänomen zu gewinnen.
Der allgemeine Begriff des Acousmêtre kann eine Vielzahl an Bild-TonKonstellationen beschreiben, so findet z. B. die Stimme des Dr. Mabuse in
Das Testament des Dr. Mabuse [25] eine ständige Manifestierung im innerbildlichen Handlungsraum, selbst wenn diese nie der wahren Quelle, nämlich
der körperlichen Präsenz von Dr. Mabuse, entspricht. Diese Darstellungen
der köperlosen Stimme diskutiert Chion eingehend in [10], welche immer
wieder durch visuelle Repräsentationen, wie dem Schatten hinter dem Vorhang oder einer technischen Apparatur, ihren immateriellen Status verlässt
und somit de-acousmatisiert wird.
Die Stimme eines unsichtbaren Charakters hingegen, dessen physische
Präsenz im Handlungsraum fix verankert und spürbar ist, jedoch durch seine
visuelle Abwesenheit eine Sonderstellung einnimmt, bedarf einer differenzierten Betrachtung bzw. Definition des Acousmêtre und lässt sich mit anderen
Darstellungen, wie z. B. der Stimme aus einem Radio nicht vergleichen.
Die in Abschnitt 3.2.2 behandelten Definitionen auditiver Platzierungen,
wie z. B. die des aktiven Offscreen oder des Ambient oder Territory Sounds
lassen eine Einordnung der unsichtbaren Stimme wiederum nicht zu, obwohl
gewissen Qualität durchaus zutreffen würden. So lassen sich einige Eigenschaften des aktiven Offscreen – nämlich dessen aktive Auswirkungen auf
das Geschehen im Onscreen – mit der akustischen Präsenz des Unsichtbaren
vergleichen, wie auch gewisse Teile aus dem Territory Sound (z. B. Vogelgezwitscher) ihre eigentliche Position im Bild besitzen und trotzdem dem
Zuseher verborgen bleiben, so ist wiederum keine klare Einordnung per Definition zulässig.
Diese Sonderstellung des Unsichtbaren begründet sich folglich durch dessen akusmatischer Eigenschaft – gehört zu werden, ohne die Quelle dabei
preiszugeben – und der Tatsache, dass sich die referenzierte Quelle (Charakter oder Objekt) trotzdem physisch im Handlungsraum bzw. Onscreen befindet. Aus diesem Grund sieht sich der Rezipient gezwungen, auf die visuelle
Position des Unsichtbaren aufgrund anderweitiger Faktoren zu schließen, um
einen kohärenten Gesamteindruck generieren zu können bzw. diese visuelle
Lücke zu schließen. Diese “Hinweise” können einerseits auf auditiver Ebene
herbeigeführt werden, wie z. B. die Stimme im Dialog mit einer sichtbaren
Figur den Eindruck der physischen Präsenz der unsichtbaren Figur bestärken
kann. Andererseits können auch visuelle Elemente auf die Gegenwart eines
Unsichtbaren verweisen, wie z. B. Fußabdrücke, selbstständige Objekte oder
diverse visuelle Effekte in zahlreichen Filmen dazu benutzt werden.
Wie können nun diese auditiven und visuellen Faktoren den Eindruck
der physischen Präsenz eines unsichtbaren Charakters im Handlungsraum
4. Modellbildung und Fragestellung
37
erzeugen? Kann dabei der Effekt der Synchrese eine Rolle spielen und z. B.
eine Verknüpfung zwischen einer Stimme und einem rein mentalen Abbild
einer innerbildlich vorhandenen Person bewirken?
4.3
Modell zur Kategorisierung der Unsichtbarkeit
im Film
Um in den weiteren Abschnitten auf diverse Darstellungsformen eingehen zu
können, soll das nachfolgende Modell eine grundlegende Kategorisierung der
beobachteten Zustände bzw. visuellen Darstellungsmöglichkeiten unsichtbarer Charaktere oder Objekte im Film durchführen1 .
• A) Vollständige Unsichtbarkeit: Vollstände Transparenz, wie sie
z. B. in The Invisible Man [36] dargestellt wird. Auch die partielle oder
vollständige Bedeckung des unsichtbaren Charakters ändert keineswegs
den Grad der Kategorisierung.
• B) Ettiketierte Unsichtbarkeit: Diese Gruppe bezieht sich auf die
zuseherorentierten Darstellungen, die der Industrie der Visual- und
Special-Effects zuzuschreiben sind. Von halbtransparenten Überlagerungen, wie z. B. in Topper [26], bis zu optischen Verzerrungen, wie
z. B. der magische Umhang in Harry Potter [11] sollen visualisierte
Zustände der Unsichtbarkeit eingeordnet werden.
• C) Narrative Unsichtbarkeit: Dies bezieht sich auf rein narrative
Andeutungen, wie sie z. B. in Memoirs of an Invisible Man [7] zu finden
sind, wo der Protagonist mehrmals im sichtbaren Zustand dargestellt
wird, jedoch im narrativen Kontext unsichtbar und demnach von den
weiteren Figuren im Handlungsraum nicht zu sehen ist.
Für die Bild-Ton-Beziehung wird im weiteren Verlauf vor allem Typ A in
den Mittelpunkt der Analysen rücken, da dieser einen Spezialfall in Hinsicht
auf die Synchrese (siehe 3.5) darstellt, wie im nächsten Abschnitt geklärt
werden soll. Wobei Typ B großteils auf visuelle Faktoren zurückzuführen ist
und demnach dem Schwerpunkt dieser Arbeit nur teilweise entspricht.
4.4
Modell der aktiven Synchrese
Dass durch den Effekt der Synchrese auditive und visuelle Ereignis zu einer mentalen Einheit im Wahrnehmungsprozess verbunden werden, wurde in
Abschnitt 3.5 ausführlich beschrieben. Auch der dehnbare Begriff des Acousmêtre im Hinblick auf die Darstellung des Unsichtbaren wurde in Abschnitt
1
Diese Einteilung basiert auf den subjektiven Beobachtungen des Autors, da dieser im
Zuge der Recherchen keine diesbezügliche Kategorisierung ausmachen konnte, diese aber
für den weiteren Diskurs als unabdingbar befindet.
4. Modellbildung und Fragestellung
38
4.2 kritisiert. Das Modell zur Kategorisierung der Unsichtbarkeit im Film
in Abschnitt 4.3 gewährleistet wiederum nur eine grobe Einteilung und Beschreibung der vielseitigen Darstellungsformen, die im Zuge der Thematik
und im Sinne der Soundtheorie eingenommen werden können. Nun soll mit
dem folgenden Ansatz zum Modell der aktiven Synchrese anhand von sechs
beispielhaften Szenarien eine detailliertere Einteilung diesbezüglich getroffen
werden und im weiteren Diskurs der Begriff der Synchrese theoretisch – um
den Zusatz der Aktivität – erweitert werden.
4.4.1
Einteilung in interne und externe Faktoren
Bei näherer Betrachtung können die relevanten Faktoren, die auf visueller
Ebene für die Darstellung einer innerbildlich unsichtbaren Figur verantwortlich sind, in zwei Kategorien eingeteilt werden2 . Einerseits sind dies die internen und somit dem Bild innewohnenden Elemente, wie sie z. B. Kleidungsstücke eines partiell unsichtbaren Charakters bedeuten würden. Ebenso werden visuelle Effekte, schauspielerische Reaktionen sichtbarer Figuren
und sich selbstständig bewegende Objekte als interne Faktoren bezeichnet.
Wohingegen kameraspezifische Einflussgrößen, wie eine Kamerafahrt bzw.
die Wahl des Bildausschnitts (Kadrierung) als externe Faktoren bezeichnet
werden, da diese ebenfalls eine gezielte Veränderung der bildlichen Darstellung außerhalb des Handlungsraumes bewirken können.
4.4.2
Synchrese mit der Zusatzeigenschaft der Aktivität
Wie bereits mehrfach erwähnt, zeichnet sich das Phänomen der Synchrese vor
allem dadurch aus, dass kein logischer Bezug zwischen der eigentlichen kausalen Quelle eines auditiven Ereignisses und der visuell dargestellten Quelle
bestehen muss. Die Zuordnung eines auditiven Ereignisses erfolgt demnach
aufgrund der innerbildlichen Präsenz der suggerierten Quelle. Sobald die dazugehörige Quelle den visuellen Bildraum verlässt, betritt diese den auditiven
Raum des Offscreen und erreicht somit, laut der Terminologie Chions, einen
akusmatischen Zustand bzw. existiert als mentales Abbild (Aural Image) in
der Wahrnehmung des Rezipienten. Dennoch wird das auditive Ereignis immer noch einer Quelle zugeschrieben, dessen Urspruch und Auswirkungen
einen materiellen Bezug zum Handlungsraum aufweisen können und fordern
somit die aktive Teilnahme des Rezipienten zur Erzeugung eines kohärenten
Gesamteindrucks.
Wenn nun folglich die Quelle des auditiven Reizes den Bildraum nicht
physisch verlässt, sondern aufgrund einer im Kontext dargestellten Unsichtbarkeit sich der visuellen Wahrnehmung entzieht, existiert diese jedoch wei2
Hier wird bewusst auf Einbeziehung der Tonebene verzichtet, da allein die Reduktion
der visuellen Mittel für die diesbezügliche Sonderstellung und damit für den Status der
Unsichtbarkeit verantwortlich ist.
4. Modellbildung und Fragestellung
39
terhin auf mentaler Ebene und findet dennoch seine Verankerung im Bild.
Dieser paradoxe Gesamteindruck kann neben dem narrativen Kontext auf
die genannten Internen, sowie externen Faktoren zurückgeführt werden. So
deutet z. B. ein freischwebendes Kleidungstück in Kombination mit der körperlosen Stimme, die theoretisch dem Bereich des Acousmêtre angehört, auf
die physische Gegenwart eines unsichtbaren Charakters hin. Dem Rezipienten und somit auch dem Effekt der Synchrese bleibt es überlassen, das
gefüllte, aber körperlose Kleidungsstück mental zu vervollständigen. Somit
erfordert die Zuschreibung der Stimme auf das mentale Abbild der Figur,
das auf visueller Ebene lediglich teilweise angedeutet wird, eine erhöhte Eigenaktivität, um die Funktion der Synchrese zu gewährleisten.
Der Anteil der geforderten Eigenaktivität seitens des Rezipienten muss
sich demnach reziprok zum Anteil der zur Verfügung stehenden visuellen
Hinweise auf die Präsenz des unsichtbaren Charakters verhalten. Das bedeutet, dass mit zunehmender Unsichtbarkeit die Eigenaktivität und somit der
geforderte Aktivitätsgrad der Synchrese steigen muss. Um dieses theoretische
Modell dem Leser zugänglicher zu gestalten, soll dieses nun anhand von Abbildung 4.1 in Kombination mit entsprechenden Videobeispielen detaillierter
erhörtert werden.
4.4.3
Modellbeschreibung
Abbildung 4.1 besteht aus zwei voneinandern unabhängigen Achsen, wobei die horizontale Achse mit der Beschriftung 1 (niedrig) bis 6 (hoch) den
geforderten Aktivitätsgrad der Synchrese beschreiben soll. Die horizontal
angeführten Begriffe auf der linken Seite stehen dazu in keinem direkten
Verhältnis und dienen lediglich als Augsgangspunkt für die Verbindungslinien, die den einzelnen Beispielen (a bis e) zugeordnet sind. Diese Beispiele
sind als Videodatei auf der beiliegenden CD-Rom abspielbar und werden in
Abbildung 4.1 veranschaulicht.
• Stufe 1: Direkter Bezug zur Quelle: In seiner häufigsten Form
lässt sich der Effekt der Synchrese am Beispiel der Lippensynchronität
erkennen. Hierbei besteht eine direkte visuelle Verbindung zur Quelle
und wird dieser auch automatisch und ohne mentale Aktivität seitens
des Rezipienten zugeordnet.
• Stufe 2: Relativer Bezug: Die visuell abwesende, sich im Offscreen
befindliche Quelle wird durch ihren relativen Bezug sichtbar. Der Rezipient kann über diese visuelle “Brücke”, hier im Beispiel durch den
Schatten der auslösenden Instanz dargestellt, auf die Quelle rückschließen. Hierbei handelt es sich noch nicht um Unsichtbarkeit im behandelten Sinn, stellt jedoch einen essentiellen Zwischenschritt dahingehend
dar und unterstützt im Rezipienten die Erzeugung eines Aural Image,
weswegen dieses Beispiel Einzug in das Modell findet.
4. Modellbildung und Fragestellung
40
Extern
e
Kadrierung
Kamerafahrt
d
c
Intern
Quelle
Interaktion
Reaktion
b
a
Aktivitätsgrad
Synchrese
1
Direkter Bezug
zur Quelle
2
Relativer
Bezug
3
Direkte
Konsequenzen
4
Indirekte
Konsequenzen
5
Rein externe
Faktoren
Mentale Vervollständigung
Abbildung 4.1: Anhand von 6 Beispielen (a-f) wird der Effekt der Synchrese
in Abhängigkeit von visuellen Faktoren dargestellt. Der Aktivitätsgrad (1 bis
5) beschreibt die mentale Aktivität, die seitens des Rezipienten aufgewendet
werden muss, um einen kohärenten Gesamteindruck zu gewinnen. Je höher
der Aktivitätsgrad, desto abstrakter wird die audiovisuelle Darstellung des
Unsichtbaren.
• Stufe 3: Direkte Konsequenzen: Ein nur teilweise unsichtbarer
Charakter, dessen physische Interaktion mit seiner anliegenden Kleidung auf einen soliden Körper schließen lässt, kann mittels seiner vernehmbaren Stimme und trotz visueller Abwesenheit der eigentlichen
Quelle, nämlich des Mundes, einen kohärenten Gesamteindruck erzeugen. Hier ist zu bemerken, dass die Verbindung zur Quelle des auditiven
Reizes durch direkte, physische Hinweise besteht, wie z. B. die Kleidung
auf die Konturen des Charakters schließen lässt.
• Stufe 4: Indirekte Konsequenzen: Ein zur Gänze unsichtbarer Charakter kann auch durch die Interaktion mit sichtbaren Objekten im
Handlungsraum auf seine innerbildliche Position verweisen. Wie hier
im Beispiel ersichtlich, geben die schwebenden Spielkarten einen eindeutigen Hinweis auf die sitzende Haltung des unsichtbaren Mitspielers.
Ebenso suggeriert die Blickrichtung des sichtbaren Spielers im Zusammenhang mit dem gewählten Bildausschnitt, dass sich die unsichtbare
Figur in der rechten Hälfte des Bildes befinden muss. Neben internen
sind demnach auch externe Faktoren, wie die Kadrierung, maßgeblich
4. Modellbildung und Fragestellung
41
für die Wahrnehmung verantwortlich, um die körperlose Stimme mit
dem unsichtbaren Charakter in Einklang zu bringen.
• Stufe 5: Rein externe Hinweise: Ab dieser Stufe kann der Rezipient
nur mehr auf externe Faktoren, wie Kamerabewegung und Kadrierung
in Verbindung mit auditiven Hinweisen zurückgreifen, um auf die Gegenwart eines unsichtbaren Charakters zu schließen. So illustriert das
gewählte Beispiel aus The Invisible Man, dass der Schwenk über den
Verlauf einer Treppe unter auditiver Beifügung von Schritten auf knarrenden Holzstufen, ebenfalls den Eindruck innerbildlicher Bewegung
erzeugen kann. Jedoch erfordert dieser Grad der Darstellung bereits
erhöhte Aktivität seitens des Rezipienten, da eine derartige Kamerabewegung leicht mit einem “normalen” Schwenk verwechselt werden
kann und erhöhte Aufmerksamkeit im Bezug auf die auditive Ebene
erfordert.
• Stufe 6: Statische Darstellung: Aus Gründen der Vollständigkeit
findet diese Darstellungsform hier ihre Anmerkung, wurde aber nicht in
das Modell aufgenommen und stellt die Spitze des Abstraktionsgrades
im Bezug auf die Darstellung innerbildlicher Unsichtbarkeit dar, indem
auf visuelle Hinweise zur Gänze verzichtet wird. Diesbezüglich wurden
auch im Zuge der Recherchen keine entsprechenden Beispiele entdeckt,
was darauf hinweisen könnte, dass ein kohärenter Gesamteindruck ohne
jegliche visuelle Hinweise nicht gewährleistet werden kann.
