Die tapfere Schneiderin
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Die tapfere Schneiderin
50 LEBEN FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 9. FEBRUA R 2014, NR. 6 Die tapfere Schneiderin Martina Lemke sitzt im Gefängnis. Hier ist gar nichts cool – bis auf die Arbeit an einem besonderen Taschenprojekt. Kann schon sein, dass sie ihre Entwürfe anschließend im „Tatort“ entdeckt. Von Jennifer Wiebking M artina Lemke beschäftigt sich mit Schönem – montags bis donnerstags von sieben Uhr morgens bis viertel vor vier am Nachmittag und freitags bis halb elf. Sie näht in dieser Zeit große Umhängetaschen, in denen andere Menschen später alle möglichen privaten Dinge mit sich herumtragen werden: Urkunden, den Laptop, die Scheidungspapiere. 6000 Kilogramm halten die robusten Taschen aus alten Segeltüchern und Schnüren von Canvasco angeblich. Wenn man so will, könnten das 6000 Kilogramm Privatleben sein. So eine Tasche hat Martina Lemke nicht. Wenn sie irgendwohin muss, zum Beispiel zur Arbeit oder zum Volleyball, trägt sie einen durchsichtigen Kulturbeutel bei sich. Vielleicht 25 auf 20 Zentimeter ist er groß. Feuchtigkeitscreme, Lippenbalsam, Deodorant, Wimperntusche hätten darin Platz, Dinge, die den Menschen verschönern, die ihn zum angenehmeren Zeitgenossen machen. Nur – in Lemkes Beutel liegen weder Deodorant noch Creme. Sie trägt einen durchsichtigen Kulturbeutel bei sich, damit jeder, den es interessiert, einen Blick hineinwerfen kann – aus Sicherheitsgründen. Lemke, die eigentlich anders heißt, sitzt seit sieben Monaten im Gefängnis. Sie ist in U-Haft in der Justizvollzugsanstalt für Frauen Vechta und wartet auf ihren Prozess. Auf eine lange Zeit hier drinnen richtet sie sich ein. Auf eine Haftstrafe, die die Durchschnittsaufenthaltsdauer von neun Monaten bis zu einem Jahr überschreitet. So lange wartet Lemke, 49 Jahre alt, ja schon fast auf ihren Prozess. Wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz seien rund 50 Prozent aller Gefangenen hier, meint die stellvertretende Anstaltsleiterin Petra Huckemeyer. Der Rest sitzt wegen Diebstählen, Raub oder weil sie nicht nur das Gefühl hatten, ihre Ehemänner oder Schwiegermütter töten zu wollen, sondern es tatsächlich getan haben. Lemke möchte zu ihrem Fall nichts sagen. Darf sie auch gar nicht. Sie darf nur sagen, dass sie wartet, und während sie das tut, näht sie Taschen zusammen. Wirklich – „mir macht die Arbeit wahnsinnig viel Spaß“. Zwischen dem grauen Alltagseinerlei beschäftigt sie sich hier mit etwas Schönem, mit einem Projekt, das so besonders ist, weil es Gefangene wie Lemke selbst hier drinnen am gesellschaftlichen Leben draußen teilhaben lässt. Das passiert zum Beispiel, wenn Lemke, „Tatort“-Fan, die von ihr genähten Taschen manchmal sonntags im Fernsehen sieht. Erst kürzlich war es mal wieder so weit: Im Saarbrücker „Tatort“ baumelte an Kommissar Jens Stellbrinks Schulter eine Canvasco-Tasche – die massive Metallschnalle, das Markenzeichen, war deutlich sichtbar. „Das ist schon cool“, sagt Lemke. Es ist so cool wie sonst nichts im neuen Leben von Lemke, in dem nun der Tag mit dem Frühstück beginnt, das ihr schon am Nachmittag zuvor, gegen vier, halb fünf Uhr jemand mit dem Abendbrot zusammen auf die Zelle bringt. Obwohl, Zelle, „ich sage immer ,Zimmer‘ “, meint Lemke. Es gibt Zeiten für das Mittagessen, (11.30 Uhr und zwölf Uhr), Zeiten für Raucherpausen (10.15 bis 10.25 Uhr und 13.45 Uhr bis 14 Uhr) und Zeiten zum Duschen (17–18 Uhr). Lemke weiß auswendig, wie viel Geld sie bekommt – und wie viel sie davon ausgeben darf. „Für 194 gute von einer schlechten Naht unterscheiden – mehr nicht. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das überhaupt mal machen würde“ – das mit dem Nähen. Jetzt, nach sieben Monaten, kann sie jeden Einzelschritt in der Produktion einer Tasche genau beschreiben. Gedanklich geht sie von einem Tisch zum nächsten. Acht Frauen arbeiten hier, jede ist für einen Schritt verantwortlich. „Die Taschen werden auf dem Segel vorgezeichnet und auf dem Schneidetisch ausgeschnitten. Die Innentaschen werden vorgenäht, dann die Außentaschen. Jede Bestellung ist anders, schließlich kann man seine Tasche im Internet selbst entwerfen.“ Dazu werden die Muster im Laserraum frisch zusammengestellt und anschließend zugeschnitten. Man darf nicht die Reiß- und Klettverschlüsse vergessen. Martina Lemke kümmert sich um einen der letzten Arbeitsschritte: Sie näht die ganze Tasche zusammen, sie modelliert sie. Gerade hat sie einen Segelstoff mit Möwe vor sich. Im Zickzackstich näht sie die Tasche so zusammen, dass die hoffentlich bald 6000 Kilogramm aushält, 6000 Kilogramm Privatleben. Lemke hat es sich hier in der Schneiderei so gemütlich wie möglich gemacht – drei Sitzkissen hat sie auf dem kleinen Holzstuhl übereinandergestapelt und die mit Klebeband fixiert. Sie sitzt immer am selben Tisch. Lemke lerne schnell, bestätigt auch ihre Koordinatorin Barbara Lienesch. Seit 16 Jahren arbeitet sie mit den Frauen in der Schneiderei, vor elf Jahren kam der Auftrag von Jan-Marc Stührmann, Gründer von Canvasco. Mit 50 Stück ging es damals los. Zwischen 1000 und 1500 Taschen lässt er hier sowie in der JVA Hildesheim und zwei weiteren sozialen Einrichtungen im Monat produzieren. Ein nicht unerheblicher Teil davon geht am Ende durch Lemkes Hände – und wenn sie abends fertig ist, hängt sie die scharfe Schere mit ihrem Namen zurück an die Holzwand. Lemke mischt hier mit, wo sie nur kann. „Ich engagiere mich total.“ Engagement bedeute für sie vor allem Ablenkung. Mit Engagement wird das Leben schöner. Wenn sie sich zum Beispiel besonders auf eine Tasche konzentriert und ihr jemand anschließend eine Mail zeigt, dass das Stück gelungen ist, freut sie das. Oder sonntags, da liest Lemke in der Kirche Bibeltexte vor. Oder heute Abend, „da ist ein Treffen der GMV – der Gefangenenmitverantwortung“. Es ist ein Rat, der ab und zu tagt, in den sich Lemke hat wählen lassen. Sie hat dort etwas vorzutragen, „etwas, was nicht ganz so Wird hier gefertigt: Canvasco-Tasche Euro können wir im Monat in der U-Haft einkaufen.“ Sie kann auch die Anzahl ihrer Freundinnen aufzählen: „Keine“, da wird sie etwas leiser. „Vielleicht gibt es jemanden, den man in diesem Moment besonders liebhat. Aber man muss vorsichtig sein, was man erzählt.“ Auch deshalb verbringt sie lieber Zeit in der Schneiderei – hier scheint alles normaler. Am Eingang stehen die zusammengenähten Taschen bereit, die gleich nach draußen verschickt werden sollen. Vielleicht ist hier auch alles ein bisschen leichter. An der Tür zur Schneiderei klebt etwa ein Zettel mit einem Witz. „Steht ein Häftling beim Arzt: ,Bei mir sind die Windpocken ausgebrochen.