DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 46

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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 46
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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
15. November 1999
Betr.: Korrespondenten, Scharping, Belgrad
er SPIEGEL als auflagenstärkstes Nachrichten-Magazin Europas
hat auch eine stattliche
Zahl von Berichterstattern in aller Welt: Zu einem Korrespondententreffen reisten vergangene
Woche 26 Kollegen aus 22
Auslandsbüros nach Hamburg. Einige waren etwas
länger unterwegs – sie kamen aus Peking, Rio de Janeiro, Johannesburg und
Tokio. Die Korrespondenten kennen sich aus in SPIEGEL-Auslandskorrespondenten
Kulturen, Eigenarten und
Dialekten ihrer Gastländer. Neben den gängigen Weltsprachen parlieren sie auf Chinesisch, Japanisch, Persisch oder Türkisch, auf Hindi, Tamil und in vielen slawischen
Sprachen. Sie recherchieren im indischen Andra Pradesch, wo die Menschen Telugu sprechen, und führen Interviews auf Hocharabisch – bei Bedarf auch im ägyptischen Nildialekt.
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M. DARCHINGER
er Mann, mit dem SPIEGEL-Redakteur
Hajo Schumacher, 35, vor vier Jahren im
Saal des Mannheimer Kongresszentrums
sprach, hatte gerade seine bitterste Niederlage erlitten: Eben war Rudolf Scharping noch
SPD-Vorsitzender gewesen, nun hatte der
Parteitag überraschend Oskar Lafontaine gewählt. Ein Debakel. „Über meine Gefühlslage bin ich mir im Unklaren“, vertraute Scharping dem SPIEGEL-Mann an. Sieger Lafontaine hat sich inzwischen geräuschvoll von
Schumacher, Scharping (1995)
der politischen Bühne verabschiedet, Verlierer Scharping aber sieht sich stärker denn je. „In Umfragen bin ich als einziger kaum
gefallen“, sagte der Verteidigungsminister vergangene Woche, als Schumacher ihn
im Reichstag traf, und: „Mannheim habe ich verarbeitet.“ Tatsächlich? Schumacher
hegt Zweifel: „Die Verletzung ging damals viel zu tief“ (Seite 26).
B
elgrad liegt nur eine Flugstunde von Frankfurt entfernt, aber die Reise dorthin
dauert fast einen Tag. Da Jugoslawien wegen der Politik des serbischen Diktators Slobodan Milo∆eviƒ von allen westlichen Ländern boykottiert wird, ging der
Weg von SPIEGEL-Autor Erich Follath, 50, über Budapest, dann sechs Stunden weiter mit dem Bus. An der Grenze filzten die Zöllner sein Gepäck besonders gründlich – Journalisten erhalten nur selten ein Visum und geben immer Anlass zu Misstrauen. In Belgrad erlebte Follath eine merkwürdige Stimmung: „Die Menschen sind
verzweifelt, aber auch trotzig, und bei den jungen Leuten herrscht unbändige Lebenslust.“ Follath traf in Kriegsruinen posierende Models, Schwarzhändler mit
gleich mehreren Porsches und Alte, die ihre letzte Habe verkauften: „Keiner hatte ein gutes Wort für Milo∆eviƒ“, sagt Follath, „aber ebenso wenig für die Bomben
des Westens“ (Seite 218).
Im Internet: www.spiegel.de
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M. ZUCHT / DER SPIEGEL
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In diesem Heft
Koalitionskrach ohne Ende
Seiten 22, 24
Medien
Trends: Larass wird Springer-Chef /
Eine Frau für die Sportschau ......................... 133
Fernsehen: Der RTL-Erfolg mit
stürzenden Dominosteinen .......................... 134
Vorschau ....................................................... 135
Journalisten: Das Imperium
des Guido Knopp ...........................................136
Regisseure: Dieter Wedel und
die Steuerfahnder.......................................... 142
Karrieren: TV-Moderatoren
als Trainer für Manager und Politiker............ 148
Fotografen: Bilder-Archiv zum Balkan-Krieg .. 154
Gesellschaft
Szene: Erfolgreiches Strick-Design / Ost-WestBegegnungen im Strahlenschutzbunker ........ 157
Körperkult: Marathonmann
Joschka Fischer in New York ......................... 158
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Fischer, Schröder
Die Konkurrenz jagt Mannesmann
Seite 118
Mannesmann ist eines der
erfolgreichsten deutschen
Unternehmen – doch mit
dem Erfolg wuchs die Begierde der Konkurrenz. Jetzt
plant der Mobilfunkgigant
Vodafone sogar eine feindliche Übernahme des Konzerns. Die Fusionen in
der Telekommunikationsindustrie werden immer gewaltiger, keiner scheint sicher: Wer gestern noch Jäger
war, wird heute selbst gejagt. Mannesmann-Mobilfunk-Zentrale in Düsseldorf
Der Tod im Klassenzimmer
Seite 112
Lehrer fordern den Einsatz von Polizei und Videokameras auf dem Schulhof, nachdem ein 15-jähriger Gymnasiast in Meißen seine Lehrerin erstach. Experten warnen
davor, der wachsenden Aggression allein mit Härte nach US-Vorbild zu begegnen.
Fatale Folgen des Ruhms
Seite 168
Der Ruhm, von dem so
viele Künstler und Filmstars träumen – er gerät leicht zum Fluch.
Wer seiner Rolle untreu
wird, muss mit Misserfolg rechnen. US-Autorin Erica Jong berichtet
aus eigener Erfahrung:
Nach ihrem Bestseller
von 1973 „Angst vorm
Fliegen“ leide sie noch
heute am Image einer
vom Sex besessenen
Filmstars Emma Thompson, John Travolta, Ehefrau Kelly (M.) Frau.
REUTERS
Wirtschaft
Trends: HypoVereinsbank plant Übernahme
der Dresdner Bank / Telekom trickst
beim Kabel-Verkauf....................................... 115
Geld: Rallye an den Weltbörsen? /
Lebensversicherungen wenig attraktiv........... 117
Telekommunikation: Angriff
auf Mannesmann ........................................... 118
Währungsfonds: Ein deutscher Staatssekretär
soll an die Spitze des IWF ............................ 121
Software: Bill Gates bleibt hart.................... 122
Unterhaltungselektronik: SPIEGEL-Gespräch
mit Philips-Chef Cor Boonstra über die
Probleme beim Umbau des Traditionskonzerns 124
Steuern: Brüssel gegen Dumping ................. 128
Marketing: Kalter Kaffee als Kultgetränk..... 130
M. S. UNGER
Deutschland
Panorama: Expertenkommission will
Arztbesuche verteuern / Korruption
bei der Autobahnpolizei .................................. 17
Koalition: Fliehen oder standhalten?.............. 22
Grüne: Der Exodus der frustrierten Basis....... 24
SPD: Der heimliche
Kanzlerkandidat Scharping............................. 26
Berlin: Der Abstieg des Eberhard Diepgen..... 28
Hauptstadt: Die geteilte Regierung ............... 62
Debatte um die Reste des „Führerbunkers“ ... 80
Sozialdemokraten: SPIEGEL-Gespräch
mit Ministerpräsident Reinhard Höppner
über die Wahlniederlagen seiner Partei........... 68
Innere Sicherheit: Städte überwachen
ihre City per Video ......................................... 76
Kriminalität: Erstmals steht ein Richter
wegen diverser Delikte vor Gericht ................ 78
Justiz: Menschenrecht für Egon Krenz? ......... 84
Markenschutz: Konzerne prozessieren
um ihre Namen............................................... 90
Stasi: Drei IM bei „Bild“ enttarnt ................. 92
Bundeshaushalt: Die Risiken der
Exportförderung ............................................. 98
Strafjustiz: Hartes Urteil im Essener
Hooligan-Prozess .......................................... 104
Ausländer: SPIEGEL-Gespräch mit
Innenminister Otto Schily über die Kritik
an seiner Asylpolitik ..................................... 107
Gewalt: Nach dem Tod einer Lehrerin
in Meißen warnen Experten vor Panik .......... 112
Erziehungswissenschaftler Wolfgang Melzer
über Ursachen und Folgen der Bluttat........... 113
Auch Schröders Treueschwur
„Nur mit euch“ beruhigt die
Grünen nicht. Die Basis erregt
sich über rot-grüne Konfliktthemen wie Rüstungsexporte
oder Ökosteuer. Grüne Minister versuchen, die Koalition
zusammenzuhalten. Doch die
Fraktion hat die Lust an der
Partnerschaft verloren. Die
zerstrittenen Koalitionäre wollen sich nun wenigstens auf ein
Atomausstiegsgesetz einigen.
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H. KAISER / TRANSPARENT
Titel
Der Parteispendenskandal – eine
neue CDU-Affäre?.......................................... 32
Wie Thyssen die Operation Fuchs
einfädelte ........................................................ 40
Justiz: Immer mehr Länder lassen
Gefängnisse von Privatfirmen bewachen....... 164
Stars: Erica Jong über die Falle des Ruhms.... 168
100 Tage im Herbst
Wende und Ende des SED-Staates (8)
„Ich liebe doch alle“ – Die Stasi
unterwandert das Reformkabinett .............. 177
Porträt: Hans Modrow .................................... 194
Analyse: Wie die DDR-Wirtschaft
zusammenbrach......................................... 198
Ausland
AP
Menschenmenge vor der Kocatepe-Moschee in Ankara
Die Türkei trumpft auf
Seiten 206, 210
Der OSZE-Gipfel am Bosporus soll den türkischen Anspruch auf einen Platz in Europa untermauern, sogar Oppositionelle fordern die Aufnahme in die EU. Umgeben
von Feinden, muss Ankara aufrüsten, behauptet Verteidigungsminister Çakmakoglu.
Panorama: Atomausstieg in Schweden /
Neue Löcher bei der BSE-Kontrolle.............. 203
Türkei: Europas ungeliebter Partner ............. 206
Unruhe vor dem OSZE-Treffen..................... 208
Interview mit Verteidigungsminister
Çakmakoglu über Ankaras Aufrüstung ......... 210
Russland: Machtkampf der Generäle ........... 214
Jugoslawien: Das süße Leben
der Kriegsgewinnler ...................................... 218
Indonesien: Zerbricht das Riesenreich? ....... 224
Südtirol: Unheimlicher Nachbar Haider....... 228
Kuba: Castro sichert seine Macht.................. 232
Brasilien: Interview mit Staatspräsident
Cardoso zum Gipfeltreffen in Havanna......... 235
Polen: Rückkehr auf schlesische Güter ......... 238
Zeitgeschichte: Rolf Hochhuth über
die jüngsten Enthüllungen zu Pius XII. ......... 246
Israel: Angst vor Millenniums-Anschlägen ... 250
Sport
Lust auf
alte Zeiten
Skispringen: Die großen Pläne von RTL
mit Weltmeister Martin Schmitt .................... 254
Fußball: Torhüter Jens Lehmann über
Fanproteste und seine angebliche Arroganz ... 260
Seite 299
Wissenschaft • Technik
Prisma: Spätschäden durch LeistenbruchOperationen / Roboter als Schnecken-Killer ... 265
Medizin: Tod durch Gentherapie .................. 268
Lebensmitteltechnik: Ein Berliner
Forscher löst das Altbrot-Problem ................. 274
Automobile: Sind Ölwechsel überflüssig? ..... 276
Atomenergie: Der Abriss in Greifswald ....... 280
Psychiatrie: Neue Studie über das
unterschätzte Volksleiden Depressionen ....... 288
Tiere: Warum hat die Riesenschildkröte
George keine Lust auf Sex?........................... 290
AKG
Kein Abschied vom Gestern: Historische Romane und Biografien sowie
geschichtssatte TV-Movies überfluten
zur Jahrtausendwende das Publikum.
Im Rückspiegel viel alte Prominenz:
Kleopatra und Jeanne d’Arc, Pontius
Pilatus und sein Opfer Jesus Christus.
Das Geschäft mit der Geschichte
dient freilich mehr der Unterhaltung
und Erbauung als dem Verstehen der
Vergangenheit.
Historien-Heldin Kleopatra
Die Risiken der Gentherapie
Kultur
Seite 268
In den USA starb ein junger Freiwilliger bei einem Versuch mit gentechnisch veränderten Viren. Das Medizin-Experiment mit Todesfolge beschäftigt weltweit die
Bioforscher: Ist es für einen Einsatz der Gentherapie am Menschen noch zu früh?
H. RAUCHENSTEINER
Ski-Adler für RTL
Seite 254
Mit Martin Schmitt flog vorigen Winter ein
neuer Held in die deutschen Herzen. RTL kaufte daraufhin die Übertragungsrechte fürs Skispringen. Der Weltmeister soll Quote machen.
Schmitt
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Szene: Streit um Stockhausens
„Licht“-Klänge / Konsaliks Nachlass ............ 293
Ausstellungen: Wolfsburger Schau „German
Open“ feiert junge deutsche Kunst ................ 296
Buchmarkt: Boom für historische Romane ... 299
Bestseller..................................................... 302
Fernsehspiele: TV-Spektakel um Jeanne
d’Arc und andere Helden der Geschichte...... 306
Intendanten: Der Münchner Staatstheaterchef Eberhard Witt gibt auf ................ 310
Musik: SPIEGEL-Gespräch mit dem
Komponisten Pierre Boulez über die
Zukunft der Neutöner ................................... 312
Kunst: Die „Perfekte Welt“ des Objektmachers Jason Rhoades in Hamburg............. 320
Pop: Gitarren-Legende Eric Clapton ........... 324
Film: David Cronenbergs „eXistenZ“........... 330
Briefe ............................................................... 8
Impressum .............................................. 14, 332
Leserservice ................................................ 332
Chronik......................................................... 333
Register ....................................................... 334
Personalien .................................................. 336
Hohlspiegel/Rückspiegel............................ 338
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Briefe
„Statt ,Der ausgeplünderte
Patient‘ hätte man auch ,Der entmündigte Patient‘ titeln können,
der es lernen muss, sich gegen
den Diagnose- und Therapiewahn
zur Wehr zu setzen.“
Jürgen Schumacher aus Pulheim (Nordrhein-Westfalen) zum Titel
„Der ausgeplünderte Patient“
SPIEGEL-Titel 44/1999
Bochum
Prof. Dr. Dietrich Grönemeyer
Inst. für MikroTherapie, Uni Witten/Herdecke
Es ist wahr, dass unser verkrustetes, innovationsfeindliches und von Standesinteressen dominiertes Gesundheitssystem
grundlegend reformiert werden muss.
Dafür gibt es bei vielen Ärzten weit mehr
Bereitschaft, als dies das Feldgeschrei der
um ihre Privilegien fürchtenden Verbandsfunktionäre vermuten lässt. Das Gesundheitswesen muss vor allem die Gesundheit erhalten und fördern, statt fast
ausschließlich am Kranksein zu verdienen.
Immer häufiger treten chronische Vorschädigungen auf, der Sachverständigenrat nennt 40 Millionen Menschen, die in unserem Land davon betroffen sind, so dass
die Stufendiagnostik mit ihrer RundumÜberweisung nicht nur immer teurer wird,
sondern auch immer häufiger wirkungslos
bleibt, weil sie viel zu spät ansetzt.
Michael Müller
MdB/SPD
Niemand beklagt sich über eine Zweiklassengesellschaft beim Auto und fordert einen
Mercedes für jeden Bürger. Auch hier sterben vermutlich viele früher, da sie bei einem Unfall in einem Kleinwagen und nicht
in einer großen Limousine saßen. Erst wenn
solche Denkweise im Gesundheitswesen
selbstverständlich wird, wird man nicht
mehr den diskriminierenden Begriff Zweiklassengesellschaft verwenden. Sondern es
wird Menschen geben, die sich hohe Ausgaben für die Erhaltung der Gesundheit leisten können, und solche, die es nicht können
oder wollen. Es kann nicht Aufgabe der Gesellschaft sein, jedem einen „GesundheitsMercedes“ zur Verfügung zu stellen.
Wegberg (Nordrh.-Westf.) Prof. Jürgen Bruns
Selbstbeteiligung ist das Zauberwort. Runter mit den Kassenbeiträgen und 20-prozentige Selbstbeteiligung des Patienten an
jeder Arztrechnung. Effizienter geht’s nicht.
Der Patient erkennt die Kostenstruktur. Er
kontrolliert die Rechnung des Arztes und
schaut der Pharmaindustrie auf die Finger.
Konstanz
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Die rasante Entwicklung der Hightech-Medizin sowie der damit verbundenen Kostenexplosion wurde von uns Ärzten gar
nicht so recht wahrgenommen und kostenmäßig entsprechend gegengesteuert. Jetzt,
wo es zu spät ist, will man auf Kosten der
Grundversorgung die Hightech-Medizin finanzieren, und das klappt nicht. Mit einer
einzigen Organtransplantation
einschließlich Nebenkosten, die
es vor 20 Jahren so gut wie nicht
gab, könnte man hunderte anderer Operationen finanzieren.