Die gewählten Beispiele zeigen die Funktion dieses Modells ausschließlich anhand der menschlichen Stimme und Charakteren, was keineswegs den
Ausschluss anderweitiger auditiver Reize bedeuten soll. So könnten natürlich
auch filmische Darstellungen unsichtbarer Tiere oder Gegenstände Einzug in
dieses Modell finden.
4.5
Definition der Fragestellungen
Inwieweit sich das dargebotene Modell bzw. der Begriff der Aktiven Synchrese auf relevante Filmbeispiele übertragen lässt und ob eine generelle Einteilung der diesbezüglichen Bild-Ton-Beziehung überhaupt möglich ist, soll im
weiteren Diskurs behandelt und anhand ausgewählter Beispiele überprüft
werden.
Zudem sollen weitere Überlegungen die Wahrnehmung innerbildlicher Unsichtbarkeit näher erkunden, um die Wirkung eventuell vorhandener BildTon-Relationen diesbezüglicher Darstellungsformen untersuchen zu können.
Vor allem im Bezug auf das vorgestellte Modell der aktiven Synchrese, soll
erforscht werden, in welchen der festgelegten Aktivitäts-Stufen (1 bis 5) sich
die Darstellungsformen am häufigsten wiederfinden bzw. einordnen lassen.
4. Modellbildung und Fragestellung
42
In Kapitel 5 sollen relevante Aspekte des Diplomprojekts The Streets of the
Invisibles den Diskurs erweitern und das Modell nach Möglichkeit bestärken.
Kapitel 5
Audiovisuelle Darstellung des
Unsichtbaren
5.1
Einführung und Beispielführung
Ich folgenden Kapitel soll die Beispielführung aus Gründen der Überschaubarkeit auf vier Spielfilme beschränket werden. Um einen möglichst repräsentativen Querschnitt zu bilden, erstrecken sich die jeweiligen Produktionsjahre über mehrere Jahrzehnte und geben neben den visuellen Effekten auch
Einblick in die Entwicklung der eingesetzten Schemata zur Darstellung der
Unsichtbarkeit im Film. Zudem zeichnet sich jeder einzelne durch seinen individuellen Charakter und den kreativen Einsatz filmischer Mittel aus, welche
im Verlauf der Analysen und Überlegungen angesprochen werden. Folgende
Übersicht soll einen kurzen Einblick in die jeweilige Handlung geben und die
Relevanz der Auswahl begründen.
The Invisible Man (1933, James Whale)
Inhalt: Der Film behandelt die Geschichte des Wissenschaftlers Dr. Griffin, der in einem abgelegen Dorf Zuflucht findet, um seine Experimente zu
vollenden, die ihm die Rückkehr in die Sichtbarkeit ermöglichen sollen. Im
Zuge dessen verursachen die Nebenwirkungen des Mittels einen zunehmenden Größenwahnsinnig des Unsichtbaren, der durch kriminelle Aktivitäten
der Welt die grenzenlose Macht eines Unsichtbaren und seine Genialität als
Wissenschaftler beweisen will, bis er schlussendlich von der Polizei gefasst
wird.
Besonderheiten: The Invisible Man [36] gilt als erster Tonfilm, der sich der
Thematik der Unsichtbarkeit auf filmischer Ebene nähert. Zudem basiert der
Film auf dem gleichnamigen Roman von H. G. Wells aus 1897. Die darin verwendeten visuellen Effekte und Ansätze zur Darstellung von Unsichtbarkeit
gelten als Meilenstein in der Filmgeschichte und haben eine ganze Welle
43
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
44
von Nachfolgern dazu motiviert, sich diesem Thema zu widmen. Aus diesem Grund sollen die hier beobachteten Konzepte einen Ausgangspunkt für
eventuelle Vergleiche darstellen und einen Einblick in die Entwicklung des
Themas bieten.
The Amazing Transparent Man (1960, Edgar G. Ulmer)
Inhalt: Ein ehemaliger US-Major zwingt einen russischen Wissenschaftler
zur Entwicklung einer Formel für Unsichtbarkeit, um diese dem höchstbietenden zu verkaufen. Dazu befreit er einen professionellen Bankräuber, Joe
Faust, aus dem Gefängnis und zwingt diesen, ihm zu helfen mehr Radium
für die Weiterentwicklung der Formel zu beschaffen. Nach diversen Banküberfällen stellt sich Faust gegen den seinen Geiselnehmer, erliegt aber im
weiteren Verlauf den Folgen der radioaktiven Strahlung durch die wiederholte Behandlung.
Besonderheiten: Obwohl die Handlung nicht weit von The Invisible Man
abweicht, besticht dieser Film durch vereinzelte, sehr innovative Begegnungen zwischen Bild und Ton. Vor allem der Einsatz von Musik und die variierende Empfindung der Kameraposition seitens des Rezipienten gewähren
sehr interessante Einblicke in die facettenreichen Darstellungsmöglichkeiten.
Now You See Him, Now You Don’t (1972, Robert Butler)
Inhalt: Ein Highschool Student arbeitet im Chemieunterricht an einer Formel für Unsichtbarkeit. Als eines Nachts ein Blitz in die Schule einschlägt, ist
er plötzlich im Besitz eines Sprays mit dem alles unsichtbar gemacht werden
kann. Zur selben Zeit wird die Universität von einem Sponsor aufgekauft,
dessen dubiose Absichten diese in ein Spielcasino umfunktionieren sollen.
Dieser wird auf die Formel aufmerksam und stiehlt sie den Erfindern, um
eine Bank auszurauben. In der Hoffnung den nationalen Wissenschaftswettbewerb zu gewinnen, versuchen die Jugendlichen die Flüssigkeit zurück zu
bekommen und somit die Schließung der Schule zu verhindern.
Besonderheiten: Walt Disney zeigt in dieser Jugendkomödie sehr kreative
Ansätze, die vor allem durch ihr ausgeglichenes Verhältnis zwischen visuellen
und auditiven Elementen sehr spannende Momente erzeugen. Vor allem die
gezielte partielle Unsichtbarkeit von Personen oder auch Objekten und dessen Erweiterung durch die Tonebene bereicherten die Überlegungen in den
folgenden Abschnitten maßgeblich.
Memoirs of an Invisible Man (1992, John Carpenter)
Inhalt: Auch in dieser Geschichte gerät der Protagonist durch einen Unfall in
den Status der Unsichtbarkeit. Aus diesem Grund wird er vom CIA gesucht,
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
45
das ihn zu Spionagezwecken auf ihre Seite ziehen will. Zusammen mit seiner
Freundin begibt er sich auf die Flucht und findet keinen Weg zurück in die
Sichtbarkeit.
Besonderheiten: In dieser Produktion sind regelrechte Zitate auf die visuellen Effekte des Invisible Man von 1933 zu entdecken, wobei der Fortschritt der Technik anhand der weiterentwickelten Visualierungsmöglichkeiten amüsante Parallelen erkennen lässt. Neben diesen Aufgriffen und Weiterentwicklungen im Bezug auf die Darstellungsformen, wird hierbei eine
weitere Ebene der Unsichtbarkeit eröffnet, da Chevy Chase dem Rezipienten in zahlreichen Szenen sichtbar präsentiert wird, obwohl seine Präsenz
im Handlungsraum und somit den teilnehmenden Figuren visuell verborgen bleibt. Dieses Konzept erweitert die möglichen Darstellungsformen um
eine zusätzliche mentale Ebene, die über die bisher etablierten Bild-TonBeziehungen hinausgeht und somit die hier angestrebten Überlegungen um
einen weiteren Aspekt bereichert.
Struktur der Beispielführung
In den nächsten Abschnitten sollen Beobachtungen und Überlegungen anhand ausgewählter Szenen aus den vier präsentierten Filmen Einzug in das
vorgestellte Modell finden bzw. interessante Bild-Ton-Beziehungen im Bezug
auf interne und externe Faktoren getrennt voneinander beleuchtet werden.
Dabei werden in den einzelnen Abschnitten immer relevante Beispiele aus
allen vier Filmen herangezogen, um eventuell Einblick in einen möglichen
Trend bzw. die Entwicklung der angewandten Konzepte zu gewinnen. Die relevanten Filmausschnitte werden pro Abschnitt in einer einzigen Videodatei
gesammelt präsentiert, nach Bedarf per Zeitangabe referenziert und befinden
sich auf der beigelegten CD-Rom.
5.2
5.2.1
Einsatz und Wirkung interner Faktoren
Auditive Erweiterung
Als auditive Erweiterung sollen Bild-Ton-Relationen bezeichnet werden, die
sich durch partiell unsichtbare Objekte und dessen Erweiterung durch auditive Reize auszeichnen. Wie die folgenden Beispiele aufzeigen werden, kann
die gezielte Verknüpfung zwischen Bild und Ton eine physische Verlängerung partiell unsichtbarer Figuren bzw. Objekte darstellen und somit den
Eindruck von Unsichtbarkeit etablieren. Eine Besonderheit filmischer Darstellungsformen, die auf diese Weise hauptsächlich in diesem Subgenre zu
finden sind und vor allem durch die untrennbare audiovisuelle Verbindung
ihre Sonderstellung beziehen.
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
46
Abbildung 5.1: Auditive Erweiterung: a) Stimme vervollständigt partielles Erscheinungsbild; b) Geräusch bestätigt physische Vollständigkeit der
Brille; c) Halloway hämmert gegen unsichtbares Fenster. (Videobeispiel AuditiveErweiterung.mov auf beigelegter CD)
Beispiel A
Die häufigste Darstellungsform teilweise unsichtbarer Charaktere zeichnet
sich durch dessen visueller Erweiterung durch sichtbare Kleidungsstücke aus.
Diese Form begegnet dem Modell der aktiven Synchrese auf Stufe 3, da die
Kleidung als direkte Konsequenz und Indiz auf die physische Präsenz des
Unsichtbaren betrachtet werden kann. Der gewählte Ausschnitt aus The Invisible Man [36, 0:26:03-0:26:11] zeigt den Protagonisten im Pyjama auf einem Stuhl sitzend, während er mit ermahnender Armbewegung eine Drohung
ausspricht.
Die vorangegangenen Szenen im Film zeigen die selbe Figur in dessen
herkömmlicher Kleidung, wo der Kopf mit Bandagen umwickelt ist und dessen Form eindeutig abgegrenzt wird. Dieses Vorwissen lässt den Rezipienten
davon ausgehen, dass die dargestellte Figur auf jeden Fall eine vollständige physische Form besitzt und z. B. nicht als “kopflos” interpretiert werden
kann. Dadurch wird die wahrnehmbare Stimme des Charakters durch dessen Gestik und die eindeutige Wahl des Bildausschnitts unmittelbar auf den
schwebenden Pyjama bzw. auf den unsichtbaren Kopf projiziert. Dieses Zusammenspiel erschafft eine klar situierte Position der Quelle und vervollständigt die visuelle Darstellung auf mentaler Ebene seitens des Rezipienten.
Beispiel B
Der hier geählte Ausschnitt aus Now You See Him, Now You Don’t [6,
0:12:50-0:13:09] zeigt den Protagonisten bei den ersten Versuchen mit der neu
entdeckten Flüssigkeit, die einige Objekte in seinem Labor teilweise unsichtbar werden lässt. Die Besonderheit dieser Darstellung zeichnet sich durch
die Eingangs beschriebene und hier klar ersichtliche physische Erweiterung
durch die auditive Ebene aus. Was beim Betasten der angelehnten Zange
rein visuell suggeriert wird, erfährt durch die anschließende Bewegung mit
der Brille eine eindeutige Bestätigung. Der Rezipient kann aufgrund von Erfahrungswerten den auditiven Reiz eindeutig auf einen Zusammenstoß von
Brille und Keramikschüssel zurückführen und diesen als plausibel bewerten.
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
47
Auf Ebene des Reduced Listening (siehe 2.5.3) findet hier ein Abgleich zwischen dem gehörten Geräusch und den Möglichen materiellen Ursprüngen
statt, die sich in diesem Fall mit den visuellen Repräsentionen klar vereinbaren lassen und vom Rezipienten für “wahr” gehalten werden können, womit
die physische Präsenz eines vollständigen Objektes bestätigt wird.
Der aktiven Synchrese unterliegt hier die Schließung der visuellen Lücke,
die durch den auditiven Reiz befüllt und auf mentaler Ebene vervollständigt
wird. Die visuell indirekte Konsequenz des Geräusches fordert hier eine mittlere Aktiviät des Rezipienten, um den auditiven Reiz dem unsichtbaren Teil
des Gegenstands zuordnen zu können und lässt sich demnach in Stufe 4 des
Modells einordnen.
Beispiel C
John Carpenter geht in der gewählten Szene aus Memoirs of an Invisible
Man [7, 0:19:09-0:19:24] diesbezüglich noch einen Schritt weiter. Das teilweise unsichtbare Bürogebäude, in dem sich der Hauptcharakter nach seiner Verwandlung befindet, stellt diesen und auch den Rezipienten vor eine
audiovisuelle Herausforderung. Nicht nur die Tatsache, dass sich der Protagonist in einem teilweise unsichtbaren Käfig gefangen sieht, sondern auch
die dem Film spezifische Zwischenebene, die den Rezipienten gegenüber den
Nebencharakteren einen Vorteil verschafft, stellen hier eine Sonderform der
Bild-Ton-Beziehung dar.
Da der unsichtbare Nick Halloway die Menschen am Parkplatz durch die
transparenten Wände sehen kann, versucht er durch lautes Rufen auf sich
aufmerksam zu machen. Der Gegenschuss, der die äußere Perspektive zeigt,
lässt jedoch unmittelbar erkennen, dass die Hilferufe ihre Wirkung verfehlen. Dies bestätigt dem Rezipienten die Existenz einer schallundurchlässigen
Zwischenebene, die unsichtbare Außenmauer des Gebäudes, die natürlich
auch durch den vorangegangenen Handlungsverlauf etabliert wurde. Folglich
versucht er, vergleichbar mit einer pantomimischen Darstellung, die Wand
abzutasten, bis er schließlich Jalousien ausfindig machen kann und mit voller
Kraft gegen die Fensterscheibe hämmert. Die Präsenz der Jalousie und des
Fensters wird für den Rezipienten ausschließlich durch dessen auditive Darstellung erkennbar. Das metallische Rascheln der heruntergelassenen Jalousie
und das laute bzw. dumpfe Hämmern gegen die Glasscheibe sind eindeutige
Indizien, die – dem kollektiven Soundgedächtnis entnommen – ihren Wiedererkennungswert kaum verfehlen können. Der schwebende Hut, der von
außen als einziges Element sichtbar ist, veranktert zusätzlich die Position
Halloways im Gebäude und lässt demnach auch die Platzierung des Fensters
erahnen.
Durch die gezielte Reihenfolge der Montage und das Spiel mit der Zwischenebene, auf der Halloway nur für den Rezipienten sichtbar gemacht wird,
wobei die fehlenden Fragmente des Gebäudes jedoch transparent bleiben,
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
48
wird hier ein äußerst komplexes Konstrukt im Hinblick auf die Darstellung
von Unsichtbarkeit erschaffen, weswegen sich diese Szene nicht eindeutig in
das Modell der aktiven Synchrese einordnen lassen kann bzw. der Aktivitätsgrad je nach Perspektive variiert. So erfordert die Darstellung aus dem
inneren des Gebäudes, wo der sichtbare Protagonist gegen das unsichtbare
Fenster hämmert, einen ähnlichen Aktivitätsgrad, wie sie die partiell unsichtbaren Objete in Beispiel B erfordern. Dieser erfährt aber eine graduelle
Steigerung im Hinblick auf die folgende Einstellung, die lediglich den schwebenden Hut in Kombination mit dem auditiven Hämmern beinhaltet, da nun
beide Quellen – die Fäuste und die Wand – unsichtbar erscheinen. Demnach
könnte die Einstellung aus dem Inneren des Gebäudes als Vorbereitung auf
die darauf folgende betrachtet werden, indem sie die stattfindende Handlung
zuerst noch teilweise visuell repräsentiert, um dem Rezipienten die Aufgabe
der mentalen Rekonstruktion im weiteren Verlauf zu erleichtern.
