«Typhus-Alarm» im Barackendorf

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«Typhus-Alarm» im Barackendorf
Extra | Dienstag, 9. August 2011 | Volksstimme Nr. 87
11
Der Bau der
­Hauenstein-­
Basislinie
vor 100 Jahren
«Typhus-Alarm» im Barackendorf
Tecknau | Die hygienischen Verhältnisse in Neu-Tecknau erforderten spezielle Massnahmen (Teil 10)
Im August 1913 traten im
­Barackendorf von Tecknau neun
­Typhusfälle auf. Drei davon
­verliefen tödlich. Alarmiert durch die Vorfälle wurden verschärfte Kontrollen und spezielle Mass­
nahmen durchgeführt.
Gelegenheit die den Platz versperrenden Materialien einfach hinausgeschmissen, so dass dieselben teilweise in den dort vorüberfliessenden
Bach fielen) etwas ins Stocken garaten waren, wieder zu beginnen und
zwar sobald als möglich.»
Baufirma Pflicht vernachlässigt
Heinz Spinnler
Der Grund für den Ausbruch von
­Typhus und anderen Krankheiten
waren die fehlenden Waschgelegenheiten, die mangelhafte Entsorgung
von Abfällen und das Trinken von
keimhaltigem Wasser.
Die Gefahr für das Auftreten von
Epidemien und Krankheiten war
zwar bekannt, aber trotzdem hat
man den nötigen sanitären Installationen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und dann waren plötzlich
gegen 2000 Leute auf den Baustellen, Arbeiter mit Angehörigen und
Kindern; viele hausten in den Baracken von Tecknau.
Gefahren waren bekannt
In jeder Baracke hing ein Merkblatt
über Hygienemassnahmen in Deutsch
und Italienisch, die aber wohl zu
­wenig Beachtung fanden.
Das Lebensmittel-Inspektorat
schrieb dazu: «In erster Linie ist dafür zu sorgen, dass die schon früher
angeordnete, regelmässige Desinfektion der Abtritte in den Wirtschaftsund Wohnbaracken, welche durch
die teilweise Beseitigung der noch
vorhanden gewesenen Desinfektions­
materialien infolge grober Fahrlässigkeit (der Besitzer des Schopfes, wo
sie aufbewahrt gewesen waren,
hatte den Schopf in eine Italiener­
baracke umgewandelt und bei ­dieser
Für das nötige Trinkwasser hat die
Firma Julius Berger eigens ein Reservoir in der «Aleten» bauen lassen.
Die vorhandene Wasserversorgung
hätte die vielen Baracken nicht mit
frischem Wasser versorgen können.
Das Abwasser lief teilweise ­direkt
in den Eibach oder wurde in Jauchegruben geleitet.
Anders als auf der Südseite der
Tunnelbaustelle, wo die Firma Berger eigens ein Gebäude mit Duschen
und Waschgelegenheiten erstellt
hatte, gab es auf der Nordseite
­keinen einzigen heizbaren Raum für
die Arbeiter zum Waschen oder
­Duschen. Mehrmals hat die Gesundheitsbehörde des Kantons BaselLandschaft auf das Fehlen dieser
«Wohlfahrtseinrichtungen» hingewiesen, aber konkret wurde nichts
unternommen.
1914 hat die Firma Berger dann
erklärt, dass der Tunnel nun auf der
Nordseite bald vollendet sei und
diese Einrichtungen nicht notwendig
seien.
Das Lebensmittel-Inspektorat
schrieb nach Ausbruch von TyphusErkrankungen im September 1913
zum Thema Waschgelegenheiten:
«Jetzt kann nicht einmal ein Angestellter der Firma ein warmes Bad
in Tecknau nehmen. Es ist eben von
­Anfang unterlassen worden, die Einrichtung von Wohlfahrtsanstalten,
wie Bad- und Waschanstalten, Spital­
Inserat in der «Volksstimme» vom 28. Juni 1913, mit der Bekanntmachung, dass
die Badi im Jahr 1913 nicht benützt werden kann.
Zitat
Kein Badebetrieb mehr
in der Badi Gelterkinden
Aufgrund der Verschmutzung des Ei­
baches aus Richtung Tecknau wurde
vom Lebensmittel-Inspektor Göttig
empfohlen, den Badebetrieb in Gel­ter­
kinden einzustellen, da das Badewasser
vom Eibach entnommen wurde. Er
schrieb (auszugsweise):
«In der Nähe der Baracken, Kantinen
usw. liegen an vielen Orten Kehrichthaufen im Bach und am Bachufer. Zudem
sind an verschiedenen Stellen Pissoirs,
Aborte und Wassersteine mit Cementröhren in den Bach geleitet. Oberhalb
der Bachbrücke, bei Metzger Tinelli, ergiesst sich das trübe und schlammige
Tunnelabwasser in ziemlicher Menge in
den Bach. Dieser Bach versieht die
­Badeanstalt am Südostausgang von
Gelterkinden mit Wasser, das durch
­Cementröhren aus dem gestauten Bach
in das Badebassin ein- und abgeleitet
wird.
Bei diesen Zuständen in Tecknau, bei der
veralteten und unzweckmässigen Badanlage in Gelterkinden, zu der meist
­kleinen Wassermenge des Eibaches ist
an eine Benützung der Badanstalt bis zur
Beendigung des Tunnelbaus nicht zu
denken. Auch bei der verschärften
­Kontrolle lassen sich die Verhältnisse in
Tecknau nicht wesentlich umgestalten.