Hamburg
Gesundheit ist für viele sehr wichtig. Ist es
also falsch, wenn das Gesundheitswesen bei
uns mit etwa zehn Prozent einen großen
Anteil am Bruttosozialprodukt hat? Was
spricht also dagegen, das Gesundheitswesen
positiv als eine der wenigen arbeitsplatzintensiven Wachstumsbranchen zu betrachten?
Weinheim (Bad.-Württ.)
Dr. W. Wetzel
Dr. med. Udo Fuchs
H. MORGAN / SPL / AGENTUR FOCUS
Zauberwort Selbstbeteiligung
Nr. 44/1999, Titel: Der ausgeplünderte Patient
Berlin
novationen zulassen, medizinische Netzwerke und Managementprozesse stärker
fördern und sich auch selbst medizinisch
und technisch weiterbilden würden. Viele
medizinische Innovationen und Therapieansätze wie die Endoskopie kommen gerade
aus Deutschland. Schulmedizin und Naturheilkunde, Hightech- und Umweltmedizin,
Gesundheitsförderung und medikamentöse
Therapie oder Telemedizin sind kein Widerspruch, sondern ergänzen sich hervorragend in einer zukünftigen Medizin. Daher: keine Gesundheitsreform jetzt, sondern Konsensdiskussion aller Beteiligten.
Mit reißerischer Diffamierung
der Ärzteschaft wird der notwendige Umschwung nicht gelingen; es sind doch auch die
Supermärkte nicht die Ursache
für die Fettsucht der Deutschen.
Hamburg
Dr. med. Dierk Abele
Patient im Positron-Emissions-Tomografen
Schulmedizin und unkonventio- Finanzierung auf Kosten der Grundversorgung
nelle oder psychosoziale Therapieansätze müssen nicht im Widerspruch Grundsätzlich belebt Konkurrenzdruck das
stehen, wie sich auch innovative Hightech- Geschäft, doch was die Krankenkassen darVerfahren in Diagnose und Therapie inte- aus gemacht haben, kostet uns Millionen.
grieren lassen. Die Rolle des Hausarztes als Neu errichtete BKKs schnappen den übriFamilienarzt und „Freund des Patienten“ gen Kassenarten auf Grund ihres niedrigen
muss ebenso wieder entdeckt werden, wie Beitrages die Kundschaft weg. Diese Beidie Optimierungsreserven des bestehenden tragssätze sind nur zu erreichen, wenn man
Systems ausgeschöpft werden müssen. Zwar sich die gesunden Risiken (junge, gut ververdoppelt sich das medizinische Wissen dienende Arbeitnehmer) herauspickt. Älalle fünf Jahre, neue Erkenntnisse werden tere Menschen bleiben lieber beim Altgeaber viel zu langsam in der Praxis wirk- wohnten – wie AOK, BEK oder DAK. Die
sam. Eine Kostenexplosion würde nicht statt- Versichertenstruktur dieser Kassen überalfinden, wenn Politik und Krankenkassen tert, die Folge sind noch höhere Beiträge.
einschließlich der Verbandsfunktionäre In- Niederelbert (Rheinl.-Pf.) Jürgen Mettler
Vor 50 Jahren der spiegel vom 17. November 1949
Gründung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Skeptisches Missvergnügen des Herausgeberteams. Bei der New Yorker Bürgermeisterwahl
siegt der Demokrat William O’Dwyer Das hundertste Oberhaupt in der
Geschichte der Weltstadt. Uno debattiert über die Zukunft Jerusalems
Für drei Religionen eine heilige Stadt. Publizistische Hitlerverehrung in
Südafrika Der Regierung ist die Pressefreiheit heilig. Der britische Dichter Somerset Maugham veröffentlicht sein „Notebook“ Großer Erfolg in
England. Entdeckung des Cortisons Nach einer Woche beschwerdefrei.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de
Titel: Die Schauspielerin Elisabeth Flickenschildt
Claus E. Dürke
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M. TRIPPEL / OSTKREUZ
Warum nehmen wir nicht die Leistungspflicht für alle mit Urlaubsreisen verbundenen Unfälle aus dem System? Private
Reiseunfallversicherungen sind preiswert
abzuschließen! Es ist doch nicht einzusehen, dass jemand, der teure Skiausrüstung
kaufen kann und fürs Skifahren 2500 Mark
ausgibt, die Behandlung seines Knochenbruchs von der Solidargemeinschaft bezahlt bekommt.
Westfamilie Tzschentke in Brieselang
Hoffnungen, Wünsche, Träume
Mühlenbeck (Brandenburg) Heinz-Gerd Reese
Es liegt doch nahe, die Kosten durch systematische Prophylaxe zu senken, was sich
vermutlich auch finanziell positiv auswirken würde. Andere Länder haben in dieser
Hinsicht schon große Erfolge erzielt, zum
Beispiel Schweden bei Zahnerkrankungen
oder Japan bei Darmkrebs.
Ich kann ein hämisches Grinsen leider
nicht unterdrücken: Es ist seit fast zehn
Jahren ein Herzenswunsch von mir, dass es
den Wessis eines Tages so gehen wird wie
zehntausenden Ossis, die seit dem Fall der
Mauer mit großen Hoffnungen, Wünschen
und Träumen ihre Heimat verlassen haben,
um im Westen neu anzufangen.
Karlsruhe
Nürnberg
Dr. Norbert Wingender
Da waren uns die alten Chinesen einige
Jahrtausende vor Christus weit voraus: Ärzte wurden fürstlich entlohnt, wenn ihr Patient während eines Zeitabschnitts gesund
blieb. Mit jedem Kranksein sank ihr Einkommen bis hin zum Kopfverlust mit dem
Tod des Patienten. Das Letzte sollten wir
nicht wieder einführen, aber das andere
selbstregelnde Werk ist eine echte Reform.
Stuttgart
Dieter Pillath
In Ihrem ehrenwerten Eifer, Missstände des
kranken Gesundheitssystems aufzuzeigen,
schießen Sie an einigen Stellen über das
Ziel hinaus. So sind wir Psychologischen
Psychotherapeuten, die seit 1999 gleichberechtigt mit den Ärzten mit den Kassen
abrechnen, keineswegs „von der weißen
Armee rekrutiert und an die Geldtöpfe gelassen“ worden. Vielmehr wurde eine seit
Jahrzehnten bestehende Situation berufsrechtlich umgesetzt. Da die Zahl der bisherigen Vertragsbehandler, der ärztlichen
Psychotherapeuten, niemals ausgereicht
hat, wurden seit vielen Jahren je nach Region 50 bis 80 Prozent der Psychotherapien von qualifizierten „freischaffenden Psychologen“ durchgeführt, die jedoch jeden
einzelnen Fall unter teilweise für die Patienten entwürdigenden Umständen durchsetzen mussten. Durch die nun eingeführte
Regelung entstehen dem Öffentlichen Gesundheitssystem also keinerlei Mehrkosten.
Hamburg
Dipl.-Psych. Mathias Kohrs
Dumme Mitbürger gibt es überall
Nr. 43/1999, Einheit:
Frustrierte Westler verlassen den Osten
Es scheint reizvoller zu sein, über Westbürger zu berichten, die in den neuen Ländern gescheitert sind, als darüber, wie sich
Westdeutsche – ohne Ossis zu werden –
dort eingebracht haben. Es ist schon viel zusammengewachsen, was zusammengehört.
Quedlinburg (Sachs.-Anh.) Karsten Knolle
CDU-Kreisvorsitzender
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Lutz Hädrich
Wir haben stark kontrastierende Gemeinden im brandenburgischen Umland von
Berlin untersucht: einmal Gemeinden, in
denen eine streitende lokale Öffentlichkeit
mit den Ost-West-Kalamitäten auf produktive und „lernende“ Weise umgeht; dann in
der Tat Gemeinden, in denen sich tendenziell kulturelle Schließungen und Abschottungen durchsetzen, mit der Gefahr einer
selbstzerstörerischen und kumulativen Verstärkung von Entwicklungshemmnissen.
Wenn man nur, wie Sie es tun, den zweiten
Gemeindetypus erwähnt und ihn unter
„Umschreibung“ von Tendenz- zu Wesensaussagen zur Grundstruktur von brandenburgischen Verhältnissen und Mentalitäten
insgesamt verallgemeinert, ergibt sich ersichtlich ein schiefes Bild. Das aber kann
nur vorhandene Tendenzen zur Bildung
von Gegenmythen auf den Plan rufen.
Erkner (Brandenburg)
Dr. Ulf Matthiesen
Institut für Regionalentw. u. Strukturplanung
Dumme Mitbürger gibt es überall, und ich
würde gern einmal wissen, wie die Kinder
eines rechtschaffenen Türken in München
von deutschen Kindern behandelt werden.
Die Realität im Osten sieht erheblich anders aus als die von Ihnen als allgemein
gültig geschilderten Einzelfälle.
Günding (Bayern)
Horst H. Goldner
Was Frau Tzschentke erzählt, zeigt nur, dass
es viele Facetten gibt und Toleranz und Willen zur Nachbarschaft von beiden Seiten gefragt ist. Mehr als die Hälfte der Einwohner
von Brieselang kommen inzwischen aus dem
Westen, kein Eingesessener glaubt, dass
man gegen diese und ihre mitgebrachte Kultur regieren kann. Wegzüge gibt es kaum.
Brieselang (Brandenburg) Walter Rosenberg
Wenn man in ein anderes Bundesland
zieht, weiß man, dass man sich erst mit
dem Umfeld vertraut machen muss. Ich
habe es bisher immer so gehalten, dass
man offen aufeinander zugeht.
Schönwalde (Brandenburg)
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Christel Paul
Briefe
Doppelbödige Moral
Nr. 44/1999, Zwangsarbeiter:
Druck auf zahlungsunwillige Firmen
DPA
Wer in der Zwangsarbeiter-Frage etwas zu
seiner Verteidigung unternimmt, hat seinen
Stempel weg: Getroffene Hunde bellen
eben. Schließlich ist die moralische Dimension dieses von den Nazi-Schergen veranlassten Unrechts so schrecklich, dass jeder Versuch einer Rechtfertigung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Was
also kann man tun? Zahlen, ob zu Recht
oder Unrecht, damit man Ruhe hat? Das
wäre in unserem Fall nicht nur die einfachste, sondern – wegen der theoretisch nur
geringen Anzahl von möglichen Zwangsarbeitern – auch die billigste Lösung. Die
Doppelbödigkeit dieser Moral ist aber zu
durchsichtig. Auch auf die Gefahr also hin,
als „Drückeberger“ dazustehen, versuchen
wir dennoch, unseren Erkenntnisstand
nicht völlig in den Hintergrund zu drängen: Ob das Konstruktionsbüro Dr. Ing. h.
c. F. Porsche KG während der Nazi-Diktatur Zwangsarbeiter beschäftigte, lässt sich
heute nicht mehr zweifelsfrei feststellen.
Dies überrascht insofern nicht, da in
Konstruktionsbüros kein Bedarf am industriemäßigen Einsatz von Zwangsarbeitern
Zwangsarbeiter im Automobilwerk (1942)
Zahlen, damit man Ruhe hat?
bestanden haben kann. Der 74-jährige Pole,
der nach eigenen Angaben von März 1942
bis April 1945 zur „Zwangsarbeit“ bei der
damaligen Porsche KG eingesetzt war, belegt seinen Anspruch auf Lohnnachzahlung
und Schmerzensgeld mit einer AOK-Versicherungskarte. Am 24. November 1999 will
das Landgericht in der Klage des Polen gegen die Dr. Ing. h. c. Porsche AG entscheiden. Wir werden das Urteil prüfen und
dann überlegen, wie wir weiter verfahren.
Stuttgart
Anton Hunger
Porsche AG
Wer entschädigt die verschleppten und
zwangsrekrutierten Deutschen, die nach
dem 8. Mai 1945 in der Sowjetunion, der
Tschechoslowakei, in Polen und Jugoslawien
zur Arbeit gezwungen wurden? Für unsere
Politiker scheint es auch ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende nicht opportun
zu sein, diese Frage zu stellen. In Washington haben diese Deutschen keine Lobby.
Erkrath (Nordrh.-Westf.)
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Dr. Walter Roth
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Briefe
Nürnberg Dr. F. Kleefeld
Universität Erlangen
P. GINTER / BILDERBERG
Als ehemaliger Physikstudent an der Uni
Hamburg habe ich am
Desy-FortgeschrittenenPraktikum teilnehmen
müssen. Dabei blieben
mir zwei Vorkommnisse
im Gedächtnis haften:
Der erste Praktikumsassistent hat uns voller
Wissenschaftler im Desy: Bis zu den Grundfragen der Existenz Stolz und Begeisterung
von seiner Doktorarbeit
erzählt, in der er jahrelang einem unbekannten Teilchen auf der Spur war, bis sich
Beneidenswerter Rekord
dieses als systematischer Messfehler mit
Nr. 44/1999, Debatte: Teilchenforscher Hans Graßmann
Teilchencharakter entpuppt hat; auf die
über den Ausverkauf der modernen Physik
Frage, wann denn die ForschungsergebnisDesy ist eines der leitenden Forschungs- se des Desy in die Praxis umgesetzt werzentren der Welt, sowohl für die Syn- den, hat uns ein anderer Praktikumsassichrotronstrahlung als auch für die Teilchen- stent geantwortet, dies dauere noch vorphysik. Weit davon entfernt, den „Laien aussichtlich circa 60 bis 100 Jahre.
für dumm zu verkaufen“, hat Desy ein her- Bremen
Carsten Wochnowski
vorragendes und erfolgreiches Programm,
um die Forschung dem Publikum näher zu In verständlichem Zorn über das Chaosbringen. Ganz im Gegensatz zur Behaup- Geschwafel lässt sich Graßmann leider getung, „Desy liefert nur irrelevante und hen: Trotz Rumlesen in über einem Dutzend
langweilige Ergebnisse“, stellen die Ergeb- Büchern wisse er „bis heute nicht, was das
nisse von Hera die Basis für unsere heuti- eigentlich sein soll: die Chaostheorie. Ich
ge Kenntnis der starken Wechselwirkung glaube, es gibt sie gar nicht“. Die Chaosdar, einer der vier grundlegenden Kräfte theorie, die in den Köpfen vieler Intellekder Welt.
tueller spukt, gibt es wohl tatsächlich nicht.
Aber Physiker sollten den Spuk dingfest
Bristol/Hamburg
Prof. Brian Foster
machen, statt mit Unwissen zu kokettieren.
University of Bristol/Desy
Nürnberg
In der Welt der Elementarteilchen geht es
nicht so einfach zu, wie Herr Graßmann
dem Laien vorgaukelt. Sie wird beherrscht
von den Gesetzen der Quantenphysik und
Relativitätstheorie. Begriffe und Vorstellungen aus der gewohnten makroskopischen Welt kann man auf sie deshalb nicht
so ohne weiteres übertragen. Eine daraus
resultierende Unanschaulichkeit der Geschehnisse im subatomaren Bereich haben
die Physiker nicht erfunden, sondern gefunden und als Naturgesetz erkannt. Ungeachtet dieser Schwierigkeiten ist die Elementarteilchenphysik aber auf dem Weg,
zu den Grundfragen der Existenz von
Raum, Zeit und Materie vorzudringen.
München
Prof. Gerd W. Buschhorn
Max-Planck-Institut für Physik
Neben der Suche nach neuen Erkenntnissen besteht eine, wenn nicht die Hauptaufgabe von Großforschungsanlagen wie
dem Cern und dem Desy in der internationalen Zusammenarbeit, Aus- und Weiterbildung von Wissenschaftlern und der
Weiterentwicklung und Erforschung von
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Ich wage zu behaupten, dass unsere romanischen Nachbarn das unserer deutschen
„Scheiße“ entsprechende Wort öfter als wir
verwenden. Und dass im Deutschen im Gegensatz zu den romanischen Sprachen asexuell geschimpft würde, sehe ich auch
nicht so. In Baden-Württemberg etwa gibt
es so schöne Kraftausdrücke wie „Seggl“,
was das männliche Geschlechtsorgan bezeichnet, oder „Heilandssack“ (sexuell und
religiös!) oder „Hundsfott“. Auch im Hochdeutschen kennt man „Wichser“, „Fotze“,
„Ficker“, „Dummficker“. Die Aufforderung
„Fick dich ins Knie“ ist bei Kids nicht beliebt, der Trend geht zu Geringschätzungen wie „Behinderter“, „Krüppel“, „Spastiker“, nicht, wie Professor Gauger behauptet, vom Exkrementellen zum Sexuellen. Das haben die Kids schon hinter sich.