Diese Konstellation lässt sich einerseits durch die Repräsentation des unsichtbaren Charakters durch den schwebenden Hut auf Stufe 3 des Modells
einordnen. Wohingegen die unsichtbare Wand durch indirekte Hinweise eine
Verbindung zum Rest des Gebäudes eingeht, wie sie einerseits das Hämmern
auf auditiver Ebene, aber auch der narrative Kontext bedeuten und somit
eine Einordnung auf Stufe 4 möglich wäre.
Schlussfolgerungen
Die auditive Erweiterung von partiell unsichtbaren Objekten bzw. Figuren
lässt sich in ihrer einfachsten Form (Beispiel A) nahezu in jeder relevanten
Verfilmung beobachten. Wobei komplexere Bild-Ton-Beziehungen im Zuge
der Recherchen erst in späteren Verfilmungen auszumachen waren, wie Beispiel B und C zeigen. Ob diese Beobachtung allgemeine Gültigkeit besitzt,
kann aus derzeitigem Standpunkt nicht bestätigt werden, da es eine umfassendere Analyse bzw. eine übergreifende empirische Erhebung fordern würde,
was den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Trotzdem wird erkennbar,
dass derartige Sonderformen der audiovisuellen Darstellung ein weitreichendes Spektrum an Möglichkeiten mit sich bringen und je nach konzeptioneller
Platzierung abwechslungsreiche Akzente gesetzt werden können, die den Rezipienten gezielt fordern und die Form der Darstellung durchaus bereichern.
5.2.2
Notwendigkeit visueller Hinweise
Der gezielte Einsatz visueller Hinweise lässt sich in einigen Darstellungen
eindeutig ablesen und begründet sich höchstwahrscheinlich aus deren Notwendigkeit für die Funktionalität bzw. das Verständnis der dargebotenen
Handlung. Indizien dafür finden sich in den folgenden Beispielen, dessen
Inszenierung theoretisch auch auf einer höheren Stufe des Modells der aktiven Synchrese ihre Berechtigung gefunden hätten, aber durch den daraus
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
49
resultierenden Abstraktionsgrad der Darstellung dem Rezipienten weniger
zugänglich bzw. verständlich gewesen wären.
Beispiel A
Die erste Szene in The Invisible Man [36, 0:18:44-0:19:02], die den Protagonisten zur Gänze unsichtbar darstellt, illustriert die offensichtliche Notwendigkeit der visuellen Mittel beim Verlassen des Zimmers und folglich
des Hauses. Wie Abschnitt 5.3.2 dieser Arbeit noch beschreiben wird, kann
rein Mittels externer Faktoren, wie z. B. einer Kamerafahrt, unter Einfluss
eindeutiger auditiver Elemente bereits einen kohärenten Gesamteindruck gewährleisten. Um so mehr macht es sich bemerkbar, dass die hier stattfindende Handlung bewusst auf visuelle Hinweise aufbaut und diese punktuell
eingesetzt werden.
So zeigt die erste Einstellung das Öffnen der Tür und anschließend das
Herabsteigen der Treppe. Bereits die Blicke der Sichtbaren Charaktere, die
sich in diesem Raum befinden, weisen zusammen mit den hörbaren Schritten
des Unsichtbaren auf dessen eindeutige Präsenz hin, wobei der Handlungsstrang mit dem Öffnen der Ausgangstür durchaus als abgeschlossen bewertet
werden könnte. Trotzdem illustriert das Umfallen der Standuhr einen zwischenzeitlichen Fixpunkt, um dem Rezipienten auch während der Bewegung
durch den Raum einen eindeutigen Hinweise zu liefern. Ebenso zeichnet sich
der Weg des Invisible Man durch die Gaststube durch diverse zerstörerische
Aktivitäten aus. So fegt dieser beim Vorbeigehen mehrere Gläser vom Tisch,
nimmt einem anwesenden Trinker das Glas aus der Hand und stößt mehrere
andere zur Seite, bis er schlussendlich den Raum verlässt.
Die Gründe für diese Darstellung sind mit Sicherheit auf ein gewolltes
kinematografisches Spektakel zurück zu führen, wie es das Kino bis zum
Zeitpunkt dieser Verfilmung noch nicht gesehen hatte. Weiters würde eine
abstraktere Herangehensweise, wie sie eine begleitende Kamerafahrt und eine
körperlose Stimme bedeuten würden, einen erheblich höheren Aktivitätsgrad
seitens des Rezipienten fordern, um den Verlauf der Handlung vollständig zu
verstehen.
Beispiel B
Bei der gewählten Szene aus Now You See Him, Now You Don’t [6, 0:20:160:20:41] wird dies noch deutlicher. Dexter, der mit seinem Kollegen ins Büro
des Antagonisten einbrechen will, um dessen Motive zu erkunden, steigt vor
dem Betreten des Hauses in eine Pfütze, was zur Folge hat, dass seine Schuhe
sichtbar werden.
Dieser gezielte Handgriff des Regisseurs macht es für den weiteren Verlauf der Handlung einfacher, dem Rezipienten die Position des unsichtbaren
Charakters zu vermitteln, obwohl die nassen Fußabdrücke und das Geräusch
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
50
Abbildung 5.2: Notwendigkeit visueller Hinweise: a) Griffin wirft
beim Vorbeigehen Standuhr um; b) Dexter steigt in Pfütze, wodurch Schuhe
sichtbar werden; c) Nach Sturz dient Staub auf Sacko als visueller Hinweis.
(Videobeispiel VisuelleHinweise.mov auf beigelegter CD)
der durchnässten Schuhe bereits Indiz genug gewesen wären, um den Verlauf
der Handlung zu illustrieren. Zusätzlich erreicht diese Darstellung dadurch
ihren skurrilen Charakter, da ein selbstständig laufendes Paar Sportschuhe
den Zuschauer mit Sicherheit amüsieren, was in einer folgenden Szene gezielt
aufgegriffen wird und Dexter kurzzeitig zu tanzen beginnt.
Wiederum lässt sich daraus ablesen, dass die Verwendung von internen
Faktoren bzw. visuellen Hinweisen einen erheblichen Mehrwert für die Verwertung dieser Verfilmungen darstellen und der Rezipienten einen vorgegebenen Interpretationsspielraum leichter anzunehmen scheint, als abstraktere
Bild-Ton-Relationen.
Beispiel C
Auch in Memoirs of an Invisible Man [7, 1:30:49-1:30:59] findet sich eine
derartige Szene, in der Halloway von seinem sichtbaren Gegenspieler verfolgt
wird und eigentlich bereits vollständig unsichtbar in eine Baustelle läuft.
Sein anschließender Sturz auf den staubigen Boden verursacht jedoch eine
transparent wahrgenommene Staubschicht auf seinem Sacko, was für den
weiteren Verlauf der Szene als eindeutiger Hinweis auf seine Position dient.
Halloway benützt dieses Element beim späteren Zusammentreffen mit seinem
Kontrahenten, um diesen gezielt in die Irre zu führen und anschließend seinen
tödlichen Sturz vom obersten Stockwerk des Hauses zu simulieren.
Hier illustrieren die gezielt eingesetzten Handlungsabläufe, die den Protagonisten absichtlich aus dem Zustand der totalen Unsichtbarkeit befreien,
den unverzichtbaren Einsatz visueller Hinweise. Auch auf die Weiterführung
der subjektiven Kameraperspektive wurde hier vorsätzlich verzichtet, da dies
nicht der einheitlichen Bildsprache des Films entsprechen würde.
Schlussfolgerungen
Der Zustand der absoluten Unsichtbarkeit findet sich im vorgestellten Modell auf Stufe 5 und erfordert ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit vom
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
51
Rezipienten, um einen kohärenten Gesamteindruck zu erzeugen. Diesbezüglich zeigt die Analyse der drei Beispiele, dass eine derartige Aktiviät über
längere Zeiträume kaum aufrecht erhalten werden kann und folglich auf visuelle Hinweise zurück gegriffen wird. Somit erfährt die Darstellungsform in
den behandelten Fällen eine Degradierung von Stufe 5 auf 4 bzw. 3 und
bezieht sich somit auf direkte und indirekte Konsequenzen, um die Position
des unsichtbaren Charakters klar vorzugeben. Diese Erkenntnis spricht prinzipiell für die Anwendbarkeit des Modells und zeigt, dass der Aktivitätsgrad
durchaus als Anhaltspunkt zur Beurteilung der voraussetzbaren Akzeptanz
der Darstellung seitens des Rezipienten herangezogen werden kann.
5.2.3
Die Blicke der Sichtbaren
Der Blick ins Leere verbunden mit einer körperlosen Stimme oder Geräusche,
wie z. B. Schritte, stellen sowohl den Rezipienten und mit ihm auch die
weiteren und sichtbaren Charaktere vor eine besondere Herausforderung.
Die räumliche Position der unsichtbaren Figur kann grundsätzlich nur mehr
durch auditive Hinweise vermutet werden, wenn auch punktuell indirekte
Konsequenzen Hinweise liefern können. Dabei befindet sich der Rezipient im
Vorteil gegenüber dem sichtbaren Charakter. Nicht nur, dass Faktoren wie
Kadrierung und Kamerabewegung die diesbezügliche Wahrnehmung unterstützen können, so stellen auch die Blicke der sichtbaren Charaktere einen
erheblichen Mehrwert dar. Ähnlich dem suchenden Blick des Rezipienten,
dem nur der gegebene und somit eingeschränkte Bildausschnitt zur Untersuchung vorliegt, so tasten auch die Blicke der Sichtbaren den filmischen Raum
ab und können somit den Blick des Rezipienten weiterführen und Reaktionen zeigen, die wiederum dem Rezipienten zur Interpretation dienen können.
Demnach kann z. B. eine stetige Veränderung der Blickrichtung des Sichtbaren den Eindruck erwecken, der Unsichtbare gehe quer durch den Raum.
Entgegensetzt kann auch ein sichtbarer Charakter, der sich durch den Raum
bewegt, durch seinen räumlich fixierten Blick auf die statische Position des
Unsichtbaren verweisen und somit den Blick des Rezipienten gezielt lenken.
Diese Blicke sind demnach als interne und dem Bild innewohnende Faktoren zu bezeichnen und begegnen dem Schema der aktiven Synchrese auf Stufe
4 (siehe 4.4), da sie nur indirekte Hinweise auf die innerbildliche Existenz
des Unsichtbaren liefern können. Die vielfältigen Ausprägungen derartiger
Szenen, die sich demnach durch ein gezieltes Konstrukt aus Schauspiel, Kameraführung und Tonmontage auszeichnen, sollen im Folgenden durch vier
Beispiele erläutert und analysiert werden.
Beispiel A
Diese Szene aus The Invisible Man [36, 0:25:04-0:25:43] zeigt Arthur Kemp
am Ende eines Dialogs mit dem unsichtbaren Jack Griffin, der ihm mit den
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
52
Worten “Come on, no time to waste” dazu auffordert den Raum zu verlassen.
Die sich öffnende Tür, die verweilende Einstellung und die erwähnte Aufforderung fixieren die Position des Unsichtbaren im Raum, welche durch den
Blickwechsel mit dem sichtbaren Kemp bestätigt wird, um dem Rezipienten
einen Ausgangspunkt für die folgende Bewegung zu gewährleisten. Kemp erhebt sich vom Stuhl und verlässt den Raum, ohne dabei den Blick von der
vermeintlichen Position Griffins abzuwenden und passiert dabei die Tür mit
einem wahrnehmbaren Sicherheitsabstand, welcher wiederum die physische
Präsenz des Unsichtbaren suggeriert.
Die folgende Einstellung zeigt den Treppenaufgang und die damit verbundenen zwei Ebenen des Hauses. Kemp steigt die Treppen hoch und wendet
sich für einen Augenblick noch einmal Richtung Tür, die im selbem Moment
hörbar geschlossen wird. Diese Kombination aus auditivem Hinweis (Schließen der Tür) und der punktuelle Blick Richtung Tür fixieren die räumliche
Position des Unsichbaren ein zweites Mal auf den Türeingang und bestärken
somit erneut die räumliche Aufteilung der beiden Charaktere.
Im weiteren Verlauf würde man vermuten, dass Griffin Kemp in die obere Etage folgen wird, da dieser bereits oben angelangt ist und ihm die gewünschten Bandagen aus einem Schrank holt. Nun tritt aber ein bemerkenswert ungewöhnlicher Moment ein, der durch den verweilenden Bildausschnitt
evoziert wird. Zum einen verschwindet Griffin ab dem Zeitpunkt, der sich
schließenden Tür, auch auf auditiver Ebene, womit dessen räumliche Position nur noch durch den Kontext erahnt werden kann. Andererseits ermöglicht
die gewählte Perspektive mehrdeutige Interpretationen. Nicht nur, dass sich
der unsichtbare Griffin immer noch im Erdgeschoss befinden könnte, auch
der Teppich auf der Treppe würde ihm ein leises und auditiv unbemerktes
Emporsteigen ermöglich, wodurch er sich auch schon längst im Obergeschoß
befinden könnte.
Dieser Interpretationsspielraum wird demnach durch die Länge der Kameraeinstellung, den gewählten Bildausschnitt und die Abwesenheit jeglicher
auditiver und visueller Hinweise erst möglich. Auch durch die zweimalige
räumliche “Fixierung”, durch die Blicke Kemps, wird dem Rezipienten ein
gezielter Ausgangspunkt vorgegeben, der für die weitere Interpretation als
essentiell bewertet werden kann. Diese räumlichen “Fixpunkte” oder Momente raumzeitlicher Synchronisation erzeugen im Rezipienten ein gewisses
Gefühl der Sicherheit über die Position den Unsichtbaren, wohingegen die
darauf folgende Zeitspanne der Desinformation von der mentalen Ergänzung
seitens des Rezipienten angereichert werden muss, was demnach den erheblichen Mehrwert dieser Szene darstellt.
Beendet wird diese mit einer Nahaufnahme der Bandangen (im Obergeschoß), die sich schwebend Richtung Zimmertür bewegen und von der Stimme Griffins begleitet werden. Ab diesem Zeitpunkt findet der Unsichtbare
durch einen klaren visuellen Hinweis wieder seine Verankerung im Handlungsraum, womit auch der Interpretationsspielraum geschlossen und ein
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
53
abschließender Fixpunkt erreicht wird.
Beispiel B
Die gewählte Szene aus The Amazing Transparent Man [33, 0:33:26-0:34:27]
enthält vergleichbare Qualitäten, wie Beispiel A, jedoch spielt hierbei die
bewegte Kamera und die permanent wandelnde Position des Unsichtbaren
eine entscheide Rolle. Der unsichtbare Joey Faust befindet sich im ständigen
Dialog mit dem sichtbaren Major Paul Krenner, der in dieser Szene von Faust
erpresst wird, was den bedrohlichen Charakter der Szene begründet. Hier
befindet sich der Rezipient im ständigen Abgleich mit den Blicken Krenners
und der wechselnden Kamera Empfindung, die einerseits als beobachtend
und außenstehend interpretiert wird und im fließenden Verlauf der Szene
einen subjektiven Standpunkt einnimmt, nämlich den des Unsichtbaren.
Beim anfänglichen Herabsteigen liefert der erste Blick auf die Zwischenebene der Treppe einen ersten “Fixpunkt” im Kontinuum der Szene. Darauf folgt ein Zusammenspiel zwischen Kameraschwenk und einem gleitenden
Blick Krenners, die den unsichtbaren Faust klar von der Treppe herab und
um Krenner herum bewegen lassen. Dieser dreht sich soweit bis er direkt
in die Kamera blickt und die Worte “Forgot what?” ausspricht. Ab diesem
Zeitpunkt findet ein Wechsel in der Wahrnehmung der Kameraperspektive statt. Die anfänglich außenstehende, beobachtende Kamera erreicht den
Status der subjektiven Sicht von Faust, dem Unsichtbaren. Somit wird dem
Rezipienten eine klar bestimmbare Position vermittelt, die durch den direkten Blick des Gegenübers fixiert und im weiteren Verlauf beibehalten wird.
