Hauptsache aufrichtig?

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Hauptsache aufrichtig?
Hauptsache aufrichtig?
Character Classic
Eine wahre Geschichte für Kinder und Erwachsene
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s führt zu nichts, wenn wir die Stimme des Gewissens zum Schweigen
bringen, indem wir uns einreden:
»Hauptsache, man ist aufrichtig, das
reicht.«
Bei der Mühle herrschte Hochbetrieb, als
Hans und David Jakobson mit ihrem vollen Getreidesack angeritten kamen. Sie lebten auf einer kleinen Farm, fünf Meilen abseits der Hauptstraße, und waren nicht gerade unglücklich darüber, ein paar Stunden auf ihr Mahlgut warten zu müssen.
So konnten sie nämlich ein bisschen am
Leben und Treiben der ‘Ecke’ teilhaben. So
nannte man den Teil des Dorfes, wo sich
der Gasthof, der Laden und die Mühle befanden.
Hans und David hatten viel Zeit. Sie liefen
hierhin und dorthin und sahen und hörten allerlei.
Gegen Mittag braute sich jedoch ein Unwetter zusammen und so kehrten sie zur
Mühle zurück, um zu essen und herauszufinden, wann sie an die Reihe kämen.
Da trafen sie auf den Sohn des Müllers und
den Sohn des Gutsherrn. Die beiden waren in ein ernstes Gespräch vertieft, das
schon bald die Aufmerksamkeit von Hans
weckte. Der Müllerssohn fand es sehr
wichtig, die Bibel richtig zu verstehen. Der
Sohn des Gutsherrn aber behauptete: »Es
ist egal, was man glaubt, Hauptsache,
man ist aufrichtig.«
Hans war ein eitler, dummer Junge. Ihm
gefielen die aufgeblasenen, spontanen
Worte des Herrensohnes sehr. Wie sehr
wünschte er sich, auch so intelligent reden
zu können, so dass er sogar seinen alten
Großvater in Verlegenheit bringen könnte
– ganz bestimmt sogar.
»Es ist egal, was man glaubt, Hauptsache,
man ist aufrichtig«, murmelte Hans und
wappnete sich so für die geistlichen Gespräche seiner Verwandten. »Jetzt zeig
ich’s ihnen«, sagte er sich und nickte entschlossen mit dem Kopf.
Am späten Nachmittag war das Mahlgut
der Jungen fertig. Das alte Pferd wurde
aus dem Stall geholt, der Mehlsack darauf
geladen und Hans und David stiegen auf.
Die Jungen, das Pferd und der Sack – alles
bewegte sich Richtung Heimat.
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»Ich wünschte, ihr hättet’s nicht so weit,
Jungs«, sagte der Müller und blickte auf die
schwarzen Wolken, die sich im Westen auftürmten und den Himmel verdunkelten. »Dort
oben hat es genug Wasser für meine Mühle.«
Dennoch brachen sie schnell auf und waren
bald hinter einer Wegbiegung im Wald verschwunden. Aber der Himmel verdüsterte
sich schneller, als das Pferd traben konnte.
So war es schon sehr dunkel, als sie eine
Weggabelung erreichten. Hier mussten sie
sich für einen Weg entscheiden. Der eine
war der Hauptweg, auf dem es eine gute
Brücke über den Bösenbach gab, ein Gebirgsflüsschen, das oft vom Frühlingsregen
gefährlich angeschwollen war. Dieser Weg
war der sicherste, wenn auch der längere
bis nach Hause.
Der andere Weg führte durch einen Kiefernwald, und die Farmer, die östlich der Stadt
lebten, nahmen ihn oft als Abkürzung zur
»Ecke«. Auf ihm musste aber der Bösenbach
durchwatet werden.
»Vater meinte, dass wir den Hauptweg nehmen sollen, wenn wir spät dran sind«, sagte
David.
Hans hielt für einen Moment an der Weggabelung an. »In Ordnung«, sagte er.
