Guten - Koblenz

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Guten - Koblenz
Grundbegriffe der Ethik im
historisch‐systematischen
Zusammenhang
Matthias Jung
Universität Koblenz‐Landau
Sommersemester 2011
1
Grundbegriffe der Ethik :
Einführung
‐ Überblick über die gesamte Vorlesung
‐ Literaturhinweise
‐ Quellentexte
‐ Weiterführende Literatur
‐ Einführung: Was ist Moralphilosophie und was
kann sie leisten?
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Grundbegriffe der Ethik: Übersicht
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Einführung
Grundbegriffe
Sokrates und die Frage, wie zu leben sei
Î „Justice“, Episode 1: The Moral Side of Murder/The Case for Cannibalism
Platons Theorie des Guten
Tugendhaftes Handeln: Aristoteles
Hellenistische Glücksethik: Epikur und die Stoa
Der Utilitarismus: Bentham und John Stuart Mill
Kant I: Pflichtethik und Kategorischer Imperativ
Kant II: Ethik, Politik und Pädagogik
Î „Justice“ Episode 5: Hired Guns/For Sale: Motherhood
Moralbegründung im Ausgang vom Gefühl: Hume‐Schopenhauer‐Nussbaum
Nietzsches Moralkritik
Moral und Demokratie: Deweys pragmatistischer Ansatz
Die Diskursethik von Habermas und Apel
Î „Justice“, Episode 7: A Lesson in Lying/A Deal is a Deal
Theorie der Gerechtigkeit: Rawls und die kommunitaristische Kritik
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Quellentexte
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Platon, Politeia, 427d‐506b, in: Ethik Texte, hrsg. von Peter Welsen, Freiburg/München 1999.
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094a‐1178a, in: Ethik Texte, hrsg. von Peter Welsen, Freiburg/München 1999.
Epikur, Brief an Menoikeus, in: Malte Hossenfelder (Hrsg.), Antike Glückslehren, Stuttgart 1996.
Stoa: Fragmente über Affekte, Tugend und Handeln, in: Malte Hossenfelder (Hrsg.), Antike Glückslehren, Stuttgart
1996, S. 77‐86, 102‐126.
David Hume, Auszüge aus dem „Traktat über die menschliche Natur“,in: Ethik Texte, hrsg. von Peter Welsen,
Freiburg/München 1999, 93‐110.
John Stuart Mill, Auszüge aus „Der Utilitarismus“, in: Ethik Texte, hrsg. von Peter Welsen, Freiburg/München 1999,
137‐151.
Kant I, Auszüge aus der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Ethik Texte, hrsg. von Peter Welsen,
Freiburg/München 1999, 111‐126.
Kant II, Auszüge aus der Pädagogik‐Vorlesung (A 118‐A 146), in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie,
Politik und Pädagogik 2 (Werkausgabe Bd. XII, hrsg. von W. Weischedel), Frankfurt/Main 1968, 749‐761.
Arthur Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral, Auszug in: Ethik Texte, hrsg. von Peter Welsen,
Freiburg/München 1999, 127‐136.
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung, Abschnitt 10‐17, in: Kritische Studienausgabe
(Colli‐Montinari) Bd. 5, München 1988, 270‐289.
John Dewey, Neugestaltung der Moralbegriffe, in: Die Erneuerung der Philosophie, Hamburg o.J. (Junius‐Vlg.), 205‐
229.
Zur Diskursethik: Lutz Wingert, Gemeinsinn und Moral, Frankfurt/Main 1993, S. 264‐281.
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 1979, 19‐39.
Otfried Höffe, Medizin ohne Ethik?, Kap. 6: Allmacht oder Sterbenlernen: Medizinische Technik zwischen Descartes
und Sokrates, Frankfurt/Main 2002, 119‐142.
4
Einführungsliteratur
• Konrad Ott, Moralbegründungen zur
Einführung, Hamburg 2001 (gute
systematische Einführung)
• H. Hastedt, E. Martens (Hg.), Ethik ‐ Ein
Grundkurs, Hamburg 1994
• Ethik‐Texte, hg. v. Peter Welsen, Freiburg
1999
• Celikates/Gosepath, Philosophie der Moral,
Texte von der Antike bis zur Gegenwart,
Frankfurt/Main 2009 (beste Textsammlung)
5
6
Einführung
• Warum brauchen wir Moralphilosophie?
ƒ Allgemein: Wir können den Fragen „Was sollen wir tun?“ und
„Wie sollen wir leben?“ nicht ausweichen
• Leben als Handeln, Handeln als begründete Wahl zwischen
Möglichkeiten
• Bei jeder Wahl im Spiel: die Frage „was ist gut?“
• Antwortmöglichkeiten: Tradition, Autorität, Selberdenken
• Moralische Dilemmata als Konstante der menschlichen Situation: das
Beispiel der Bankierssohn‐Entführung
ƒ Speziell in der modernen Welt: weltanschaulicher
Pluralismus und technologiegetriebene Wirtschaft
• Koexistenz verschiedener Religionen und Weltanschauungen
in einer globalisierten Welt:
ƒ Beispiel 1: verschiedenen religiöse Vorstellungen über die
gesellschaftlichen Rollen von Mann und Frau
ƒ Beispiel 2: Moralische Verantwortbarkeit von Atomenergie
7
Einführung
• Anthropologische Grundlagen der Moral: Mensch
als verkörpertes Vernunftwesen
• Seelische und körperliche Verletzbarkeit
• Zusammengehörigkeit mit allen Lebewesen, deshalb die
Frage nach Tierethik wichtig
• Fähigkeit, durch Bewusstsein und Sprache das Hier und Jetzt
zu überschreiten und sich Möglichkeiten auszumalen
(Denken als Probehandeln)
• Fähigkeit zur Empathie
• Fähigkeit, sich frei an dem zu orientieren, was als
überzeugend empfunden wird (Gegenbeispiel: Triebtäter)
• Fähigkeit zur Universalisierung
• „Agency“ (Handlungskompetenz)
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Wichtige Unterscheidungen:
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Ethik vs.Moral
Gut vs. Richtig
deskriptiv vs. normativ
Werte vs. Normen
Personsein/Menschsein
First order/second order: desired/desirable
Bedingte Freiheit/absolute Freiheit
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Ethik vs. Moral I
10
Ethik vs. Moral II (Habermas etc.)
11
Gut vs. Richtig
12
Deskriptiv vs. normativ
Deskriptiv
Normativ
Sätze, die ohne zu werten, etwas
konstatieren
Sätze, die eine Bewertung enthalten
„Sonja erzählt der Lehrerin, dass Louise
mit ihrem Nachbarn gesprochen hat“
„Sonja hat gepetzt“
„Der Angeklagte näherte sich Herrn
Müller von hinten und schlug mit einem
schweren Gegenstand auf ihn ein.“
„Der Angeklagte hat Herrn Müller
hinterrücks ermordet.“
13
Der naturalistische Fehlschluss vom
Sein auf das Sollen (Humescher
Fehlschluss)
• Schlüsse von rein deskriptiven auf normative
Aussagen sind ungültig:
• Deskriptive Aussage:
– „Millionen Männer haben Frauen von qualifizierten
Berufen ferngehalten, weil sie die folgende normative
Aussage für wahr hielten: ‚Frauen sollten sich um
Kinder und Haushalt kümmern, weil dies ihrem Wesen
entspricht“
• Daraus folgt nicht die Wahrheit der
entsprechenden normativen Aussage
14
Werte und Normen
15
Menschen und Personen
16
First/Second Order
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Wichtige Grundbegriffe
• Autonomie als Leitvorstellung: „Agency“
• Normen: konventionelle, moralische, rechtliche
• Der Zusammenhang von Freiheit, Verantwortung und
Schuldfähigkeit
• Grundtypen der Ethik:
– Deontologisch: Pflicht
– Teleologisch: Konsequenz
– Tugendethik: Haltung/Charakter
• Menschenrechte
18
Einführung
• Die gesellschaftliche Funktion philosophischer
Ethik
– Pluralismus der Wertordnungen als Hintergrund
– Normative Dimension von Politik und Recht
– Verhältnis zur religiös begründeten Moral
– Der Boom der angewandten Ethik
19
Einführung
• Hauptebenen moralphilosophischer Reflexion
– Deskriptive Ethik
– Metaethik
– Normative Ethik
– Angewandte Ethik (applied ethics)
– Problem: top‐down‐Modell
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Dimensionen der Ethik, nach Konrad Ott, Moralbegründungen
zur Einführung, Hamburg 2001, 27, mit Veränderungen von
mir
1. Deskriptive Ethik
a.) Entstehung und Sinn der Moral (evolutionäre Ethik, Anthropologie)
b.) Moralhistorie und ‐ soziologie, Moralethnologie
c.) Motivationspsychologie
d.) Moralentwicklung und Theorie der Moderne
2. Metaethik (Bedeutungstheorie der Moralsprache)
3. Normative Ethiktheorien
a.) Moralprinzipien (z.B. Kategorischer Imperativ)
b.)Grundnormen (positive und negative Pflichten)