Krenner bewegt sich nun leicht durch den Raum, während ihn die Kamera und damit auch der Blick des Unsichtbaren verfolgt, bis schließlich der
Stillstand erreicht wird und die Kamera bzw. Krenner in ihrer Position verharren. Die hier aufgebaute Erwartungshaltung seitens des Rezipienten bzw.
die suggerierte Position des Unsichtbaren im Handlungsraum erlebt einen
entscheidenden Überraschungsmoment als die Rolläden hochschnellen und
das Fenster geöffnet wird. Ohne dabei das Kontinuum des Dialogs zu unterbrechen, verlässt der Unsichtbare seine erwartete Position hinter der Kamera
und erschreckt damit Krenner und den Rezipienten gleichermaßen.
Dieser fließende Übergang zwischen den beiden empfundenen Kamerapositionen, die aufgebaute Erwartungshaltung und dessen Bruch, führen den
Rezipienten gezielt in die Irre und unterstreichen damit die grundlegende
Ungewissheit im Bezug auf das Unsichtbare. Zusätzlich evoziert diese Herangehensweise die Skepsis gegenüber den filmischen Mitteln bzw. externen
Faktoren. Der Rezipient kann sich demnach nicht mehr zu hundert Prozent
auf derartige Hinweise verlassen, was sicherlich eine Steigerung der Aufmerksamkeit bedeuten kann.
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
54
Abbildung 5.3: Blicke der Sichtbaren: a) Kemp blickt zur Tür, als diese
geschlossen wird; b) Fließender Übergang in subjektive Perspektive; c) Blick
auf den unsichtbaren Dexter am Steuer; d) Jenkins deutet auf den Boden,
ohne zu wissen, dass Halloway neben ihm steht. (Videobeispiel BlickeDerSichtbaren.mov auf beigelegter CD)
Beispiel C
In Now You See Him, Now You Don’t [6, 0:24:48-0:25:05] werden die unsichtbaren Charaktere zumeist mit visuellen Hilfsmitteln angedeutet, was auch in
der ausgewählten Szene durch die selbstständigen Schuhe und die Fotokamera ersichtlich wird. Weiters bezeugt das Wippen des Autos die physische Präsenz der beiden Unsichtbaren, was wiederum als visueller Hinweis bewertet
werden kann. Der Blick des Mädchens im Auto wird dann essentiell, sobald
sie im Gespräch mit dem Hauptdarsteller, Dexter, dessen Position durch ihre
Haltung suggeriert. Auch durch den Positionswechsel vom Fahrer- auf den
Beifahrersitz und das erneute Wippen des Autos wird klar, dass Dexter am
Steuer sitzt und im weiteren Verlauf das Fahrzeug lenken wird.
Hier sind keine außergewöhnlichen Rafinessen im Bezug auf den Einsatz
der Kamera oder Verlagerungen der Perspektive zu beobachten. Die Positionen der unsichtbaren Charaktere sind durch eine ausgeglichene Mischung
aus visuellen Hinweisen und dem klaren Blick der sichtbaren Darstellerin
klargestellt.
Beispiel D
Memoirs of an Invisible Man [36, 0:51:02-0:51:35] kommuniziert die Thematik der Unsichtbarkeit auf einer eigenen und teilweise rein narrativen
Ebene, wie bereits Eingangs erwähnt. Die gewählte Szene zeigt den Antagonisten, David Jenkins, in seinem Büro, wo er mit dem unsichtbare Nick
Halloway in einen Streit gerät. Die erste Einstellung folgt aus einer SchussGegenschuss Montage und lässt den Rezipienten gemeinsam mit dem sichtbaren Jenkins, die Position des Unsichtbaren auf der gegenüberliegenden
Seite des Schreibtischs vermuten. Dessen Auftauchen aus dem Offscreen und
hinter dem Rücken von Jenkins stellt hier einen Überraschungsmoment dar,
dessen Ursprung in der Wahl des Bildausschnitts liegt. Der anschließende
Kampf erreicht durch die Desorientierung Jenkins’ einen zusätzlich skurrilen
Höhepunkt. Dieser vermutet den unsichtbaren Halloway am Boden liegend,
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
55
obwohl dieser an seiner Seite steht.
Diese zusätzliche Ebene, mit der diese Verfilmung ganz eigene Bild-TonBeziehungen kreiert, rückt die Funktion der Blicke der Sichtbaren in ein
besonderes Licht. Hier werden diese nicht, wie zuvor als zusätzlicher Indikator für die Positionsbestimmung des Unsichtbaren verwendet, sondern
dienen als Vehikel zur Darstellung der Unzulänglichkeiten der negativ behafteten Charaktere, indem sie den Rezipienten einen Vorteil verschaffen.
Die Interpretation der Blicke der Sichtbaren wird demnach wieder zu einem
tragenden Element in der Darstellung des Unsichtbaren und eröffnet einen
neuen Spielraum für den Einsatz filmischer Mittel.
Schlussfolgerungen
Der gezielte Einsatz der Blicke der Sichtbaren darf demnach als anerkanntes
Element im Bezug auf die Darstellung des Unsichtbaren betrachtet werden.
Auch wenn dessen Verwendung durchaus variierende Formen erreichen kann,
werden diese vom Rezipienten trotzdem eindeutig interpretiert und unterstützen die Wahrnehmung bzw. die Positionsbestimmung des Unsichtbaren
maßgeblich. Im Bezug auf die aktive Synchrese kann dieser interne Faktor
auf Stufe 4 eingeordnet werden, da dieser einen indirekten Bezug zur Quelle
darstellt und dadurch für die Wahrnehmung einer unsichtbaren, aber innerbildlich verankerten Figur in vielen Fällen überhaupt erst ermöglicht.
Wie die Analyse der Beispiele erkennen ließ, fordert diese Darstellung
aber auch weitere unterstützende Faktoren, um einen kohärenten Gesamteindruck zu gewährleisten. Die in Beispiel A erläuterten “Fixpunkte”, die durch
diverse Synchronisationsmomente erreicht werden, fungieren als essentielle Ausgangspunkte, ohne die eine klare Positionsbestimmung bzw. darauf
folgende Spannungsmomente kaum möglich wären. Durch dessen gezielten
Einsatz und eine klar definierte Kameraführung können hierbei spannende
Bild-Ton-Relationen generiert werden, die den Rezipienten und den damit
verbundenen Wahrnehmungsprozesses abseits herkömmlicher filmischer Darstellungsformen vor eine aktivierende Herausforderung stellen.
5.2.4
Transformation zum mentalen Abbild
Die Transformation bzw. Übergangsphase vom sichtbaren in den unsichtbaren Status kann das mentale Abbild, das ab diesem Zeitpunkt fortwährend
im Rezipienten existiert, maßgeblich beeinflussen bzw. die Wahrnehmung
der darauf folgenden Darstellungen mitbestimmen. Weiters ist dies auch als
typisches und wiederkehrendes Element in diesbezüglichen Verfilmungen zu
beobachten und die damit verbundenen visuellen Effekte haben sich im Laufe
der sich entwickelten Filmtechnik stetig weiterentwickelt. Was in Abschnitt
3.4 beschrieben und von Chion als Aural Image bezeichnet wird, findet damit
einen visuellen Ursprung, um der Phantasie des Rezipienten einen Anstoß zu
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
56
geben und eine greifbare Referenz für den weiteren Verlauf der Darstellung
zu präsentieren.
Beispiel A
The Invisible Man [36, 1:07:25-1:08:06] bezieht diesbezüglich gleich eine Sonderstellung, da die Frage nach dem wahren Gesicht des Protagonisten bis zur
allerletzten Einstellung des Films auf sich warten lässt. Analog zum aktiven
Offscreen (siehe 3.2.2), wo auditiv präsente, jedoch visuell abwesende Charaktere durch den Einsatz der körperlosen Stimme als Aural Image existieren,
stellt genau diese Frage einen entscheidenden Reiz der Unsichtbarkeit dar.
In The Invisible Man könnte man diesbezüglich die zahlenreichen Szenen, in denen Griffin sind entkleidet, um seine sichtbare Hülle abzuwerfen,
als gleichwertige Transformation betrachten, da seine körperlichen Merkmale
auch in dieser Form einen Platz im Gedächtnis des Rezipienten einnehmen
und somit als Platzhalter für dessen wahres Erscheinungsbild in den relevanten Szenen ihre Funktion erfüllen.
Beispiel B
Der Vorführung am Beispiel des Hamsters in dieser Szene aus The Amazing
Transparent Man [33, 0:14:51-0:15:33] soll dem Protagonisten als Beweis für
die Funktion der Maschine dienen und dessen Skepsis aufgrund gesundheitlicher Bedenken entkräften.
Die hier stattfindende Transformation wird vor allem durch den Einsatz
der visuellen Konstante der Lederriemen interessant, welche die Position des
Hamsters auch nach der Übergangsphase festlegt. Die folgende Berührung
durch die Hand und die quieckenden Laute des Tieres reichen aus, um dem
Rezipienten dessen fortwährende Präsenz zu beweisen. Beim Verblassen der
Konturen erlebt die visuelle Repräsentation des Tieres einen nahtlosen Übergang in den Status des Aural Image und existiert somit als mentales Abbild
in der Wahrnehmung des Rezipienten weiter. Die verwendeten internen Faktoren bzw. Hinweise, wie sie die Riemen und die Hand darstellen, lassen diese
Darstellung auf Stufe 4 des Modells Platz nehmen und fordern demnach eine
durchschnittliche Aktivität seitens des Rezipienten.
Beispiel C
Butler benutzt die Transformation in den Status der Unsichtbarkeit um die
darauf folgenden visuellen Konsequenzen zu begründen, wie im Beispiel aus
Now You See Him, Now You Don’t [6, 0:31:43-0:33:47] ersichtlich wird. Mit
den Worten “I might be able to use this” und der Griff nach dem Ast verlässt Dexter die visuelle Ebene und versucht im weiteren Verlauf das Golfspiel zu Gunsten des Rektors zu manipulieren. Obwohl dem Rezipienten zum
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
57
Abbildung 5.4: Transformation zum mentalen Abbild: a) Letzte Einstellung aus The Invisible Man, in welcher Griffin am Sterbebett sichtbar
wird; b) Hand streichelt unsichtbaren Hamster; c) Dexter manipuliert das
Golfspiel mit einem Ast. (Videobeispiel Transformation.mov auf beigelegter
CD)
Zeitpunkt der Transformation die Verwendungsmöglichkeit des Astes noch
unklar sein muss, erschließt sich diese in den folgenden Szenen.
Die Bewegung bzw. die Bahnen, denen der Golfball bis ins Loch folgt,
sind durchgehend eckig und kantig, was ein Einwirken einer äußeren bzw.
unsichtbaren Kraft bedeuten muss. Dementsprechend entsteht im Betrachter ein mentales Abbild der Handlung, das die Benutzung des Astes ähnlich
wie die eines Hockeyschlägers illustrieren muss. In der hier nicht verwendeten
ersten Einstellung dieser Szene wird dieser Effekt noch durch ein “Schlagen”
auf auditiver Ebene verstärkt, auf das im weiteren Verlauf offensichtlich verzichten wurde. Demnach könnte auch dieser einmalige Hinweis genügt haben,
um das suggerierte Bild im Rezipienten zu manifestieren und die unmöglichen Bewegungsabläufe des Golfballs zu begründen.
Diese Szene gilt im Hinblick auf das vorgestellte Modell als bemerkenswert, da die Darstellung weitgehend ohne auditive Hinweise ihre Funktion
erfüllt und rein durch die leichte Abwandlung eines Bewegungsablaufes der
Eindruck einer innerbildlichen Unsichtbarkeit im Betrachter entsteht. Aufgrund der sichtbaren direkten Konsequenzen kann diese Darstellung auf Stufe
4 eingeordnet werden.
Schlussfolgerungen
Die Transformation schafft demnach einen gewissen Nährboden für einen
folgenden kohärenten Gesamteindruck bzw. eine klarer definierte Interpretation der Handlungen des Unsichtbaren. Ebenso gewinnt der Einsatz externer Faktoren, wie z. B. die Wahl einer unkonventionellen Kadrierung, an
Plausibilität, sofern davon ausgegangen werden kann, dass die körperlichen
Eigenschaften des unsichtbaren Charakters als bekannt vorausgesetzt werden können. Demnach ist die Darstellung der Übergangsphase nicht nur ein
gern gesehener visueller Effekt für den Zuschauer, sondern erfüllt auch eine
entscheidende Funktion im Bezug auf das Verständnis relevanter Szenen und
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
58
bereichert somit den Gedankengang, den der Rezipient beim vervollständigen
visueller Lücken beschreitet.
5.2.5
Gestalttheorie im Verhältnis zur partiellen Unsichtbarkeit
Wie bereits in Abschnitt 5.2.2 konstatiert, wird die Unsichtbarkeit eines Charakters meist durch visuelle Hinweise bzw. durch seine nur in Bruchstücken
angedeutete Transparenz visualisiert, um im Rezipienten einen kohärenten
Gesamteindruck zu erzeugen. Nun lassen sich hierbei durchaus Parallelen zur
klassischen Gestalttheorie entdecken, sofern angenommen werden darf, dass
der Betrachter im Wahrnehmungsprozess die fehlenden Teile bzw. “visuellen
Lücken” mental zu vervollständigen versucht. Das Gesetz der Prägnanz beschreibt diesen Vorgang im Bezug auf graphische Formen, wie Winkler in
Der filmische Raum und der Zuseher verdeutlicht [37, S. 129]:
Das Gesetz der Prägnanz besagt, daß der Wahrnehmungsapparat
des Menschen zu Eigenschaften “wie Regelmäßigkeit, Symmetrie,
Geschlossenheit, Einheitlichkeit, Ausgeglichenheit, maximale[r]
Einfachheit [und] Knappheit” tendiert. So führt Katz als Beispiel
an, daß Punkte, die nahezu auf einer Kreislinie liegen, so aufgefaßt werden, als lägen sie wirklich auf einem Kreis, oder Figuren,
die deutliche Lücken enthalten, so, als seien sie geschlossen. Das
Gesetz der Prägnanz läßt sich als eine Tendenz zur Idealisierung
deuten, insofern die Wahrnehmung den jeweiligen Gegenstand
’begradigt’, vor allem aber als ein Eingriff, der die Komplexität
der Wahrnehmung reduziert. Implizit stellt die Gesalttheorie damit die interessante Behauptung auf, daß die Wahrnehmung nach
ökonomischen Kritierien verfährt, insofern das Gesetz der Prägnanz der Knappheit der mentalen Ressourcen entgegenkommt.
Demzufolge könnte die mentale Vervollständigung partiell unsichtbarer
Erscheinungen einem ähnlichen Wahrnehmungsprozess seitens des Rezipienten untergeordnet werden. Wie wird nun ein unsichtbares Objekt auf der
zweidimensionalen Leinwand identifiziert und wie findet es den Weg zu seiner
mental verankerten Position im Kontinuum der Bilder? Grundsätzlich verfolgt die Gestalttheorie im “Normalfall” (den der Sichtbarkeit) den Ansatz,
dass sich Objekte in der Realität vorerst durch den Prozess der Segmentierung aus dem Gesamteindruck isolieren bzw. zu einzelnen Einheiten zusammengefasst werden und somit geschlossene Objekte identifiziert werden
können. Neben den immanenten Eigenschaften, wie z. B. Farbe oder Oberflächenstruktur eines Objekts, ist im filmischen Sinn auch dessen Bewegung
vor einem beispielsweise statischen Hintergrund vorrangig dafür verantwortlich, dass einer Figur visuelle Grenzen zugeordnet werden können. Dieses
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
59
Abbildung 5.5: Das Gesetz der Prägnanz aus der Gestalttheorie beschreibt
die Tendenz des Wahrnehmungsapparates lückenhafte Formen als geschlossen zu interpretieren. Ein ähnlich stattfindender Prozess kann auch mit der
Wahrnehmung partiell unsichtbarer Erscheinungen im Film verglichen werden.