Berlin
Dipl.-Psych. Charlotte Schneller
Dass die Deutschen zum Schimpfen vor
allem die Sphäre des Exkrementellen verwenden, wird tendenziell als zurückgeblieben charakterisiert. Aber ist der „nicht
zurückgebliebene“ Trend wirklich so fortschrittlich? Vielleicht hat ja die Sexualität
in Deutschland noch einen höheren Stel-
Dr. Werner Schneider
Das Desy hält einen beneidenswerten Forschungsrekord. Da sind zum Beispiel die
Entdeckung des Gluons zu nennen und seine wichtige Arbeit im Bereich der Synchrotronstrahlung. Aber nichts davon hat
Hans Graßmann erwähnt.
Genf (Schweiz)
Jonathan R. Ellis
Cern
VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama,
Grüne, Berlin, Titel (S. 32), Sozialdemokraten, Innere Sicherheit,
Kriminalität, Hauptstadt (S. 80), Markenschutz, Stasi, Gewalt, Justiz
(S. 164): Ulrich Schwarz; für Koalition, SPD, Hauptstadt (S. 62),
Justiz (S. 84), Bundeshaushalt, Ausländer: Michael Schmidt-Klingenberg; für Titel (S. 40), Trends, Geld, Telekommunikation, Währungsfonds, Software, Unterhaltungselektronik, Steuern, Marketing, Journalisten, Regisseure, Karrieren: Armin Mahler; für Fernsehen,
Fotografen, Szene, Stars, Zeitgeschichte, Ausstellungen, Buchmarkt, Bestseller, Fernsehspiele, Intendanten, Musik, Kunst, Pop:
Dr. Mathias Schreiber; für Körperkult: Cordt Schnibben; für 100 Tage
im Herbst: Jochen Bölsche; für Panorama Ausland, Türkei,
Russland, Jugoslawien, Indonesien, Südtirol, Kuba, Brasilien, Israel:
Hans Hoyng; für Skispringen, Fußball: Alfred Weinzierl; für Prisma, Medizin, Lebensmitteltechnik, Automobile, Atomenergie,
Psychiatrie, Tiere, Chronik: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die
Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel:
Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout:
Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom
Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg)
TITELBILD: Foto AFP
d e r
Fortschrittlicher Trend?
Nr. 44/1999, Sprache: Interview mit dem
Schimpfwort-Experten Hans-Martin Gauger
über die Kunst des Fluchens in Europa
K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL
Schlüsseltechnologien.
Insofern ist der hierbei
vergleichsweise geringe
(!) Einsatz von Steuergeldern durchaus gerechtfertigt.
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Sprachforscher Gauger
Das haben die Kids schon hinter sich
lenwert und wird deshalb nicht so häufig
zum Schimpfen verwendet.
Erkrath (Nordrh.-Westf.)
Georg Schanz
Die Aussage, dass im Deutschen das Wort
für das weibliche Geschlechtsorgan kein
(gängiges) Schimpfwort war, stimmt nicht.
Seit dem 15. Jahrhundert wird das vulgäre
„Fotze“ als Schimpfwort benutzt. „Arschficker“, „Knieficker“ und „Katzenficker“
sind mir seit den dreißiger Jahren bekannt.
Hamburg
Friedrich W. Usbeck
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
Einer Teilauflage dieser Ausgabe ist eine Postkarte der
Firma Toshiba, Neuss, und eine Postkarte der Deutschen
Telekom, Bonn, beigeklebt. Einer Teilauflage liegen Beilagen der Firmen Giordano, D’Alba, Handelsblatt Wi/Wo,
Düsseldorf, Universal Music, Hamburg, und Hoffmann
& Campe/SPIEGEL Almanach, Hamburg, bei.
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
Mosdorf
M. EBNER
J. EIS
LS PRESS
Panorama
Metzger
Merz
GESUNDHEIT
P. WINANDY / JOKER
Patienten sollen
mehr draufzahlen
W
ährend Bundesgesundheitsministerin Andrea
Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) ihr Gesundheitsgesetz zerstückelt, um eine Blockade der Herzkatheter-Untersuchung (in Aachen)
von der Union regierten Länder im Bundesrat zu
umgehen, legen Experten neue Vorschläge auf den Tisch. Am Das Papier steht im krassen Widerspruch zu den Vorstellungen
Dienstag dieser Woche will die „Reformkommission Soziale der Gesundheitsministerin. So fordert die Kommission, getraMarktwirtschaft“ in Berlin ein 31 Seiten starkes Papier vor- gen von mehreren Stiftungen, eine stärkere Kostenbeteiligung
stellen, in dem sie eine grundlegende Änderung der gesetzli- der Patienten, wenn sie zum Arzt gehen oder sich Medikamente verschreiben lassen.
chen Krankenversicherung fordert.
Dabei bringt schon die Liste der Autoren die Ministerin in Be- Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung seien
drängnis. Zu den Mitgliedern der Reformkommission zählen auf eine Basisversorgung zu beschränken. Weiterhin schlägt die
nicht nur Wirtschaftswissenschaftler, sondern auch eine unge- Kommission vor, die Versicherungsbeiträge von Löhnen und
wöhnliche Bundestagskoalition: CDU-Finanzexperte Friedrich Gehältern abzukoppeln. Stattdessen solle künftig das gesamte
Merz, SPD-Wirtschaftsstaatssekretär Siegmar Mosdorf und steuerpflichtige Einkommen eines Familienhaushaltes als Bemessungsgrundlage dienen.
Grünen-Haushaltsexperte Oswald Metzger.
Bahnmillionen
verschlampt?
T
hüringens Ex-Innenminister Willibald Böck (CDU) soll als Geschäftsführer bei einem Tochterunternehmen
der Bahn einen Millionenschaden verursacht haben und muss mit juristischen
Konsequenzen rechnen. Böck, der erst
vor zwei Wochen wieder Vorsitzender
des Innenausschusses im Thüringer
Landtag wurde, war von April 1993 bis
Dezember 1996 Geschäftsführer der
Projekt-Entwicklung-Kirchmöser
GmbH (PEK) in Brandenburg. Die Aufgabe der Gesellschaft war die Vermarktung der flächenmäßig größten Liegenschaft der Deutschen Bahn (rund 6,5
Millionen Quadratmeter) in Kirchmöser. Nachdem die Eisenbahnimmobilien-Management GmbH (EIM) die PEK
Ende 1996 übernommen hatte, wurden
dort zahlreiche Ungereimtheiten festgestellt. Angesichts der „erheblichen Verfehlungen der Geschäftsführung der
PEK“ wies das Bundesverkehrsministe-
rium daraufhin die EIM an, von Böck
Schadensersatz zu verlangen. Vergangene Woche reichte das Unternehmen
beim Landgericht im thüringischen
Mühlhausen eine Klage in Höhe von 3,8
Millionen Mark gegen den Unionspolitiker ein. Böck soll unter anderem Zahlungen an Firmen oder Personen veranlasst haben, die nicht nachvollziehbar
gewesen seien. Zudem soll er Unternehmen zu überhöhten Preisen beschäftigt
und für sich unrechtmäßig Übernachtungspauschalen kassiert haben. Böck
weist die Vorwürfe zurück: „Das ist
wirklich eine Luftnummer.“
BERLIN/TEHERAN
Angst vor
Agenten-Prozess
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F. SOMMARIVA
A F FÄ R E N
Böck
d e r
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ie Bundesanwaltschaft hat Anklage
erhoben gegen Hamid Chorsand,
einen mutmaßlichen Agenten des iranischen Geheimdienstes. Er soll in
Deutschland die Exil-Gruppe „Nationaler Widerstandsrat Iran“ ausspioniert
haben. In diesem Monat soll der Prozess vor dem 1. Strafsenat des Berliner
Kammergerichts beginnen.
Die Richter gelten als ausgewiesene Experten. Sie verhandelten den Fall Mykonos und bezichtigten die Teheraner
Staatsspitze dabei, die Ermordung von
vier Oppositionellen in Berlin in Auftrag gegeben zu haben.
Die Bundesregierung fürchtet nun, dass
der Prozess in Berlin die Aussichten auf
eine baldige Freilassung des im Iran inhaftierten deutschen Geschäftsmanns
Helmut Hofer verschlechtern könnte.
Deshalb hatte das Justizministerium die
Verhaftung von Chorsand monatelang
verzögert.
17
Panorama
TA N K S T E L L E N
Defekte Rüssel
ie Umweltminister von Bund und Ländern wollen die Mineralölkonzerne notfalls dazu zwingen, bis Ende 2002 alle Zapfsäulen in Deutschland
mit kostspieligen Störmeldern aufzurüsten, die sofort jeden Defekt an den so genannten Saugrüsseln
anzeigen. Die Rüssel sollen beim Tanken vor giftigen Dämpfen schützen. Nach Erkenntnissen des Zapfhahn mit Absaugvorrichtung
Staatlichen Amtes für Umweltschutz in Duisburg
sind sie aber bei jeder dritten Zapfsäule defekt. Die Umwelt- ralölwirtschaftsverband die Nachrüstkosten. Die Unternehmen
Ressortleiter haben der Industrie das Ultimatum gestellt, sich wollen die Störmelder deshalb nur bei neuen Tankanlagen einspätestens im März verbindlich zur Modernisierung bis Ende bauen. Das sei vertretbar, schließlich würden die rund 90 000
Zapfsäulen an den 15 000 deutschen Tankstellen alle fünf bis
2002 zu verpflichten. Schon vom kommenden Juli an sollen die
Tankwarte einmal im Monat alle Saugrüssel manuell prüfen. zehn Jahre ausgetauscht. Bis dahin reiche die Handkontrolle
Sollten sich die Konzerne weigern, wollen die Minister ihre For- durch das Personal aus.
derungen mit einer Änderung der Bundesimmissionsschutz- Dagegen sagt der baden-württembergische Umweltminister
Ulrich Müller (CDU), seine Geduld mit der Mineralölwirtschaft
verordnung durchsetzen.
Noch allerdings mag die Industrie nicht klein beigeben: Auf sei „am Ende“: „Ich erwarte, dass sie endlich technische Löetwa 100 Millionen Mark taxiert Gerhard Sasse vom Mine- sungen präsentiert, die auch funktionieren.“
Entschädigung aus
der Streikkasse?
V
E. ANDRES
or der neuen Verhandlungsrunde
zur Entschädigung ehemaliger NSZwangsarbeiter will Bundeswirtschaftsminister Werner Müller die Industrie
Zwangsarbeiterin, Offiziere (1944)
V E R FA S S U N G S S C H U T Z
Amtshilfe für Schwerin
M
ecklenburg-Vorpommerns Innenministerium hat in Niedersachsen
um Amtshilfe gebeten, weil der eigene
Verfassungsschutz aus dem Ruder zu
laufen scheint. In einem Prozess vor
dem Amtsgericht Wismar wegen eines
Brandanschlags hat sich einer der Angeklagten als V-Mann der Schweriner
18
weiter in die Pflicht nehmen. Sein Vorschlag: Die deutschen Arbeitgeberverbände sollten ihre für Arbeitskämpfe gebildeten Reserven auflösen und damit
ihren bislang zugesagten Entschädigungsanteil von vier Milliarden Mark erhöhen. Müller:„Das Geld wird doch für
Streiks gar nicht mehr gebraucht.“ In
der Stiftungsinitiative der deutschen
Wirtschaft indes wachsen Zweifel, ob es
bei der Verhandlung zu einer Einigung
kommt. Nachdem deren Sprecher Wolfgang Gibowski in der vergangenen Woche ein höheres Angebot abgelehnt hatte, denken die beteiligten Kreditinstitute
nach Angaben eines Frankfurter Bankers nun für den Fall des Scheiterns
über Alternativen nach. Um weitere
Imageschäden abzuwenden, wollten sie
notfalls einen eigenen Fonds gründen.
„Sonst“, so der Bankenvertreter, „schieben uns die Amerikaner jeden Tag vor
laufenden Kameras einen halb toten
Zwangsarbeiter in den Gerichtssaal.“
Geheimen geoutet. V-Mann „Martin“
war Kreisvorsitzender der NPD in
Wismar. Er soll während seiner Tätigkeit für die Ermittler in mehrere
Straftaten, darunter einen versuchten
Totschlag, verwickelt gewesen sein. Um
die Vorgänge aufzuklären, hat Innenminister Gottfried Timm (SPD) nun aus
Niedersachsen den Geheimdienstkontrolleur Neidhard Fuchs angefordert,
einen Referatsleiter im hannoverschen
Innenministerium.
d e r
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A LT E R S S I C H E R U N G
Westerwelle für
Zwangsrente
P
arteiübergreifend gewinnt die Idee
von Sozialminister Walter Riester
(SPD), die Arbeitnehmer neben der gesetzlichen Rentenversicherung noch zu
privater Vorsorge zu verpflichten, neue
Anhänger. Jetzt befürwortet auch FDPGeneralsekretär Guido Westerwelle die
Zwangsrente. Eine Lösung auf freiwilliger Basis, bei der die Arbeitnehmer mit
Steuererleichterungen zum Abschluss
beispielsweise von Lebensversicherungen bewegt werden sollen, hält der Liberale „nicht für fair“. Der Grund:
„Diejenigen, die vorgesorgt haben, müssen dann hinterher doch wieder die anderen, die ihr Geld lieber ausgegeben
haben, mit ihren Steuerzahlungen
durchziehen.“ Sein liberales Credo und
ein Plädoyer für eine Zwangsrente
schlössen sich deshalb keineswegs aus.
REUTERS
NS-UNRECHT
DPA
D
Westerwelle
Deutschland
„Heilsamer Druck“
Der Magdeburger Professor für Politikwissenschaft Wolfgang Renzsch, 49,
über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
SPIEGEL: Herr Professor Renzsch, nach
dem Urteil aus Karlsruhe fühlen sich
alle Ministerpräsidenten als Sieger. Wer
hat sich denn nun wirklich durchgesetzt?
Renzsch: Es gibt keine unmittelbaren Sieger. Die Klageländer Bayern, BadenWürttemberg und Hessen
hatten mit ihren zentralen
Anliegen keinen Erfolg. Etwa
mit der Forderung, künftig
von ihren überdurchschnittlichen Steuereinnahmen nicht
mehr als die Hälfte an die ärmeren Länder abgeben zu
müssen. Davon findet sich in
dem Urteil nichts.
SPIEGEL: Vor allem die neuRenzsch
en Länder befürchteten, im
Streit um die Steuermilliarden die Verlierer zu sein. Sind sie das?
Renzsch: Nein, im Gegenteil, das Gericht hat die Förderung der neuen Länder für verfassungskonform erklärt.
SPIEGEL: Die Karlsruher Richter haben
das so genannte Stadtstaatenprivileg in
Frage gestellt. Damit könnten Berlin,
Hamburg und Bremen bald einige Milliarden fehlen. Gefährdet das Urteil die
Existenz der Stadtstaaten?
Renzsch: Karlsruhe hat das Stadtstaatenprivileg nicht für verfassungswidrig erklärt. Das Gericht fordert lediglich, die
Regelung zu überprüfen. Was sich am
Ende für die Stadtstaaten ändert, muss
sich noch zeigen. Von einer Neugliederung der Länder ist im Urteil keine Rede.
Die Richter haben viele solcher Prüfungsaufträge vergeben. Bund und Länder müssen unbestimmte Rechtsbegriffe
konkretisieren und darlegen,
welche ihrer Ausgaben notwendig sind und welche
nicht. An der Aufgabe haben
sich in der Vergangenheit
schon einige Kommissionen
die Zähne ausgebissen.
SPIEGEL: Nun soll das Vorhaben in drei Jahren abgeschlossen sein. Geht das?
Renzsch: Ich halte das für
schaffbar. Finanzausgleichsfragen sind immer schwierig,
weil es ums Eingemachte,
ums Geld geht. Aber die
Frist, die das Verfassungsgericht nun
setzt, kann einen heilsamen Druck ausüben. Die Argumente sind alle ausgetauscht. Bund und Länder müssen sich
nun einigen, wenn sie verhindern wollen, dass Karlsruhe ihnen nach Ablauf
der Frist die Regularien diktiert.
KRANZ / APIX
L Ä N D E R F I NA N Z AU S G L E I C H
POLIZEI
Training gegen Rechnung
MOTORBUCH VERLAG
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Polizei-Übung zur Geiselbefreiung
d e r
ie Innenminister der Länder und die
Deutsche Lufthansa AG streiten, ob
Spezialeinheiten der Polizei weiterhin kostenlos an Flugzeugen des Konzerns üben
dürfen. Die Sondereinsatzkommandos
trainieren an Lufthansa-Maschinen seit
Jahren vor allem den Kampf gegen Flugzeugentführer. „Nur eine ständige Übungsmöglichkeit“, argumentieren die Ministerien, „gewährleistet die hohe Professionalität der Polizeikräfte bei diesen besonders
schwierigen Einsatzlagen.“ Anders als in
der Vergangenheit will die Lufthansa Technik AG dafür jetzt jeweils Mietgebühren in
Rechnung stellen. Trotz einer Intervention
des sächsischen Innenministers Klaus
Hardraht bei Lufthansa-Chef Jürgen Weber will das Unternehmen nicht nachgeben. Weber argumentiert, die Airline habe
den Polizeien „zuletzt ein Entgelt vorgeschlagen, das unter dem Selbstkostenpreis
liegt“. Die Innenminister fürchten, dass
die Übungen aus Kostengründen erheblich
reduziert werden müssen.
