Das Stadtpalais am Markt in Lippstadt
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Das Stadtpalais am Markt in Lippstadt
Das STADTPALAIS am Rathausplatz in Lippstadt [ Haus Delhaes / Haus Epping ] Einblicke in die wechselvolle Geschichte des Hauses von 1788 – 2004 Von Dr. Eva-Maria Dahlkötter 1 Das Stadtpalais ist den Lippstädtern vertraut und hat seinen festen Platz im Leben der Stadt. Die Bürger betreten es, wenn sie zum Standesamt gehen, sie nehmen teil an den Trauungen im „Trauzimmer“, dem ehemaligen mit herrlichem Stuck geschmückten Salon. An der Freitreppe begrüßen Freunde die jungen Paare mit einem fröhlichen Umtrunk. Im Saal im 1. Stock finden Empfänge der Stadt und Sitzungen statt. Wer abends über den Rathausplatz geht, erfreut sich an der täglichen festlichen Erleuchtung des Saales. Das Haus wurde um 1790 erbaut von Gilles Delhaes1 (1758-1840), einem Kaufmann aus Eupen, der damals erst wenige Jahre in der Stadt war. Er stammte väterlicherund mütterlicherseits aus Kaufmannsfamilien, die Tuchhändler und Tuchfabrikanten in der Gegend von Aachen und Eupen waren und ausgedehnte geschäftliche Beziehungen hatten. Gilles Delhaes erhielt nach dem frühen Tod des Vaters eine gründliche kaufmännische Ausbildung im väterlichen Handelsgeschäft und bei Geschäftsfreunden. So ausgebildet und mit Kapital ausgestattet suchte er sich im Rahmen der Geschäftsbeziehungen der Delhaes und Fremerey eine aussichtsreiche Tätigkeit. Sein Weg war fast vorgezeichnet, denn seine ältere Schwester Anna hatte 1777 den Kaufmann und Tuchhändler Diedrich Heinrich Andreas Zurhelle in Lippstadt geheiratet. Gilles Delhaes verließ die wirtschaftlich und kulturell blühende Region am Niederrhein, das Dreiländereck von Aachen, den österreichischen Niederlanden (heute Belgien) und Holland. Er war reformierten Bekenntnisses und damit Glied einer in Eupen nur geduldeten Minderheit. Er machte sich sesshaft in der kleinen westfälischen Ackerbürgerstadt Lippstadt, die jedoch eine kaufmännische Oberschicht mit überregionalen Verbindungen hatte. Wie weit er mit Kapital in die Firma seines Schwagers Zurhelle eintrat, ist 2 nicht bekannt. Zusammen mit ihm eröffnete er 1806 eine Tuchmanufaktur in Schloß Neuhaus bei Paderborn, dem ehemaligen Schloß der Fürstbischöfe. Das Unternehmen florierte nicht, daher wurde 1819 der Pachtvertrag zurückgegeben. Wie hoch die Verluste waren, läßt sich nicht mehr ermitteln, jedoch blieb Delhaes bis zu seinem Tode einer der wohlhabendsten Kaufleute unserer Stadt. In allen Berichten wird er „Bürgermeister Delhaes“ genannt. Er bekleidete dies Amt, in das man nach der alten Lippstädter Ratsverfassung für jeweils zwei Jahre gewählt wurde, von 1794 – 1804 zusammen mit Johann Konrad Rose. Zur Erklärung für seinen schnellen Aufstieg in dieses Amt ist eine Lippstädter politische Besonderheit heranzuziehen. Bis zur Aufhebung der alten Ratsverfassung hatten die Bürger lutherischen Bekenntnisses im Rat und in den Zünften das Sagen, Katholiken waren dort kaum vertreten. Nach 1660 bildete sich eine kleine reformierte Gemeinde in der Stadt, die sich des Schutzes und der Förderung durch den brandenburgischen (später preußischen) Landesherrn erfreute. Seit 1680 waren aus ihren Reihen bei jeder Wahl 1 Bürgermeister, 1 Amtmann und 3 Ratsherren zu entnehmen. Aus einem Minderheitenschutz war hier eine klare Privilegierung geworden. Schon vor der Verleihung des Bürgerrechtes (1784) hatte Delhaes in die Lippstädter Oberschicht eingeheiratet. Marianne Brinckmann (1766-1855) war die älteste Tochter des Justizrates Jacob Diedrich Brinckmann und seiner Ehefrau Bernhardine Ostermann. 3 Pläne für die zukünftige Wohnung des jungen Paares wurden gemacht. Ihr Vater besaß an der Ostseite des Marktes zwei Grundstücke. Brinckmann und Delhaes ließen sich Pläne anfertigen von dem jungen Baumeister Clemens August von Vagedes, der schon durch repräsentative Bauten in Münster bekannt war. Justizrat Brinckmann sollte die Realisierung des Hausbaus nicht mehr erleben. Während er als Deputierter am Landtag in Detmold teilnahm, starb er 49-jährig am „Schlagfluß“. Seine Witwe wohnte später bis zu ihrem Tode bei ihrer Tochter. Das Haus Lange Straße 15 am Markt (jetzt Rathausplatz) ist das erste Haus in Lippstadt, das das neue Bauverständnis des Klassizismus erkennen lässt. Es überstrahlte die Häuser der Umgebung, die vorwiegend Fachwerkhäuser waren, zum Teil fachwerkverputzt oder mit Schiefer verkleidet. Es gab dem Markt mit dem Rathaus (erbaut 1773) an der Südseite und der Marienkirche an der Westseite einen weiteren architektonischen Höhepunkt. Das Stadtpalais ist „ein Putzbau, durch Lisenen gegliedert mit einem 3- achsigen Mittel- risalit, der ein wenig vorgezogen und von einem Dreiecksgiebel vor einem Mansarddach gekrönt ist. In der Mittelachse mit dem von einem Segmentbogen gekrönten überdeckten Portal führt eine dünne Vorlage zu den Fenstern, über denen ein Gesims auf Konsolen ruht“ 2. In der Fassade zeigt sich der ruhige Bezug verschiedener geometrischer Formen: ein liegendes Rechteck bildet die Fassade ohne Dach, stehende Rechtecke die Fenster und die Wandflächen, ein Dreieck den Abschluss des Mittelrisalits. Segmentbögen finden sich über dem Portal und den Dachgauben. Die zweiflügelige Freitreppe mit dem gusseisernen Geländer bildet ein Trapez. Diese Formen verleihen dem Gebäude eine abwechslungsreiche Front mit der für die Zeit des Klassizismus so charakteristischen Klarheit der Gliederung. Die große Ähnlich4 keit mit dem Haus Epping, Lange Straße 33 legt nahe, dass Vagedes auch hier die Pläne geliefert hat, allerdings nun für einen schlichteren Bau, der nicht auf Repräsentation hin konzipiert wurde, das Lebensgefühl einer reichen Bürgerschicht jedoch gut erkennen ließ. Dies Haus wurde 1964 abgerissen, an seiner Stelle befindet sich jetzt Woolworth. Die Restaurierung der Innenräume (1974) hat die Klarheit und Schönheit der profilierten Gesimse, der Stuckdekorationen und der originalen Farbgebung wiederherge- stellt. Der Raum im Erdgeschoß (Salon, jetzt Trauzimmer) hat gegliederte Wandflächen und Türen, die verziert sind mit Stuckelementen wie Ornamentgehängen mit Blumen und Früchten, einem Früchtekorb über der Tür und einem Medaillon in der Deckenmitte. Die Farbgebung zeigt die Töne von zartem Grün, hellem