“Freistellen” und den damit verbundene Vorgang gliedert Winkler in drei
Ebenen [37, S. 129]:
Der erste grobe Eindruck identifiziert ein ‚Etwas‘, eine Person
oder ein Ding, das gegen seinen Hintergrund zunächst freigestellt wird, und erst einer eingehenderen Betrachtung bleibt es
überlassen, Details zu isolieren oder den Gegenstand von anderen
gleichartigen Gegenständen zu unterscheiden. Die Wahrnehmung
betritt die Realität also auf einer Art ‚mittleren Ebene‘, die zwischen dem Gesamteindruck und der Ebene der Details eine hierarchische Zwischenposition einnimmt. Die ‚mittlere‘ Ebene der
Gestalten, so wird man ergänzen müssen, ist die Ebene, auf der
die Wahrnehmung Objekte konstituiert.
Wie lässt sich dieses Modell nun auf die Wahrnehmung unsichtbarer Gegenstände transponieren? Die genannte “mittlere Ebene”, auf der Objekte aus
der Realität ihren Weg in die Wahrnehmung finden, lässt sich neben visuellen Faktoren auch auf ein wiederholtes Wiedererkennen bzw. den Begriff der
Iteration zurückführen. So zitiert Winkler [37, S. 131] ein von Kittler skizziertes Modell, das die Fähigkeit eines Kindes die eigene Mutter zu erkennen,
auf die Tatsache der Iteration bzw. des wiederholten Erkennens auf unterschiedlichen Hintergründen zurückführt. Erst durch die mehrmalige Isolation
bzw. Segmentierung findet die Gesalt der Mutter den Weg ins Gedächtnis
des Kindes und schärft somit den im Frühstadium beschriebenen diffusen
Gesamteindruck der äußeren Realität. Metz konstatiert in Semiologie des
Films eine Hierarchische Darstellung kinematographischer Codes und teilt
diese in fünf Ebenen, wobei bereits die obersten Punkte das Erwerben von
“Sehgewohnheiten” ansprechen [27, S. 76]:
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
60
Die Perzeption an sich (die Systeme der Raumkonstruktion ...
und der ‚Figuren‘ etc.), und zwar in dem Maß wie sie schon ein
System erworbener Verstehensweisen darstellt, das je nach der
betreffenden Kultur variiert, 2. das Erkennen und die Identifizierung visueller und auditiver Objekte, die auf der Leinwand
bzw. durch den Lautsprecher wiedergegeben werden; mit anderen Worten: die Fähigkeit, die ihrerseits auch durch die Kultur
erworben wurde, das denotierte Material, das der Film darbietet,
richtig zu handhaben; ...
Somit scheint der wechselnde Hintergrund auf dem ein Objekt und im
Falle der Unsichtbarkeit ein filmisches Thema erkannt bzw. präsentiert wird,
für die Perzeption eine ebenso entscheidende Rolle zu spielen, wie die kulturellen Hintergründe der Rezipienten. Wobei sich behaupten ließe, dass das
Thema der Unsichtbarkeit im Film und vor allem im Kino Hollywoods, dem
der größte Teil der relevanten Filme abstammt, unter diesen Umständen
selbst zu einer Art Subkultur innerhalb der kinematographischen Darstellungsformen entwickelt hat. Dass das Medium Film in diesem Zusammenhang nicht nur Objekte aus der “Außenwelt” in seine Thematiken einfließen
lässt, sondern sich durchaus eigene entwickeln kann, beschreibt Winkler wie
folgt [37, S. 148]:
Der filmische Raum ist ein Raum von ‚Objekten‘. Und dies nicht,
weil Objekte im außerfilmischen Raum ‚gegeben‘ wären, sondern
ausschließlich durch den Mechanismus der Iteration selbst, so daß
der Film – als Diskurs und unabhängig von jeder ‚Realität‘ – in
der Lage ist, seine eigenen ‚Objekte‘ zu konstituieren.
Nun lassen sich parallel dazu mehrere Ansätze finden, die den Wahrnehmungsprozess unsichtbarer und dennoch innerbildlich existenter Objekte
bzw. Charaktere beschreiben könnten und aufbauend auf den von Winkler
angeführten Wahrnehmungsprozessen Antworten liefern bzw. die diesbezügliche Theorie erweitern könnten:
• Präexistente visuelle Repräsentation: Am Beispiel von The Invisible Man, sowie in zahlreichen gleichwertigen filmischen Darstellungen,
wird die Gestalt des unsichtbaren Charakters oftmals mit sichtbaren
Kleidungsstücken definiert. Aus diesem Grund wird hierbei auch versucht die herkömmlich unbedeckten Körperteile, wie Hände und Gesicht, entsprechend abzudecken, um eine vollständige visuelle Repräsentation gewährleisten zu können. Vor allem im Bereich des Gesichts
greift James Whale auf Bandagen, Schweißerbrille, Hut, Perrücke und
eine künstliche Nase zurück, die den Kopf des Charakters vollständig
umschließen, um der filmischen Außenwelt den Eindruck einer vollständig sichtbare Person vorzugaukeln. Nun suggeriert diese präexistente
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
61
visuelle Repräsentation die materielle Existenz eines soliden Gegenstands, wie z. B. des Kopfes, selbst wenn die genannten Bedeckungen
im weiteren Verlauf der Darstellung abgenommen werden und der spezifische Körperteil für den Rezipienten unsichtbar erscheint. Ähnlich
dem Prinzip des Aural Image (siehe 3.4), manifestiert sich die Existenz des Körperteils auf mentaler Ebene seitens des Rezipienten und
findet mittels der immer noch sichtbaren Gliedmaßen seine, mit relativer Genauigkeit bestimmbare, Position und Kontur im mentalen
Gesamtbild des Betrachters.
• Auditive Suggestion bzw. Vervollständigung: Auf analoge Weise
evoziert natürlich auch das eigentliche Prinzip des Aural Image, wie es
Chion in [9] beschreibt, ein mentales Abbild des Charakters beim Rezipienten. So räpresentieren z. B. die Beschaffenheit oder der Ausdruck in
der Stimme grundlegende Eigenschaften bzw. den Gemütszustand der
dargestellten Figur. Wenn der Invisible Man z. B. in seiner ersten “kopflosen” Szene [36, 16:30] diabolisch zu lachen beginnt, kann davon ausgegangen werden, dass durch die mitgelieferten auditiven Information
in erster Linie die Position des Kopfes und in weiterer Folge auch dessen Haltung und Gesichtsausdruck ein entsprechendes mentales Abbild
im Betrachter hervorrufen. Dieser wahrnehmungstechnische Effekt und
die Präsenz der Stimme bewahren die Darstellung vor der Verwechslung mit der eines beispielsweise “kopflosen Reiters”. Interessanterweise
bleibt das wahre Erscheinungsbild in vielen Verfilmungen keineswegs
verborgen, was als zusätzlicher Faktor das Aural Image bestärken kann.
So enthüllt die letzte Einstellung in The Invisible Man [36, 1:07:00] das
wahre Gesicht des Wissenschaftlers und liefert somit die ersehnte Antwort auf die visuelle Erscheinung des unsichtbaren Charakters. Dieser
Übergang bzw. Vergleich zwischen dem auditiv suggerierten und dem
visuellen Erscheinungsbild einer Figur findet man in dieser Form ausschließlich im Subgenre bzw. den Nachfolgern des Invisible Man.
• Narrativer Kontext und Primacy Effekt: Dass sich unter den
schwebenden Kleidungstücken ein solider, aber unsichtbarer Körper
befindet und die visuellen Lücken keineswegs abgetrennte Körperteile
darzustellen versuchen, wird natürlich auch aus dem narrativen Kontext ersichtlich. In erster Linie sorgt der Effekt des Primings (siehe 2.2),
den Flückinger bereits auf die Zeit vor dem Betreten des Kinosaals
ausweitet, für eine Erwartungshaltung seitens des Betrachters. Faktoren wie Filmtitel, Plakate oder Trailer öffnen beim Rezipienten ein
sogenanntes “semantisches Register”, das gewisse Erwartungshaltungen
bzw. Vorahnungen im Bezug auf die Darstellung des Unsichtbaren beinhalten kann. Diese Vorraussetzungen beeinflussen die Wahrnehmung
ebenso, wie auch im narrativem Kontext die Thematik dramaturgisch
aufgebaut wird und demnach zum Großteil unmöglich missverstanden
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
62
werden kann.
• Iteration: Vergleichbar wirkt sich auch die filmische Erfahrung eines
Rezipienten auf das Verständnis derartiger Darstellungen aus. Wenn
Winkler in [37, S. 131] den Begriff der Interation verwendet und somit
Kittler zitiert, findet sich auch hier eine Parallele zur Gestaltheorie. Die
diesbezüglichen Überlegungen bezeichnen die Wiederholung bzw. das
wiederkehrende visuelle Erkennen als Grundmechanismus für die Herausbildung von Gestalten. Vergleichsweise könnte man nun aus heutiger Sicht die Entwicklung des Genres und die damit verbundene Vielfalt
an Darstellungen unsichtbarer Inhalte, als iterativen Prozess innerhalb
der Filmgeschichte betrachten. Die zahlreichen Produktionen – allen
voran The Invisible Man – die sich dem Thema auf unterschiedlichste
Weise annähern, haben mit Sicherheit Spuren in den Sehgewohnheiten der Rezipienten hinterlassen und somit kann auf ein grundlegendes
visuelles Vokabular diesbezüglich zurückgegriffen werden.
Folglich kann man davon ausgehen, dass für einen erfolgreichen, kohärenten Gesamtdruck eines teilweise unsichtbaren Charakters ein Zusammenspiel der genannten Faktoren ausschlaggebend sein muss und sich demnach
grundlegend von der filmischen Wahrnehmung von z. B. Geistern unterscheidet, dessen Auftreten meist durch eine immaterielle und transparente Erscheinung geprägt ist und keinesfalls mit der einer partiellen Unsichtbarkeit
vergleichbar ist.
5.2.6
Schlussfolgerungen
Die Thematik der Unsichtbarkeit im Tonfilm1 zeichnete sich seit dessen Premiere mit The Invisible Man durch die zahlreichen Remakes und Spin-Offs
aus, wobei einerseits der spannende Gedanke und andererseits das Spektakel visueller Effekte den Reiz für das Publikum dargestellt haben müssen. Die Behandlung der Beispiele und der Diskurs zur Wirkung der jeweiligen internen Faktoren haben gezeigt, dass der Einsatz visueller Hinweise in
diesbezüglichen Darstellungen einen erheblichen Mehrwert bzw. eine Steigerung der Verständlichkeit der dargestellten Handlung bedeuten und in vielen Fällen bewusst darauf zurückgegriffen wird, um die Aufmerksamkeit des
Rezipienten nicht unnötig zu strapazieren. Auch wenn zumeist abstraktere
Darstellungsform zu einem gleichwertigen Gesamteindruck führen können,
scheint es trotzdem ratsam, den Rezipienten mittels direkter und indirekter
Konsequenzen visuell auf die Präsenz des Unsichtbaren hinzuweisen, da der
Interpretationsspielraum auf rein auditiver Ebene zu weitläufig erscheint.
1
Der erste Film, der das Thema aufgreift, geht auf Georges Melies aus dem Jahr 1904
zurück. Dessen Trickfilm Siva l’Invisible und weitere diesbezügliche Werke aus der Stummfilmzeit waren dem Autor leider nicht zugänglich.
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
5.3
63
Die suggestive Kraft externer Faktoren
Neben den im Modell der aktiven Synchrese (siehe 4.4) konstatierten internen Faktoren, sind auch dem Handlungsraum entzogene bzw. außerbildliche
und demnach externe Faktoren für die Darstellung des Unsichtbaren verantwortlich und können diesbezügliche Hinweise beinhalten. Auch wenn in den
meisten Fällen keine eindeutige Einteilung in interne oder externe Faktoren
möglich ist, da sich die gewählten filmischen Ausdrucksmittel überwiegend
überlappen, wurden für die folgenden Analysen ausschlließlich Beispiele ausgewählt, in denen der Eindruck der Präsenz eines unsichtbaren Charakters
überwiegend auf das jeweils relevante Ausdrucksmittel zurück zu führen ist.
5.3.1
Kadrierung
Die Kadrierung bzw. der gewählte Bildausschnitt wurde bereits bei den Analysen zu den internen Faktoren zum Teil erwähnt, obwohl dieses Gestaltungsmittel im vorgestellten Modell zu den außerbildlichen Einflüssen zählt. Das
liegt vor allem daran, dass die Kadrierung selten allein bzw. hauptsächlich
für einen kohärenten Gesamteindruck verantwortlich ist. Im Dialog mit einem Unsichtbaren spielen dabei immer weitere Faktoren, wie z. B. die Blicke
der Sichtbaren (siehe 5.2.3) und natürlich die körperlose Stimme eine der
wichtigsten Rollen. Die folgenden Beispiele beinhalten daher zweimal die
Mustersituation der Autofahrt, da diese hauptsächlich durch die Kadrierung
die Präsenz des Unsichtbaren hervorruft. Dies mag unter Umständen auf
den limitierten Bewegungsspielraum dieser Situation zurück zu führen sein,
könnte aber auch technischer Sicht die einfachste bzw. effektivste Lösung
diesbezüglich bedeuten.
Beispiel A
Die gewählte Szene aus The Amazing Transparent Man [33, 0:41:46-0:42:28]
zeigt die beiden Hauptdarsteller, den unsichtbaren Faust und Matson, im
Dialog während einer Autofahrt. Die Szene besteht grundsätzlich aus drei
verschiedenen Einstellungen, wobei erstere beide Charaktere einzufangen
versucht und frontal auf die Windschutzscheibe gerichtet ist. Matson, die
am Steuer sitzt, füllt hierbei lediglich ein Drittel der Bildfläche und wird
rechts sogar leicht angeschnitten, was einen erheblichen Leerraum im Bild
entstehen lässt. Zudem suggeriert die zweite Stimme, die männlicher Natur
ist, dass sich eine zweite Person im Auto befinden muss. Die einzig möglichen
Positionen für diese Person würden sich demnach auf dem Beifahrer- bzw.
auf dem Rücksitz befinden. Eine Fragestellung, die in der folgenden Einstellung bereits beantwortet wird, indem die Kamera den leeren Beifahrersitz
einfängt und Faust allein zu Wort kommt.
Dieses synchrone Aufeinandertreffen des leeren Bildausschnitts und der
körperlosen Stimme, der bereits etablierten unsichtbaren Figur, haben eine
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
64
Abbildung 5.6: Kadrierung: b) Gegenwart des unsichtbaren Fahrers wird
durch Kadrierung und Blickrichtung suggeriert; c) Visuelle Lücke hervorgerufen durch Bildausschnitt und unscharfer Hintergrund lassen auf Präsenz
des Unsichtbaren schließen. (Videobeispiel Kadrierung.mov auf beigelegter
CD)
unweigerliche audiovisuelle Verbindung zur Folge, die mit dem Effekt der
Synchrese in ein direktes Verhältnis gesetzt werden kann. Folglich gibt die
Kadrierung den entscheidenden Hinweis auf die Position der unsichtbaren
Figur und aus dem narrativen Kontext wird zusätzlich ersichtlich, dass es
wohl kaum die Scheibenwischer sind, die hier zu sprechen begonnen haben.
Diese Form der Darstellung findet im Modell der aktiven Synchrese auf Stufe
5 Einzug, da sie trotz ihrer Eindeutigkeit mehr mentale Aktivität seitens des
Rezipienten erfordert, als es z. B. ein kopfloser Pyjama, wie in Abschnitt
5.2.1 (Beispiel A) verlangen würde.