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Panorama
Deutschland
Am Rande
20
Ultimate Fighting (in der Ukraine)
S H OW- K Ä M P F E
Bis zum Tod
D
er nordrhein-westfälische Innenminister Fritz Behrens (SPD) will seine Länder-Amtskollegen dazu bringen,
gemeinsam gegen Extremkämpfe – das
so genannte Ultimate Fighting – vorzugehen. Schaukämpfe, bei denen außer
Beißen, Kratzen und Augenstechen
alles erlaubt ist, müssten Behörden
POLIZEI
Korrupte Abschlepper
H
essische Ermittler sind einem weit
verzweigten Korruptionsgeflecht
bei der Autobahnpolizei auf der Spur.
Die Beamten sollen Vorteile von Abschleppunternehmern angenommen haben – die Palette reicht von Zuwendungen an die Gemeinschaftskassen der
Polizeistationen bis zu großzügigen Rabatten bei Wartung und Reparatur von
Privatwagen. Als Gegenleistung sollen
die Polizisten die Unternehmen bei
Unfällen und Pannen bevorzugt mit
Aufträgen versorgt haben. Eine Sonderkommission des Hessischen Landeskriminalamts (LKA) ist bei verdeckten
Ermittlungen und Razzien nahezu flächendeckend fündig geworden. Nach
LKA-Angaben stehen in Hessen derzeit
dutzende Beamte und Unternehmer im
Verdacht, an den krummen Geschäften
beteiligt zu sein. Schwerpunkt ist der
Raum Frankfurt. Die für die dortige Autobahnpolizei zuständige Staatsanwaltschaft Offenbach hat in einem Fall bereits Anklage erhoben. „Bis Anfang
nächsten Jahres“, sagt der Offenbacher
d e r
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Oberstaatsanwalt Alexander Stahlecker,
„werden gegen acht bis zehn Beamte
sowie vier oder fünf Unternehmer Anklagen oder Strafbefehle folgen.“
Nachgefragt
Erbschleicher Staat
Die Bundesregierung will Erben
stärker belasten. Besonders Immobilien sollen höher besteuert
werden. Was meinen Sie?
Erbschaften
sollten stärker
besteuert
werden
Erben zahlen
heute schon
genug Steuern
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Hat die Türkei eigentlich schon die
Lizenz zum Nachbau
von deutschen Springerstiefeln? Hat sie
nicht? Na dann wird
es aber Zeit: Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott
und den Menschen, von dem Willen
beseelt, dem Frieden zu dienen, kann
der Bundessicherheitsrat jetzt getrost
die Probe-Lieferung eines Springerstiefels an den Bosporus abnicken.
Nach Jahrzehnten, in denen jeder als
Schuft galt, der in seinem Schaft
steckte, hat das Verwaltungsgericht
Leipzig am vergangenen Mittwoch
den Nationalisten-Stiefel vorerst rehabilitiert. Das Tragen von Springerstiefeln ist demnach primär ein Menschenrecht – und nur sekundär dazu
bestimmt, Menschenrechte mit Füßen
zu treten, befanden die Richter.
Geklagt hatte der freiheitlich-national gesinnte Marcel H., nachdem ihm
städtische Bedienstete außer seinen
Stiefeln auch noch die modischen Accessoires Baseball-Schläger, Eisenkette und Messer abgenommen hatten. Nach Auffassung der Richter hatte die Stadt damit in unzulässiger
Weise in das Selbstdarstellungsrecht
des Neonazis eingegriffen. Außerdem
lag seine letzte räuberische Erpressung inklusive Körperverletzung
schon mehr als ein Jahr zurück, Messer und Baseball-Schläger waren damals gar nicht zum Einsatz gekommen. Mithin sei die Wiederholungsgefahr gering. Diese Leitsätze eröffnen anderen umstrittenen Exportgütern neue Chancen: Warum nicht mal
mit einem Leo-Panzer durch die
Fußgängerzonen von Köln oder
Hamburg fahren? Einfach die Munition nicht verballern, außerdem darauf hinweisen, dass schon seit 54 Jahren kein Panzer mehr in deutschen
Städten herumgeschossen hat. Vor
Leipziger Richtern müsste man damit
durchkommen.
AP
Absatz-Kick
künftig „wirksam
unterbinden“, heißt
es in einem NRWPapier, das auf der
nächsten Innenministerkonferenz am
Donnerstag in Görlitz beraten werden
soll.
Mit seiner Initiative
will Behrens verhindern, dass solche
Schaukämpfe nach
regionalen Veranstaltungsverboten einfach in andere Bundesländer verlegt
werden.
Danach sollen sich
die Innenminister
unter anderem frühzeitig über geplante
Extremkämpfe unterrichten, um sie –
zum Beispiel unter Androhung von
Zwangsgeld – untersagen zu lassen. Bei
den Kämpfen würden schwerwiegende
Verletzungen bis hin zum Tod „letztlich in Kauf genommen“. Bei einem
Turnier im niederrheinischen Kleve traten im Januar drei Berliner gegeneinander an, die unter anderem mit einer
Eisenkette und einem stacheldrahtumwickelten Baseballschläger bewaffnet
waren.
15
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72
73
73
*monatliches Haushaltsnettoeinkommen
Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 9. und 10. Oktober;
rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: weiß nicht
Werbeseite
Werbeseite
T. GRABKA / ACTION PRESS
Koalitionspartner Fischer, Schröder: „Angenehme und sympathische Zusammenarbeit“
Grüne Trittin, Müller*: Misstrauen in
KOA L I T I O N
Die Lust verloren
Rot und Grün haben sich auseinander gelebt, doch auseinander gehen können sie nicht.
Die Grünen müssen ihren Untergang fürchten, die Sozialdemokraten
den Machtverlust. Immerhin einigte sich die Regierung nun auf ein Atomausstiegsgesetz.
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* Am vergangenen Donnerstag bei
der Abstimmung über die Ökosteuer in Berlin.
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Und während Schröder und die grüne Sozialdemokraten einfach nur das
Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer Chaos?
vorvergangene Woche in China – am BeiVom Kanzler hatten alle Treueschwüre
spiel der Menschenrechte – vorführten, wie im Ohr. Dem grünen Fraktionschef Rezzo
gut und reibungslos das rot-grüne Bündnis Schlauch hatte er unlängst versichert, „wie
auch funktionieren kann, stolperten die angenehm und sympathisch“ er die ZuFraktionen in Berlin von einer Krise in die sammenarbeit empfinde. „Nur mit euch“,
andere – Gesundheitsreform, Ökosteuer, beruhigte er auch die grüne Wehrexpertin
Asyl, Waffenlieferungen.
Angelika Beer, die ihn heftig wegen des
Als sich die Spitzen der
Grünen-Fraktion mit FiIm roten Bereich Verluste/Gewinne der Regierungsparteien
scher und Trittin am
Montag voriger Woche zu
7. Februar
6. Juni
5. September
5. September
einer Krisenrunde trafen,
Hessen
Bremen
Saarland
Brandenburg
brachte jeder andere Fragen ein. Aber keiner hatte
verlässliche Antworten.
Will der Kanzler die Koalition an die Wand fahren, um die Unionschristen für ein Reformbündnis zu gewinnen? Spielt Rudolf Scharping, der selbst
/
ins Kanzleramt drängt, ein
unberechenbares Spiel?
Oder regiert bei den
1,
inster und entschlossen kamen Gerhard Schröder und Jürgen Trittin aus
dem Beratungszimmer. Gemeinsam
schienen SPD-Kanzler und grüner Umweltminister dem feindlichen Rest der Welt
trotzen zu wollen. In unauffälligem Abstand folgten Außenminister Joschka Fischer und Kanzleramtschef Frank Steinmeier, nicht minder ernst und entschieden.
Wieder einmal hatten sich am Donnerstag vergangener Woche die Oberen der rotgrünen Regierungskoalition im Berliner
Reichstag zu einem improvisierten Krisengespräch getroffen. Alle Beteiligten verließen es mit der Überzeugung, dass sich
niemand mehr Illusionen über die Situation mache.
„Zusammenstehen oder untergehen“
heißt die Devise bei den Grünen. SPD-Chef
Schröder versichert: „Joschka und ich haben die Verantwortung für eine ganze Generation. Und das ziehen wir jetzt durch.“
Die Zweifel an der Entschlossenheit der
Sozialdemokraten, das Bündnis mit den
Grünen bis zum Ende der Legislaturperiode durchzuhalten, hatten sich bei den
Grünen in den vergangenen zwei Wochen
bis zur Panik verdichtet. Gerüchte über
eine Große Koalition der SPD mit der
Union machten die Runde.
Deutschland
der öffentlich an der Steuerreform herumgenörgelt hatte.
Zu einer Standpauke mussten auch zwei
weitere Übeltäter antreten: Die Steuerfachfrau Christine Scheel hatte über die
Erbschaftsteuerpläne gemäkelt, Angelika
Beer über die Rüstungsexporte. Es sei
schließlich unmöglich, von der SPD Koalitionstreue einzufordern, wurden beide abgemahnt, wenn in den eigenen Reihen Disziplinlosigkeit herrsche.
Um ein „Riesen-Halliho“ (Kerstin Müller) zu vermeiden, hat auch kaum ein Grüner die Asyl-Fehde mit dem Innenminister
so richtig aufgegriffen. „Man kennt Schily“, so Müller kühl, „und uns auch.“
Schlauch gab die stolze Parole aus: „Wir
sind die Preußen der Koalition.“
Doch es zerrt an den Nerven der regierenden Grünen, dass sie sich zwischen zwei
Fronten sehen. Kaum haben sie die Opposition im eigenen Lager zum Schweigen
gebracht, geistern Irrläufer bei den Sozis
über die Berliner Bühne – keiner so wild
wie Scharping. Der „marodiert“ zur Zeit
gänzlich außer Kontrolle, sorgen sich die
Grünen. Offenbar habe Scharping nur
noch das Ziel im Auge, Chef einer Großen
Koalition zu werden (siehe Seite 26).
Kanzler Schröder hatte auf seine kumpelige Art bei vielen Grünen durchaus
die Treueschwüre
Rüstungsgeschäfts mit der Türkei angegriffen hatte.
Und doch mochte der kleine Partner all
den Freundschaftsbekundungen nicht so
recht trauen. Nur zu gut erinnerten sich Fischer und Trittin an den Niedergang der
rot-grünen Koalitionen in Niedersachsen
und Hessen.
Ausstiegsszenarien werden durchgespielt: Noch vor den Wahlen in Schleswig-Holstein? Oder erst im Mai nach
einem Wahldebakel in Nordrhein-Westfalen?
All diese Planspiele überschatten Zweifel,
ob die Grünen solche Eskapaden als Partei
überhaupt überleben können. Zumal nach
den Wahlniederlagen der vergangenen Monate der Unmut an der eigenen Basis immer
größer wird (siehe Seite 24).
Der Panzerexport versetzte die Parteiversammlungen in Aufruhr. Enervierend
wirkte der Streit um die steuerliche Förderung umweltfreundlicher Gaskraftwerke.
bei Landtagswahlen 1999
in Prozentpunkten
12. September
19. Sept.
10. Oktober
Thüringen
Sachsen
Berlin
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H.-J. ELWENSPOEK
M. URBAN
Als Provokation ließ es sich nur begreifen, dass Innenminister Otto
Schily plötzlich das Asyl-Grundrecht in Frage stellte (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 107).
Von Woche zu Woche empfanden die grünen Koalitionäre die
Zumutungen des großen Partners
als unerträglicher. Ständig erleben
die Abgeordneten in den Ausschüssen den Kleinkrieg mit den
Genossen. Die Partner sind müde
und erschöpft. „Wir haben uns auseinander gelebt“, glaubt der grüne
Parteigeschäftsführer Reinhard
Bütikofer, „das ist nicht mehr
sexy.“
Nach dem Kosovo-Krieg schien
die Beziehung der Spitzenleute so
gefestigt, dass in beiden Fraktionen
die Hoffnung wuchs, die Anfangsprobleme dieses schwierigen Bündnisses seien überwunden. Aber das
Gegenteil war der Fall – nach einem Jahr ist von Aufbruch in eine
neue Ära nur wenig zu spüren. Mit ihren
Reformideen ist die einstige Anti-Partei,
seit sie selbst die Macht übernommen hat,
nicht nur im Regierungsgetriebe stecken
geblieben. Sie droht daran zu zerbrechen.
Kleinlaut erklärten die Fraktionsführer
Kerstin Müller und Schlauch in ihrer Bilanz
nach einem Jahr, die notwendigen Reformen seien immerhin „begonnen“.Aber Mut
macht das nicht. Während Joschka Fischer
letzte Woche im Fernsehen noch den Vorrat
an Gemeinsamkeiten mit der SPD pries,
(„eindeutig ja“), reden seine Freunde in der
Fraktion längst von einer „Sinnkrise“.
Man müsse „professioneller zu Werke gehen“, fordert der Außenminister, der selbst
fast aus dem Stand den Wechsel ins neue
Amt schaffte. Für ihn ist „das vielstimmige
Hin und Her das eigentliche Problem“.
In der vorvergangenen Woche zeigte sich
dieses Problem mal wieder besonders deutlich. Erst nach zahlreichen internen Krisengesprächen und einem Telefonat mit Schröder in China konnten sich Grüne und Genossen über die endgültige Fassung der
Kabinettsvorlage zu den Gaskraftwerken einigen, obwohl die zuvor in der Koalitionsrunde, vom Kabinett und mit dem Kanzler
persönlich abgestimmt gewesen war. „Wollt
ihr das killen?“, fragte Schlauch entgeistert
die widerspenstigen SPD-Unterhändler.
SPD-Fraktionschef Peter Struck habe seine 297 Abgeordneten nicht im Griff, klagt
Schlauch. Absprachen seien oft nicht verbindlich. „Du hast eine leichte Fraktion“,
entschuldigte sich Struck dann immer, „ich
krieg das nicht durch.“ Letztendlich schaffte es das Ökosteuer-Gesetz dann doch vergangene Woche durch den Bundestag.
Durchaus selbstkritisch räumen die Grünen ein, dass auch sie zum Wirrwarr beitragen. Am vergangenen Montag zitierten
Schlauch und Müller nicht nur den eigenen
Finanzexperten Oswald Metzger zu sich,
Atomkraftwerk (in Stade)
Einstieg in den Ausstieg?
Sympathie gewonnen. Aber nach der knallharten Entscheidung für den Panzer-Export („Ich nehme das auf meine Kappe“)
ist der Blick nüchterner geworden. Ihm
fehle das strategische Denken, heißt es
jetzt: „Er fährt im Nebel auf kurze Sicht.“
Die Hoffnung, dass Schröder und seine
SPD auf dem bevorstehenden Parteitag
eine neue Balance finden könnten, ist bei
den Grünen nicht sehr ausgeprägt.
Die Zweifel sind groß, dass der Regierungschef einen eigenen dritten Weg zwischen Tony Blair und Lionel Jospin finden
könnte. Ihm fehle ein eigenes Wertesystem,
fürchten sie, und daher auch die Überzeugungskraft und Autorität, den tiefen sozialdemokratischen Grundkonflikt zu lösen.
Immerhin glauben jene Grüne, die direkt
mit Schröder zu tun haben, der Kanzler
habe inzwischen eingesehen, dass der Wech23
Deutschland
sel zur Großen Koalition die SPD zerreißen
würde. Deshalb lasse er sich nun endlich
emotional auf das rot-grüne Bündnis ein.
Verstanden habe er auch, dass er mit dem
Türkei-Geschäft die Grünen in ihrer tiefen
Zerrissenheit wegen des Kosovo-Krieges
überfordere, meint Außenminister Fischer.
Dennoch rückt Schröder von seiner
grundsätzlich exportfreudigen Position nicht
ab. Die Grünen bereiteten ihm große
Schwierigkeiten, klagte er intern, „weil sie
jeden Industrie-Export verhindern wollen“.
Neue Konflikte sind also absehbar. Sie
können, fürchten die Grünen, schon deshalb nicht ausbleiben, weil es dem Kanzler
bisweilen auch an außenpolitischer Sensibilität fehle. So sei der Wunsch der Saudis
nach dem Panzer Leo 2 und nach einem
„Erd-Erkundungssatelliten“, der auch für
Spionagezwecke geeignet ist, schon aus
Rücksicht auf die Israelis unerfüllbar.
Widerstand formiert sich in der Berliner Öko-Fraktion auch gegen ein Bündel
von Hermes-Krediten, die zur Finanzierung von Kernkraftwerken und umweltzerstörenden Staudämmen in China und
anderen Ländern der Dritten Welt gedacht
sind (siehe Seite 98).