c.) Menschen‐ und Bürgerrechte
d.) Reichweite der „moral community“
21
Einführung
4. Angewandte Ethik (Umwelt, Wirtschaft, Medizin, Medien etc.)
a.) Praxisnormen (Grundsätze „mittlerer Reichweite“)
b.) Argumentationsräume („Bereichstopologien“)
5. Fragen anwendungsorientierter Ethik
a.) Verantwortungszuschreibungen
b.) Risikobeurteilungen
c.) Abwägungskonzepte
d.) Werte‐ und Normenkonflikte
6. Konzeptionen des guten Lebens (Eudämonistische Ethik)
22
Platons Theorie des Guten
• Das Übliche und das
Richtige
• Die Figur des Sokrates
• Die Ideenlehre
• Der gute Staat und der
gute Mensch
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Das Übliche und das Richtige
• Homer (8.Jh.): Handeln
als Inszenierung der
Götter
• Soziale Anerkennung als
Moral
• Xenophanes (6.Jh.):
Kritik am
Anthropomorphismus
• Wider den Athletenkult
• Vom Mythos zum Logos
• Soziale Geltung vs.
gerechtfertigte Geltung
• Die Polis als Lebensform
und ihre Auflösung
24
Die Figur des Sokrates
• Lebensdaten: 470‐399
• Öffentliches Auftreten in
Athen als Führer von
Gesprächen
• Die Frage, „wie zu leben
sei“
• Prinzip des Dialogs
• Rolle der Sophistik
• Kein „Werk“, Quellenlage:
Platons frühe Dialoge
25
Die Figur des Sokrates
• Quellen:
–
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–
–
„Charmides“: Besonnenheit
„Protagoras“: politische Tüchtigkeit
„Thrasymachos“: Gerechtigkeit
„Laches“: Tapferkeit
• Prinzip des Dialogs:
–
–
–
–
–
Das ungeprüfte Leben ist nicht wert, gelebt zu werden
Das Wissen des Nichtwissens
Die sokratische Ironie
Die „was“‐Frage: Beispiel „Laches“
Tugend als Wissen
26
Die Figur des Sokrates
– Glück als tugendhaftes Handeln
– Gadamer: Welcher Tennisclub ist der beste?
• Der Prozeß:
– Verführung der Jugend
– Gotteslästerung (Asebie)
• Platons „Apologie“ und der „Phaidon“: Die
Rechtfertigung des Gerechten
27
Platons Leben
• Lebensdaten: 427‐347 v. Chr.
• Schüler des Sokrates: Schock des Todes und
die Suche nach Gewißheit
• Ca. 387 Gründung der Akademie
• Vergebliche Versuche in der Politik (Dionysius
I u. II auf Sizilien)
• Etwa 30 Dialoge, in denen fast immer Sokrates
auftritt
28
Die Ideenlehre
• Das Höhlengleichnis (Politeia, 7. Buch)
–
–
–
–
–
–
Die Höhle und die Schatten
Der Aufstieg
Die Gewöhnung ans Licht
Die Letztbegründung
Die Rückkehr
Der Hohn der Höhlenbewohner
• Idee und Erscheinung: das unsichtbare Wirkliche
• Die Idee des Wahren, Schönen und Guten
29
Gerechtigkeit in
Seele und Staat
Platons „Elitismus“
Die Analogie von Mikro‐ und Makrokosmos
Kosmos‐Staat‐Individuum
Gerechtigkeit nicht als Gleichheit, sondern als
Ordnung der Teile eines Ganzen
• Unsere Textauswahl: aus Platons „Staat“ (Politeia),
Thema: Tugenden, oberste Tugend: Gerechtigkeit
• Die vier Kardinaltugenden (Schaubild)
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Schema Kardinaltugenden
31
Aristoteles und die Lehre vom
tugendhaften Handeln
• Leben und Werk
• Was ist menschliches Handeln?
• Das gute Leben und das oberste Gut (Kritik an
Platons Theorie des Guten)
• Was sind Tugenden?
• Die Mesotes‐Lehre (Lehre vom richtigen Maß)
• Gerechtigkeit als zentrale Tugend
• Klugheit und Erfahrung: die Phronesis
• Die höchste Lebensform
• Eine Theorie des objektiven Glücks
32
Aristoteles: 384‐322 v. Chr.
33
Lebensdaten, Hintergrund
20 Jahre lang Mitglied der platonischen Akademie
342 Erzieher Alexanders des Großen
335 Gründung einer Schule: Peripatos
Hintergrund: Zerfall der Polis
Suche nach dem Begrifflich‐Universalen nicht über
(Platon), sondern in der konkreten Wirklichkeit
• Zentraler Text: Die Nikomachische Ethik
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•
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Was ist menschliches Handeln?
• Zur Methode des Aristoteles
– Ausgang von den tatsächlichen moralischen
Überzeugungen seiner Gesellschaft
– Systematisierung und Kritik: was bewährt sich?
– Abschied von der absoluten Gewißheit: EN 1094 b 23‐28
• Die Struktur des Handelns: EN 1094a, ff.
– Verfolgung von Gütern (Zielen)
– Das Gute als dasjenige, wonach alles strebt
– Zwei Arten von Zielen:
• Herstellen (poiesis), das auf ein Werk zielt (ergon) zielt
• Handeln (praxis), das seinen Zweck in sich selbst trägt
35
Was ist menschliches Handeln?
• Die Struktur des Handelns
– Vielzahl der Handlungsziele
– Hierarchie unter ihnen
– Höchstes Ziel des Handelns: Eudaimonia
(Standardübersetzung: „Glückseligkeit“, besser: das gute
Leben)
– Die drei Lebensformen, in denen das Gute realisiert
werden soll:
• Leben der Lust (Hedonismus)
• Öffentliches Leben im Dienst der Polis
• Philosophische oder betrachtende Lebensform
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Das gute Leben und das oberste
Gut
• Fragestellung: was macht eine Sache „gut“
• Grundgedanke: Realisierung des gattungsspezifi‐
schen Könnens
• Suche nach dem Guten „für uns“, nicht „an sich“
• Platonkritik: Nutzlosigkeit einer theoretischen
Erkenntnis des Guten
• Differenz zwischen „know how“ und „knowing that“.
• Rolle der äußeren Glücksgüter: EN 1099b
37
Was sind Tugenden?
• Im Blickpunkt: nicht die einzelne Handlung, sondern
die feste Grundhaltung (hexis)
• Tugenden als bewußt kultivierte Handlungs‐
dispositionen
• Dianoetische (Verstandes‐) und ethische Tugen‐den:
Erlernen vs. Praktizieren
• Zentral: Regelung der Affekte: Angemessenheit und
Unangemessenheit
• Affekte moralisch neutral; erst durch reflektie‐rende
Bewertung und Entscheidung moralisch qualifiziert
38
Die Lehre von der Mitte (Mesotes)
• Mitte nicht Mittelmäßigkeit, sondern Höchstform
eines Könnens
• Vermeidung des Zuviel und des Zuwenig
• Ausnahmen: in sich schlechte Handlungen:
Schadenfreude, Mord
• Nicht rechnerische, sondern persönliche Mitte:
Ermittlung durch Einbeziehung des gegenteiligen
Schlechten
• Beispiel: Umgang mit Geld (zwei relative Mitten!)
39
Mesoteslehre: Beispiele
Verfehlung der
Mitte durch ein
Zuviel
Tugend der
Mitte
Tollkühnheit
Mut
Verfehlung der
Mitte durch ein
Zuwenig
Feigheit
Stumpfsinn
Mäßigkeit
Zuchtlosigkeit
Verschwendung <Freigebigkeit
Sparsamkeit>
Geiz
Schmeichelei
Streitsucht
Freundlichkeit
40
Die zentrale Tugend: Gerechtigkeit
• Zentrale Rolle: die anderen Tugenden (Tapferkeit,
Besonnenheit, Großherzigkeit etc.) sind persönliche
Exzellenzformen, die Gerechtigkeit aber ist innerlich
sozial
• Gerecht ist, wer an sozialen Gütern (Geld,
Anerkennung etc.) nicht mehr und nicht weniger
fordert, als ihm zusteht
• Das Zustehende als das Angemessene: nicht
arithmetische Gleichheit, sondern: jeder nach
seinem Verdienst bzw. seinen Fähigkeiten
• Proportionalitätsanalogie: A:B⇔C:D
41
Klugheit und Erfahrung: die
Phronesis
• Klugheit, bezogen auf das menschliche Gute:
praktische Vernunft
• ≠ Weisheit: Thales von Milet!