Beispiel B
Hierbei handelt es sicher wieder um eine Autofahrt, die Carpenter in Now
You See Him, Now You Don’t [6, 0:25:17-0:25:56] etwas anders gelöst hat
und in weiterer Folge für einen komischen Zweck ausnutzt. Der unsichtbare
Dexter, der den Wagen lenkt, befindet sich wiederum im Dialog mit seiner
Gefährtin Debbie. Der gewälte Bildausschnitt zeigt beide Charaktere seitlich und positioniert den Unsichtbaren in der rechten Bildhälfte. Auch hier
bleibt dem Rezipienten quasi keine andere Möglichkeit, als den Unsichtbaren hinter dem Lenkrad bzw. auf dem Fahrersitz zu positionieren, um die
visuelle Lücke zu schließen. Zusätzlich weist die Blickrichtung von Debbie
darauf hin, dass sich Dexter links von ihr befindet und sogar etwas größer
als sie sein muss. Im weiteren Verlauf erreichen sie eine Kreuzung und kommen neben einem Wagen zum Stehen, in dem sich eine Gruppe gleichaltriger
Jugendlicher befindet. Butler greift den absurden Bildcharakter der Situation auf und konstruiert daraus eine etwas eigenartige Situationskomik, die
für diese Verfilmung als charakteristisch bezeichnet werden kann. Der Rezipient befindet sich hierbei zwar ständig auf der Seite der Wissenden und ist
über die aktuelle Situation informiert, jedoch illustriert die Darstellungsform
ebenso die Perspektive der außenstehenden Figuren, was in diesem Beispiel
durch die letzte Einstellung beides erreicht wird. Zum einen repräsentiert der
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
65
Bildausschnitt die Perspektive der Jugendlichen und suggeriert dennoch die
physische Präsenz des unsichtbaren Dexter, indem dieser den prominenteren
Teil des Bildes beherrscht.
Beispiel C
In Memoirs of an Invisible Man [36, 1:16:34-1:18:07] konstruiert Carpenter
einen Dialog zwischen dem unsichtbaren Nick Halloway und seiner Gefährtin Alice Monroe, die am Rand eines Brunnens Platz nehmen. Durch die
Worte “I’m here” und die Reaktion Monroe’s wird unmittelbar klar, dass
sich Halloway am Brunnenrand und demnach im folgenden Bildausschnitt
rechts neben Monroe befinden muss. Neben ihren Blicken bestätigt dies auch
der entstandene Leerraum im Bild. Die folgende Naheinstellung eröffnet die
Perspektive auf Monroe und lässt dem Rezipienten keinen Freiraum, um den
Unsichtbaren darin zu positionieren und entspringt demnach einem konventionellen und bekannten Muster. Der darauf folgende Gegenschuss vermittelt
jedoch den unmittelbaren Eindruck der Präsenz des Unsichtbaren. Ausgelöst
durch die gezielte Verlagerung der sichtbaren Gesprächspartnerin in die linke
Bildhälfte, verstärkt der durch die Optik weichgezeichnete Hintergrund diese
Wahrnehmung und verhindert damit den möglichen Eindruck, dass Monroe
in den entfernten Korridor blicken könnte. Somit bleibt dem Rezipienten keine andere Möglichkeit, als die körperlose Stimme in den Raum zwischen Monroe und der unscharfen Bildebene zu positionieren. Diesen Eindruck greift
die anschließende Einstellung auf und wählt erneut einen unkonventionellen
Bildausschnitt, um beide Gesprächsparter einzufangen. So entsteht ungewöhnlich viel Freiraum über dem Kopf von Monroe, was in Kombination mit
der erweiterten Distanz von Kamera zu Monroe den Eindruck eines Schulterblicks aus Richtung des Unsichtbaren erweckt.
Schlussfolgerungen
Die Folgen unausgeglichener Bildkompositionen scheinen in diesem Zusammenhang eine brauchbare Funktion zu erlangen. Gängige Schnittmuster, wie
z. B. die Schuss-Gegenschuss-Methode im Dialog (Beispiel C), haben schon
längst ihren Weg in ein kollektives Gedächtnis gefunden und werden demnach
trotz visueller Lücken wiedererkannt. Diese Tatsache erleichtert demnach
die mentale Positionierung bzw. die Zuschreibung einer körperlosen Stimme
auf eine unsichtbare Figur. Dem Rezipienten bleibt demzufolge keine andere
Möglichkeit, als die aus dem Kontext hervortretende und dadurch am rationalsten erscheinende Lösungsmöglichkeit in Betracht zu ziehen: nämlich die
visuelle Lücke durch einen unsichtbaren Charakter mental zu füllen.
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
5.3.2
66
Unkonventionelle Kamerafahrten
Die konventionelle Kamerafahrt kann mehrere Funktionen erfüllen bzw. unterschiedliche Informationen transportieren. Zum einen dient z. B. ein einfacher Schwenk über eine Landschaft als Establishing Shot 2 , welcher im Normalfall vom Rezipienten auch unmissverständlich als solcher interpretiert
wird. Eine zweite Variante wäre der begleitende Schwenk, dessen Aufgabe
es ist, die Bewegung eines Charakters oder Gegenstands einzufangen, wobei dem Hintergrund weniger Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. In
ähnlicher Weise wie diverse Schnittmuster haben auch diese filmspezifischen
Präsentationsschemata ihren festen Platz im Wahrnehmungs- bzw. Interpretationsapparat des Rezipienten gefunden. Nun stellt die bewusste Darstellung unsichtbarer Charaktere genau diese filmischen Konventionen vor eine
erneute Herausforderung und trägt durchaus humoristische Konsequenzen,
wie Chion das Thema bezüglich The Invisible Man flüchtig anschneidet [9, S.
127]:
This situation has fairly humorous cinematic consequences, for
example, when the camera accompanies the protagonist’s ascent
of a large empty staircase by means of a tilt. It’s as if the camera,
incapable of seeing Griffin, insists nevertheless on framing him
and keeping him in the field of vision. At the same time, we
understand that this camera movement is informing us that he
is going upstairs; it is an index of the filmmakers’ knowledge of
mise-en-scene, of how to film the motion of the hero even in his
very invisibility.
Der ausschlaggebende Informationsgehalt eines derartigen Schwenks besteht demnach aus vier Teilen: dem bewegten Objekt, der Kamerabewegung,
der Tonebene und dem Kontext, aus dem die Situation hervorgeht. Nun gelingt es dem Genre der Unsichtbaren ersteren Bestandteil, das bewegte Objekt, wegzulassen und trotzdem die selben Information zu transportieren: die
Bewegung eines Charakters von A nach B. Inwiefern hierbei die restlichen
drei Vertragspartner dieser Darstellung ihre Verwendung finden und ob diese Darstellungen auch als solche interpretiert werden, sollen die folgenden
Beispiele erkunden.
Beispiel A
Wie bereits im vorangegangenen Zitat von Michel Chion bekundet, entwickelt diese Szene aus The Invisible Man [36, 0:33:35-0:33:45] einen sehr eigenständigen Charakter und kann durchaus als Vorreiter dieser Darstellungsform betrachtet werden. Auch wenn die selbstständigen Türen am Anfang
2
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
67
Abbildung 5.7: Unkonventionelle Kamerafahrten: a) Schwenk über
den Verlauf der Treppe mit beigefügten Schritten; b) Kamerafahrt durch
Foyer der Bank eröffnet mehrdeutigen Interpretationsspielraum; c) Einsatz
subjektiver Kamera zur Darstellung der Unsichtbarkeit; d) Visuelle “Fixpunkte” verankern Position des Unsichtbaren zu bestimmten Zeitpunkten
der Bewegung. (Videobeispiel Kamerafahrt.mov auf beigelegter CD)
und am Ende dieser Einstellung einen eindeutigen Rahmen für die Bewegung
des Unsichtbaren schaffen, wird die Überbrückung nicht der Willkür des Rezipienten überlassen. Zum einen gibt die Kadrierung sehr eingeschränkte
Möglichkeiten vor, um die stattfindende Handlung zu positionieren, welche
durch die auditive Ebene – den Schritten auf der knarrenden Holztreppe
– evoziert wird. Im Zusammenhang mit der Kamerabewegung wirkt diese
Kombination aus auditiver Bewegung und dem eingeschränkten Blickfeld auf
Boden und Stufen als förmlicher Fingerzeig auf die dargestellte Handlung.
Der narrative Kontext, aus dem die Situation hervorgeht, dient demzufolge als Basis für das Verständnis der Szene, wobei die visuelle Abwesenheit
der dargestellten Figur mehr oder weniger belanglos erscheint. Der Rezipient vermag mit Hilfe der dargebotenen filmischen Mittel ein Korrektiv zu
erschaffen, das die physische Präsenz des unsichtbaren Charakters unmissverständlich entstehen lässt. Die Eingangs und Ausgangs gebotenen räumlichen Fixpunkte dienen in diesem Prozess lediglich als Eckpfeiler, ähnlich wie
die einer Hängebrücke, dessen Verbindungspfad durch einen klar definierten
Weg vorgegeben ist und welchen der Rezipient mühelos beschreitet.
Beispiel B
Im Gegensatz zu Beispiel A greift die gewählte Szene aus The Amazing
Transparent Man [33, 0:43:02-0:43:39] auf den Einsatz von Musik zurück, um
den Interpretationsspielraum zu definieren. Die Kamerafahrt, die leicht mit
einem konventionellen Schwenk verwechselt werden könnte, gibt einen Überblick über das Geschehen im Kundenbereich der Bank und würde ausserhalb
des narrativen Kontexts höchstwahrscheinlich auch als solcher interpretiert
werden. Jedoch umhüllt der unbehagliche Charakter der musikalischen Untermalung die Szene mit einem misstrauischen Unterton, der die Präsenz des
unsichtbaren Bankräubers im gezeigten Handlungsraum vermuten lässt. So
zieht der gewählte Bildausschnitt, der neben dem Bereich der Angestellten
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
68
auch den Kundenraum vor den Schaltern miteinschließt, zwei Möglichkeiten
für die Bewegung des Unsichtbaren in Betracht. Einerseits könnte sich dieser
auf mittlerer Distanz zur Kamera im Kundenraum bewegen, aber sich auch
unbemerkt hinter dem Bankschalter seinen Weg zwischen den Angestellten
bahnen. Als eindeutiger Hinweis auf die letztere Möglichkeit kann die leichte
Rotation der Kamera am Ende der ersten Einstellung bzw. die damit erreichte Fokussierung auf die offen stehende Tür im Hintergrund verstanden
werden. Bestätigt wird diese Annahme durch die folgende Einstellung im offensichtlichen Tresorraum der Bank, wo die Kamerabewegung weitergeführt
wird und hinter den dort beschäftigen Personen vorbeigeht. Diese Andeutung evoziert im Rezipient das Gefühl, unbemerkt – hinter dem Rücken der
Anwesenden – in einen verbotenen Bereich vorgedrungen zu sein, was die
physische Präsenz des Unsichtbaren erneut unterstreicht. Die folgende Bewegung ins Innere einer geöffneten Zelle gibt den letzten und eindeutigen
Hinweis, indem sich ein Geldsack vom Tisch erhebt und schwebend den Weg
aus dem Gebäude antritt.
Die anfängliche Mehrdeutigkeit, die sich im weiteren Verlauf immer mehr
zuspitzt, um am Ende die aufgebaute Erwartungshaltung zu bestätigen, stellt
den besonderen Mehrwert dieser Szene dar und fordert vom Rezipienten eine
aktive Teilnahme bzw. Interpretation der dargelegten Indizien. Die konvergierende Struktur der wendeten Elemente, einerseits den physischen Handlungsraum betreffend, als auch die steigenden Spannung auf musikalischer
Ebene, ist demnach der dramaturgischen Rahmenhandlung untergeordnet
und evoziert damit schlussendlich einen kohärenten Gesamteindruck.
Beispiel C
Wie bereits bei den Blicken der Sichtbaren (siehe 5.2.3) festgestellt, kann
auch auf die Verwendung der subjektiven Perspektive zurück gegriffen werden, um die Gegenwart der Unsichtbaren zu unterstreichen. Im Verbindung
mit dem Dialog auf auditiver Ebene, suggeriert die gewählte Kamerafahrt
aus Now You See Him, Now You Don’t [6, 1:17:40-1:18:04] den Blick aus der
Fahrerkabine des unsichtbaren Autos der Verbrecher, die im Begriff sind, von
der Polizei zu flüchten. Neben den Motorgeräuschen beim Zurückschieben des
Wagens und den Hinweisen im Dialog der Sichtbaren (“What happened to
the invisible Car?”), indizieren auch Merkmale in der Kameraführung den
Status dieser Perspektive. So suggeriert z. B. die Rotation des Bildes beim
Wenden des Wagens die Fliehkräfte bzw. die Charakteristik der Stoßdämpfer
und gibt somit einen eindeutigen Hinweis auf die stattfindende Handlung.
Zudem unterstreicht die instabile Kameraführung die Geschwindigkeit der
Bewegung bzw. den holprigen Untergrund der Straße, was die Intensität und
den unmittelbaren Charakter dieser Einstellung hervorruft.
Die hier teilnehmenden Faktoren sind ausschließlich externer Natur, wie
sie das Modell der aktive Synchrese kategorisiert und fordern vom Rezipien-
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
69
ten demnach eine Teilnahme auf der fünften Stufe des Modells, da keine bildinternen Elemente auf die Anwesenheit der Unsichtbaren hinweisen. Jedoch
könnte diesbezüglich jedgliche Verwendung der subjektiven Kamera auf die
Präsenz einer unsichtbaren Figur hinweisen, was zu einer ungewollten Verallgemeinerung dieser Form führen würde. Daher beeinflusst der narrative
Kontext, der die Kameraführung in diesem Beispiel begründet, die Wahrnehmung in diesem Fall maßgeblich und wäre anderweitig nicht als solche zu
interpretieren.
Beispiel D
Ähnlich wie in Beispiel A benutzt Carpenter in dieser Darstellung [7, 0:26:540:27:17] einige räumliche Fixpunkte, die den unsichtbaren Charakter mit den
Einrichtungsgegenständen der Wohnung interagieren lassen, um auf diese
Weise die visuellen Leerstellen zu überbrücken. Grundsätzlich gibt auch hier
die Kamerabewegung durch den Raum den Weg des Charakters vor und manifestiert diese auch auf auditiver Ebene durch dessen hörbare Schritte. Um
diese Wahrnehmung jedoch über die gesamte Länge der Einstellung aufrecht
zu erhalten, dienen die Konsequenzen der Handlungen im Raum als punktuelle Verankerungen und konkretisieren somit die Position des Unsichtbaren
zu diesen Zeitpunkten. So eröffnet die sich selbstständig schließende Tür den
Gang des Charakters Richtung Wohnzimmer, wo als nächster Fixpunkt das
Geräusch der abgelegten Schlüssel und das Einschalten der Beleuchtung für
dessen Position sprechen. Im weiteren Verlauf beginnt er die Vorhänge zu
schließen und stolpert währenddessen sogar über den Stuhl in der Ecke, was
den Weg vom zweiten zum dritten Fenster zusätzlich visualisiert.
Der Rezipient wird hierbei klar an der Hand geführt, was den Interpretationsspielraum dieser Szene relativ einschränkt. Jedoch lassen gewisse
visuelle Indizien auf dessen Haltung während den durchgeführten Handlungen im Raum schließen. So zeichnet die Zugstelle am Stoff der Vorhänge
eine gestreckte und aufrechte Haltung der Figur, wohingegen das Stolpern
über den Stuhl mit der wahrnehmbaren Schrittfolge ein taumelndes Bild des
unsichtbaren Charakters hervorzurufen vermag.
Schlussfolgerungen
Die angeführten Beispiele geben einen kleinen Einblick in die Vielfalt der
Möglichkeiten bzw. die variierenden Herangehensweisen der unterschiedlichen Regisseure und zeigen auf, dass auch hier Potential für kreative Umsetzungen vorhanden ist. Die entscheidenden Vertragspartner dieser Darstellungsmethoden sind dennoch auf ein ständiges Zusammenspiel angewiesen,
um den Rezipienten in regelmäßigen Abständen eindeutige Hinweise bzw.
“Fixpunkte” im Raum zu illustrieren. Je nach Länge der dargestellten Szene
und dem narrativen Kontext, aus dem diese hervorgeht, tragen auch auditive
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
70
Reize ihren Teil zu diesem Prozess bei, der über längere Sicht wahrscheinlich
nicht überstrapaziert werden darf, um die Aufmerksamkeit des Rezipienten
nicht zu verlieren.