Derzeit werden die Kredit-Anfragen im
Umweltministerium aufgezählt. Fest steht
schon jetzt, dass von den Deutschen keinesfalls eine Exportgarantie für einen
Atommeiler in der Türkei zu erwarten ist.
„Aber wir können nicht alles verhindern“,
sagt einer der Fraktionsexperten voraus,
„wir müssen die Maßstäbe klären.“
Vergangenen Donnerstag fanden die rotgrünen Spitzen wenigstens bei ihrem Dauer-Konfliktthema Atomausstieg zu einer
gemeinsamen Haltung. Der Kanzler,
Außenminister Fischer und Umweltminister Jürgen Trittin verständigten sich über
die Eckpunkte eines Ausstiegsgesetzes. Für
den Fall, dass mit der Industrie bis zum
Jahresende kein Konsens gefunden wird,
will die Koalition dann in eigener Regie
das Abschalten regeln.
Fischer hatte unmissverständlich klar gemacht, dass ohne Einigung beim Atom die
Koalition am Ende sei. Unter diesem Druck
wies der Kanzler die zerstrittenen Abteilungsleiter von Wirtschafts-, Umwelt-, Justizund Innenministerium an, in der kommenden Woche ein Papier mit den Grundzügen
eines Ausstiegsgesetzes zu formulieren. Kern
soll die nachträgliche Befristung der Betriebserlaubnis von Atomkraftwerken sein.
Noch in diesem Monat soll eine Staatssekretärsrunde das Papier absegnen – dann
wird noch einmal zur Konsensrunde im
Kanzleramt mit den Atombossen gebeten.
Die Absprache hat bei Rot-Grün inzwischen Seltenheitswert: Sie entspricht genau dem Koalitionsvertrag.
Paul Lersch
Risiko Rüstungsexport
Umstrittene Waffenwünsche
an die rot-grüne Regierung
Türkei
Die Entscheidung über den Verkauf von 1000
Kampfpanzern „Leopard 2A5“ steht 2001 an.
Großes Interesse besteht zudem an 150 „Leopard 1“-Panzern aus Beständen der Bundeswehr, am Flak-Panzer „Gepard“, Transportpanzer „Fuchs“ und an einer Fertigungsanlage
für 5,6 mm Munition. Bei diesen möglichen Exportgeschäften ist der Status im Bundessicherheitsrat (BSR) unklar.
Bis zu 145 Kampfhubschrauber „Tiger“
stehen auf der türkischen Einkaufsliste; für ein
Aufklärungsflugzeug aus deutsch-spanischer
Gemeinschaftsproduktion wird ein Angebot
gewünscht. Einer Lieferung von sechs bis zehn
Minenjagdbooten hat der BSR im Oktober
bereits zugestimmt.
GRÜNE
Gegen die Wand
Die Basis der Ökopartei ist
verunsichert: Sie weiß nicht mehr,
wofür ihre Vorleute
im Bundestag noch stehen.
Z
wanzig Kilogramm hat Joschka verloren, ist alt geworden, uralt. Aus
tieftraurigen Augen starrt ein immermüder Blick. Doch am schlimmsten ist,
dass der schwarze Neufundländer ein Frauchen hat, das den Namen Joschka nicht
mehr ausstehen kann.
„Als ich vor 14 Jahren den Welpen bekommen habe, fand ich Joschka Fischer
toll“, erinnert sich Sonja Rothweiler. Also
nannte sie das Tier Joschka, obwohl es ein
Weibchen war. „Heute würde der Hund
anders heißen.“
Rothweiler ist bekennende Grüne, unten
an der Basis, in Pfinztal in Nordbaden.
Ende der achtziger Jahre trat die Hausfrau
der Partei bei, die „damals noch so unkonventionell war“. Im Golfkrieg stand sie
noch selbst mit den „Stoppt den Krieg“Plakaten an der Kreuzung. Dass der
Kosovo-Einsatz ohne Uno-Beschluss,
aber mit grüner Unterstützung stattfand,
hat ihr Grundvertrauen in die Partei erschüttert: „Vom ,Streitbar, Ehrlich, Unentbehrlich‘ stimmt heute höchstens noch
das letzte Wort.“
Auch wenn Joschka der Hund nichts für
Joschka den Politiker kann, verstärkt jeder
Auf dem türkischen Wunschzettel stehen
weiter: die Lieferung von 500 000 Gewehren
sowie 1500 Granatwerfern. Hierüber hat der
BSR allerdings noch keine Entscheidung
getroffen.
Kampfhubschrauber
„Tiger“
Rumänien
Georgien
soll 110 Gefechtsköpfe
für die Panzerabwehrrakete „Milan“ erhalten.
Der BSR soll die Lieferung
genehmigt haben.
bekam kostenlos
ein Minenräumboot.
Südkorea
Griechenland
würde gern den „Leopard 2“
kaufen und verhandelt bereits
mit dem deutschen Hersteller.
Vereinigte Arabische Emirate
erhalten 30 veraltete Jagdbomber
„Alpha-Jet“ und zwei gebrauchte
U-Boote der „Klasse 206“.
Thailand
Chile
bekommt 4000 Schuss
Munition für den Kampfpanzer „Leopard“ geliefert.
24
kann zwölf Hubschrauber
von Eurocopter kaufen.
Der BSR soll sich mit dem
Geschäft befasst haben.
Südafrika
möchte gern drei U-Boote der
„Klasse 209“ kaufen. Die
Lieferung soll 2003 beginnen.
Das Kabinett hat zugestimmt.
Malaysia
hat Waffenelektronik für
sechs Patrouillenschiffe
gekauft. Die Lieferung
beginnt 2003.
hat im August 1999 25
Jagdbomber „Alpha-Jet“
erworben und erhält
darüber hinaus bis zu
fünf Bordkanonen.
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
A. VARNHORN
gegen Truppenübungsplätze, Atomkraftwerke oder
die Abschiebung von kurdischen Flüchtlingen austrugen, sind die Zweifel gewachsen.
Seit Jahren ficht Benedikt Schirge mit der Bürgerinitiative „Freie Heide“
dafür, dass ein von den Sowjets errichteter Bombenabwurfplatz in Brandenburg nicht von der Bundeswehr genutzt werden darf.
Wahlkämpfer Rudolf Scharping versprach in der Ruppiner Heide 1994 als SPDKanzlerkandidat die Auflösung des „Bombodroms“,
Joschka Fischer bestärkte
1998 die Hoffnungen der
Friedensfreunde.
Die Grünen brachten
Grüne Parteiversammlung (in Hattersheim): Protest gegen „Verbonzung“
diese Forderung in die Koalitionsverhandlungen ein
Ruf nach ihm Frauchens Leiden an der scharenweise davon: In
Schleswig-Holstein flüchte– „unser größter politischer
Partei.
Erfolg“(Schirge). Sie scheiEinem der prominentesten Grünen des ten fast zehn, in Hessen fünf
terten am gewendeten
Ostens, Hans-Jochen Tschiche, ergeht es Prozent der Gefolgschaft.
Scharping.
mit den Bündnisgrünen ähnlich wie der Die „Generation der GrüNoch immer erscheinen
Frau von der Basis West. Gerade hat der nen-Gründer und Linken“,
ein bis zwei grüne Bundessachsen-anhaltinische Landtag in Magde- so der grüne Pressesprecher
tagsabgeordnete, wenn die
burg seine „besonderen Verdienste um den in Nordrhein-Westfalen,
Bürgerinitiative zum ProAufbau der parlamentarischen Demokra- Michael Ortmanns, 23, „vertestmarsch ruft. Doch Schirtie“ gewürdigt: DDR-Oppositioneller, Mit- lässt offenbar die Partei“.
ge fragt sich längst: „Kann
begründer des Neuen Forums, grüner Frak- Mehr als 1700 Austritte haman als Partei noch für
tionschef in Sachsen-Anhalt. Doch an sei- ben die NRW-Grünen in eiKampfeinsätze und gegen
nem 70. Geburtstag ist der Theologe mit nem Jahr zu verzeichnen.
Übungsplätze sein?“ Ähnden kurzen weißen Haaren und der leisen, Doch im Unterschied zu
lich empfindet Dirk Treber,
eindringlichen Stimme wieder da, wo er den meisten anderen Lan48, der seit 20 Jahren gegen
vor Jahrzehnten begann – in der politi- desverbänden kann Ortmanns auf über 2000 Neu- Grüne Rothweiler, Joschka
den Ausbau des Frankfurter
schen Diaspora.
Flughafens Widerstand leisIm Pfarrhaus von Samswegen, vor des- zugänge verweisen, zumeist
sen Eingang ein Trabi und in dessen Gar- Leute, die wie Ortmanns mit den friedens- tet. 38 Bürgerinitiativen engagieren sich derten ein Esel steht, nennt er die Grünen „bis bewegten Alten wenig anfangen können. zeit, um den Bau einer weiteren Betonpiste
zur Gesichtslosigkeit unkenntlich“. Koso- Höchstens fünfmal, so der Jung-Grüne, sei nach der Startbahn West zu verhindern.
Nur auf die Partei, die im Kampf gegen
vo-Krieg, Panzer-Exporte und demnächst er auf einer Demonstration gewesen.
Die Flucht der erfahrenen Aktivisten hat den Flughafen in Hessen groß und stark
Castor-Transporte – „das verschreckt unseren innersten Kern, so fahren wir voll auf die Arbeit vor Ort fatale Auswirkun- wurde, können sich die Ausbau-Gegner
gen. Bei den Europawahlen im Juni wei- nicht mehr verlassen. „Die Grünen zeigen
gegen die Wand“.
Die ostdeutsche Parteisprecherin Gunda gerte sich die Pfinztaler Basis, Plakate der sich als Wackelpudding“, schimpft Aktivist
Röstel, die in jede Kamera die Worte „Mit- Partei zu kleben. „Aus Protest“, so Roth- Treber. Die Niederlage bei der Landtagstelstand, Mittelstand“ plappere, ärgere ihn weiler, „wählten bei uns viele die Tier- wahl im Februar, bei der die Truppe ihres
ebenso wie jene West-Grünen, die aus der schutzpartei.“ Bei den Kommunalwahlen einstigen Vormanns Fischer von 11,2 ProPartei eine Volkspartei machen wollten. im Oktober profitierten andere: Eine Un- zent auf 7,2 absackte, sei die Quittung für
„Wir schämen uns unseres eigenen The- abhängige Liste, von Ex-Grünen mitge- den Schlingerkurs: „Die Leute wussten
gründet, errang 5,2 Prozent, die Grünen einfach nicht mehr, wofür die Partei steht.“
mas – der Ökologie.“
Nur in Anwohnergemeinden beziehen die
Im Jahr eins der Regierung Schröder/Fi- stürzten von 20,5 auf 12,5 Prozent.
Einer der übergelaufenen Pfinztaler ist Grünen noch eindeutig Anti-Position wie
scher ist der Doppelname Bündnis 90/Die
Grünen zur Farce geworden. Im Osten be- der erklärte Pazifist Hans Bönisch, 51. Er etwa am vergangenen Dienstag bei einer
ginnt sich die Partei aufzulösen. Jeweils sieht die Grünen „in den nächsten Jahren Kreisversammlung in Hattersheim.
Treber ist enttäuscht, weil ein Jahr nach
rund 500 Mitglieder haben die Bündnis- existenziell bedroht“. Einige seiner ehegrünen nur noch in drei Ost-Landesver- maligen Parteikollegen warnten schon den der Abwahl Helmut Kohls nichts von Aufbänden; in Mecklenburg-Vorpommern so- Landesvorstand: „Setzt sich die Erosion bruch zu spüren sei, und spricht von einer
grüner Identität weiter fort, dann heißt es „schleichenden Erosion“ an der demotigar nur noch knapp 400.
Vor allem in ihren West-Hochburgen ha- auch für uns alte Grüne: Macht euren vierten Parteibasis. Zu den Versammlungen
kämen regelmäßig nur noch halb so viele
ben die Ökopaxe seit dem Kosovo-Krieg Scheiß allein!“
Auch in den Bürgerinitiativen, die Seite Leute wie früher, „die Partei verbonzt“.
reichlich Kollateralschäden zu registrieren.
Ohne die Biergläser auf dem Fußboden
Nicht nur die Wähler blieben aus, fast allen an Seite mit der Sonnenblumen-Partei die
Landesverbänden laufen die Mitglieder für die Grünen symbolträchtigen Kämpfe würde die Kreisversammlung im nordd e r
s p i e g e l
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25
Deutschland
rhein-westfälischen Düren als Zeugniskonferenz im Lehrerzimmer eines Provinzgymnasiums durchgehen. Im Halbkreis
aufgestellte Bürostühle, zähe Debatten, angegraute Gestalten: ein Oberlehrertyp mit
Lesebrille, ein Alt-Sponti mit Wallehaar
und Oberkopfglatze. Nur eine junge Frau,
die Pizza aus der Pappschachtel isst,
stöhnt: „Mein Gott, muss man das alles so
lange diskutieren?“
Die Themen bringen wenig Lustgewinn:
Ausbleiben von Spendengeldern nach
dem miserablen Ergebnis der NRW-Kommunalwahl im September (von über einer Million Wählerstimmen 1994 blieben
nur noch knapp 543 000), Probleme bei
der Finanzierung von Büroräumen, Kündigung der Kreisgeschäftsführerin, für deren 15-Stunden-Stelle nun das Geld nicht
mehr reicht.
Über „frustrierende Wahlergebnisse“
wird lamentiert, über Wut und „Ohnmacht,
die sich ausbreitet“, über die Bundespolitik, von der nichts Gutes rüberkomme. Der
aus Düsseldorf angereiste Landtagsabgeordnete Jens Petring hat nur schwachen
Trost parat: „Das ist in anderen Kreisverbänden auch so.“
Nicht überall sehen grüne Aktivisten nur
zu, wie ihre Partei langsam zum Funktionärsclub verkommt. In der grünen
Hochburg Berlin-Kreuzberg planen enttäuschte Linke, ihre Hauptstadtorganisation zur Keimzelle einer parteiinternen Revolution zu machen. Wie eine Drohung
klingt es, wenn Vorkämpfer Kurt-Dietmar
Lingemann erklärt, er werde nicht aus der
Partei austreten: „Wir wollen den Landesverband als Gegengewicht zur Bundespolitik aufbauen.“
Druck üben auch die Kernkraftgegner
auf die alten Weggefährten aus. Demonstrationen und Blockaden sollen Atomtransporte verhindern, die Jürgen Trittin
einst bekämpfte und heute als Umweltminister befürwortet. „Mit den NonsensGesprächen muss auf der Stelle Schluss
sein“, fordert die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg aus Niedersachsen. „Es herrscht Verzweiflung“,
klagt ihr Sprecher Wolfgang Ehmke, „und
ich fürchte, dass sich der ganze Frust
beim nächsten Castor-Transport entladen
wird.“
Sollten die Grünen in Berlin so weitermachen wie bisher, will der stellvertretende Landrat Kurt Herzog eine „größere Austrittsaktion“ initiieren. Noch hofft er auf
die Wirkung von Protestmärschen nach
altem Muster.
Mit Treckern, Bussen und Sonderzügen
rückten am vergangenen Sonnabend hunderte Kernkraftgegner aus Niedersachsen
den Regierenden in Berlin auf den Pelz.
Doch im Unterschied zu früheren Jahren
sind es die eigenen Leute, gegen die sie
demonstrierten.
26
Lohn der Leiden
Seine Treueschwüre klingen wie Kriegserklärungen –
Verteidigungsminister Scharping übt sich in tückischer Loyalität
zu Kanzler Schröder. Von Hajo Schumacher
I
m Berliner Reichstag herrscht der tägliche Ernstfall. Weil er seine Abgeordneten wie üblich nicht im Griff hat,
lässt SPD-Fraktionschef Peter Struck bei
der PDS um Stimmen für die Ökosteuer
ersuchen.
In der Parlamentskantine kaut Finanzminister Hans Eichel missmutig am Tagesgericht – serbisches Reisfleisch zu 3 Mark
50. Abends zuvor hat NRW-Ministerpräsident und Kanzler-Freund Wolfgang Clement verkündet, er trage die Ökosteuer
nicht mit.
Zugleich fahndet Gerhard Schröder mit
den grünen Ministern Jürgen Trittin und
Joschka Fischer fieberhaft nach rot-grünen
Projekten, die dem Wähler bis Weihnachten wie Erfolge erscheinen könnten.
Nur einer sitzt bestens gelaunt im hinteren Eck der Reichstags-Cafeteria. Krise?
Welche Krise? „Als ob wir in Deutschland
tief im Jammertal leben würden.“ Ach wo.
Was dem Land fehlt, ist Führung.