• Für die Praxis ist die Kenntnis des Einzelnen
entscheidend:
– Das Geflügelfleisch und die Mittelmeerdiät
• Klugheit als in der Zeit reifende Frucht des
Nachdenkens über Erfahrung: die Jugend kann
nicht klug sein: EN 1142a ff.
42
Die Rangordnung der
Lebensformen
• Eudaimonia als Tätigkeit gemäß dem
eigentümlichen Vermögen des Menschen
• Vorrang der betrachtenden (philosophischen)
Lebensform:
– Sie ist die wertmäßig Höchste
– Sie bietet die reinsten Genüsse
– Sie ist maximal autark
– Sie entspricht dem Göttlichen im Menschen
43
Eine objektive Glückstheorie
• In der Gegenwart: Dominanz der subjektiven
Befindlichkeit: glücklich ist, wer sich glücklich
fühlt (WYSIWYG‐Prinzip)
• Bei Aristoteles: objektive Glücksbedin‐gungen:
Zusammenspiel von wesensge‐mäßem
Handeln und äußeren Glücksgütern
44
Die hellenistischen Glückslehren
Im Blickpunkt: das Individuum
45
Hellenistische Glückslehren
• Sozialethik tritt in den Hintergrund: instabile soziale
Verhältnisse
• Privatisierung des Glücks
• Glück als Unabhängigkeit und Selbstgenüg‐samkeit
• Glück als Bewußtseinszustand, der auf die Erreichung
aller selbstgesetzten Zwecke folgt
• Affektkontrolle zentral: Ataraxie (Epikur) bzw.
Apathie (Stoa) als Autarkie
46
Hellenistische Glückslehren
• Prinzip der Zweckökonomie:
ƒ „Damit wir können, was wir wollen, müssen
wir wollen, was wir können“
• Oberste Glücksregel :“Entwickle nur solche
Bedürfnisse, die du jederzeit befriedigen
kannst, setze dir nur solche Zwecke, deren
Verwirklichung außer Zweifel steht“.
• Indifferentismus in Bezug auf alles andere
• Drei Hauptschulen: Epikur, Stoa und Skepsis
(Pyrrho)
47
Das Glück der Gefühllosigkeit:
Die Stoa
• Gründung der Schule
um 300 v. Chr. durch
Zenon von Kition
• Schule in einer
Säulenhalle, daher
„Stoa“
• Radikalismus der
Bedürfnislosigkeit
48
Die wichtigsten Stoiker
• Bestehen der Schule über fünf Jahrhunderte
• Wichtige Vertreter:
– Zenon
– Chrysipp
– Panaitios
– Seneca
– Epiktet
– Marc Aurel
49
Grundprinzipien
• Das höchste Gut:
– „Einstimmig leben“: Übereinstimmung von Wollen
und Können
– Vernünftige Einsicht als nicht nur notwendige,
sondern hinreichende Bedingung der Glück‐
seligkeit
• Die Handlungstheorie:
50
Die Struktur der Handlung
Vorstellung (Sahnetorte)
Trieb (Appetit und/oder Hunger)
Zustimmung (das gönn ich mir/
„hier sag ich nein“)
Handlung (Verzehr/Verzicht)
51
Grundprinzipien
• Die Affekte:
– Affekt als „übersteigerter Trieb“
– Ursache: falsche Zustimmung der Vernunft aufgrund eines
falschen Werturteils (Kognitivismus)
– Ziel: völlige Ausrottung der Affekte
• Tugendlehre:
– Tugenden nicht an sich, sondern instrumentell nützlich
– Tugend als „aufrechte Vernunft“, als Vernunft, die nichts
Unverfügbares als ein Gut beurteilt
– Inhaltlich Übernahme der platonischen Tugenden:
Tapferkeit, Besonnenheit, Weisheit, Gerechtigkeit
52
Grundprinzipien
• Güter, Übel und „Adiaphora“
– Tugend als einziges Gut, Laster als einziges Übel,
alles übrige ist gleichgültig (adiaphoron)
– Das Gleichgültige als alles,was aus dem Bereich
des durch Handeln sicher Erreichbaren
herausfällt, z.B. Lust
– Triebe sind Adiaphora, der Weise läßt sie
geschehen, denn ohne Einwirkung der Vernunft
steigern sie sich niemals zum Affekt
53
Grundprinzipien
• „naturgemäß leben“ (Kleanthes)
• Kein Wille zur Veränderung der Realität; innere
Einstellung entscheidend
• Radikale Entwertung der objektiven und intersub‐
jektiven Realität gegenüber dem Bewußtsein:
– Epiktet: „Nicht die Dinge beunruhigen die Menschen,
sondern die Meinungen über die Dinge“
• Das Ideal des stoischen Weisen
54
Epikur und der Hedonismus
• Epikuros: 341‐270
• Gründung einer Schule
um 310: der „Garten“
• Straffe Lehrorganisation,
Auswendiglernen der
Kernsätze
• Mischung aus Philosoph,
Therapeut und „Guru“
• Desinteresse an „Bildung“
• „Hedonismus“; Vorwurf:
„Schweinephilosophie“
• Lehrbriefe: Brief an
Menoikeus
55
Die soziale Maximierung des Glücks:
der Utilitarismus
• Weiterführung der hellenistischen Glücksethik im
Blick auf die Gesellschaft
• Hauptautoren:
– Jeremy Bentham (1748‐1832)
– John Stuart Mill (1806‐1873)
– In der Gegenwart:
• Dieter Birnbacher, Peter Singer
• Bedeutendster Gegenentwurf zum Kantianismus
(Prinzipienethik): Konsequentialismus
• Klassischer Haupttext: Der Utilitarismus (1861)
56
Bentham, Mill, Singer
57
Die Grundidee utilitaristischer Ethiken
• Folgenorientierung (erwartbare oder
tatsächliche Folgen einer Handlung)
• Kurzformel:
– „Das größtmögliche Glück der größtmöglichen
Zahl über den größtmöglichen Zeitraum“
• Teleologische Ethik: Nützlichkeit für das
Erreichen „guter Ziele“ entscheidend
58
Theoriekern: fünf Hauptkomponenten
•
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•
•
Konsequentialismus
Hedonistische Wertbasis
Gleichheitsgrundsatz (Egalitarismus)
Maximierungsstruktur
Kalkülisierungsideal
(Nutzensummenberechnung)
59
Die anthropologische Grundthese
• Deskriptiver Teil:
– Alle Menschen streben von Natur nach der Vermeidung
von Schmerz und dem Gewinn von Lust (Zit. Bentham)
• Normativer Teil:
– Das moralisch Richtige besteht in der Maximierung der
Differenz zwischen Lust und Leid
• Nutzenprinzip:
– Definition des Moralischen über seine Nützlichkeit zur
Realisierung des außermoralisch Guten
60
Die hedonistische Wertbasis
• Nutzen als Summe von Glückszuständen
• Glück als positiv (lustvoll) getönte mentale
Zustände (WYSIWYG‐Prinzip): pleasure,
happiness, lust, joy etc.
• Solche Zustände sind intrinsisch gut, negative
intrinsisch schlecht
• Zentrale Rolle der individuellen Präferenzen
• Gewichtung der Präferenzen nur nach ihrer
Intensität/Stärke
61
Die hedonistische Wertbasis
• Bei Mill Übergang vom quantitativen zum
qualitativen Utilitarismus:
Wertunterschiede zwischen Lustformen
Sinnliche und geistige Lüste
Geistige Lust höherwertig
Begründung: Urteil der Kenner→ gebildete vs.
naturwüchsige Präferenzstrukturen
– Anthropologische Annahme: wer beides kennt, zieht
immer die höhere Lust vor
–
–
–
–
62
Der Egalitarismus
• Die Glückszustände jedes Individuums zählen gleich;
Mill: „Equal claim of everbody to happiness“
• In der radikalen Versionen: alle Glückszustände
(Lustquanten) zählen gleich
• Idee des „benevolent spectator“: wie würde ein
wohlwollender, unparteischer Beobachter urteilen?