Im Hinblick auf das Modell der aktiven Synchrese finden sich hier Mischformen, die nicht immer eindeutig einem spezifischen Aktivitätsgrad zugeordnet werden können, da die Darstellungsformen nur selten auf ein einziges filmisches Mittel zurückgreifen und diese im ständigen gegenseitigen
Austausch stehen. Daher lassen sich nur Fragmente dieser Szenen eindeutig
kategorisieren, um im Sinne des Modells den Wahrnehmungsprozess gezielt
analysieren zu können.
5.3.3
Musik als narrative Brücke
Wie auch Beispiel B aus Abschnitt 5.3.2 gezeigt hat, kann auch der Einsatz extradiegetischer Musik3 eine klare Verbindung mit der dargestellten
Handlung eingehen und diese in speziellen Fällen sogar dominieren. Im Zusammenhang mit der Darstellung des Unsichtbaren wurden diesbezüglich nur
wenige klare Beispiele im Zuge der Recherchen entdeckt, obwohl der Autor
davon ausgeht, dass folgende Beispiele keine Einzelfälle darstellen.
Beispiel A
Der gewählte Ausschnitt einer Szene aus The Amazing Transparent Man [33,
0:32:03-0:32:10] zeigt die weibliche Hauptdarstellerin Laura Matson, die nach
der Verwandlung des Protagonisten dessen unsichtbare Gegenwart als erste
zu spüren bekommt, indem er sie küsst.
Der eindeutige Charakter dieser musikalischen Einlage entsteht hauptsächlich aus der stereotypischen Instrumentierung und der synchronen Reaktion der Hauptdarstellerin, die auf geschmeichelte Art zur Seite weicht.
Das zusätzliche Kußgeräusch verstärkt den Effekt zwar und bestätigt den
Rezipienten in seiner Annahme über die stattfindende Handlung, darf jedoch als sekundär betrachtet werden.
Beispiel B
In Now You See Him, Now You Don’t [6, 1:09:12-1:09:42] lässt sich ein
weitgehender Einsatz eines wiederkehrenden musikalischen Themas beobachten, das unter den gegebenen Umständen als Leitmotiv kategorisiert werden
könnte, das die Präsenz unsichtbarer Charaktere markiert.
3
Als extradiegetisch werden Elemente bezeichnet, die sich außerhalb (extra) des filmischen Handlungsraums (Diegese) befinden. Der Begriff der Diegese geht unter anderem
auf Christian Metz zurück, der ihn in seiner Semiologie des Films [27, S. 137] ebenso verwendet, wie Michel Chion in Audio-Vision : Sound on Screen [9] im Umgang mit Filmton.
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
71
Abbildung 5.8: Musik als narrative Brücke: a) Stereotypische Instrumentierung illustriert verführerische Handlung des unsichtbaren Charakters;
b) Leitmotiv unterstützt die Darstellung unsichtbarer Handlungen. (Videobeispiel Musik.mov auf beigelegter CD)
Im gewählten Beispiel setzt diese Melodie erst zu dem Zeitpunkt ein,
sobald die beiden unsichtbaren Bankräuber aus dem Auto steigen und Richtung Eingangstür gehen. Neben weiteren Hinweisen, wie den hörbaren Schritten und körperlosen Stimmen, suggeriert hier auch die plakative Kamerabewegung den Verlauf der Handlung. Demnach erscheint der Einsatz des
Leitmotivs als zusätzliches und verstärkendes Mittel, um den Zeitraum ohne
visuelle Hinweise auf auditive Weise möglichst stark zu betonen bzw. klar zu
überbrücken. Ein möglicher Grund für diese Verwendung könnte bei dieser
Walt Disney Verfilmung das Zielpublikum darstellen, dem ein Aktivitätsgrad
der Stufe 5 im Sinne des vorgestellten Modells ein zu hohes Abstraktionsvermögen abverlangt und somit alle zur Verfügung stehenden filmischen Mittel
für eine verständliche Darstellung herangezogen werden müssen.
5.3.4
Schlussfolgerungen
Betrachtet man den spärlichen Einsatz bzw. die verhältnismäßig geringe
Verwendung von Musik zur Unterstützung diesbezüglicher Darstellungen,
drängt sich die Annahme auf, dass visuelle Hinweise im Prozess der Interpretation eine klarere Funktion erfüllen und ein verständlicheres Repertoire
besitzen, als musikalische Elemente zu vermitteln im Stande sind. Gründe
dafür mögen einerseits auf die vielfach behauptete Dominanz der Bilder im
Medium Film zurück zu führen sein, wobei Flückinger die Wahrnehmung von
Musik auch mehrheitlich auf emotionaler Ebene beschreibt, was wiederum
gegen den Einsatz als klares und handlungsbeschreibendes Element spricht.
5.4
Ausblick und Bezug zum Diplomprojekt
Das folgende Kapitel soll auf analoge Weise exemplarische Szenen aus dem
erstellten Diplomprojekt heranziehen und auf mögliche Bezüge zu den in
diesem Kapitel behandelten Faktoren untersuchen. Vor allem durch die Tatsache, dass dieser Animationsfilm zeitlich vor der behandelnden Arbeit ent-
5. Audiovisuelle Darstellung des Unsichtbaren
72
standen ist, kann davon ausgegangen werden, dass bei dessen Erstellung
wertfrei und weitgehend intuitiv gehandelt wurde. Deshalb sollen die Analysen auf dessen eigenständigen Stil eingehen und zugleich mögliche Parallelen
zu den hier verwendeten Filmbeispielen gezielt hervorheben. Im Hinblick auf
das Modell der aktiven Synchrese bezieht der Animationsfilm eine klare Sonderstellung im Vergleich zu den hier behandelten Darstellungsformen. Die
ausschließliche Verwendung von statischem Bildmaterial, lässt diesbezüglich
neue Perspektiven entstehen, was die Darstellung auf Stufe 5 des Modells betrifft, da zum Großteil auf externe Faktoren zurückgegriffen werden musste.
Weiters ist das Thema der Unsichtbarkeit in diesem Genre wenig verbreitet
und stellt dadurch einen zusätzlichen Reiz für dessen Behandlung dar.
Kapitel 6
The Streets of the Invisibles
6.1
Umsetzung und Bezug zum Modell
Bei The Streets of the Invisibles handelt es sich um einen Animationsfilm,
der zum Großteil statische Bilder des Internetkonzerns Google Inc. verwendet
und diese als Ausgangsmaterial benutzt. Dabei wurde in erster Linie Bildmaterial aus der Webapplikation Google Street View verwertet und in weiterer
Folge mit Adobe After Effects animiert. Ebenso finden Satellitenbilder aus
Google Maps und Screencasts aus Google Earth ihre Verwendung im Film.
Auf auditiver Ebene wird Tonmaterial aus der TV-Serie The Streets of San
Francisco [12] in Bezug zum Bildmaterial gesetzt, um mit den Stimmen von
Karl Malden und Michael Douglas ein klassisches Police-Drama im Stil der
70er zu rekonstruieren.
Diese Herangehensweise setzt voraus, dass die dargestellten Charaktere
rein auf auditiver Ebene mittels des Dialogs präsentiert werden. Der Stil der
animierten Kamera suggeriert weitgehend die subjektive Perspektive, der
jeweils handelnden Figur, wobei diverse Schnittfolgen und Materialwechsel
auch den Eindruck einer außenstehenden Position zulassen. Im Bezug zum
Modell der aktiven Synchrese (siehe 4.4) lässt sich diese Darstellungsform
überwiegend auf Stufe 5 einordnen und fordert somit eine hohe und aktive Teilnahme des Rezipienten. Deswegen fungieren gewisse interne Faktoren
als Hilfsmittel, um das Verständnis der stattfindenden Handlung zu erleichtern bzw. für Abwechslung auf visueller Ebene zu sorgen. Der Einsatz dieser
Elemente, als auch die Wirkung externer Faktoren im Bezug auf Animation
und dessen Verbindung zur auditiven Ebene, sollen in den folgenden Abschnitten anhand ausgewählter Beispiele analysiert und in Bezug zu den in
Kapitel 5 konstatierten Darstellungsformen gesetzt werden. Die hier behandelten Videobeispiele befinden sich auf der beigelegten CD-Rom und sind
jeweils mittels einer Fußnote beim jeweiligen Beispiel vermerkt.
73
6. The Streets of the Invisibles
6.2
6.2.1
74
Suggestive Wirkung der Animation
Bewegung durch Kamera Animation
Vergleichbar mit der Wirkung unkonventioneller Kamerafahrten (siehe 5.3.2)
transportiert die animierte Kamera in The Streets of the Invisibles Informationen, wie z. B. die Bewegung eines Charakters oder eines Autos. Dabei etablieren Informationen auf auditiver Ebene den Interpretationsspielraum der
jeweiligen Einstellung, die je nach Situation als außenstehend oder subjektiv
empfunden werden kann. Demnach unterliegt es dem Wahrnehmungsprozess des Rezipienten zwischen den wechselnden Informationsgehältern der
animierten Kamera zu differenzieren, um in weiterer Folge einen kohärenten Gesamteindruck der suggerierten Bewegung zu generieren. Folgende Beispielszenen illustrieren unterschiedliche konzeptionelle Ansätze und erläutern
diese im Bezug zu den in Abschnitt 5.3 konstatierten externen Faktoren.
Beispiel A
Die Eröffnungsszene1 im Film zeigt eine stark frequentierte Kreuzung in
Tokyo, wo der erste Mord der Handlung stattfindet. Der unbekannte Mörder
fasst nach kurzer Orientierungsphase das Opfer ins Fadenkreuz und feuert
einen Schuss ab, wodurch die getroffene Person zu Boden stürzt.
Die erste Kamerafahrt, die sich aus der Vogelperspektive auf die Kreuzung zubewegt, dient als Establishing Shot und erzeugt durch die geradlinige Animation den Eindruck einer außenstehenden Perspektive. Wohingegen
die darauf folgende Einstellung als subjektiv bewertet werden kann. Dies
bewirkt einerseits die Position auf menschlicher Augenhöhe und weiters die
unruhige und verwackelte Kameraführung, die einen menschlichen Charakter
vermuten lassen. Das eindeutig identifizierbare Quietschen von Reifen, das
eine Vollbremsung eines Autos andeutet, wird mit einem Kameraschwenk
begleitet, der den auditiven Reiz im Handlungsraum platziert und einen klaren Bewegungsablauf suggeriert. Die Geschwindigkeit der Kamerabewegung
nimmt zum Ende der Bewegung hin ab und imitiert in dieser Weise den
typischen Bewegungsablauf eines Bremsvorgangs, wodurch eine direkte Verbindungen zwischen visueller und auditiver Ebene erreicht wird. Überdies
unterstützt die dargebotene Szenerie den narrativen Kontext der Szene und
liefert dem Rezipienten einen visuellen Hintergrund, um diesen in weiterer
Folge mittels der vorhanden Reize zu einem kohärenten Gesamteindruck zu
verbinden. Demnach findet ein vergleichbarer Prozess statt, wie in Beispiel A
aus Abschnitt 5.3.2, wo die Bewegung des unsichtbaren Charakters über den
Verlauf des Treppenaufgangs mit Schritten und einer begleitenden Kamerabewegung dargestellt wird. Die Rolle der Schritte übernimmt in diesem Fall
das Geräusch der quietschen Reifen, welches auf Basis des Causal Listenings
1
Videobeispiel KameraAnimation.mov, Example A, auf beigelegter CD.
6. The Streets of the Invisibles
75
eine klare mentale Repräsentation der Quelle beinhaltet, da die Kenntnis beider Geräusche seitens des Rezipienten vorausgesetzt werden kann. Überdies
werden beide mit einem visuellen Bewegungsablauf in Verbindung gebracht,
dessen Richtung und räumliche Platzierung durch die Kamerabewegung und
Kadrierung vorgegeben werden.
Beispiel B
Diese Szene2 findet eine ähnliche Einführung, wie in Beispiel A, und führt
den Handlungsort mit einer annähernden Kamerafahrt von oben ein. Dabei ist der Verlauf einer dicht befahrenen Straße ersichtlich, welcher durch
die zweite Einstellung verstärkt wird. Hier wird mittels Stoptrick-Technik
die Fahrt aus Sicht der Fahrerkabine des Autos gezeigt und somit die Bewegung der einführenden Kamera aufgegriffen. Diese zwei Faktoren geben
dem Rezipienten den Eindruck einer einheitlichen Bewegung im Verlauf der
Straße und dienen als Grundlage für die anschließende Einstellung, welche
die Ankunft am Tatort suggeriert. Hierbei findet innerhalb kürzester Zeit
ein dreifacher Wechsel im Bezug auf die Wahrnehmung der Kameraposition statt. Die eingangs außenstehende Perspektive wird mittels der einheitlichen Bewegung nahtlos ins Innere des Fahrzeuges transferiert, welche als
subjektive Sicht der Fahrzeuglenker interpretiert werden kann. Der folgende
Schwenk beschreibt das Geschehen wiederum aus mittlerer Entfernung und
platziert das Fahrzeug im Mittelpunkt des Bildausschnitts. Der dabei fokussierte Leerraum am Straßenrand wird auf auditiver Ebene vom Stillstand des
Fahrzeuges markiert, wodurch der Rezipient auf die innerbildliche Position
des parkendes Autos schließen kann. Anschließend deuten das Geräusch der
schließenden Autotüren und die Stimme des Protagonisten, dessen Aussteigen aus dem Fahrzeug an und illustrieren den Bewegungsablauf Richtung
Mittelpunkt der Kreuzung.
Hier findet sich wiederum die klassische Darstellungsform der begleitenden Kamerfahrt mit auditiver Unterstützung. Im Gegensatz zu Beispiel A
besteht hierbei keine direkte Verbindung zwischen Kamerabewegung und
auditivem Reiz, da diesem kein Bewegungsablauf innewohnt. Vielmehr wird
der Zusammenhang auf semantischer Ebene ersichtlich, indem die Worte
“Stand back, let him get through, please. Stand back.” eine Verknüpfung zur
dargestellten Szenerie eingehen. Die aus Krimiserien bekannte Situationen
der Schaulustigen am Tatort wird in dieser Szene durch die stillstehenden
Autos im Mittelpunkt der Kreuzung symbolisiert. Somit stellen die Position
des parkenden Autos und der Mittelpunkt der Kreuzung zwei räumliche Fixpunkte dar, wie sie auch in Beispiel D aus Abschnitt 5.3.2 konstatiert wurden,
wo der unsichtbare Charakter die Vorhänge seiner Wohnung nacheinander
schließt und somit dessen Bewegungsablauf suggeriert wird. Somit kann der
2
Videobeispiel KameraAnimation.mov, Example B, auf beigelegter CD.
6. The Streets of the Invisibles
76
Abbildung 6.1: Bewegung durch Kamera Animation: Begleitende Kamerafahrt deutet Bewegung des Protagonisten über das Flughafengelände an.
(Videobeispiel KameraAnimation.mov, Example C, auf beigelegter CD)
Rezipient auf die innerbildliche Bewegung rückschließen, obwohl keine auditiven Elemente dies eindeutig beschreiben und somit zwischen dem ersten,
audiovisuellen und dem zweiten, semantischen Fixpunkt interpoliert werden
muss.
Beispiel C
Diese Darstellung3 basiert wiederum auf dem Prinzip der begleitenden Kamerafahrt und deutet die Bewegung des Protagonisten über das Flughafengelände an. Vereinzelt platzierte Geräusche, wie z. B. ein metallisches
Rumpeln, markieren hierbei einzelne Fixpunkte im Raum. Um diese Positionen möglichst plakativ darzustellen, schränkt der punktuell vergrößerte
Bildausschnitt den jeweiligen Interpretationsspielraum dementsprechend ein
und symbolisiert das zwischenzeitliche Innehalten des Charakters. Der Rezipient steht hier abermals vor der Aufgabe diese Fixpunkte richtig zu interpretieren, um im folgenden Prozess über die Zwischenräume die Bewegung
des Charakters auf mentaler Ebene zu interpolieren. Dabei spielt der gewählte Bildausschnitt eine ausschlaggebende Rolle, da dieser im Zusammenhang
mit der Kamerabewegung die jeweiligen räumlichen Begebenheiten visuell
präsentiert, um diese im Wahrnehmungsprozess mit den auditiven Reizen zu
verküpfen. Die weitläufigeren Einstellungen suggerieren hingegen die Bewegung über das Gelände, wobei die Geschwindigkeit hauptsächlich auf auditiver Ebene durch den plakativen Charakter der musikalischen Untermalung
evoziert wird.