In Wirklichkeit aber war er ganz durcheinander. Der gewundene Weg, zu beiden Seiten
nichts als Wald, kein Wegweiser, dem sie folgen konnten, dazu noch die Dunkelheit der
Nacht. Zudem kannten sie die Straße nur wenig – all das verwirrte die Jungen gewaltig.
Aber Hans wollte als der Ältere vor seinem
Bruder zeigen, wie klug er ist, und gab seine
Unsicherheit nicht zu.
Schnell entschied er sich für einen der Wege
und trieb das Pferd an. »Hier lang!«, rief er aus.
»Bist du sicher?«, fragte David.
»Natürlich, bin ich sicher.«
»Ich weiß nicht«, sagte David. »Lass mich abspringen, da drüben sehe ich ein Licht, vielleicht ist dort ein Haus.«
»Wir können jetzt deswegen nicht anhalten«, sagte Hans. »Ich glaube aufrichtig, dass dies der Hauptweg ist, David. Du kannst mir ruhig vertrauen!«
»Nur weil du es aufrichtig glaubst, muss
das noch lange nicht so sein!«, protestierte David.
»Ich bin felsenfest davon überzeugt,
David. Und jetzt sei still«, schrie Hans
verärgert.
»Ich denke, wir sollten sicherheitshalber jemanden fragen«, beharrte David.
Hans trieb jedoch das Pferd weiter an,
und der arme David redete in den
Wind. Die Böen des herannahenden
Sturmes tosten durch den Wald. Hans
trieb das Pferd vorwärts, so schnell es
seine schwere Ladung zuließ.
Der eigensinnige Bursche war mit seiner übereilten Entscheidung sehr zufrieden, und je weiter sie ritten, desto
überzeugter war er davon, dass er den
richtigen Weg eingeschlagen hatte.
Bald übertönte aber das Toben des Bösenbaches das Sturmgetöse.
»Gleich sind wir an der Brücke und auf
der anderen Seite«, rief Hans, »was hast
du da noch zu sagen, alter Knabe?«
»Ich wollte, ich wäre schon drüben«,
murmelte David. Und noch bevor Hans
antworten konnte, fielen die beiden
samt Pferd und Mehl in das tosende
Wasser des angeschwollenen Flusses.
Es war stockdunkel, der Sturm tobte,
und sie waren meilenweit entfernt von
menschlicher Hilfe.
Die ersten Momente schrecklicher Ungewissheit können kaum in Worte gefasst werden. Schließlich blieb Hans an
einem großen Stück Treibholz hängen,
das eiskalte Wasser schlug ihm ins Ge-
sicht, die Zügel hielt er noch immer fest umklammert.
»David!« schrie er, so laut er
konnte. »David!«
»Der Herr hat mich gerettet!«, rief
David. »Ich bin hier irgendwo.«
Und das Mehl? Es wurde, weiter
unten in einem der wilden Strudel des Bösenbaches, zu Brei.
»Es ist egal, was man glaubt,
Hauptsache, man ist aufrichtig«,
rief der arme Hans gründlich
durchnässt und ebenso gründlich gedemütigt. »Das ist die
größte Lüge, die Satan je verbreitet hat. Es ist eben nicht
egal. Richtig zu handeln, darauf
kommt es an. Was hilft es mir,
dass ich aufrichtig war? Die
schlimmen Folgen muss ich tragen. Das hilft mir hier auch nicht
wieder heraus.
Hatte ich denn nicht aufrichtig
geglaubt, ich sei auf dem richtigen Weg, obwohl ich die ganze
Zeit auf dem Weg zur Verdammnis war?«
Die Erfahrung jener Nacht heilte
den armen Hans ein für allemal
von diesem verbreiteten Irrtum,
der schon viele arme Seelen in
die wilden Wogen des Unglaubens und der Gottlosigkeit getrieben hat.
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Charakterklassiker aus: Tiger and
Tom and Other Stories for Boys,
Sabbath Readings, Hg.: James Edson White, Nashville, Tennessee;
Fort Worth, Texas & Atlanta, Georgia: Southern Publishing Association (1910); S. 217-222.
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