Grau und gebrochenem Weiß, die hier und da durch Vergoldungen akzentuiert werden. Klassizistischer Stuck hat klare, vorgegebene Formen, die sich wiederholen. Er ist nicht so individuell wie der Stuck des Barock und des Rokoko3. Der Saal im Obergeschoß (46,61 qm) ist ein repräsentativer Raum, der in Wandflächen, Türen, Gesimsen und Plafond reicht gegliedert ist. Die Farbgebung in rot, grün und unterschiedlichen Grautönen zeigt stärkere Akzente als der Salon. Die Wandflächen sind in rechteckige Felder gegliedert, die Amphoren und Schmuckgehänge zeigen. Die beiden Kaminnischen haben eine aufwendige Stuckbekrönung. Symbole der Künste wie Musik- 5 instrumente, ein Buch, eine Palette, ein Maßstab und ein Merkurstab finden sich vorwiegend in den Supraporten. Ein kostbares Medaillon in Stuck ziert die Mitte des Plafond. In den Nischen stehen seit der Restaurierung die Büsten der preußischen Könige Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV., die in diesem Haus abgestiegen waren.4 Die Ausstattung der Räume ist nicht erhalten. Der Enkel Alfons Delhaes (18221870) erinnert sich sehr viel später: „... das Haus am Markt in Lippstadt, ein Muster von Eleganz und Geschmack für die damalige Zeit. Die Dachsteine waren alle glasiert, von holländischen Ziegelstreichern angefertigt, italienische Künstler hatten die Stukkaturarbeiten und Vergoldungen angefertigt. Herrliche belgische Spiegel zierten die Wände, Pariser Teppiche und Kronleuchter, wertvolle Kupferstiche, mit Seide bezogene Sophas und Stühle schmückten das luxuriös ausgestattete Haus, und so wusste mein Großvater als Mann von gutem Geschmack und hohem Kunstsinn den reichen Kaufherrn und Bürgermeister von Lippstadt wohl zu repräsentieren.“ Das Haus sollte bald Repräsentationszwecken des Magistrats der Stadt dienen, z.B. bei Besuchen der beiden Landesherren (König von Preußen und Fürst zur Lippe). Daran erinnert die Tafel rechts vom Eingang des Hauses. In diesem Hause wohnten König Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise 1799. Der König und Kronprinz von Preußen 1825. Herzog Eugen von Württemberg, Kommandeur der 8. Husaren 1852- 1856. Über den königlichen Besuch am 3. und 7./8. Juni 1799 wird berichtet.5 „Der König erhielt Quartier im Delhaes’schen Hause am Markt, wo 13 Zimmer zur Verfügung standen. Die Begleitung des Königs wurde bei folgenden Lippstäd- 6 ter Familien untergebracht: Frau Justizrätin Brinckmann, Amtmann Tiedemann, Herr Schwarz, Engelbert, Hölle am Lippertor, Bürgermeister Curtius, Senator Brinckmann, Friedrichs, Rocholl, Amtmann Claudius, C. Bürnheim, Senator Kruse, Amtmann Dannheim, Fr. Lenzen, Hoffbauer, Ww. Kruse, Peter Gallenkamp, Hugo, Ww. Schwemann und C. Kromeyer.