Mit jedem Satz dem Wehrressort entwachsend, sprudelt aus Rudolf Scharping
zwei Cola und sechs Marlboro lang heraus,
wie Deutschland zu retten ist. Mit „Stetigkeit und Konzepten“, mit aufrechten
Kerlen und ewigen Lebensweisheiten:
„Ich mache Politik nicht für ’ne Schlagzeile. Mein Handeln gilt Menschen.“
Das ist natürlich keine Kritik am Kanzler,
den stützt er nach Kräften. Andererseits
führt er selbst ja auch nicht schlecht, zum
Beispiel die Bundeswehr, „wo ich Verantwortung für 450 000 Menschen trage. Man
muss die Leute motivieren, sie ernst neh-
men.“ Wer tut das? Scharping! Und wer
nicht? Bedeutungsvolle Pause. Dann:
„Regieren, das ist eine gewaltige Chance,
eine wunderschöne Aufgabe. Aber immer
diese Kleinmütigkeit …“
Klar, dass er sich den Job zutraut. Das
muss man machen wie Willy Brandt. Wer
es morgen gut haben will, muss heute Reformen machen, hat das SPD-Idol geknarzt, und dass die Deutschen stolz sein
sollen auf ihr Land.
„Ich bin stolz auf dieses faszinierende
Land“, bekräftigt Scharping sicherheitshalber, obwohl er Deutschland eigentlich
noch ein bisschen böse sein müsste. Denn
es hat ihn 1994 nicht zum Kanzler gewählt.
Aber Scharping kann verzeihen.
Schließlich sind ja auch ihm Fehler unterlaufen: „Ich dachte, dass mein Verhalten
aus sich selbst heraus spricht.“ Das aber
haben die Deutschen missverstanden damals, als sie „Gründlichkeit mit Langsamkeit verwechselt haben und Ernsthaftigkeit mit Humorlosigkeit“.
Inzwischen hat das Volk gelernt. Dass einer mit der doppelten Bürde von „Verteidigungsminister und Sozialdemokrat in
den Meinungsumfragen vorn liegt“, das
beweist doch, „was möglich ist“ für Politiker, die sich wirklich reinhängen.
„Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, dass ein
gutes Deutschland blühe wie ein andres
gutes Land.“
Brechts Kinderhymne zitiert er gern auf
Parteitagen, aber als Versatzstück einer Regierungserklärung taugte sie auch. Viel-
Verteidigungsminister Scharping: „Anmut sparet nicht noch Mühe“
BMVG
Stefan Berg, Jürgen Dahlkamp,
Dietmar Pieper, Andrea Stuppe
SPD
Abgewählter Parteichef Scharping (1995)*
„Mannheim ist verarbeitet“
leicht braucht man die bald, schließlich
„wird es jede Woche schwerer, die Vertrauenskrise zu reparieren“.
Mal ganz nebenbei: „In den Umfragen
bin ich als Einziger nach dem KosovoKrieg kaum gefallen“; Schröder dagegen
rapide, und Fischer ist gerade dabei. Warum? „Fehler über Fehler“. Wessen? Gern
würde er klarer, aber das geht nicht, weil
er loyal ist, „auch wenn es mich innerlich
manchmal zerreißt“.
Scharping hat die Kunstform der unangreifbaren Niedermache, eine Mischung
aus hohem Ton und Tücke, perfektioniert.
Spricht der SPD-Vize von „fehlenden
Grundlinien“, meint er Schröder, fordert er
„ein klares Konzept“, erzählt er von sich.
„Nach 33 Jahren Politik“ weiß er natürlich, dass die besorgten Appelle an Parteivolk und Vaterland jene Krise perpetuieren, die er so gern beendet sähe. Was
dem Stichler Scharping Doppeldeutiges
entfährt, kann der Formalist Scharping als
„allgemeine Kritik“ deklarieren, der Genosse Scharping als „Sorge um die SPD“.
Die Motive sind edel, ganz ehrlich:
„Wer bei Rudolf Scharping die ‚second
thoughts‘ vermutet, der tut mir Unrecht.“
Scharping hat doch keine Hintergedanken. Auf einer „Reißzwecke im Hintern
noch herumrutschen“ – nicht sein Stil.
Aber Fakt ist dennoch, „dass die alte Regierung bei diesem wirtschaftlichen Aufschwung, dem größten nach der Einheit,
Tag und Nacht Erfolgsmeldungen verbreitet hätte. Aber wir gönnen der Opposition
ihre opportunistische Haltung“.
Seine Kritik am Erscheinungsbild der Regierung und der verwirrten Partei habe aber
mit dem Regierungs- und Parteichef rein
gar nichts zu tun. Das haben diese Medien
wieder mal völlig falsch verstehen wollen.
Was sich tatsächlich hinter dem Gestus
von Ehrlichkeit und Loyalität verbirgt, ist
selbst langjährigen Vertrauten ein Rätsel.
Was Scharping wohin treibt, verrät er nicht
mal im engsten Kreis. Entweder, mutmaßt
* Auf dem Mannheimer Parteitag mit Herta DäublerGmelin (l.) und Johannes Rau (r.).
d e r
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(Hände ruhen) und „Zielbewusstsein“
(Doppelschlag, zweistufig vertikal ausgeführt) – kurz: Scharping.
Die Geste kommt gut, vor allem im
Fernsehen. Deswegen hat er auch kurz zuvor im Plenum eine Hand auf Schröders
Rücken gelegt und mit der anderen ein
paar Karateschläge vollführt. Solche Mätzchen macht er natürlich nicht, damit es im
Fernsehen so aussieht, als zeige er dem
Kanzler, wo’s langgeht. Obwohl er es weiß.
„Die Deutschen wollen Stetigkeit und
Zuverlässigkeit.“
Meint er Schröder? Oder den HerrnKaiser-von-der-Hamburg-Mannheimer-Typ,
der vertraute Kohlsche Harmlosigkeit signalisiert? Wie der biederplumpe Ludwigshafener war Scharping stets das bevorzugte Opfer von Lästerern. Sein hölzerner Gang, sein emotionsloser Ton, die
stieren, zuweilen quälend langen Blicke
DPA
C. SHIRLEY / SIGNUM
einer, „ist er zu wie eine Auster
– oder er weiß es selbst nicht“.
Auf jeden Fall glaubt er an
seine moralische Legitimation
für höchste Jobs. Er war immer
Opfer, nie Täter. Immer ging es
um die Sache, nie um ihn selbst.
Aufs Kanzleramt hat er also einen natürlichen Anspruch. Aber
der Amtsinhaber muss keine
Angst haben:
„Gerhard Schröder und ich,
wir reden offen und vertrauensvoll miteinander.“
Und es hilft. „Meine Hinweise beginnen zu tragen“, sagt der
Könnte-Kanzler knapp. Manchmal regiert er sogar mit. Wie
neulich in der Koalitionsrunde,
als ihm Schröder einen Text rüberschob, er
ein paar Anmerkungen machte und der
Kanzler anerkennend nickte.
Wie offen und vertrauensvoll reden
Männer miteinander, die sich seit Jahren in
die Beine treten? Das Problem der zum
Duett geschrumpften einstigen Troika war
stets ihre Ähnlichkeit mit einem Windhundrennen: Jeder der drei wollte beweisen, dass er siegen kann.Wichtig war Kanzler-Werden, nicht Kanzler-Sein.
Das Spiel ist noch immer nicht aus. Frieden in der SPD ist wohl erst, wenn nur
noch einer übrig ist. Der Beginn dieses jahrelangen Showdowns hieß Mannheim.
Doch davon will Scharping nichts wissen:
„Wer sich von schlechten Erfahrungen
beherrschen lässt anstatt von Hoffnungen
leiten, der sollte mit der Politik aufhören.“
Ein Scharping lässt sich nicht unterkriegen. Nicht mal im Sommer 1995, als Schröder praktisch täglich seine Verachtung bekundete, bis Oskar Lafontaine den Waidwunden auf dem dramatischen Parteitag
von Mannheim nur noch umpusten musste.
Dass der Gedemütigte sich mit dem VizeVorsitz beschied und sich fortan als vorbildlicher Parteisoldat gab, hat ihm bei den
Genossen unendlichen Kredit verschafft.
„Mannheim ist verarbeitet“, behauptet
Scharping, „und wenn es hochkommt,
dann auf ermutigende Weise.“ Im kollektiven Gedächtnis der SPD ist ihm die Rolle des Märtyrers sicher. Seit Lafontaines
Abgang quält die SPD das schlechte Gewissen wegen der Meuchelei noch mehr.
Und er schürt es oft und listig: „Die SPD
ist eine wunderbare Partei – die hat das
Herz ihrer führenden Leute verdient.“ Was
auch umgekehrt gilt – für ihn zumindest.
Aber keine Sentimentalitäten jetzt, es geht
um die Zukunft:
„Niklas Luhmann hat geschrieben: Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion
sozialer Komplexität. In dieser Regierung
muss es doch Leute geben, die diese Komplexität sehen und umsetzen.“
Und das tut vor allem einer. „Klarheit“
(vertikale Handkante), „Souveränität“,
(horizontale Handkante), „Konzentration“
Rivalen Scharping, Schröder
„Wir reden offen und vertrauensvoll“
ins Nichts, der ganze Habitus des grenzgängerischen Wunderlings, aber auch diese urdeutsche Zähigkeit.
Der Radrennfahrer weiß um den LotharMatthäus-Effekt, der schon Kohl zu Gute
kam: Wer lange genug gegen alle Gemeinheiten anrackert, den gewinnen die Deutschen doch noch lieb. Leiden lohnt sich –
wenn man die Partei nicht vergisst.
„Einmal fragte Helmut Schmidt: ‚Wie
kann man das hohe Ansehen des Kanzlers
auf die SPD übertragen?‘ Sagt Willy
Brandt: ‚Ganz einfach: Die SPD muss gut
über dich reden. Das tut sie. Aber du müsstest auch gut über die SPD reden …‘“
Klare Analogie: Schröder ist Schmidt,
Scharping ist Brandt. Einer wurde sozialdemokratischer Weltstar, der andere gibt
die „Zeit“ heraus. Kanzler waren beide.
Und was plant Scharping für den SPDParteitag in gut drei Wochen? „Schröder
muss gestärkt da raus gehen. Es darf auf
keinen Fall der Eindruck entstehen, dass
ich als Chef der Antragskommission den
Parteivorsitzenden korrigiere.“ Natürlich
nicht.
Scharping lacht seltsam. Da naht ein
Mitarbeiter. „So, Rudolf, jetzt müssen wir
wieder ein bisschen regieren.“ Scharping
strahlt und strebt ins Plenum: „Dann machen wir das jetzt mal.“
™
27
Deutschland
DPA
Ob Diepgen wohl „ein
Problem mit der neuen
Rolle Berlins im wieder
vereinigten Deutschland“
habe, fragte der Berliner
„Tagesspiegel“. Die „taz“
hat erkannt: „Diepgens
Auftreten leidet unter der
schwindenden Souveränität seines Amtes“, und
verlieh ihm den Titel „Regierende Leberwurst“.
Auch dem Kanzleramt
bereitet der Berliner Regierungschef zunehmend
Probleme. Als „ärgerlich
und lästig“ kamen dort
Diepgens unablässige Versuche an, bei der Dekadenfeier zum 9. November stets im rechten Licht
zu strahlen.
Der Bürgermeister hatte
seinen Stab in den Tagen
vor dem Festakt „fast in
den Wahnsinn“ getrieben,
wie ein gequälter Mitarbeiter berichtet.
Obgleich eine gemeinsame Arbeitsgruppe
aus Bundes- und Staatsbediensteten seit
nahezu einem Jahr das Großereignis vorbereitet hatte, warf Diepgen die Planungen
mit seinen Sonderwünschen immer wieder um.
Aufgeregt hätten Senatsmitarbeiter immer neue Programmabläufe erstellt, „bis
nichts mehr passte“. Am Wichtigsten, erzählt ein Betroffener, „war die Frage, ob und
wie es der Regierende Bürgermeister schafft,
gemeinsam mit dem Bundeskanzler anzukommen und auf das Podium zu steigen“.
Zur Verleihung der Berliner Ehrenbürgerwürde an George Bush im Roten Rathaus vergaß das Stadtoberhaupt, Schröder
eine Einladung zukommen zu lassen. Obwohl den Kanzler die Tagespolitik ohnehin
am Kommen gehindert hätte – er traf sich
in Paris mit den Kollegen Jospin und
Blair –, bewertete das Kanzleramt die Nichteinladung als „ziemlich unangemessen“.
Als geradezu „kleinkariert“ wurde
Diepgens Fehlen bei der Feierstunde zum
Fall der Mauer am 9. November im Bundestag wahrgenommen. Er hatte seine
Stellvertreterin, Finanzsenatorin Annette
Fugmann-Heesing (SPD), geschickt. Der in
Regierungskreisen vermutete Grund: Der
Regierende Bürgermeister durfte im
Reichstag nicht reden.
Bei der Jubelparty am Brandenburger
Tor am gleichen Abend dürfte sich Diepgen
wohl ein letztes Mal gleichberechtigt mit
Schröder im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit präsentiert haben. Der RockBarde Udo Lindenberg sprach dem Politiker Mut zu: „… schreib die Gesetze
neu/und bleibe nur dir selber treu/der Crazyman geht mit lockerem Gang/untern
grünen Linden lang“.
Jubiläumsgäste Kohl, Bush, Gorbatschow, Gastgeber Diepgen (2. v. r.): Letztes Gefecht
BERLIN
Hase und Igel
Der Regierende Bürgermeister,
zum Fest des Mauerfalls
noch in Jubelpose, gerät auf der
Bühne Berlin immer
mehr zur zweiten Besetzung.
D
er „Junge aus dem Wedding“ wirkt
an diesem Tag, als sei er einer der
Glücklichsten der Welt.
Eberhard Diepgen darf sich für einige
Minuten vom Mantel der Geschichte umwehen lassen. Vom Balkon des Roten Rathauses winken die einst mächtigsten Männer ihrer Zeit, George Bush und Michail
Gorbatschow – und Berlins Regierender
Bürgermeister steht auf gleicher Augenhöhe.
Am Tag nach den offiziellen Feiern zum
zehnten Jahrestag des Mauerfalls sonnen
sich die ehemaligen Staatsgrößen aus den
USA und der UdSSR, flankiert von ExKanzler Helmut Kohl – vom Protokoll entsprechend ihrer Namensinitialen kurz
„KGB“ getauft –, erfreut im spärlichen Applaus. Und im Kreis der Politrentner führt
der Mann, der nach insgesamt 14 Jahren
Amtszeit so tut, als gehöre ihm die Stadt allein, sein letztes Gefecht gegen das Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit.
Den staatsmännischen Überbau durch
die Altvorderen Gorbatschow und Bush
bekamen die Veranstalter der Wende-Feier praktisch kostenlos. Der Amerikaner
und der Russe waren wegen der Dezenniumsfeier seit langem als Gäste des AxelSpringer-Verlags nach Berlin gebeten worden, zusammen mit Helmut Kohl. Anteilige
28
Kosten übernahm offenbar auch der
Getränkekonzern Coca-Cola, der mit Bush
als besonderem Ehrengast aus Anlass
des Mauerfall-Jubiläums im Hotel Adlon
feierte.
Seitdem Deutschland von Berlin aus regiert wird, reduziert sich Diepgens Rolle
unaufhaltsam auf das Normalmaß eines
Schultheiss. Amtsvorgänger Walter Momper durfte im Oval Office des Weißen Hauses noch mit einem amtierenden US-Präsidenten über die Perspektiven der einstigen Frontstadt diskutieren. Nachfolger
Diepgen dagegen tanzt mit zehnjährigen
„Mauerfallkindern“ im Rathaus um eine
Riesentorte oder macht die Honneurs bei
der Verleihung des „Goldenen Lenkrads“.
Beim Wettlauf um Macht und Aufmerksamkeit in der neuen Metropole geht es
dem Regierenden dabei immer häufiger
wie Meister Lampe in der Parabel vom Hasen und dem Igel: Kanzler Gerhard Schröder ist stets früher da. Ob bei der Eröffnung
des neuen BMW-Konzernbüros, dem
Richtfest der Alten Nationalgalerie oder
einem öffentlichen Bundeswehrgelöbnis –
der Bürgermeister musste ins zweite Glied
zurück.
Der inzwischen neben Bernhard Vogel
(Thüringen) dienstälteste deutsche Regierungschef wehrt sich auf subtile Art gegen
die Machterosion: War er bisher stolz farblos („Blässe ist mein Markenzeichen“), verlegt Eberhard Diepgen sich neuerdings aufs
Scherzen.
Im sensiblen Streit mit den sich immer
noch als Besatzer gerierenden Amerikanern um die Sonderwünsche beim Botschaftsbau am Brandenburger Tor witzelte der Christdemokrat, vielleicht könne
man ja neben der Diplomatenburg noch
eine McDonald’s-Filiale am Pariser Platz
bauen. Der US-Botschafter schäumte.
d e r
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Wolfgang Bayer, Steffen Winter
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Titel
Thyssen-Panzer „Fuchs“ bei der Verladung: Kollektive Gedächtnislücken bei den Christdemokraten
Goldgräber in Kriegszeiten
Der Skandal um die Millionenspende des Waffenhändlers Schreiber an die Union könnte
sich zu einer Staatsaffäre auswachsen. Der Verdacht erhärtet sich: Das Geld beförderte
offenbar den Verkauf von Panzern an Saudi-Arabien. Ist Politik in Deutschland käuflich?