Schlussfolgerung
Alle drei Beispiele bestätigen die in Abschnitt 5.3.2 erlangte Erkenntnis,
dass räumliche Fixpunkte für die Darstellung innerbildlicher Bewegung eines unsichtbaren Charakters unumgänglich sind. Analog zu den analysierten
Beispielszenen aus den gewählten Live-Action Produktionen, gründet diese
Darstellungsform auf dem gezielten Einsatz der Kamerabewegung in Verbindung mit eindeutig identifizierbaren auditiven Elementen, um die Position
3
Videobeispiel KameraAnimation.mov, Example C, auf beigelegter CD.
6. The Streets of the Invisibles
77
Abbildung 6.2: Subjektive Kamera im Dialog: Der weichgezeichnete
Hintergrund eröffnet dem Rezipienten eine imaginäre Zwischenebene, welche
als Referenz für die Position des fokussierten Charakters fungiert. (Videobeispiel SubjektiveKamera.mov auf beigelegter CD)
des dargestellten Charakters bzw. Objekts eindeutig festzulegen. Ebenso unterliegt es der individuellen Wahrnehmung des Rezipienten, die entstehenden
Zwischenräume frei zu interpretieren, wobei die narrative Rahmenhandlung
den Interpretationsspielraum erheblich beeinflussen kann. Somit darf davon
ausgegangen werden, dass diesbezügliche Darstellungen auf den gezielten
Einsatz mehrerer Einflussgrößen zurück zu führen sind: Zum einen suggeriert der gewählte Bildausschnitt in Verbindung mit der Kamerabewegung
die Position des unsichtbaren Charakters, wobei diese durch den Zusammenhang zwischen auditiven und innerbildlichen Elementen unterstützt wird.
6.2.2
Subjektive Kamera im Dialog
Ein dargestellter Dialog zwischen zwei unsichtbaren Charakteren erfordert
entsprechend hohe Eigenaktivität seitens des Rezipienten im Bezug auf das
vorgestellte Modell der aktiven Synchrese, da keinerlei interne Faktoren bzw.
visuelle Hinweise auf die Präsenz der Gesprächspartner verweisen. Daher
muss die diesbezügliche Illusion ausschließlich mittels externer bzw. kameraspezifischer Faktoren erzeugt werden.
Beispiel
Das gewählte Beispiel4 zeigt einen Dialog zwischen den beiden Kommissaren am Tatort, die über den gefundenen Leichnam und die Vorhandenen
Spuren diskutieren. Die subjektive Perspektive wird hierbei durch die ungleichmäßige Kameraführung zusätzlich verstärkt und weitgehend mit der
aktuell sprechenden Person gleichgesetzt, um die Zuordnung der Charaktere
zu erleichtern. Gleich zu Beginn deutet der Schwenk nach rechts den Blick
zu einer dritten Person und dessen Position im Handlungsraum an. Im weiteren Verlauf weisen die Blicke auf die Leerstelle am Boden auf die Position
des Mordopfers hin. Dieser Eindruck gründet hauptsächlich auf semantischer
Ebene des Dialogs, der durch mehrere Gegenschnitte zwischen den beiden
Gesprächspartern oszilliert.
4
Videobeispiel SubjektiveKamera.mov auf beigelegter CD.
6. The Streets of the Invisibles
78
Abbildung 6.3: Synchrese auf Ebene des Reduced Listening: Materielle Beschaffenheit des auditiven Ereignisses steht in direkter Verbindung
mit visueller Bewegung. (Videobeispiel ReducedListening.mov auf beigelegter
CD)
Weiters suggeriert der gezielte Einsatz der Unschärfe die mittlere Distanz der Personen zur Kamera bzw. die “scharfgestellte” Zwischenebene,
auf der sich die unsichtbaren Charaktere theoretisch befinden müssten. Der
selbe Einsatz von Unschärfe kann in Beispiel C aus Abschnitt 5.3.1 bemerkt
werden, wo der Dialog mit dem Unsichtbaren hauptsächlich durch den gewählten Bildausschnitt illustriert wird. Der weichgezeichnete Hintergrund
eröffnet dem Rezipienten auf anoaloge Weise eine imaginäre Zwischenebene,
welche als Referenz für die Position des fokussierten Charakters fungiert.
Schlussfolgerung
Dahingehend lässt sich diese Darstellungsform auf Stufe 5 des Modells einordnen, fordert aber aufgrund der visuellen Abwesenheit beider Gesprächspartner erhöhte Eigenaktivtät seitens des Rezipienten, um diesbezüglich einen
kohärenten Gesamteindruck zu erreichen. Demnach befinden sich beide Darstellungen auf selber Ebene des Modells, bedürfen jedoch aufgrund der unterschiedlichen Einflussgrößen detaillierterer Betrachtung und können nicht
direkt verglichen werden.
6.2.3
Synchrese auf Ebene des Reduced Listening
Die Wahrnehmung auf Basis ausschließlich materieller Beschaffenheit auditiver Elemente gründet auf der Funktion des Reduced Listenings (siehe
2.5.3). Hierbei können enge audiovisuelle Verbindungen, sofern die materielle Beschaffenheit eines auditiven Reizes ein visuelles Pendant findet bzw.
als solches interpretiert werden kann. Folgendes Beispiel soll dies anhand
animationsspezifischer Faktoren erläutern.
Beispiel
Der hier gewählte Ausschnitt5 zeigt anhand von animierten Satellitenbildern
den Verlauf einer Straße. Auf auditiver Ebene wird die Dramaturgie dieser
5
Videobeispiel ReducedListening.mov auf beigelegter CD.
6. The Streets of the Invisibles
79
Szene mittels musikalischer Untermalung unter Beifügung von Polizeisirenen
bestimmt. Die suggerierte Bewegung des Fahrzeuges findet abermals ihren
Ursprung in der Wahl des Bildausschnitts und der Kamerafahrt, welche als
begleitend beschrieben werden kann. Die Besonderheit dieser Szene entfaltet
sich am Ende, wo das Quietschen der Reifen die Vollbremsung des Fahrzeuges symbolisiert. Hierbei wird die materielle Beschaffenheit des Geräusches
direkt mittels der Rotation der Kamera bzw. des Bildmaterials aufgegriffen,
was die Entschleunigung des Fahrzeuges mit einem “Schleudern” gleichsetzt.
Zudem verstärkt der vergrößerte Bildausschnitt die Intensität dieser Bewegung und deutet das Ende dieser Fahrt und die Ankunft am Tatort an.
6.3
Text als narrative Brücke
Obwohl die Darstellungen in diesem Animationsfilm überwiegend auf den
Einsatz externen Faktoren zurück zu führen sind, wurde schnell klar, dass
vereinzelte Inhalte nicht eindeutig interpretiert werden können. Zudem veranschaulicht das vorgestellte Modell der aktiven Synchrese den hohen Eigenanteil, der folglich vom Rezipienten geleistet werden muss, um visuelle
Lücken auf Basis auditiver Informationen zu schließen. Aus diesem Grund
dienen einzelne interne Elemente bzw. Faktoren als narrative Unterstützung,
um den Verlauf der Handlung möglichst zugänglich zu gestalten.
Diesbezüglich dienen vereinzelte Textelemente als visuelle Hinweise auf
die unsichtbare Präsenz diverser Charaktere und Handlungsabläufe, um einerseits die abstrakte Darstellungsform zu entkräften und in weiterer Folge
dem Rezipienten schwer zugängliche Informationen plakativ darzustellen.
Beispiel A
Die gewählte Szene6 stellt die subjektive Perspektive des Antagonisten dar,
der sich im Dialog mit der Geisel im Inneren eines Passagierflugzeuges befindet. Die eingeblendeten Textelemente und Fadenkreuze dienen als Referenzpunkte für die Position der Polizeifahrzeuge, die das Flugzeug umzingeln. Zudem werden die Anweisungen seitens der Polizei aus der Sicht des
Scharfschützen präsentiert, womit der Dialog zwischen Polizei und Geiselnehmer mit der klassischen Schnittfolge einer Schuss-Gegenschuss-Situation
vergleichbar wird. Somit stellt die Außenansicht des Flugzeuges die visuelle
Repäsentation des Geiselnehmers dar, wobei aus entgegengesetzter Perspektive keine visuellen Anhaltspunkte gegeben sind. Aus diesem Grund fungieren die Textelemente als narratives Bindeglied und bereichern demnach das
Verständis der Szene.
6
Videobeispiel Text.mov, Example A, auf beigelegter CD.
6. The Streets of the Invisibles
80
Abbildung 6.4: Text als narrative Brücke: a) Text und Fadenkreuze
dienen als Referenzpunkte für Positionen der Polizeifahrzeuge; b) Essentielles
narratives Element wird durch Text transportiert. (Videobeispiel Text.mov
auf beigelegter CD)
Beispiel B
Dieser Ausschnitt7 stammt aus einer rasanten Verfolgungsjagd und symbolisiert die Perspektive des Antagonisten, der sich im Zuge eines Zwischenstops
eine Geisel nimmt. Die Dauer dieser Einstellung und die Abwesenheit eindeutiger auditiver Hinweise erfordert hierbei den Einsatz des Textelements, um
die Aktion möglichst plakativ darzustellen und den Handlungsverlauf transparent zu halten. Dies wird in der darauf folgenden Einstellung auf auditiver
Ebene zusätzlich unterstützt, indem der Protagonist in einer Funkdurchsage
das Ereignis mit den Worten “... has hostage” erneut anspricht.
Schlussfolgerung
Die beiden Beispiele veranschaulichen den Informationswert, den Textelemente diesbezüglichen Darstellungen beitragen können, um das Verständnis
komplexer Handlungsabläufe zu bereichern. Dieses visuelle Element findet
im vorgestellten Modell keine Anwendung, da die in Kapitel 5 analysierten
Beispiele dieses nicht benutzen. Dennoch wäre eine Erweiterung des Modells
unter Einbeziehung von Textelementen denkbar, obwohl diese in die Grauzone zwischen internen und externen Faktoren fallen würden, da sie prinzipiell
im Handlungsraum platziert werden können, jedoch ausgehend von ihrer
künstlichen Natur dem Bild als Fremdobjekt gegenüber stehen.
7
Videobeispiel Text.mov, Example B, auf beigelegter CD.
Kapitel 7
Schlußbemerkungen
7.1
Aussagekraft des Modells
Wie sich anhand der ausgewählten Filmbeispiele gezeigt hat, ist das vorgestellte Modell der aktiven Synchrese durchaus in der Lage eine allgemeine
Kategorisierung der Unsichtbarkeit im Fim durchzuführen. Die hier getroffene Einteilung in interne und externe Faktoren erwies sich als brauchbare
Struktur für die Analyse in Abhängigkeit visueller Einflussgrößen. Zudem
kann die Einteilung in die fünf Stufen des Aktivitätsgrades als Referenzwert
für die Verwertbarkeit bzw. Akzeptanz von diesbezüglichen Darstellungsformen herangezogen werden. Die durchgeführten Analysen haben jedoch
illustriert, dass die eindeutige Einteilung in diese Stufen teilweise nur punktuelle und auf einzelne Einstellungen bezogene Aussagekraft besitzen, da
viele Darstellungen einem stetigen Wechsel dieser Faktoren unterzogen sind.
Die konstatierten Einflussgrößen, wie z. B. die Blicke der Sichtbaren oder
die auditive Erweiterung, lassen gängige Muster erkennbar werden, nach denen relevante Verfilmungen das Thema der Unsichtbarkeit aufgreifen und in
Szene setzen. Zudem zeichnet sich im zeitlichen Querschnitt der gewählten
Beispiele eine erkennbare technische Entwicklung ab, die das Genre immer
wieder aufs Neue attraktiv erscheinen lässt, womit sich die Vielfalt der entstanden Neuverfilmungen begründen ließe. Somit könnten zusätzliche Faktoren, wie sie die Textelemente in The Streets of the Invisibles darstellen, für
eine Ausweitung des Modells sorgen, um die Entwicklungen dieses Genres
aufzugreifen. Da diese Darstellungsformen jedoch eine sehr spezielle Sonderstellung im Bereich der Bild-Ton-Beziehung einnehmen, ist fragwürdig, ob
die Aussagekraft des Modells als allgemein gültig betrachtet werden kann
bzw. einen wirklichen Mehrwert für den diesbezüglichen Diskurs darstellen.
81
7. Schlußbemerkungen
7.2
82
Abschließender Kommentar
Ich hoffe mit dieser Arbeit eventuell einen Grundstein für weiterführende
Gedankenmodelle im Bezug auf die Darstellung von Unsichtbarkeit im Film
gelegt zu haben. Die Recherchen haben aufgezeigt, dass diesem Thema aus
Sicht der Bild-Ton-Beziehung bisher sehr wenig Beachtung geschenkt wurde.
Andeutungen in den Schriften von Michel Chion und dessen Überlegungen
im Bezug auf die körperlose Stimme haben mich dazu veranlasst, dieses
Thema aufzugreifen und in ähnlicher Manier eigentständig zu betrachten.
Weiters schien mir der Effekt der Synchrese brauchbar, um die Zuschreibung
auditiver Ereignisse auf unsichtbare Figuren zu beschreiben. Hier erwies sich
schnell, dass sich diese Darstellungen oft stark voneinander unterscheiden
können, womit die Idee zum vorgestellten Modell Einzug in diese Arbeit
fand.
Da das Feld der Soundtheorie mich weniger durch mein Studium und
vielmehr aus eigenem Interesse zu dieser Arbeit führte, hoffe ich brauchbare
Beobachtungen erstellt und den diesbezüglichen Diskurs bereichert zu haben.
Anhang A
Inhalt der CD-ROM
File System: Joliet
Single-Session (CD-ROM)
Mode:
A.1
PDF-Dateien
Pfad: /
Diplomarbeit_print.pdf Diplomarbeit (Druckversion)
Diplomarbeit_display.pdf Diplomarbeit (Bildschirmversion)
A.2
Online-Ressourcen
Pfad: /onlinequellen/
ManifestZumTonfilm.pdf http://tinyurl.com/24zkwkt, abgerufen
am 21.10.2010
DasKlingendeBild.pdf . http://tinyurl.com/2bntg39, abgerufen
am 21.10.2010
DerTonMachtDenFilm.pdf http://tinyurl.com/25utn5l, abgerufen
am 30.11.2009
Aural-Imagery.pdf . . . http://tinyurl.com/23mjr64, abgerufen
am 03.03.2010
SoundAndImage.pdf . . http://tinyurl.com/32n9qwk, abgerufen
am 03.03.2010
A.3
Video-Beispiele
Pfad: /videobeispiele/kapitel5
83
A. Inhalt der CD-ROM
AuditiveErweiterung.mov
BlickeDerSichtbaren.mov
Kadrierung.mov . . . . .
Kamerafahrt.mov . . . .
Musik.mov . . . . . . .
Transformation.mov . .
VisuelleHinweise.mov . .
84
Beispiele
Beispiele
Beispiele
Beispiele
Beispiele
Beispiele
Beispiele
zu
zu
zu
zu
zu
zu
zu
Abschnitt
Abschnitt
Abschnitt
Abschnitt
Abschnitt
Abschnitt
Abschnitt
5.2.1
5.2.3
5.3.1
5.3.2
5.3.3
5.2.4
5.2.2
zu
zu
zu
zu
Abschnitt
Abschnitt
Abschnitt
Abschnitt
6.2
2.5.3
6.2.2
6.3
Pfad: /videobeispiele/kapitel6
KameraAnimation.mov
ReducedListening.mov .
SubjektiveKamera.mov .
Text.mov . . . . . . . .
Beispiele
Beispiele
Beispiele
Beispiele
Literaturverzeichnis
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