“ [Kronemeyer]. Der in der Stadtgeschichte Bewanderte vermisst den Namen eines der prominentesten Bürger, Justizrat Rose. Bei den Vorbereitungen für den Besuch hatte Herr Rose sich eingeschaltet. Er wollte offensichtlich dem „Neubürger“ Delhaes die Ehre der Beherbergung des Königs nicht überlassen und hatte durch seine Beziehungen zur Umgebung des Königs erreicht, dass dieser im Rose’schen Landhaus vor der Stadt [unweit des Postweges nach Bielefeld] Quartier nehmen sollte. Der erboste Bürgermeister Schmitz richtete einen Brief an den Generaladjutanten des Königs, um ihm das Unpassende dieses Angebotes vor Augen zu führen: „...weil aber dieses Hauß seit einigen Jahren dermaßen verfallen ist, dass es kein festes Fenster und keine ordentlich schließenden Thüre hat, weil der Rauch aus der Küche sich auf alle Zimmer verbreitet, weil das Uebertünchen der Wände und Fenster, welches man jetzt in großer Eile darin vornimmt, einen der Gesundheit nachtheiligen Geruch verursacht, weil es der hohen Suite an aller Bequemlichkeit mangelt ..., so glauben wir Ew. Hochwohlgeboren auf alles dieses aufmerksam machen und gehorsamst anheim geben zu müssen, ob nicht unter diesen Umständen das Quartier in der Stadt vorzuziehen sei ...“ 7 Er versichert, dass die Herren des Gefolges bei einer vorherigen Inspektion die Überzeugung gewinnen würden, „daß S. Majestät auf der ganzen Reise nicht so schlecht wie in dem einen Hauße und nicht anständiger und bequemer wie in dem anderen logiren werden.“ 6 6. September 1825 „Um zwei Uhr Nachmittags trafen Se. Majestät der König hier ein. Sei Majestät waren in einem simplen Oberrock gekleidet und stiegen vor dem Haus des Bürgermeisters Delhaes ab ... und begaben sich in die für Allerhöchstdieselben eingerichteten Gemächer ... Die Seiten der Hauptstraßen waren mit Maien geschmückt und Blumen- und Laubgewinde über die Straßen von einem Hause zum anderen gegenüberstehenden gezogen. Den Abend war die Stadt erleuchtet ... Wer das Wogen der ungeheuren Menschenmassen auf den Straßen erblickte, um die Beleuchtung zu schauen, der glaubte sich in eine der volkreichsten Residenzen versetzt. Schade, dass das Wetter nicht günstig war. Der heftige Regen verdunkelte bald die durch Lämpchen von außen erleuchteten Häuser und verdünnte die Menschen auf den Straßen, so dass gegen 10 Uhr nur noch einzelne Häuser erleuchtet, und die Straßen fast leer von Menschen waren.“ 7 In den Jahren nach dem Tod von Gilles Delhaes (1840) wurde das Haus vermietet, z. B. für einige Jahre an den Kappenmacher (Kürschner) Friedrich Blankenburg. Für fünf Jahre wohnte im Delhaes’schen Haus der Regimentskommandeur des 8. Husarenregiments Herzog Eugen Erdmann von Württemberg mit seiner Familie. Er war bei den Lippstädtern wegen seiner leutseligen, großzügigen und freigebigen Art sehr be8 liebt. Wenn er Abendgesellschaften gab, stand der Marktplatz voller Equipagen des heimischen Adels und hoher Offiziere. Dieses waren wohl die glanzvollsten Jahre des Delhaes’schen Hauses. Der Abschiedsbrief, mit dem der Herzog sich bei dem Magistrat und den Stadtverordneten für die Aufnahme in der Stadt bedankt, ist im Stadtarchiv erhalten: „...Sehr glücklich macht uns die Zusicherung, dass die Stadt in der wir fünf Jahre, an welche sich recht viel frohe und schöne Erinnerungen knüpfen, verlebt haben, uns auch ferner ein freundliches Angedenken bewahren will, und gewiß bedarf es unsererseits des Versprechens nicht, dass auch wir an den Ort, welchen wir so lieb gewonnen, und dessen Bewohner uns so mannigfache Beweise freundlicher Zuneigung gegeben haben, nur mit Freuden und inniger Dankbarkeit zurückdenken werden. Wir scheiden mit wahrem und tiefem Schmerz aus Ihrer Aller Mitte, davon sind Sie gewiß überzeugt.