• Verrechenbarkeit des Nutzens für ein Individuum
bzw. eine soziale Gruppe mit dem Gesamtnutzen
• Zentralität des Gesamtnutzens
63
Die Maximierungsstruktur
• Entscheidend ist die Erhöhung der Gesamtsumme
der Differenz zwischen Freud und Leid
• Kein absoluter Wert des Individuums; diese als
verrechenbare Posten in der Bilanz
• Einschluß aller empfindungsfähigen Wesen in die
„moral community“
• Pathozentrik; Bentham: „The question is not: can
they reason, but: Can they suffer?“
• Gleichstellung der Zukunft mit der Gegenwart:
Zukunftsverantwortung in die Theorie eingebaut
64
Der entscheidende Punkt:
Die Kalkülisierung
• Maximum der Nutzensumme entscheidend
• Prinzip der einfachen Aggregation (es gibt keine
intrinsisch schlechten Handlungen, entscheidend ist
ihr Effekt für den sozialen Nutzen)
• Idee eines formalisierten Berechnungsverfahrens:
der utilitaristische Kalkül
– Bentham: „Sum up all the values of the pleasures on the
one side and those of all the pains on the other“
• Plausibilität des Gedankens bei Übertragung auf die
Wohlfahrtsökonomie: Sozialreformerischer Impuls ‐
Geld als Quantifizierungsvariable
65
Probleme des Utilitarismus
• Problem: wie können Lusteinheiten quantifiziert
werden? Nur technische Schwierigkeit oder
prinzipielle Unmöglichkeit?
• Differenzierungsversuch: Übergang vom
Aktutilitarismus zum Regelutilitarismus
– AU: Nützlichkeitskriterium auf Einzelhandlungen bezogen
– RU: solche Regeln sind zu befolgen, deren Befolgung auf
Dauer den Gesamtnutzen maximiert
66
Probleme des Utilitarismus
• Kontraintuitiver Charakter:
– Keine absoluten Verbote (Rechtfertigung von Tötungen
etc., wenn Nutzensumme steigt)
– Beispiel Organspende
– Singer: Menschsein ≠ Personsein
– Nutzenmaximierung zwingt zu radikalem Verzicht auf die
Verfolgung von Eigeninteressen
• Unvereinbarkeit mit normativ strukturierten
Institutionen: Beispiel Sport ‐ Korrektur von
Schiedsrichterentscheidungen bei entsprechender
Lustbilanz?
• Unvereinbarkeit mit der Idee der Menschenrechte
67
„Das moralische Gesetz in mir“
Die Pflichtethik Immanuel Kants
68
Übersicht Kant
Lebensdaten, Kontext
Quellen
Glückseligkeit und Glückswürdigkeit
Grundcharaktere: Rationalismus, Formalismus,
deontologischer Charakter, Universalismus,
Apriorismus
• Praktische Regeln und die Idee eines kategorischen
Imperativs
• Das einzig Gute: der gute Wille
•
•
•
•
69
Übersicht Kant
• Der KI als Metaregel: Vernunft prüft den Verstand
• Der Universalismus und die weiteren Formulie‐
rungen des KI
– Naturgesetzformel
– Selbstzweckformel und die Idee der Menschenwürde
• Pflicht und Neigung: Freiheit und Notwendigkeit
• Vom Apriorismus zur sozialen Praxis:
– Geschichtsphilosophie
– Pädagogik
– Kants Ethik auf dem Prüfstand
70
Immanuel Kant, 1724‐1804
• Stilles Leben in
Königsberg
• Vollendung der deutschen
Aufklärung: „Mündigkeit“
• Verfasser der drei Kritiken
– Kritik der reinen Vernunft
– Kritik der praktischen
Vernunft
– Kritik der Urteilskraft
• Bedeutendster deutscher
Philosoph, heute weltweit
wichtiger Bezugspunkt
aller philosoph. Debatten
71
Quellen, Studienhilfen
• Quellentexte zur Moralphilosophie
– Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: Ermittlung des
obersten Prinzips der Moral
– Kritik der praktischen Vernunft: Vorausset‐zungen und
Konsequenzen dieses Prinzips
– Metaphysik der Sitten: Konkretisierung und
Rechtstheorie
– Geschichtsphilosophische Schriften: Einbettung der
Moral in die Menschheitsentwicklung
– Pädagogik‐Vorlesung: „Gründung eines moralischen
Charakters“
• Hilfreiche Texte:
– Ralf Ludwig, Kant für Anfänger: Der kategorische
Imperativ, DTV
– Schulbuch „Projekt Leben“, Kantkapitel, 244‐255.
72
Glück und Moral
• Bis jetzt behandelte Ethiken: „Glücksethiken“
• Kant: Ethik der „Glückswürdigkeit“
• Grundgedanke: nur wer so handelt, daß alle glücklich
sein könnten, wenn alle so handeln würden wie er, ist
würdig, glücklich zu sein
• Glück als unser natürliches, Pflicht als unser
moralisches Handlungsmotiv
• Unabhängigkeit der Moralgeltung von Gott, aber:
Gott als Instanz der (jenseitigen) Verbindung von
Glückswürdigkeit und Glückseligkeit
73
Begriffliche Grundstruktur I
• Rationalismus
– Prinzip der Normbegründung und der Handlungsprüfung
ist die Vernunft
– Gefühle sind in der Moralbegründung irrelevant
• Formalismus
– Die Ethik gibt keine Inhalte, sondern nur ein formales
Prüfungsverfahren vor
– Sie will unsere Alltagsintuitionen formalisieren und besser
begründen
• Deontologisch‐kategorischer Charakter
– Sie zielt auf unbedingte Sollens‐ bzw. Verbotssätze
74
Begriffliche Grundstruktur II
• Universalismus
– Die Grundidee besteht in der Verallgemeinerbarkeit als
Moralkriterium: Einbeziehung aller (Betroffenen)
– Nähe und Differenz zur goldenen Regel:
Verallgemeinerung des eigenen Standpunktes vs.
Standpunkt „einer von allen“ (Kant: „die Menschheit in
meiner Person“)
• Apriorismus
– Kant abstrahiert von aller Erfahrung: nicht was tatsächlich
gilt, sondern was gelten soll, ist gefragt
75
Praktische Regeln und die Idee eines
kategorischen Imperativs
• Ausgangspunkt: regelgeleitetes Handeln nach
Maximen
• Drei verschiedene Arten von Gebotsformeln
(Imperativen)
– 1. Regeln der Geschicklichkeit: wenn Du Zweck a erreichen
willst, gebrauche Mittel b: hypothetisch
– 2. Ratschläge der Klugheit: wer ein gutes Leben haben will,
sollte a tun: hypothetisch (weil auf private Entwürfe des
guten Lebens bezogen)
– 3. Gesetze der Sittlichkeit: Geltung unabhängig von der
Existenz gesetzter Zwecke: kategorisch (z.B.„Du sollst nicht
lügen“) ⇒ Geltungsbegründung (nicht inhaltliche
Ableitung!) durch die Metaregel des KI
76
Der gute Wille I
„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt
auch außer derselben zu denken möglich, was
ohne Einschränkung für gut könnte gehalten
werden, als allein ein guter Wille. (...) Der gute
Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder
ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu
Erreichung irgend eines vorausgesetzten
Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d.i.
an sich, gut. (...)
77
Der gute Wille II
„Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des
Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer
stiefmütterlichen Natur, es diesem Willen gänzlich
an Vermögen fehlete, seine Absichten
durchzusetzen, ... und nur der gute Wille (freilich
nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die
Aufbietung aller Mittel, sofern sie in unserer Gewalt
sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für
sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert
in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder
Fruchtlosigkeit kann diesem Werte weder etwas
zusetzen, noch abnehmen.“ (Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten, BA 1‐3)
78
Der KI als Metaregel
• Der Verstand bildet Maximen: z.B. „ich soll
geliehenes Geld immer zurückgeben“
• Die Vernunft als das Vermögen der Reflexion bzw.
der Bildung sog. „regulativer Ideen“ prüft mithilfe
der Metaregel des KI den moralischen Gehalt der
Maxime
• Die Urteilskraft befindet darüber, ob eine gege‐bene
Situation unter die fragliche Maxime fällt oder nicht
79
Die Formeln des KI
Drei Hauptformeln (in der Grundlegung...)
•
I.
II.
III.
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die [d.h.
von der] du zugleich wollen kannst, daß sie ein
allgemeines Gesetz werde.“
„Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch
deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden
sollte.“
„Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner
Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit
zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“
80
Pflicht und Neigung
• Moralisch handeln als Handeln aus Pflicht, nicht bloß
als pflichtgemäßes Handeln
• Ausklammerung der Gefühle, persönlicher (Vor‐
)lieben etc. als „Neigung“ (unser empirisches
Wollensprofil)
• Freiheit als Handeln aus Einsicht, Unfreiheit als
Gesteuertwerden durch die persönlichen Neigungen
(empirischer vs. intelligibler Charakter)
• Mensch als „Bürger zweier Welten“
81
Vom Apriorismus zur sozialen
Praxis
• Geschichtsphilosophie
– Hintergrund: Idee der Aufklärung: „Ausgang aus der selbstver‐
schuldeten Unmündigkeit“ durch den „Mut, sich seines eigenen
Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen“
– Zentraler Text: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht
• „Wir sind im hohen Grad durch Kunst und Wissenschaft kultiviert.
Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen, zu allerlei
gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns schon für
moralisiert zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der
Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber,
welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der
äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung
aus. ... Alles Gute aber, das nicht auf moralisch‐gute Gesinnung
gepropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend.“
82
Geschichte und Moral
• Prinzip der Entfaltung all unserer Anlagen
• Entwicklung unserer Naturanlagen nur in
der Gattung, nicht im Individuum möglich
• Die ungesellige Geselligkeit und
Schopenhauers
„Stachelschweingleichnis“
83
Vom Apriorismus zur sozialen
Praxis
• „Zum ewigen Frieden“ (1795)
– Zentrale Bedeutung für Idee der Menschenrechte, Stellung
der Vereinten Nationen
– Spannung zwischen Moral und Politik: auch ein „Volk von
Teufeln“ könnte einen Staat gründen
– Regulative Idee einer Unterordnung der Politik unter die
Moral
– Staatsbürgerrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht
– Zentral: republikanische Verfassung (Gewaltenteilung)
84
Vom Apriorismus zur sozialen
Praxis
• Kants Pädagogik; das Ideal der Autonomie und die
Idee einer besseren Welt
• „Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß
sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt,
passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit
ein zukünftiger besserer Zustand dadurch
hervorgebracht werde“
• Vier Schritte des Erziehungsprozesses:
– Disziplinierung‐Kultivierung‐Zivilisierung‐Moralisierung
85
Kant über moralische Erziehung
– Disziplinierung
• Bezähmung der Wildheit
• Der Mensch kann entweder bloß dressiert, abgerichtet,
mechanisch unterwiesen, oder würklich aufgeklärt werden. Man
dressiert Hunde, Pferde, und man kann auch Menschen
dressieren. ... Mit dem Dressieren aber ist es noch nicht
ausgerichtet, sondern es kommt vorzüglich darauf an, daß Kinder
denken lernen“
– Kultivierung
• Verschaffung der Geschicklichkeit: „Besitz eines Vermögens,
welches zu allen beliebigen Zwecken zureichend ist“
(Kulturtechniken, hard und soft skills)
– Zivilisierung
• Erwerb von „Manieren“, Fähigkeit, durch gute
Umgangsformen eigene Ziele zu erreichen
86
Kant über moralische Erziehung
– Moralisierung
• An ihr entscheidet sich das Gelingen des Kulturprozesses: „wir
leben im Zeitpunkte der Disziplinierung, Kultur und Zivilisierung,
aber noch lange nicht in dem Zeitpunkte der Moralisierung“
• „Die erste Bemühung bei der moralischen Erziehung ist, einen
Charakter zu gründen. Der Charakter besteht in der Fertigkeit,
nach Maximen zu handeln.“
• „Die Moralische Kultur muß sich gründen auf Maximen, nicht auf
Disziplin.“
• Es kommt bei der Moralisierung darauf an, daß der Zögling „die
Gesinnung bekomme, daß er nur lauter gute Zwecke erwähle.
Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von
jedermann gebilligt werden; und die auch zur gleichen Zeit
jedermanns Zwecke sein können.“
87
Kants Ethik auf dem Prüfstand
• Schillers Einwand:
– Von persönlicher Neigung kann man nicht
abstrahieren
• Kant und der Motorradunfall
– Was macht den Willen konkret „gut“?
– Operation gelungen, Patient tot?
• Konflikte zwischen Pflichten
– Das Lügenverbot und der Nazi
88
Moralbegründung durch das
Gefühl:
Die Philosophie des „moral sense“;
David Hume; Arthur Schopenhauer;
Martha Nussbaum
89
Grundzüge und Spannweite
gefühlszentrierter Ethiken:
• Allen gemeinsam:
– Zweifel an der Motivationskraft rein rationaler
Überlegungen
– Skepsis in Bezug auf die Reichweite universalistischer
Prinzipien
• Differenzpunkte:
– Positive (Shaftesbury etc.) vs. negative
Hintergrundmetaphysik
– Einschätzung der Beziehung zwischen dem Guten und dem
Richtigen
• Anknüpfungspunkt für feministische Ethiktheorien
(Carol Gilligan, Martha Nussbaum)
90
Das Motivationsproblem der
Vernunftmoral
„Endziel aller moralischen Spekulationen ist, uns unsere Pflicht zu lehren
und durch treffende Schilderungen von der Hässlichkeit des Lasters und
der Schönheit der Tugend entsprechende Gewohnheiten zu erzeugen und
uns zu bestimmen, das eine zu meiden, dem anderen uns zuzuwenden.
Läßt sich das aber jemals von verstandesmäßigen Folgerungen und
Schlüssen erwarten, die von sich aus keinerlei Macht über die Affekte
ausüben, auch nicht die tätigen Kräfte des Menschen in Bewegung
setzen? Sie ermitteln Wahrheiten; wo aber die ermittelten Wahrheiten
farblos sind und weder Verlangen noch Wider‐willen hervorrufen, können
sie auf unser Tun und Verhalten keinerlei Einfluß gewinnen. ...
Unterdrückt man alle warmen Gefühle und alle Voreingenommenheit für
die Tugend ebenso wie allen Abscheu vor dem Laster, macht man die
Menschen vollkommen gleichgültig gegen diese Unterschiede, so hört die
Moral auf, ein praktisches Anliegen zu sein, hat keinerlei Tendenz mehr,
unser Leben und Handeln zu bestimmen.“ (David Hume, Eine
Untersuchung über die Prinzipien der Moral)
91
Die moral sense Philosophy
• Britische Moralphilosophie des 17. und 18.
Jahrhunderts: naturalistische Psychologie im Zeichen
von Sympathie, Wohlwollen (Benevolenz) und
Mitgefühl
• Hauptvertreter:
– Earl of Shaftesbury (1671‐1713)
• Großer Einfluß auf Schiller
• Verschmelzung von Schönheit und Tugend im Zeichen des
Enthusiasmus: Idee der „moral grace“
– Francis Hutcheson (1694‐1746)
– Joseph Butler (1692‐1752)
92
David Hume, 1711‐1776
93
Eine Ethik der Sympathie
• Humes Handlungsmodell
– „Reason is, and ought to be the slave of the passions, and
can never pretend to any other office than to serve and
obey them.“
– „Morals excite passions, and produce or prevent actions.
Reason of itself is utterly impotent in this particular. The
rules of morality, therefore, are not conclusions of our
reason.“
(beide Zitate aus: A Treatise of Human Nature, 1739/40)
• Eigennutz und Sympathie als Gegenpole: Idee einer
Harmonisierung beider
• Ausgang von der Sympathie im Sinne der affektiven
Bezogenheit der Menschen aufeinander
94
Eine Ethik der Sympathie
• Problem: Zufälligkeit und Schwanken affektiver
Zuneigungen
• Humes Strategie: Ausweitung des Affektbegriffs im
Sinne des Ausdrucks ursprünglicher Sozialität
(„fellow‐feeling“)
• Daher Basis fundamentaler gemeinsamer Interessen,
vor allem an der Erhaltung des Staates, die Stabilität
verbürgen
• Ethik als Lehre von den staatserhaltenden Tugenden.
95
Eine Ethik der Sympathie
• Gegenstand moralischer Urteile dement‐
sprechend nicht Einzelhandlungen, sondern
positive (Tugenden) bzw. negative (Laster)
Charakterzüge, d.h. Handlungsdispositionen
• Aufstellung eines Tugendkatalogs (in
Anlehnung an den römischen Autor Cicero)
96
Humes Katalog der Tugenden
97
Schopenhauers Mitleidsethik
• Arthur Schopenhauer,
1788‐1860
• Hauptwerk: Die Welt als
Wille und Vorstellung
• Negativistische Metaphy‐
sik: der ‚Weltkern‘ ist
nicht gut, nicht
vernünftig, sondern ein
blinder Wille
• Ablehnung des Rationa‐
lismus in der Moral
98
Schopenhauers Mitleidsethik
• Schrift Über die Grundlage der Moral
– Idee einer metaphysischen Grundlegung (einer
Gesamtdeutung der Wirklichkeit, die der Moral ihren Platz
und ihr Prinzip zuweist)
– Betonung der negativen emotionalen Erfahrungen:
Leidhaftigkeit des Daseins
– Nähe zu fernöstlichen, insbes. Buddhistischen Motiven
– Frage nach dem moralischen Wert von Handlungen im
Rahmen einer Psychologie der Handlungsmotive
99
Die „Aufstellung der allein ächten
moralischen Triebfeder“ I
• Ausschlaggebend für‘s Handeln sind emotional
gefärbte Motive, nicht Überlegungen
• Das stärkere Motiv setzt sich immer durch
• „Wohl und Wehe“ für einen oder mehrere
Menschen ist der letzte Zweck jeder Handlung
• Handlungen, die auf das „Wohl und Wehe“ des
Handelnden zielen, sind egoistisch
• Zwischen egoistischen und moralischen Handlungen
besteht eine strenge Disjunktion
• Der moralische Wert einer Handlung liegt allein in
ihrer Beziehung auf Andere
100
Die „Aufstellung der allein ächten
moralischen Triebfeder“ II
• Es sind nur drei Grund‐Triebfedern denkbar:
– Egoismus, der das eigene Wohl will
– Bosheit, die das fremde Wehe will
– Mitleid, welches das fremde Wohl will
• Mitleid als einzige Motivation aller Moral: Zitat
Grundlage der Moral, 247f.