‘ Der Arzt: ,Dann verschreibe ich Ihnen eine Haftcreme.‘ “ Das Radio dudelt vor sich hin, und die von der Decke herabhängenden Steckdosen, die Massen an bunten Segeltüchern in Rostrot, Knallgelb, Himmelblau lassen die Schneiderei sympathisch chaotisch wirken. Die Gitterstäbe verschwimmen hinter den Milchglasscheiben. Martina Lemke hat nie zuvor genäht, „keinen Stich“. Früher arbeitete sie als Zahnarzthelferin, und wenn sie spricht, blitzt da passenderweise eine Reihe weißer Zähne hervor. Anschließend bekam sie ein Kind, sie fing in einer Boutique in Osnabrück an. Auf die Modemesse in Düsseldorf, die CPD, sei sie damals mit ihrer Chefin gefahren, sie kann also eine Hinter Gittern: Hier in der Schneiderei der JVA scheint alles ein bisschen normaler und leichter als in der Zelle. gut läuft“. Lemke spielt Volleyball und abends Karten. Sie besucht einen Nähkurs, „dort fertigen wir Decken, die wir mit aufs Zimmer nehmen können“ – um die Regale ein bisschen abzudecken. „Ich bin zum ersten Mal im Gefängnis, ich glaube, ich habe ein gutes erwischt.“ Sie lächelt tapfer. Lemke ist niemand, der sich gehen lässt. Das sieht man – sie steckt zwar in der Gefängniskleidung, in einer dunkelgrünen Hose, dazu ein bordeauxrotes Poloshirt, aber das rote Sweatshirt zum Überziehen lässt sie weg – und zieht einfach ihr eigenes leuchtend pinkfarbenes Langarmshirt drunter. Die Augenlider hat sie heute Morgen mit dunklem Lidschatten bemalt. Sie trägt eine silberne Halskette, in ihrem blonden Haar steckt eine braune Klammer: „Man muss es ja nicht immer zeigen, dass es einem schlechtgeht.“ Hat Lemke übrigens schon früher nicht gemacht. Vor drei Jahren ist sie an Krebs erkrankt, „Brustkrebs, aber das hat auch keiner gemerkt“. Wieder ein Lächeln. Lemkes rosafarbene Ohrringe blitzen jetzt auf. BRAUCH’ ICH DAS? Trägt His Royal Highness 08/15-Stiefel oder sind sie besonders hochwertig? Vor allem sind es Gummistiefel, die meistens von Farmern getragen werden, weil sie besonders wasserdicht sind. Eine neue Technologie garantiert angeblich, dass der Naturkautschuk doppelt so wasserdicht ist wie herkömmliche Modelle. Durch die vergrößerte Schaftweite kann man außerdem schnell reinschlüpfen – wichtig für Bauern, denn sie müssen die Stiefel unkompliziert an- und ausziehen können, wenn sie zwischen Haus und Hof pendeln. Besonders hochwertig soll auch das Fußbett sein – für ältere Herrschaften wie Prince Charles nicht unwichtig. Gummistiefel, Argyll, 69,95 Euro Was signalisiert uns Prince Charles damit? Er will sagen: „Ich bin einer von euch.“ Kein verwöhntes Königssöhnchen, sondern einer, der das Leben auf dem Bauernhof kennt (was ja auch wirklich so ist). VO N A N K E S C H I P P Wer stylish sein will, trägt aber doch die Marke Hunter? Argyll, benannt nach einer schottischen Grafschaft, sind zwar weniger bekannt, aber dafür exklusiver. Produziert wird das Modell, das explizit für Farmarbeit gedacht ist und unter der Rubrik Countryline firmiert, übrigens auch von der Marke Hunter, die vor allem dadurch bekannt wurde, dass Kate Moss sie zu Hotpants beim Glastonbury-Festival trug. Foto Laif I n England regnet es viel, das ist eigentlich nichts Besonderes. Aber manchmal regnet es auch so viel, dass das halbe Land unter Wasser steht und der Kronprinz eines seiner Schlösser verlassen muss, um dem Volk Trost zu spenden. Diese Woche watete er