“ 8 Es folgen nun Angaben zu einigen Mitgliedern der Familie Delhaes, die in enger Beziehung zu diesem Hause standen und zu den Heiraten zwischen den Familien Delhaes und J. D. Epping.9 Der frühe Tod von Carl Delhaes (1791 – 1831), dem ältesten Sohnes von Gilles und Marianne Delhaes, ist überliefert durch die Nachricht des lippischen Droste Carl Rose an seinen Sohn Arnold in Horn: „Seit Deiner Abreise hat die hiesige Stadt den Verlust eines braven Bürgers zu beklagen, indem des Bürgermeisters Delhaes ältester Sohn, der hiesige Kaufmann und Spediteur Carl Delhaes am Nervenfieber in einem kaum 40 jährigen Alter 9 verstorben und die gantze Familie dadurch in tiefste Trauer versetzt ist. Er soll dem Verlauten nach in der kurzen Dauer seines geführten Handelsgeschäftes sich ein Vermögen von 70.000 Reichsthalern erworben haben und wäre bei der Fortdauer seines geführten Handelsgeschäftes wohl einer der reichsten Einwohner hiesiger Stadt geworden, wenn die Vorsehung nicht anders über ihn verfügt hätte.“ 10 Friedrich August, der zweite Sohn, wurde Offizier und war vorwiegend in den östlichen Provinzen Preußens stationiert. Wilhelm, der dritte Sohn, starb in frühen Jahren an Meningitis, als er im Begriff war, in der Provinz Posen ein Gut zu erwerben. Seine Witwe, die Mutter von 6 Kindern, lebte bis zu ihrem Tod zurückgezogen in einem Haus an der Lippebrücke. Für die Lippstädter Stadtgeschichte ist von Interesse, dass die Tochter Lisette den Kreissekretär und späteren Bürgermeister Friedrich Bertram (Amtszeit 1830 – 1850) heiratete. Sein Abbild steht auf dem Bürgerbrunnen vor dem Stadtpalais: der Herr im Gehrock, eine Lokomotive und ein Dokument in der Hand. Die Eisenbahn, deren Trasse über Erwitte hätte verlaufen müssen, wurde dank seiner beharrlichen Eingaben dann doch über Lippstadt geführt. Er kümmerte sich aktiv um soziale Belange und war der Gründer der Sparkasse. 1860 wurde im Saale des Delhaes’schen Hauses die Hochzeit von Martha Delhaes und dem Kaufmann Johann Dietrich Epping gefeiert, dem ältesten Sohn des Kommerzienrates Johann Diedrich Epping, Eigentümer des Handelskontors J.D. Epping, Lange Straße 33. Nach dem frühen Tod ihres Mannes zog Martha Epping nach Hamburg, wo ihr Sohn Dietrich (1861 -1944) Teilhaber eines Handelskontors für Kaffee-Import wurde. 10 Als Kommerzienrat J. D. Epping (1794 – 1869) starb, zog seine Witwe Charlotte geb. Koch (1804 – 1890) mit den unverheirateten Töchtern in das Delhaes’sche Haus, das nun bald Haus Epping genannt wurde. Nach dem Tode ihrer Mutter wurde Marie (1840 – 1936) die Eigentümerin des Hauses. Das Haus war ein Mittelpunkt für Generationen der Familien Epping, Delhaes, Kisker, Rhenius, Sterneborg, Overbeck und Zurhelle. Zu den Feiern anlässlich des 90. und 95. Geburtstags von Marie Epping versammelte sich eine große Schar von Verwandten im Saal. Die Ida u. Anneliese Kisker v.l. Eva Dahlkötter, Godela Pinkernelle, Gertrud Heck, Gunhild Pinkernelle Jugend führte Tänze in Kostümen der Biedermeierzeit