• Mitfreude etc. kommt nicht vor; radikaler Gegensatz
zu Shaftesbury
• Kern des Mitleids: die Erfahrung des „das bin ich“
(tat vam asi), das Schwinden der Grenze zum
Anderen
• (252f.): Gerechtigkeit als präventives Mitleid
101
Martha Nussbaum und die
Erziehung der Gefühle
• geb. 1947
• Eine der bekanntesten
amerikanischen
Philosophinnen
• Gemäßigt feministisches
Selbstverständnis
• Neostoische bzw.
neoaristotelische Ethik
• Wichtigste Titel:
– The Therapy of Desire
– Upheavals of Thought. The
Intelligence of Emotions
102
Grundansatz I
• Idee des guten Lebens zentral: Eudämonie
• Wichtig: Unterscheidung zwischen eudämoni‐
stischen und hedonistischen Urteilen. (Moral ist
eudämonistisch!)
• EU‘s beziehen sich auf das, was ein Selbst als
intrinsisch seinen Wertschätzungen zugehörig
empfindet ‐ dies schließt den Selbstwert anderer
ausdrücklich ein
• HU‘s beziehen sich auf andere nur im Maß ihrer
Nützlichkeit für das Selbst
103
Grundansatz II: Gefühle
• Gefühle sind evaluative Urteile über das, was für‘s
Leben wichtig ist (für Individuum/soziale Gruppe)
• Sie beziehen sich auf Personen und Sachverhalte, die
für das Gedeihen des Selbst (sein gelingendes Leben
⇒Eudämonie):
– Sehr wichtig sind
– Aber nicht (vollständig) kontrolliert werden können.
• Weil Gefühle kognitive Elemente aufweisen, können
sie partiell durch Bildung und Überlegung beeinflußt
werden
• Erziehung der Gefühle daher als zentrale
pädagogisch‐moralische Aufgabe
104
Compassion (Mitgefühl) als
moralische Instanz I
• Compassion als „a painful emotion occasioned by the
awareness of another person‘s undeserved
misfortune“
• C is „a conception of human flourishing and the
major predicaments of human life, the best one the
onlooker is able to form“
• Verbindung zum übergreifenden Moralkonzept:
– „Compassion depends upon the judgments about
flourishing the spectator forms; and these will only be as
reliable as is the spectator‘s general moral outlook“
105
Compassion (Mitgefühl) als
moralische Instanz II
• Die philosophische Mitgefühlsdebatte:
– Viele Phil. (z.B. Platon, Seneca, Spinoza, Nietzsche) sehen
Mitgefühl negativ; Hauptvorwurf: es sei herablassend und
verletze die Würde des Bemitleideten
– Nussbaums Position: der Kampf zwischen
Mitgefühlsgegnern und ‐Freunden spiegelt zwei
Anthropologien und politische Visionen:
• Mensch exklusiv als Vernunftwesen, das Würde hat
• Mensch als verletzbares und ungesichertes Wesen, das Würde hat
106
Compassion (Mitgefühl) als
moralische Instanz III
• Zusammenfassung:
– „Compassion is our species‘ way of hooking the good of
others to our fundamentally eudaimonistic (though not
egoistic) structure of our imaginations and our most
intense cares.“
– Compassion bedarf der Einbindung in durchdachte
Theorien über
• a.) die menschlichen Basisgüter,
• b.) Handeln und Schuldhaftigkeit
• c.) über das Ausmaß unserer moralischen Verpflichtungen
– Durch Kunst und Literatur kann und muß Compassion
sensibilisiert werden (ähnlich bei Richard Rorty) (Frage:
Bedeutung der Massenmedien?)
107
Moralkritik im Namen der
Moral?
Friedrich Nietzsches Suche nach
einem Standpunkt
„jenseits von Gut und Böse“
108
Friedrich Nietzsche 1844‐1900
109
Leben, Werk, Wirkung
• Philosoph und Altphilologe, nur für einige Jahre
Professor in Basel
• Seit 1889 geistig umnachtet; Pflege und
„Vermarktung“ durch die rassistische und später
dem NS nahestehende Schwester Elisabeth
Förster‐Nietzsche
• Enorme Wirkung auf alle Bereiche der Kultur:
Religion, Kunst, Musik, Literatur, Philosophie,
Lebensreform
• Radikaler Denker, der Religion und Moral scharf
kritisiert
• Ideengut wurde in extrem verflachter Form von
den Nationalsozialisten aufgenommen
110
Kritik der Religion, Moral und
Metaphysik
• Einfluß Schopenhauers, aber positive Wende von
dessen Willensbegriff
• Idee der „Umwertung aller Werte“
• Psychologie des Verdachts: Suche nach Lügen,
Tarnungen, Ausreden, Illusionen als Geschäft des
Philosophen (Zitat GdM)
• Lt. Nietzsche innerer Zusammenhang zwischen der
abendländischen Moral und dem Gottesbegriff
– „Fällt der Imperator, fallen auch die Imperative“
• Nähe zu Freuds Psychoanalyse und dessen
Religionskritik (vgl. Die Zukunft einer Illusion)
111
Moralkritische Hauptwerke:
• „Jenseits von Gut und Böse“ und v.a.:
• „Zur Genealogie der Moral“
• Literaturtipps:
– Als allererster Einstieg: Projekt Leben, 258/259 u. 364/65
– Nietzsche insgesamt: Wiebrecht Ries, Nietzsche zur
Einführung, Junius‐Verlag
– Gründliche Darstellung: Werner Stegmeier, Nietzsches
„Genealogie der Moral“, Darmstadt 1994
112
Warum Moralkritik?
• Was bedeutet es, nach der Herkunft der Moral zu
fragen?
• Das Verhältnis von Genese und Geltung, oder: die
Rose und der Misthaufen
• Frage nach dem Wert der Moral: hemmt oder fördert
sie das menschliche Gedeihen?
• Antidemokratisches Denken: es kommt nicht auf das
Glück der Vielen, sondern auf das Erreichen der
höchsten Entwicklungshöhe durch einige Wenige (⇒
Übermensch) an
• Letztes Ziel: Bejahung des Lebens, so wie es ist (⇒
Amoralismus, denn in Moral wird das Leben, so wie
es ist, normativ kritisiert!), als ewige Wiederkehr des 113
Gleichen
Zur Genealogie der Moral I
• Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und
Schlecht“
– These: „gut“ hieß ursprünglich „wohlgeraten“ ‐
Selbstbezeichnung der Vornehmen und Mächtigen;
„schlecht“ waren die Geringen und zu kurz Gekomme‐nen
(Herrenmoral); später habe die Ohnmächtigen den Spieß
umgedreht, um sich an den Herren zu rächen
(Sklavenmoral)
– An die Stelle des deskriptiven Gegensatzes von Gut und
Schlecht tritt damit der normative Gegensatz von Gut und
Böse
– Entstehung der universalistischen Moral als raffinier‐tester
Trick der Verlierer: Herrschaft des Geistes des
Ressentiments
114
Zur Genealogie der Moral II
• „Schuld“ und „Schlechtes Gewissen“:
– Nietzsche nimmt ‚evolutionsbiologische‘ Perspektive ein,
fragt nach der Nützlichkeit von Moralvorstellungen
– Entstehung des Schuldbegriffs als Verinnerlichung
materieller „Schulden“ mittels (Recht auf) Grausamkeit
– Der „freie Wille“ als Philosophenerfindung, um Vergeltung
rechtmäßig erscheinen zu lassen
– „schlechtes Gewissen“ als Verinnerlichung des
Schuldgefühls zur Dauerangst vor einem strafenden Gott
– Befreiung von diesen Kategorien (vgl. religiöse Herkunft
Nietzsches) als menschheitlicher Durchbruch (!), statt
dessen: die „große Gesundheit“, das Leben ohne
Ressentiment und Moral
115
Zur Genealogie der Moral III
• Asketische Ideale:
– Verneinung des Daseins im Sinn höherer Ideale als Grund
der Moral
– Typus des „Priesters“ als Vertreter dieser Ideale hoch
ambivalent: Verfeinerung, Sublimierung, Geistigkeit, aber
auch Nihilismus: Verleugnung dieser Welt, Zucht,
schlechtes Gewissen, Sinngebung um den Preis der
Verneinung der Welt
– Bisher einzige Antwort auf die Frage nach dem Lebenssinn
(Zitat GdM 411), daher Notwendigkeit neuer Werte:
„Brüder, bleibt der Erde treu“
116
Nietzsche als „Befreier“ und
pseudoreligiöser Sinnstifter
¾Erfahrung von Moral als Zwang
und Repression
¾Extreme Übersteigerung des
Ideals subjektiver Authentizität
¾ Wahrheitsmoment der
psychologischen Kritik: nicht
überall, wo Moral draufsteht, ist
auch Moral drin
¾ Wirkungsgeschichte: Nietzsches
als Inspirator der LebensreformBewegung
¾ Stilisierung zur Heilands-Gestalt
117
Die moralische Bedeutung der
Demokratie
John Deweys Suche nach einer
pragmatistischen Ethik
118
John Dewey, 1859‐1952
• Mit Charles S. Peirce u.