D
er eine ließ sich feiern. Er genoss
vergangene Woche die Huldigungen als Kanzler der Einheit. Im
Bundestag sprach er am zehnten Jahrestag
des Mauerfalls, abends dinierte Helmut
Kohl, 69, mit den früheren Präsidenten der
Supermächte, George Bush und Michail
Gorbatschow.
Der andere war schon wieder auf Akquisitionstour. Walther Leisler Kiep, 73, beackerte die amerikanische Westküste. Gemeinsam mit Beamten aus dem Außenund dem Wirtschaftsministerium sollte der
Boden für neue Investitionen deutscher
Firmen bereitet werden. Am vergangenen
Mittwoch, der rastlose Lobbyist und seine
Helfer hatten gerade die Filiale des Bran32
chenriesen Siemens in Sacramento besichtigt, erwog Kiep ernsthaft, die Reise abzubrechen. Die Nachrichten aus der Heimat
klangen ziemlich ernst.
Während der Mann, der als CDU-Schatzmeister unter dem Parteivorsitzenden Kohl
21 Jahre für die Geldbeschaffung zuständig
war, schon mal die schnellsten Rückflugmöglichkeiten sondierte, versammelten sich
im Berliner Reichstag die Bundestagsabgeordneten. Es galt, ein finsteres Kapitel aus
der gemeinsamen Vergangenheit des ParteiPatriarchen und seines Kassenwarts zu debattieren: die Frage, ob im System Kohl politische Entscheidungen käuflich waren.
Er fühle sich „wie in einem schlechten
Krimi“, gab der SPD-Abgeordnete Frank
d e r
s p i e g e l
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Hofmann, ein ehemaliger Zielfahnder aus
dem Bundeskriminalamt, zu Protokoll.
Und der Grüne Christian Ströbele, von Beruf Anwalt, machte „eine neue Dimension
der Parteienkorruptheit“ aus.
Der CDU-Ehrenvorsitzende Kohl war
im Parlament erst gar nicht erschienen. Für
die Union musste der Justiziar Andreas
Schmidt ran. Zur Aufklärung konnte er
nichts beitragen, der rot-grünen Regierung
warf er vor, „durch Gerüchte und Unterstellungen von ihrer desaströsen Politik abzulenken“.
Noch immer kann oder will die CDU
nicht erklären, warum der bayerische Waffenhändler Karlheinz Schreiber 1991 Kiep
und dem Kohl-Vertrauten Horst Weyrauch
J. H. DARCHINGER
Der neue Parteichef Wolfgang
Schäuble und seine Generalsekretärin Angela Merkel gaben sich
zwar weniger patzig und gelobten
„rückhaltlose Aufklärung“ – aber
sie wirkten, als würden sie die
Affäre am liebsten nach alter KohlManier einfach aussitzen wollen.
Die misstrauische Merkel („Alles
was ich bisher gehört habe, erstaunt
mich auf das Äußerste“) begann
schon mal vorsichtig mit einer
Absetzbewegung: „Die heutige
Parteiführung war damals nicht die
amtierende Parteiführung.“
Aber auch jene, die mit Kohl damals schon dabei waren, erinnern
sich an nichts. Volker Rühe, zur
Spendenzeit Generalsekretär, verweist darauf, dass ihm „die Schatzmeisterei nie unterstanden“ habe.
Kieps direkte Nachfolgerin Brigitte
Baumeister, Schatzmeisterin vom
26. Oktober 1992 bis Herbst vergangenen Jahres, beteuert: „Ich
habe von dieser Million nichts gewusst.“ Und der heutige Schatzmeister Matthias Wissmann beklagt,
„aus den entscheidenden Jahren“ gebe es
„keine Unterlagen mehr“. Vielleicht sind es
weder kollektive Gedächtnislücken noch
fehlende Akten, vielleicht mangelt es nur
am Aufklärungswillen.
Jedenfalls existiert in den Unterlagen
ein Brief Kieps an einen seiner verdienten
Mitarbeiter, dem er einen Teil der Million
letztlich ausgezahlt haben will. Auf Papier
mit offiziellem Briefkopf („Der Bundesschatzmeister der CDU“) kündigte Kiep
am 16. Oktober 1992 seinem langjährigen
Generalbevollmächtigten Uwe Lüthje den
Geldsegen an. Lüthje, einst ein
mächtiger Mann im Konrad-Adenauer-Haus, der Zentrale der Union,
hatte zusammen mit Kiep in der
Flick-Affäre wegen Beihilfe zur
Steuerhinterziehung auf der Anklagebank des Düsseldorfer Landgerichts gesessen. Beide kamen am
Ende ohne Verurteilung davon.
Der Brief spricht dafür, dass es
sich bei der Zahlung kaum um einen Alleingang Kieps, wie die CDU
vergangene Woche gebetsmühlenartig wiederholte, gehandelt hat,
schon gar nicht um eine GeheimOperation. In dem Schreiben heißt
es in schönster Offenheit:
M. DARCHINGER
einen Koffer mit einer Million Mark
zukommen ließ.
Der Verdacht, es sei Schmiergeld
für das Zustandekommen eines umstrittenen Panzer-Deals mit SaudiArabien gewesen, verstärkte sich in
der vergangenen Woche noch einmal. Und die CDU geriet schwer
unter Druck. Ihre Version, von der
anrüchigen Spende nie gehört zu
haben, ist kaum glaubwürdig.
Das zunächst auf einem CDUAnderkonto geparkte Geld wurde
von Kiep ganz offiziell in seiner Eigenschaft als Schatzmeister der Partei an verdiente CDU-Männer verteilt. Die Sonderzahlungen wurden
dann über das Gehaltskonto eines
CDU-Angestellten und das Geschäftskonto eines CDU-Beraters
abgewickelt.
Und sicher ist auch, dass Schreiber, der sich als Lobbyist um
die Ausfuhrgenehmigung für 36
„Fuchs“-Panzer aus der Waffenschmiede Thyssen bemüht hatte, CDU-Schatzmeister Kiep (1980)
Kiep einspannte. Der sollte auf die Treffen „13 Uhr 3 Ländereck“
unionsgeführte Bundesregierung
Einfluss ausüben. Die Million floss nur
Journalisten, die den Altkanzler versechs Monate nach Erteilung der Ausfuhr- gangene Woche nach der Panzer-Million
genehmigung.
fragten, wurden brüsk abgefertigt: „Sie
So viel steht fest: Die Operation „Fuchs“ können noch so ein Spurensicherungsstinkt gewaltig. Bis zum vergangenen Frei- gesicht machen, es ändert nichts an der
tag schien es so, als litten alle Christdemo- Tatsache: Wir haben von dieser Sache
kraten kollektiv an jenem Virus, das ihren nichts gewusst.“ Und einen zweiten fuhr er
Übervater Kohl vor Jahren schon bei den an: „Sie wollen eine Verleumdung starten,
Anhörungen zum Flick-Parteispenden- das sehe ich Ihrem Gesicht an. VerschwinSkandal befallen hatte. Seitdem der Kanz- den Sie jetzt.“ Auch im Parteipräsidium
ler dort Gedächtnislücken für sich rekla- fasste sich Kohl kurz: Die Lieferung sei mit
mierte, ist der „Black-Out“ zum Synonym der Nato abgestimmt gewesen. Alles in
für politische Amnesie geworden.
Ordnung. Niemand fragte nach.
Altkanzler Kohl*: „Sie wollen eine Verleumdung starten, verschwinden Sie“
d e r
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Lieber Herr Dr. Lüthje,
mit dem Düsseldorfer Parteitag der
CDU vom 25. bis 28.10.1992 geht unsere 21-jährige Zusammenarbeit zu
Ende. Ich möchte Ihnen an dieser
Wendemarke sehr, sehr herzlich für
Ihren engagierten Einsatz, Ihren
Ideenreichtum und die souveräne
* Am Montag vergangener Woche in Berlin.
33
Titel
die in den achtziger Jahren die Republik
erschütterte. Der Konzern hatte, wie Manager Eberhard von Brauchitsch sich ausdrückte, Bares zur Pflege der politischen
Landschaft ausgeschüttet, um sich die Oberen gewogen zu machen. Union und FDP
hatten die Herkunft von Millionenzahlungen aus der deutschen Industrie, darunter
aus dem Flick-Konzern, systematisch verschleiert – bis das System der illegalen Parteienfinanzierung durch die Sisyphusarbeit
einiger Steuerfahnder und Staatsanwälte
aufflog.
Auch jetzt mehren sich die Zweifel an
der Version der Union. Ströbele erinnerte
das Schweigen der „Partei der Wiederholungstäter“ an Mafia-Usancen: „In Italien
nennt man das wohl ,omertà‘.“ Für den
SPD-Mann Hofmann ist der Vorgang,
„wenn er so ist, wie wir es uns jetzt vorstellen können, Organisierte Kriminalität –
nicht unbedingt in ihrer strafrechtlich, wohl
aber in ihrer politisch und gesellschaftlich
schlimmsten Form.“
Gegenüber dem SPIEGEL zeigte sich
Empfänger Lüthje vergangene Woche verwundert über die Dementis aus Berlin:
„Ich bin fest überzeugt, dass Kiep seine
Nachfolgerin Baumeister damals informiert
hat. Ich war zwar nicht dabei, aber so etwas machte Herr Kiep nie allein.“
Auf seinen Ex-Chef ist Lüthje ebenfalls
nicht gut zu sprechen: „Ich bin außer mir
vor Empörung, dass Kiep jetzt fröhlich
durch die USA reist und seine Partei zu
Hause im Dreck sitzen lässt.“
Auch die Staatsanwaltschaft Augsburg,
die durch ihre Ermittlungen gegen Schreiber die Spendenzahlung aufdeckte, mochte nicht länger auf die zunächst für vergangenen Freitag angekündigte und dann
auf kommenden Mittwoch verschobene
freiwillige Aufklärung des Vorgangs durch
Weyrauch und die CDU warten. Vergangenen Donnerstag erschienen Augsburger
Staatsanwälte in Weyrauchs Kanzlei in der
Nicht der geringste Hinweis, über die
Friedensstraße im Frankfurter BankenTantiemen zu schweigen, findet sich in dem
viertel und in seiner Privatwohnung. Beim
Dokument. Stattdessen steht unter dem
Bankhaus Hauck & Aufhäuser forderten
Brief der Vermerk, dass eine Kosie ebenfalls Einlass.
pie des Schreibens „die WeyFast zeitgleich fuhr auch vor Lüthjes
rauch und Kapp GmbH erhält,
Haus in St. Augustin bei Bonn ein Pkw mit
die ich bitten werde, die ord36,9
Augsburger Kennzeichen vor. Darin saßen
nungsgemäße finanzielle und
eine Staatsanwältin und zwei Steuerfahnsteuerliche Abwicklung der Zah26,1
24,9
der aus Bayern. Lüthjes Ehefrau wollte gelung zu übernehmen“.
rade zum Einkaufen, doch die Fahnder baIn der Steuer- und Wirt17,6
ten sie zurück ins Haus. Sie kochte erst
schaftsprüfer-Kanzlei Weyrauchs
14,7
11,2
mal eine Tasse Kaffee für die von weither
werden bis heute die Gehalts4,2
angereisten Besucher.
abrechnungen und PersonalAls die Fahnder ihren Durchsuchungsakten der leitenden CDU-Mitar1988 89 90 91 92 93 94 95 96 97
beschluss vorlegten, ging Lüthje zu seinem
beiter bis hin zur Generalse–7,7
Tresor im Keller und holte Unterlagen: seikretärin abgewickelt. Weyrauch
ne eigenen Steuererklärungen, den Brief
verwaltet die Gehaltsakten nur
Aufpolierte
von Kiep und weitere Schriftstücke aus seitreuhänderisch, die CDU ist der
Union
ner Zeit als Generalbevollmächtigter der
Treugeber. Ihr gehören sie, sie
Das Parteivermögen
–31,9
Bundesschatzmeisterei. Einen Teil der Pahat jederzeit Zugriff darauf. Sie
der CDU in Millionen
piere nahmen die Beamten gar nicht mit,
muss nur wollen.
Mark
die hatten sie schon beim für den einstigen
In der Personalakte Lüthjes
CDU-Funktionär zuständigen Finanzamt
muss sich der Vorgang nach des–42,5
abgeholt, wo die Sonderzahlungen laut
sen Angaben ebenfalls finden
Lüthje versteuert worden waren.
lassen – genauso in den Akten
Dafür beschlagnahmten sie
der Schatzmeisterei. Schließlich
eine Mappe mit Unterlagen
sei der Bonus von 370 000 Mark,
so Lüthje, ordnungsgemäß auf
über das Treuhandkonto
seiner Gehaltsabrechnung ver„TAK CDU BSM“ (Treumerkt und beim für die CDU zuhand-Anderkonto CDU-Bunständigen Finanzamt Bonn verdesschatzmeisterei). Weysteuert worden.
rauch hatte diese Mappe
Der Brief belegt, wie dünn inschon zusammengestellt, aber
zwischen das Eis für die CDU
– warum auch immer – nicht
geworden ist. Fassungslos diskuwie versprochen der Staatstieren die Abgeordneten aller
anwaltschaft übergeben, sonCouleur in kleinen Zirkeln auf
dern beim alten Kumpel
den Fluren des Reichstags die
Lüthje einen Satz Kopien deFrage: Gibt es so etwas in
poniert.Weyrauch und Lüthje
Deutschland schon wieder – gehatten sich tags zuvor getrofkaufte Politik?
fen, um über das KrisenmaIn Berlin ist dieser Tage viel
nagement zu beraten. „Wir
von der Flick-Affäre die Rede,
hatten den Eindruck, dass
man uns gegenüber auf Zeit
spielt“, erklärte der Augsbur* Während einer Sitzungspause beim Parger Behördenleiter Reinhard
teispendenprozess vor dem Düsseldorfer
CDU-Helfer Weyrauch, Lüthje*: „So etwas macht Herr Kiep nie allein“ Nemetz den Zugriff.
Landgericht 1998.
H. HAGEMEYER / TRANSPARENT
Geschäftsführung innerhalb der Bundesschatzmeisterei danken. Ich werde darauf
bei anderer Gelegenheit und in anderem
Rahmen noch ausführlich zurückkommen.
Vor der offiziellen Beendigung meines Amtes möchte ich Ihnen aber noch mitteilen,
dass ich es nicht nur bei einem Wort des
Dankes belassen möchte, sondern mich
auch entschlossen habe, Ihnen eine Sonder- und Schlussvergütung, wie immer Sie
es nennen und sehen mögen, in Höhe von
DM 370 000 zukommen zu lassen.
Ich möchte Ihnen damit zum Ende unserer Zusammenarbeit eine besondere Freude bereiten, die gewiss nicht alle Unbill in
den zurückliegenden Jahren abgelten oder
gar vergessen machen kann, die Ihnen
aber doch den beginnenden und hoffentlich lange andauernden neuen Lebensabschnitt erleichtern und verschönern möge.
34
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Der Panzer-Deal
2. August 1990 Invasion Iraks in Kuweit
Alle Versuche des SPIEGEL, die
Alle Papiere legen nahe, dass die
7. September 1990 Vertreter Saudi-Arabiens und der Firma
Union
mit den hier geschilderten DeMillion zumindest größtenteils wohl
Thyssen treffen sich bei dem Waffenhändler und Vermittler
tails
des
Spendenvorgangs zu kontatsächlich jenen Weg genommen
Schreiber zu einem ersten Gespräch über die Lieferung von
frontieren, wurden von der Parteihat, den Kiep und Weyrauch am vor36 Fuchs-Panzern
spitze abgeblockt. Motto: Weil man
vergangenen Freitag vor der UnterSeptember 1990 Wirtschaftsministerium und Auswärtiges
ja nichts wisse, könne man auch
suchungsrichterin des AmtsgeAmt lehnen die Lieferung ab
nichts sagen. Parteichef Schäuble hatrichts Königstein geschildert hatten
(SPIEGEL 45/1999). Danach war
4. Oktober 1990 Verteidigungsstaatssekretär Pfahls macht te angeordnet: „Nur nicht in einen
vielstimmigen Chor verfallen.“
Weyrauch auf Weisung Kieps am 26.
Druck beim Kanzleramt und bittet, „in geeigneter
Weise auf die Haltung des Auswärtigen Amtes Einfluss“
Die Zurückhaltung ist verständlich.