auf. Marie Epping war eine sehr selbständige Frau, die nicht das müßige Leben einer reichen Erbin führte. Als junges Mädchen hatte sie das Pensionat in Stuttgart besucht, in dem Eduard Mörike den Literaturunterricht erteilte. Später machte sie Reisen in die Schweiz und nach Italien. Am Lago Maggiore dachte sie an den tragischen Tod ihrer Schwester Minna Kisker, die 1882 dort bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen war. In Lippstadt baute sie sich ihren eigenen Tätigkeitsbereich auf. Ihr Interesse und ihre Arbeit galt der Kleinkinderschule, dem späteren Kindergarten. Dies war eine private Einrichtung, die auf Initiative von Pfarrer Dreieichmann und Bürgermeister Bertram ins Le- 11 ben gerufen worden war. Von Jahr zu Jahr weitete Marie Epping ihre ehrenamtliche Tätigkeit aus: es galt ein passendes „Lokal“ anzumieten, eine geeignete „Person“ für die Führung der Kleinkinderschule zu finden, ihr ein Zimmer, später eine Wohnung zu besorgen, ihre Bezahlung sicherzustellen und das Budget der Einrichtung zu verantworten. Gab es ein Defizit, so glich Marie Epping es aus ihrer eigenen Tasche aus. Es war immer besonders schwierig, ein geeignetes Lokal zu finden. So baute sie (damals 37 Jahre alt) auf dem ihr gehörenden Grundstück Wilhelmstraße (später Woldemei) ein Haus für die Kleinkinderschule (1877). Es hatte neben den Räumen für die Kindergruppen im 1. Stock zwei Wohnungen für die Leiterin der Schule und die Gemeindeschwester. Zwanzig Jahre später schenkte sie Grundstück und Haus der evangelischen Kirchengemeinde. „Nachdem Sie meine Mitteilung, wonach ich bereit bin, die so genannte Kleinkinderschule ... der evangelischen Kirchengemeinde unter der Bedingung als Eigenthum zu überweisen, dass die Gemeinde nach meinem dereinstigen Ableben oder vom dem Zeitpunkt an, wo es mir nicht mehr gefallen sollte, die Leitung der Schule wie bisher auszuüben... akzeptiert haben, so erkläre ich mich nunmehr bereit, das Eigenthum an den besagten Realitäten für unsere Kirchengemeinde aufzulassen.“ 11 Das Haus ist inzwischen verkauft und abgerissen, der Stiftungszweck blieb erhalten durch den Bau des neuen „Jakobikindergartens“ an der Brüderstraße. Eines der Chorfenster der Marienkirche trägt den Namen von Marie Epping als Stifterin (1882). In den letzten Jahrzehnten war das Haus Epping ein stilles Haus. Marie Epping lebte sehr sparsam in drei Zimmern im Erdgeschoss, versorgt von ihrer „Magd“ Charlot12 te. Die Räume waren dunkel, das Mobiliar im wenig ansprechenden Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Familien hielten noch zusammen, auch die Kleinsten besuchten regelmäßig die alte Tante, die ihnen wie aus fernen, fernen Zeiten vorkam. Sie wurden belohnt mit einem Plätzchen oder einem Stück Kandiszucker. Eine Bemerkung der 93jährigen wird erinnert: Der traditionelle Weihnachtsball im Alsensaal war ein wichtiges gesellschaftliches Ereignis in Lippstadt. Als Hitler 1933 alle Weihnachtsbälle verbieten ließ, sagte Marie Epping empört: „ Was maßt der sich alles an!!