William James bedeu‐
tendster pragmatistischer
Philosoph
• Zentralbegriff: Erfahrung
• Innere Verbindung von
Philosophie, Pädagogik
und demokratischer
Praxis
• Intersubjektivität und
Werterfahrung
119
Ausschnitt aus der Homepage der
„University of Delaware“, USA:
120
Deweys Frage:
Wie entstehen moralische Werte ?
• Werte: „emotional besetzte Vorstellungen über das
Wünschenswerte; reflexive Standards zur Bewertung
unserer Wünsche“ (Soziologe Hans Joas)
• Werte sind für‘s Handeln zentral, Normen erwachsen
erst aus Werten
• Hintergrundproblem: Gegensatz von Wertrelati‐
vismus und Wertobjektivismus (Willkür vs.
Präexistenz)
• Dewey: Ausgangspunkt Wünsche; sie erwachsen aus
organismischen Interaktionen mit der Umwelt
121
Moralische Werte, II
• Durch den intersubjektiven Austausch werden
Wünsche reflektiert, kritisiert und bewertet
• So entsteht die moralkonstitutive Unterscheidung
zwischen dem, was faktisch „desired“ ist und dem,
was der Handelnde für normativ „desirable“ hält.
• Werte sind weder subjektiv, noch objektiv, sie
entstehen vor dieser Unterscheidung im Austausch
zwischen Menschen und ihrer Umwelt
122
Der pragmatistische Grundansatz:
„Es ist ebenso erstaunlich wie deprimierend zu
sehen, daß die Menschheit so viel Energie auf
den (mit Waffen des Fleisches wie des Geistes
geführten) Kampf um die Wahrheit der religiösen, moralischen und politischen Glaubensbekenntnisse gewendet hat im Unterschied zu
der geringen Anstrengung, Glaubensbekenntnisse einer Überprüfung auszusetzen, indem
man nach ihnen handelt.“
Aus: John Dewey, Die Suche nach Gewißheit
123
Die Neugestaltung der
Moralbegriffe
• Kampf gegen die Vorstellung unveränderlicher
moralischer Ideen, bes. gg. die Idee eines höchsten
Guts
• Weg von Prinzipien, hin zu situationsgerechtem
Handeln:
– „eine moralische Situation ist eine, in der Urteil und Wahl
vor der eigentlichen Handlung gefordert sind“
– „Handeln ist immer spezifisch, konkret, individualisiert,
einzigartig“
– Der Zweck heiligt niemals die Mittel, schon die
Unterscheidung selbst ist fragwürdig
124
Normative Grundidee: Wachstum
• „Nicht Perfektion als ein endgültiges Ziel, sondern
der immer andauernde Prozeß der Vervollkomm‐
nung, der Reifung, der Verfeinerung ist das Ziel des
Lebens, Ehrenhaftigkeit, Fleiß, Besonnenheit,
Gerechtigkeit, wie Gesundheit, Reichtum und
Bildung sind nicht Güter, die man besitzen soll, wie
sie es wären, wenn sie unwandelbare Ziele
ausdrückten, die es zu erreichen gilt. Sie sind
Richtungen der Veränderung in der Qualität der
Erfahrung. Wachstum selbst ist das einzige
moralische ‚Ziel‘.“
125
Meliorismus
• Optimismus und Pessimismus sind der
moralischen Situation gleichermaßen
unangemessen.
• Meliorismus (W. James) ist dagegen „der
Glaube, daß die spezifischen Bedingungen, die
in einem bestimmten Augenblick bestehen,
seien sie vergleichsweise schlecht oder
vergleichsweise gut, in jedem Fall verbessert
werden können.“
126
Ethik und Pädagogik
• Der Erziehungsprozeß fällt mit dem moralisch Prozeß
vollkommen in eins
• „Wachsen oder die kontinuierliche Neugestaltung
der Erfahrung (ist) das einzige Ziel“
• „Erziehung bedeutet, jeweils den Grad und die Art
von Wachstum zu erhalten, die in der Gegenwart
möglich sind. Dies ist eine konstante Funktion,
unabhängig vom Alter.“
127
Ausblick:
Demokratie, Kultur und Moral
• „Regierung, Geschäft, Kunst, Religion, alle sozia‐
len Institutionen haben eine Bedeutung, einen
Zweck: Dieser Zweck besteht darin, die Fähigkei‐
ten der menschlichen Individuen freizusetzen und
zu entwickeln, ohne Rücksicht auf Rasse, Ge‐
schlecht, Klasse oder ökonomischen Status. ...
Demokratie hat viele Bedeutungen, aber wenn sie
eine moralische Bedeutung hat, dann findet sie
sich in der Entscheidung, daß der Prüfstein aller
politischen Institutionen und industriellen Einrich‐
tungen in dem Beitrag besteht, den sie zum all‐
seitigen Wachstum jedes Mitglieds der Gesell‐
schaft beisteuern.“ (John Dewey, Die Erneuerung
128
der Philosophie)
Jürgen Habermas: die moralische
Kraft des Diskurses
• Geb. 1929
• Bekanntester
lebender deutscher
Philosoph
• Hauptwerk 1981:
– Theorie des
kommunikativen
Handelns
• Begründung der Ethik
auf der Basis der
menschlichen Sprache
129
Macht und Grenzen sprachlicher
Verständigung
130
„Präsuppositionsanalyse“
• Anspruch ähnlich Kant: Rekonstruktion der
tatsächlichen normativen Voraussetzungen unseres
Alltagshandelns
• Linguistisch‐intersubjektivitätstheoretische Wende:
nicht Analyse des Bewußtseins einer moralischen
Person, sondern Anknüpfung an den moralischen
Gehalt der Verständigung zwischen Personen
• Fragestellung der PSA: welche moralischen
Verpflichtungen und Rechte müssen Personen
notwendig unterstellen, wenn sie sich auf die
Verständigung durch Argumente einlassen?
131
Das „kommunikative Handeln“
• Gebrauch von Sprache mit der Absicht, andere nicht
zu den eigenen Zwecken bloß zu überreden, sondern
gemeinsam einen ⇒Konsens⇐ zu finden (Einsicht
aller statt Durchsetzung einiger)
• Unterschied Konsens ⇔ Kompromiß
• Wenn Konsens problematisch wird (neue Fragen,
Meinungsverschiedenheiten etc. auftauchen), sollte
das kommunikative Handeln in einen Diskurs
überführt werden
132
Was sind Diskurse?
• Geregelte Argumentationen, in denen strittige
Geltungsansprüche unter den Teilnehmern mit dem
Ziel der Verständigung durch Gründe verhandelt
werden.
• Begründungstheoretischer Prozeduralismus
• Geltungsansprüche lassen sich dreifach
untergliedern:
• Wahrheit (Bezug auf objektive Welt)
• Richtigkeit (Bezug auf intersubjektive Regelungen)
• Aufrichtigkeit (Bezug auf persönliches Erleben)
133
Diskurse über moralische
Probleme:
• Idee der diskursiven (statt religiösen, traditi‐
onellen, konventionellen etc.) Rechtferti‐gung
• Moralische Diskurse beziehen sich auf den
Geltungsanspruch normativer Richtigkeit
• Vier normative Komponenten des Diskurses
(idealisierende Voraussetzungen seines
Gelingens ⇒ Vorgriff auf „ideale Kommu‐
nikationsgemeinschaft“)
134
Die vier Komponenten des
normativen Diskursbegriffs
• Argumentationsprozeß
– Es muß begründet werden
– Als Grund kommt nur in Frage, worauf sich jede/jeder
prinzipiell einlassen kann (Gegenbeispiele: „Gott hat mir
befohlen, daß...“; „Bei uns machen wir das schon immer
so“)
– Rhetorische Tricks (z.B. sog. persuasive od. ad homi‐nem‐
Argumente) sind verboten, es gilt alleine der „zwanglose
Zwang des besseren Arguments“
135
Die vier Komponenten des
normativen Diskursbegriffs
• Herrschaftsfreiheit
– Jede Person muß frei sagen können, was sie
denkt, ohne Sanktionen befürchten zu müssen
– In Status, Macht, sprachlichem Talent etc.