23. Juni 1913 Lebensmittel-Inspektor
Dr. J. Göttig
baracke mit Wärterpersonal usw. als
eine Bedingung zur Konzessions­
erteilung zu verlangen und auf der
Erstellung zu dringen.»
Südländische Verhältnisse
Weiter heisst es in dem Bericht des
Lebensmittel-Inspektorats BaselLandschaft über die Verhältnisse im
Barackendorf:
«Die Reinlichkeit in den Küchen
liess hingegen manchmal viel zu
wünschen übrig. So gehört es zu den
regelmässigen Gepflogenheiten der
italienischen Köche und Köchinnen,
Zitat
Anweisungen zur Desinfektion
in Tecknau
– Die «hintere Quelle» ist wegen schlechter Beschaffenheit des Wassers sofort
vom Reservoir zu nehmen.
– Die Reservoirs und Brunnstuben der
alten Wasserversorgung, die Rütlibergzuleitung zum ersten Dorfbrunnen
s­owie die Zuleitungen zum Hof Stelli
sind sofort gründlich vom Schlamm
und ­allen sonstigen Unreinheiten zu
befreien.
– Die Desinfektion sämtlicher Abtritte
sind von nun an bis auf weitere Weisung zweimal wöchentlich durch­
zuführen.
26. September 1913
Detail der Barackensiedlung Olten-Tripolis, Winznauer-Seite. Bild Stadtarchiv Olten
So oder ähnlich waren die Duschräume in Olten-Tripolis.
das Spülwasser einfach zum Küchen­
fenster hinauszuleeren, wo es dann
mehr oder weniger versickert oder
stagniert und üble Gerüche hervorruft ... Die Italiener wurden eindringlich – in ihrer Muttersprache – die
grösste Reinlichkeit empfohlen.»
In einem anderen Bericht an die
Polizeidirektion vom 26. September
1913 heisst es:
«Es kann nicht geleugnet werden,
dass die sprichwörtlich gewordene
Unreinlichkeit besonders der Süditaliener die Weiterentwicklung der
Scabies (Krätze) sehr begünstigt. Zudem werden bei dieser langedauernden Kälteperioden die Fenster der
Baracken selten oder nie geöffnet, da
es sowieso schon sehr kalt in den
leicht und luftig gebauten Baracken
ist. Dann werden die Betten so ­wenig
wie möglich gelüftet, die Bettüberzüge, Leintücher, wenn solche überhaupt vorhanden sind, ganz s­elten
und die Bettwäsche fast nie gewechselt und wie ich mich selbst überzeugt habe, wird auch im Winter so
gut wie gar nicht Wäsche abgehalten, aus dem einfachen Grunde, weil
keine Gelegenheit zum Wäschtrocknen da ist. Auch fehlt in vielen
­Baracken das Wasser oder ist nur
spärlich vorhanden, was mit der bekannten Wasserscheu der Südländer
ganz gut harmonisiert.»
Bereits erschienen:
Teil 1 «Tecknau», D
­ i, 3. März;
Teil 2 «E. Coletti», Do, 24. März;
Teil 3 «Warteck», Do, 14. April;
Teil 4 «Baubeginn», Fr, 29. April;
Teil 5 «Baracken», Do, 26. Mai;
Teil 6 «Handlungen», Sa, 4. Juni;
Teil 7 «Arrestlokal», Do, 23. Juni;
Teil 8 «Autom. Musik», Di, 12. Juli;
Teil 9 «Kino Radium», Fr, 29. Juli
Wird fort­gesetzt.
Quellen: Staatsarchiv BaselLandschaft Liestal, Bauakten 1913;
Akte «Typhus»; «Volksstimme».
Flugblatt vom Mai 1913
für die Inhaber
von Kost- und Logisgebereien
in Tecknau, das über
­Hygiene­massnahmen
­orientierte. Es wurde
in Deutsch und Italienisch
­verteilt.
Staatsarchiv Basel-Landschaft
Archiv Heinz Spinnler
hintergrund
Aufgetretene Erkrankungen
im Barackendorf Tecknau
Paratyphus B: Abgeschwächtes Krankheitsbild des Typhus. Typ B ist weltweit
verbreitet. Es handelt sich um eine Infektionskrankheit, der Erreger stammt
aus verunreinigten Nahrungsmitteln,
Trinkwasser oder von einer Schmier­
infektion (durch Berührungen). Ohne
Behandlung ist der Krankheitsverlauf
tödlich.
Scabies (Krätze): Eine weitverbreitete
parasitäre Hautkrankheit. Sie wird durch
die Krätzenmilbe verursacht. Milbenweibchen bohren sich in die Oberhaut
(Epidermis) und legen dort Kot und ihre
Eier ab. Das bringt auf der Haut u. a.
Bläschen, Krusten, Kratzwunden und
Furunkel hervor.
Gonorrhoe (Tripper): Es handelt sich um
eine nur beim Menschen auftretende
sexuell übertragbare Erkrankung (Geschlechtskrankheit). Krankheitssymp­
tom beim Mann ist ein eitriger Ausfluss
aus dem Geschlechtsorgan.
Die Gesundheitsbehörde schreibt zum
Auftreten des «Trippers»: «Auch
­Gonorrhoe kommt vor, ohne dass es
­immer gelingt, die betreffenden weiblichen Personen, welche die Infektion
­bewirkt haben, ausfindig zu machen.»