“ Nach ihrem Tode wurde Marie Epping im Salon aufgebahrt. Ich überwand mich und trat mit einem Gefühl der Beklemmung an den offenen Sarg. Als 12-jährige konnte ich nicht ermessen, dass nun die Zeit zu Ende gegangen war, in der dieses Haus ein Mittelpunkt der zahlreichen Verwandtschaft gewesen war. Marie Epping hatte kein Testament gemacht, damit trat die gesetzliche Erbfolge ein, d. h. Erben waren die Kinder und Enkel ihrer sieben Geschwister. Man wollte die Erbschaft schnell geregelt sehen. Das Haus wurde verkauft, die Einrichtung taxiert und alles anteilig an die Schar der Erben ausgezahlt. Der Kreis Lippstadt, vertreten durch den Landrat Simon, kaufte am 15. Februar 1937 für 51.000 RM („sofort zahlbar“) die zwei Grundstücke Lange Straße 15 und Brüderstraße 2 und die aufstehenden Gebäude.12 Sofort wurden Umbauten getätigt: im Mansardengeschoß wurden das Giebeldreieck abgerissen und zusätzliche Fenster gebrochen, um eine separate Dachwohnung zu bekommen. Die Gesamtnutzfläche betrug damit ca. 300 qm. Der Kreis hatte jedoch kein eigenes Nutzungskonzept, zumal für seine Bedürfnisse das große Kreishaus an der Spielplatzstraße völlig ausreichte. So verkaufte er 13 am 25. 11. 1939 das Haus Epping an die Stadt Lippstadt zum Preis von 89.096,30 RM, „zahlbar auf dem Wege der Verrechnung“.13 Es ist nicht mehr möglich, die verschiedenen Nutzungen während des Krieges und der Nachkriegszeit genau zu benennen. Die Stadtverwaltung war bemüht, einen anständigen Mietpreis zu erzielen und musste bei der Nutzung Rücksicht nehmen auf die große Wohnungsnot und die beengten finanziellen Verhältnisse. So wurde das Haus mit wechselnden Mietern und verschiedenen städtischen Dienststellen belegt. Im Dachgeschoß war Wohnraum für städtische Angestellte. Für eine kurze Zeit war eine Arztpraxis im Haus. 1953 wurde als Mieter die Handwerkereinkaufsgenossenschaft genannt, die im Garten neben dem Luftschutzbunker einen Schuppen errichtete. In den 60er Jahren war das ganze Haus vermietet an die Firma Paul Patzner („Pali“), einen Textilgroßhandel, der Waren (Bettwäsche, Tischwäsche, Unterwäsche) im großen Saal im 1. Stock präsentierte. Die Zeit von 1937 bis 1973 brachte Provisorien ohne Ende, die der Bausubstanz nicht zuträglich waren. Photographien aus der Restaurierungsphase zeigen, in welch desolatem Zustand besonders der Saal war. Als die Restaurierung des Gebäudes mit Hilfe des Landeskonservators beschlossen war, zogen 1973 alle Mieter aus. Die Gesamtkosten für die Restaurierung und die Anpassung an die neuen Funktionen des Hauses beliefen sich auf mehr als 400.000 DM, von denen 95.000 DM staatliche Zuschüsse waren. Es ist erfreulich, dass durch die Initiative des Landeskonservators und den großen finanziellen Einsatz der Stadt dieses architektonisch bedeutende Gebäude – nun Stadtpalais genannt – nicht nur erhalten wurde sondern auch eine für alle Bürger erfreuliche Nutzung erfährt. 14 Noch zwei Bemerkungen: Das schmiedeeiserne Tor (1797) an der Brüderstraße stammt vom Grundstück der Familie August Kleine an der Poststraße. 