überlegene Diskursteilnehmer müssen sich in
Zurückhaltung üben
– Strukturelle Machtkomponenten (Lehrer vs.
Schüler, Eltern vs. Kinder, Boss vs. Angestell‐ter
etc.) müssen so weit wie möglich ausge‐schaltet
werden
136
Die vier Komponenten des
normativen Diskursbegriffs
• Partizipation
– Es müssen alle von dem Problem Betroffenen mit gleichem
Recht am Diskurs teilnehmen können
– Umgekehrt besteht auch für alle Betroffenen die
moralische Pflicht, sich zu beteiligen
– Problem: Diskurs geht von sprachkompetenten
Erwachsenen aus; was ist mit „moralträchtigen“ Wesen,
die nicht (Tiere, schwerstbehinderte Menschen) noch
nicht (Embryonen und Säuglinge), oder nicht mehr
(demente oder sprachgelähmte Personen) mitreden
können?
• Habermas‘ Lösungsansatz: advokatorische Diskurse („anwaltliche“
Vertretung dieser Gruppen durch kompetente Sprecher)
137
Die vier Komponenten des
normativen Diskursbegriffs
• Konsensausrichtung
– Wille aller Beteiligten, zu einem Konsens zu
gelangen, d.h. zu einer Zustimmung aller aus
Einsicht in die moralische Rechtfertigung der
Lösung
– Problem: setzt (wie der Diskurs im Ganzen) Fehlen
von Handlungsdruck und moralisch
hochkompetente Sprecher voraus
138
Moralprinzip und
Universalisierungsgrundsatz
• Moralprinzip D:
– Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle
möglicherweise betroffenen als Teilnehmer an rationalen
Diskursen zustimmen könnten.
• Universalisierungsgrundsatz U:
– Die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus einer
allgemeinen Befolgung der strittigen Norm für die
Befriedigung der Interessen eines jeden einzelnen
voraussichtlich ergeben, müssen von allen zwanglos
akzeptiert und den Auswirkungen der bekannten
alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen werden
können.
139
Zusammenfassung Diskursethik
• Im Kern wie die Kantische Pflichtethik
–
–
–
–
rationalistisch und kognitivistisch
universalistisch
Präskriptiv, deontologisch
Strenge Trennung des Richtigen vom Guten, der Normen
von den Werten
• Unterschied zu Kant: Sprache als Fundament;
Intersubjektivität als Medium der Begründung
(dialogisch vs. monologisch)
• Kritikpunkte: Ausblendung der Emotionen,
Geringschätzung des situativen Elements,
Geringschätzung der Werte
140
John Rawls‘ (1921‐2002)
Theorie der Gerechtigkeit
• Bedeutendster amerikani‐
scher Philosoph der Politik
und des Sozialen
• Epochemachendes Werk:
– Theory of Justice von 1971
– Kerngedanke: Gerechtigkeit
als Fairneß
• Im Zentrum Fragen der
politischen und sozialen
Gerechtigkeit, nicht der
persönlichen Moral
• Verbindung von Moral‐
und politischer
Philosophie
141
Grundzüge der
Theory of Justice I
• Frage: was zeichnet die wohlgeordnete Gesellschaft
aus? Antwort: Verteilungsgerechtigkeit
• Zentral: Gerechtigkeit als Fairneß im Blick auf die
gesellschaftlichen Güter:
–
–
–
–
–
Materielle Güter
Rechte
Pflichten
Lebenschancen
Soziale Grundlagen von Sicherheit und Selbstachtung
• Es geht um die Verteilungsprinzipien, die das
institutionelle Gefüge der Gesellschaft bestimmen
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Grundzüge II:
Das vertragstheoretische
Gedankenexperiment
• Neubelebung der vertragstheoretischen Tradition
seit Thomas Hobbes (1588‐1679)
– Grundidee: fiktiver Natur‐ oder Urzustand;
Begründung der Gesellschaft durch Vertragsschluß
• Bei Rawls Gedankenexperiment einer fiktiven
Verfassungswahl:
– Gerechtfertigte und objektiv verbindliche Prinzipien
der Gerechtigkeit sind diejenigen Prinzipien, die freie,
rationale, am Eigeninteresse ausgerichtete Menschen
wählen würden, wenn sie in einen Zustand der
Gleichheit versetzt würden und die Aufgabe hätten,
die fundamentalen Normen und Institutionen ihrer
zukünftigen Gesellschaft festzulegen
– Rationale Einigung unter fairen Bedingungen
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Grundzüge III:
Schleier des Nichtwissens
‐ Frage: Wie motiviert man rationale Egozentriker zur Moral?
‐ Antwort: indem man Ihnen jedes Wissen über ihre
Ausgangsposition entzieht: Veil of Ignorance
‐ Die Wählenden wissen nicht, welches Vermögen, welchen
sozialen Status, welche natürlichen Gaben etc. sie haben
‐ Idee der Entindividualisierung als Ausschaltung der faktischen
Unterschiede in den Ausgangspositionen
‐ Unter diesen Bedingungen würde jeder die Normen wählen,
die allen gleichermaßen die besten Startchancen gewähren
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Grundzüge IV:
Die Grundsätze der gerechten
Gesellschaftsordnung
1) Jedermann hat gleiches Recht auf das
umfangreichste Gesamtsystem gleicher
Grundfreiheiten, das für alle möglich ist
2) Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen
so beschaffen sein:
a) Sie müssen ... den am wenigsten Begünstigten den
größtmöglichen Vorteil bringen
b) Sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein,
die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen
Dualismus von notwendig gleicher Freiheit in der Politik
und erlaubter Ungleichheit in der Ökonomie unter
dem Primat der Politik
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Grundzüge V: Die Idee des
Überlegungsgleichgewichts
• Frage: wie verhält sich die Vertragstheorie zu
unseren moralischen Alltagsintuitionen?
• Antwort: sie soll als eine Klärung, Methodisierung
und Systematisierung verstanden werden können
• Idee eines wechselseitigen Austauschs zwischen
moralischen Einzelurteilen und
Explikationsprinzipien, bis ein ‐ temporäres ‐
Gleichgewicht erlangt ist:
– Reflexive equilibrium
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Fortentwicklungen
• Der politische Charakter der Gerechtigkeit
– Ausbau des Liberalismus:
– Die Bedeutung des gesellschaftlichen
Wertepluralismus (Zitat Projekt Leben 276)
• Auschluß religiöser und
• Metaphysischer Moralbegründungen
• Wo bleiben die Werte?
– Rawls‘ Vermittlungsversuch: unterschiedliche Religionen,
Wertgemeinschaften etc. können sich im Sinne eines
„overlapping consensus“ doch auf Prinzipien eines
gerechten Verfassungsstaates einigen
– Gerechtigkeit als Fairneß erlaubt es jeder Gruppe, ihre
eigenen Güter mit gewissen Einschränkungen zu verfolgen,
wobei jeder glauben kann, dies sei ‐angesichts der
pluralistischen Umstände ‐ zu seinem eigenen Vorteil
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Die kommunitaristische Kritik an
Rawls und Habermas I
• Rawls und Habermas gemeinsam: der Primat des
Richtigen vor dem Guten, der Normen vor den
Werten
• Kommunitarismus als Sammelnamen für Autoren,
die dem widersprechen und, oft an Aristoteles
anknüpfend, die Wichtigkeit von
Wertgemeinschaften in der Moral betonen:
– Charles Taylor, Amitai Etzoni, Alisdair MacIntyre
• Betonung der persönliche moralischen Identität und
der handlungsorientierenden Kraft von Werten
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Die kommunitaristische Kritik an Rawls
und Habermas II
• Gegensatz zwischen Gesellschaft und
Gemeinschaft:
• Vorwurf, bei Rawls und Habermas werde von den
Affekten, von persönlichen Werten und Bindungen in der
Nahwelt völlig abstrahiert ⇒ reduktionistische
Anthropologie
• Differenzierte Position von Hans Joas:
– Werte und „partikulare Visionen des Guten“ sind tatsächlich
entscheidend und liefern affektive Handlungsgründe;
normativer Universalismus kann nicht zur moralischen
Handlung motivieren; (vgl. auch Unterscheidung
Erzählung/Diskurs) aber: Universalismus der Normen
unentbehrliches Korrektiv des Denkens ins Werten
– Manche Werte (Idee der unverlierbaren Menschenwürde)
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können (overlapping consensus!) ins Normative
verallgemeinert werden