fotogen durch die überfluteten Straßen von Somerset, schüttelte Hände, hörte zu und sprach warme Worte. Dazu trug er nicht wie sonst handgenähte Budapester, sondern schwarze Gummistiefel der britischen Marke Argyll. Zu was kann ich sie tragen? Natürlich zur Breitcordhose, wie sie der Kronprinz trägt. Er kombiniert dazu außerdem eine leicht ausgebeulte Barbour-Jacke aus Tweed – Auch um sie herum tragen die Gefangenen zu ihren Uniformen Schals mit Leopardenmuster, bunte Freundschaftsarmbänder, bei einer fehlt das Lippenpiercing. „Ich wurde ja von der Straße weg verhaftet.“ Wenn sie ihre Angehörigen nach diesen oder jenen Schuhen fragt – zwei Paar darf jede Frau hier besitzen –, „bringen sie sowieso immer nur die falschen mit“. Selbst im Gefängnis beschäftigen sich Frauen wie Lemke eben mit Schönem. Nicht um Männern zu gefallen und auch nicht sich ge- Fotos Fabian Fiechter genseitig, schließlich sei der Neid groß. Es geht vor allem um sie selbst. Bei der Arbeit können sie sich ein bisschen ausleben: „Neulich hatten wir hier so ein tolles Segel“, sagt Lemke. „Mit einem bunten Muster.“ Aus den Gefangenen wurden Designerinnen, sie kamen auf einen eigenen Entwurf. „Wir haben ein Einzelstück gefertigt und es Herrn Stührmann von Canvasco geschickt“, erzählt Lemke. Sie überlegt kurz. „Vielleicht kann ich ja richtig bei ihm anfangen, wenn ich hier raus bin.“ STEHT MIR DAS? Die Fahne Na, machen die Arme schon schlapp? Nach Angaben ehemaliger Athletinnen soll das Teil nicht schwer sein. Es geht also steiler. schon sieht man aus, als wäre man eben grad mal bei den Pferden auf der Weide gewesen und nähme gleich seinen Tee im hinteren Trakt des Herrenhauses. Und wenn es etwas moderner sein soll? Dann kann man auch eine Slimfit-Jeans zu den Gummistiefeln tragen. Oder dicke Baumwollstrumpfhosen mit Zopfmuster unter einem kurzem Röckchen. Oder eben wie Kate Moss Hotpants. Die andere Kate übrigens, Schwiegertochter von Charles, wurde schon in Konkurrenzmodellen von Le Chameau gesehen. Die kommen aus Frankreich – der höfliche Brite wird darüber hinwegsehen. Wäre es aufgesetzt, bei einem normalen deutschen Platzregen in der Stadt solche Stiefel zu tragen? Kommt darauf an, was man signalisieren will. Die Gummistiefel haben einen Coolness-Faktor, aber selbst dann sollten sie nicht sauber und hochglänzend sein, sondern wie bei Charles eine gewisse Patina haben, damit man sieht, dass sie schon mal mit Regen in Berührung gekommen sind. Maria Höfl-Riesch, 7. Februar, Sotschi Die Mütze Was machen Biathletinnen im Ruhestand? Klar, schwanger werden, wie Magdalena Neuner. Nebenbei hat sie der Mannschaft diese Mützchen gestrickt. VO N J E N N I F E R W I E B K I N G Mit der Fahne in der Hand hatte Maria Höfl-Riesch bei der Eröffnungsfeier im Fischt-Stadion eine elementare Rolle: Sie musste signalisieren, dass es sich bei der Truppe in ihrem Gefolge tatsächlich um die Deutschen handelt. Während die Franzosen etwa typisch elegant in Flanell von Lacoste einliefen und die Italiener stilecht Armani trugen, steckten die Deutschen – in Himmelblau, Zitronengelb, Kanariengrün. Nur die Fahne und ein dezenter Streifen auf der Mütze verrieten die wahren Wurzeln. Der Mantel Sollen Türkis, Grün, Gelb Signalfarben sein? Im gefährlichen Sotschi? Foto Witters Die Hose Wofür der Rosendruck steht, ist eigentlich egal. Die Leute werden eh lachen.