1999 wurde die Dietherich-Zurhelle-Tür von der Cappelstraße 44 in das Nachbarhaus (Café Peters) eingebaut. Der Auftraggeber (Initialen DZ) war mit Anna Delhaes, der Schwester von Gilles Delhaes verheiratet. Diese Tür stammt aus der Spätzeit des Rokoko und zeigt schon klassizistische Elemente. Anmerkungen Delhaes – Dehnungs – e wie in Soest Theodor Rensing: „Clemens August von Vagedes“ in: Zeitschrift Westfalen, 39. Bd. 1961, S. 143 – 178. W. Graulich u.a.: „Westfälische Bürgerhäuser des Klassizismus“, Bochum 1975, S. 33 – 43. A.H. Meyer: „Schönheit deutscher Klassik: Das Haus Epping in Lippstadt“ in: Heimatblätter, Beilage zum „Patriot“, 1974, Seite 89 – 94; 97 – 102. Denkmal des Monats Juli 2001: „Das Stadtpalais in Lippstadt“ in: WDR 3 Lokalzeit Südwestfalen. Das Video im Stadtarchiv Lippstadt 8a.62. 3 Lippstadt hat aus der voraus gegangenen Stilepoche des Rokoko zwei sehr wertvolle Stuckdekorationen im Saal des Hauses Köppelmann und den Räumen des Städtischen Heimatmuseums. 4 Sie wurden auf Anregung des Baudezernten Hans-Georg Rieber vom Staatsarchiv Berlin/ DDR erworben. 5 Carl Laumanns: „König Friedrich Wilhelm III. in Lippstadt“ in: Hbl. 1914, S. 45 f. Albrecht von Massow: „Besuch des Königs von Preußen in Lippstadt“ in: Hbl. 1947, S. 10; 28f. 6 Siehe Fußnote 5 7 Carl Laumanns: „Der König in Lippstadt“ in: Hbl. 1926, S. 6. 8 Wolfram Ibing: „Die Garnison in Lippstadt“ in: „Lippstädter Spuren“ 7/1991, S. 68f. 9 Stammtafel Delhaes (Auszüge) Gilles Delhaes (1724 –1767), Kaufmann in Eupen ¡¡ Maria Adelheid Fremerey (1727–1805) Die Tochter Anna Delhaes (1753–1832) ¡¡ 1777 Diedrich [Heinrich] Andreas Zurhelle (1745–1821) Lippstadt Der Sohn Gilles Delhaes (1758–1840) ¡¡ 1784 Maria Johanna (Marianne) Brinckmann (1766–1855) Kinder aus dieser Ehe: 1.Carl (1791–1831), Kaufmann und Spediteur ¡¡ 1818 Charlotte Lisette Epping (1798–1858) 2. Friedrich August (1795–1879), Offizier ¡¡ Julie Günther (1805–1879) 3. Lisette Annette (1798–1878) ¡¡ 1820 Friedrich Bertram (1787–1863), Kreissekretär, später Bürgermeister in Lippstadt 4. Wilhelm (1801–1843), Kaufmann ¡¡ 1829 Dorothea Cornelia Schmidt (1810–1892) 5. Julie Sophie Adelheid Jacobine (1806–) ¡¡ Fabrikbesitzer Weiß in Langensalza Von den sechs Nachkommen aus der Ehe Wilhelm Delhaes – Dorothea Schmidt werden hier aufgeführt: 1.Martha Delhaes (1839–1893) ¡¡ 1860 Johann Dietrich Wilhelm Epping, Kaufmann (1828–1867); das junge Paar wohnt im Delhaes’schen Haus. 2.Wilhelm Delhaes (1843–1912), Dr. med., Chirurg am Elisabeth-Krankenhaus, Berlin (Hausarzt von Theodor Fontane). ¡¡ 1873 Johanna Kisker (1849–1924), Enkelin von J. D. Epping und Charlotte Epping. 1 2 15 Wilfried Ehbrecht (Hrg): Beiträge zur Stadtgeschichte, Lippstadt 1985, S. 515. – Sein einziger Sohn August Gilles Delhaes (1822 – 1877) verließ Lippstadt und erwarb ein Rittergut in der preußischen Provinz Posen. 11 Eva-Maria Dahlkötter: „Wie kam es zum ersten Kindergarten in Lippstadt?“ in: Hbl. 2000, S. 145 – 152. 12 Staatsarchiv Münster: Grundakten des Amtsgerichts Lippstadt, Bd. 70, Bl. 20 76. 13 Stadtarchiv Lippstadt: Urkundenregister der Stadt Lippstadt, Nr. 30/39. 10 __________________________________________________________________________________________ Die Verfasserin überreicht Bürgermeister Wolfgang Schwade als Geschenk das Portrait ihrer UrUrgroßmutter Charlotte Epping, geb. Koch. 16