August 1991 ins schweizerische St.
zu nehmen
Wenn es ums Geld geht, war die ParMargrethen im Dreiländereck am
tei nie zimperlich. Welche Methoden
Bodensee gefahren. Kiep kam aus
17. Januar 1991 Die Saudis schließen mit Thyssen einen
seinem Ferienhaus im schweizeriVertrag über die Lieferung von 36 Fuchs-Panzern. Die Alliier- im Keller der Union herrschten, war
stets nur einem kleinen Kreis beschen Lenzerheide dazu. Die beiden
ten greifen unter Führung der USA den Irak an
kannt. Zwischen Kiep und Kohl war
trafen sich mit Schreiber, der um
20. Februar 1991 Schreiber bittet CDU-Schatzmeister Kiep,
das Verhältnis nicht das Beste, aber
13.06 Uhr in der Filiale St. Marbei Kohl zu Gunsten der Panzer-Ausfuhr zu intervenieren
der Rekord-Kanzler hatte, wenn er
grethen des Schweizerischen Bank27. Februar 1991 Der Bundessicherheitsrat stimmt der
wollte, stets über seinen Vertrauten
vereins zunächst eine größere AbheAusfuhr aller 36 Panzer zu
Weyrauch Einblick in die Geschäfte
bung vornahm. Schreiber hatte in
der schwarzen Geldbeschaffer.
seinem Kalender für diesen Tag „13
2. August 1991 Thyssen überweist der Firma ATG
Die Dreiteilung klappte lange perUhr LK EK Zentrum“ eingetragen.
eine erste Rate von 11 Millionen Mark für Provisionen
fekt. Der feine Hanseat Kiep akquiEK steht für das Einkaufszentrum
und Schmiergelder
rierte in den Vorstandsetagen, Lüthje
Rheinpark, wo die drei Herren sich
26. August 1991 Schreiber übergibt dem Kohl-Vertrauten
besorgte die Abwicklung. Weyrauch
trafen. Kiep notierte: „13 Uhr 3 LänWeyrauch in der Schweiz im Beisein Kieps eine Million Mark
war stets kreativ, wenn es darum ging,
dereck“.
in bar
Gelder so zu verbuchen, dass es dem
Weyrauch trug der Richterin vor,
27. August 1991 Weyrauch deponiert das Geld auf einem
Steuerrecht und dem verschärften
Schreiber habe ihm „einen Betrag
Treuhandkonto zu Gunsten der CDU bei der Hauck-Bank in
Parteiengesetz noch entsprach.
von einer Million Mark in einem verFrankfurt/Main
Aus Sondertöpfen entnahm Kohl
schlossenen Behältnis übergeben. Es
handelte sich um eine so genannte
Oktober 1992 Kiep verteilt die Schreiber-Spende an seinen bei Bedarf Geld, um Aktionen zu bezahlen, die im Grenzbereich von ReParteispende“. Nach seiner Rückkehr
Generalbevollmächtigten Lüthje (370000 Mark) und die Firma des Kohl-Vertrauten Weyrauch (421800 Mark); der Rest
gierung und Partei spielten. Jene
von St. Margrethen nach Frankfurt
(etwas über 300000 Mark) geht offenbar an Kiep selbst
700 000 Mark Porto etwa kamen aus
am Main habe er sie „auftragsgemäß“
dieser Kasse, als Kohl 1987 allen
beim Bankhaus Georg Hauck & Sohn
CDU-Mitgliedern in einem persönlieingezahlt.
Das feine Institut in der Kaiserstraße, ma sowie an Lüthje verteilt. Von einem chen Brief seine Haltung zur Steuerreform
das mittlerweile Hauck & Aufhäuser heißt, weiteren Empfänger sagten sie der Ermitt- gegen Angriffe aus den eigenen Reihen verist die Hausbank der Christdemokraten. lungsrichterin nichts. „Sondervergütungen teidigte. Auch Hubschrauberflüge des
Hier landen auch die offiziellen Partei- für die lange Zeit der Zusammenarbeit und Kanzlers und CDU-Chefs wurden so fispenden der Union auf den Sammelkonten für besondere Erschwernisse“, nannte nanziert.
Als Kiep und Lüthje gehen mussten,
„Bundesschatzmeisterei (BSM) 1“ und Weyrauch in der Vernehmung die Freigebigkeit des Gentleman Kiep.
durfte Weyrauch bleiben – bis heute. Der
„Bundesschatzmeisterei (BSM) 2“.
Doch vermutlich war der Herr des Gel- Mann hat schließlich große Verdienste. Mit
Auf diesen Konten aber kam die Schreiber-Million nie an. Stattdessen tauchte sie, des keineswegs ganz so uneigennützig, wie seiner Hilfe gelang es Kohl, seine 1989 noch
wie aus den bei Lüthje und Weyrauch von ihm und Weyrauch dargestellt. Denn mit 42,5 Millionen Mark verschuldete
sichergestellten Unterlagen hervorgeht, auf neben den 370 000 Mark für Lüthje und Partei zu sanieren. 1997 standen längst
dem Konto Nr. 4 115 602 403 mit der Be- 421 800 Mark an Weyrauchs Firma gab es schwarze Zahlen in der Bilanz. Zum 31.
zeichnung „CBN/891“ auf. Das Kürzel offenkundig einen Dritten, der von der Dezember vorvergangenen Jahres wies die
Partei ein Reinvermögen von 36,9 Milliosteht für „CDU Bonn“, eröffnet im August Schreiber-Million profitierte: Kiep selbst.
Nach Aktenlage leitete der Schatzmeis- nen Mark aus. Allein aus der Kasse der
1991. Weyrauch legte es einen Tag nach der
Geldübergabe in der Schweiz, am 27. Au- ter den Rest, rund 300 000 Mark, mögli- Ost-CDU und der Demokratischen Baugust 1991, als eben jenes „Treuhandkonto cherweise über Umwege, offenbar in die ernpartei flossen Anfang der neunziger
eigene Tasche, um damit Jahre 13 Millionen Mark an die Union.
zugunsten der CDU“ an.
seine Verteidigerkosten im
Um die Partei zu sanieren, schreckte
Darauf lagerte die Million,
Parteispendenverfahren zu Weyrauch nicht einmal davor zurück,
als Festgeld zu einem Zins
finanzieren. Das war im Drückerkolonnen einzusetzen, die von jevon über neun Prozent
Oktober 1992 gerade zu der Spendenmark bis zu 45 Pfennig als
günstig angelegt. Fast 14
Ende gegangen. Während Provision kassierten. Die Mäzene hatten
Monate lang passierte
bei Lüthje und Weyrauch hiervon keine Ahnung.
nichts.
als sicher gilt, dass sie ihre
Aber eine Million Bares im Koffer ist
Erst als sich Kieps Ende
Sonderzahlungen versteu- von ganz anderem Kaliber. Kiep wollte aus
als Schatzmeister abzeicherten, bleibt bei Kiep noch den USA zur Aufklärung nichts weiter beinete, wurde über das Treudie Frage: Hat er das Geld tragen. Nur so viel: So etwas sei gemeinhin
handkonto, das durch die
beim Fiskus angegeben?
selbst in der CDU „nicht üblich“ gewesen.
Zinsen auf rund 1,1 MillioAls das Treuhandkonto Mehr will er erst diese Woche vor den
nen angewachsen war, ver„CBN/891“ am 22. Okto- Augsburger Ermittlern aussagen.
fügt. Nach Kieps und Weyber 1992 „restabgewickelt“
Nach deren Feststellungen stammt die
rauchs Version wurde das
wird, sind gerade noch ma- Million im Koffer von einem Schweizer
Geld kurz vor Kieps Ausgere 449 Mark übrig.
Konto der Firma ATG Investment Ltd. Inc.
scheiden an Weyrauchs Fir- SPIEGEL-Titel 44/1984
d e r
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35
Titel
Max Josef Strauß, Sohn des einstigen CSU-Chefs und bayerischen
Ministerpräsidenten Franz Josef
Strauß, habe 500 000 Mark kassiert.
Beide bestreiten dies.
Half das Geld tatsächlich, den
Weg zur Ausfuhrgenehmigung Nr.
0715987 vom 12. März 1991 zu ebnen? Die Staatsanwälte können die
Entscheidung der Kohl-Regierung
nicht ganz rekonstruieren. Nur
bruchstückhafte Unterlagen aus
den Ministerien liegen bei den Ermittlungsakten – etwa Vorlagen für
den Bundessicherheitsrat, in dem
der damalige Kanzler Kohl nebst
seinem Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann und
Verteidigungsminister
Gerhard
Stoltenberg (CDU) über das Geschäft entschied.
Das Protokoll der Sitzung vom
27. Februar 1991 – an diesem Tag
stimmte Kohls Kabinett dem Panzer-Geschäft zu – gilt noch immer
als geheim. Die Bitte der Fahnder,
es für die Ermittlungen zur Verfü-
J. H. DARCHINGER
ABC-Spürfahrzeuge, 8 Ambulanzen, 14
Mannschaftstransporter sowie 4 Kommandofahrzeuge. Nur die 18 Spür- und Ambulanztanks galten angesichts des Golfkriegs
als relativ unproblematisch. Die andere
Hälfte, urteilte selbst das in Exportfragen
stets liberale Wirtschaftsministerium noch
am 22. Februar 1991, seien „zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum als genehmigungsfähig anzusehen“. Deshalb empfahl
es am selben Tag in der vertraulichen Vorlage für die Sitzung des Bundessicherheitsrats am 27. Februar, die Ausfuhr der
18 Spür- und Ambulanzfahrzeuge zu genehmigen „und die Anträge für 14 Mannschaftstransporter Fuchs sowie 4 Kommandofahrzeuge Fuchs zum gegenwärtigen Zeitpunkt abzulehnen“.
In den kommenden Tagen kippte in Möllemanns Amt jedoch diese Sichtweise, der
Entscheidungsvorschlag wurde – von wem
auch immer – handschriftlich geändert.
Am Tag der Abstimmung lag Kohl und
seinen Ministern der Entscheidungsvorschlag mit dem Aktenzeichen 10 17 83/20
aus dem damals für Kriegswaffen zuständigen Referat IV C 6 des Wirtschaftsministeriums vor. Unter der Rubrik „ResCDU-Zentrale in Bonn: „Nichts gewusst“
sortvoten“ ist der anhaltende Widerstand aus
mit Sitz in Panama.
Genschers Amt do„Wirtschaftlich Berechkumentiert: „Das AA
tigter“ des Kontos beim
stimmt einer AusfuhrSchweizerischen Bankgenehmigung für die
verein – das halten die
ABC-Spürfahrzeuge und
Staatsanwälte für „bedie Ambulanzfahrzeuge
wiesen“ – war der Wafzu, im übrigen lehnt es
fenhändler Schreiber.
die GenehmigungserteiDer Kauferinger Gelung ab.“
schäftsmann war den ErGenscher reklamiert
mittlungen zufolge einer
bis heute für sich, im
derjenigen, der die selbst
Bundessicherheitsrat nie
für diese Branche überüberstimmt worden zu
aus üppigen 219,7 Milliosein. Das kann nur benen Mark Schmiergeld
deuten, dass jemand noch
verteilte, die der Thyssen- Korrigierter „Entscheidungsvorschlag“: Wer änderte den Text?
im Vorfeld der EntscheiKonzern auf den PanzerPreis von 226,7 Millionen Mark aufschlug, gung zu stellen, lehnte das Kanzleramt am dung auf den sich sperrenden Außenminisum sie den segensreichen Helfern des 28. Oktober 1997 ab. Um sich nicht mit al- ter eingewirkt haben muss – aber wer?
Bewiesen ist, dass Pfahls das KanzlerDeals zukommen zu lassen. „Kriegszeiten ler Welt anzulegen, ließen die Augsburger
sind eben Goldgräberzeiten“, weiß der die Idee fallen, sich das Geheimpapier per amt ersuchte, „in geeigneter Weise auf die
ehemalige Wirtschaftsminister Jürgen Möl- Durchsuchungsbeschluss aus der Regie- Haltung des Auswärtigen Amtes Einfluss“
rungszentrale zu holen.
zu nehmen, und dass er – selbst gegen den
lemann (FDP).
Auch Nachforschungen der damals Be- zeitweiligen Widerstand seines eigenen
Dabei folgte auch der Panzer-Deal der
Faustregel der Korruption: Besteller und teiligten blieben ohne konkretes Ergebnis. Ministers – auf das komplette Geschäft
Lieferant einigen sich, den Kaufpreis auf- Möllemann, der in seinem ehemaligen Mi- drängte. Und auch Schreiber nutzte seine
zublähen und das zusätzliche Geld auf nisterium noch einmal um Prüfung der Ak- Kontakte. Eine Woche vor der entscheidunklen Kanälen wieder an die Mächtigen ten bat, erinnert sich an keine besonderen denden Sitzung bat er Kiep schriftlich, das
zu verteilen, die den Auftrag möglich Schwierigkeiten: „Da mussten nicht viele gute Geschäft, das sich zu halbieren drohte, durch eine eilige Intervention bei Kohl
machten. 24,4 Millionen Mark soll allein überzeugt werden.“
Genscher bat vergangenen Donnerstag zu retten.
Schreiber für solche Zwecke erhalten und
gleichfalls im Auswärtigen Amt (AA) um
Schreiber machte Genschers Politik madann größtenteils weitergereicht haben.
Nach Überzeugung der Staatsanwalt- erneute Durchsicht. Aber dort waren die dig; sie habe „dem hohen Ansehen des
schaft Augsburg schmierte der Waffen- Dokumente wegen des immer noch lau- Bundeskanzlers eher geschadet als
händler mit den Thyssen-Geldern aber fenden Umzugs von Bonn nach Berlin so genützt“. Gleichzeitig warnte er, Riad sei
verärgert: „Die Verstimmung steht im Zuauch eine ganze Reihe Politiker hierzulan- schnell nicht zu finden.
Aus bisher bekannten Aktenstücken sammenhang mit dem Wunsch der saudide. 3,8 Millionen Mark soll der ehemalige
Staatssekretär im Bundesverteidigungsmi- lässt sich folgender Ablauf rekonstruieren: arabischen Regierung, von der Bundesrenisterium, Ludwig-Holger Pfahls, inzwi- Thyssen wollte 36 Fuchs-Panzer in vier ver- gierung unverzüglich gepanzerte Schutzschen auf der Flucht, erhalten haben. Auch schiedenen Ausführungen verkaufen – 10 fahrzeuge vom Typ Fuchs zu erhalten.“
36
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fern kann sich die Partei gar nicht leisten.
Die drei kämen dann womöglich ins Plaudern.
Als Alternative zum Untersuchungsausschuss gilt ein Auftrag, einen Regierungsbericht zu erstellen, nachdem der gesamte
Vorgang noch einmal anhand der Akten
überprüft wurde.
Erst seitdem der mit internationalem
Haftbefehl gesuchte Pfahls im Juli die
Flucht ergriff und Kiep sein Schweigen
brach, erkennt auch die Politik, dass
womöglich eine Staatsaffäre erheblichen
Ausmaßes droht.
Noch sind entscheidende Fragen unbeantwortet: Wurde die Schmiergeldspur
ausschließlich gelegt, damit die Panzer
störungsfrei von Deutschland nach SaudiArabien rollen konnten? Oder hat Schreiber mit dem Thyssen-Geld – wie früher
Flick – einfach großflächig die politische
Landschaft gepflegt? Wurde die schmutzige Million vielleicht aus Dankbarkeit
für Hilfe bei dem letzten schmutzigen
Geschäft in den Koffer gesteckt – und
womöglich schon als Vorschuss für das
nächste?
Schreiber müht sich, so ziemlich jeden
nahe liegenden Verdacht zu zerstreuen. In
Kanada, wo er gegen seine Auslieferung
nach Deutschland kämpft, beteuerte er
vergangene Woche, er habe niemanden bestochen: „Das war eine ganz normale Parteispende.“ Die Million stamme weder von
ihm noch von Thyssen, sondern von „Drit-
CP
W. SCHUERING / LASA
Untersuchungsausschusses unter Verdacht stellt.
Aber gleichzeitig fürchtet
das Kanzleramt, die Beschäftigung mit ausgerechnet jenem Thema, das
die Regierung zuletzt so
in Bedrängnis brachte,
könne die unablässig
streitenden Koalitionäre
noch weiter belasten. Und
Schröder würde erklären
müssen, warum er ausgerechnet Kiep, gegen den
bereits ermittelt wurde,
noch in diesem Jahr mit
heiklen Sonderaufträgen
versah.
Der Machtmensch Kiep
jedenfalls machte, von
Haft bedroht, ziemlich
schamlos von der FreundCDU-Obere Schäuble, Merkel*: Die Affäre einfach aussitzen
schaft Gebrauch: „Ich
Schreiber bat, seine Bedenken „dem habe noch heute im Auftrag des BundesHerrn Bundeskanzler möglichst umge- kanzlers eine Reise nach Schweden anzutreten und am Samstag um 10.40 Uhr nach
hend zur Kenntnis zu bringen“.
Bei einer Durchsuchung der Thyssen- Amerika zu fahren, wo ich einer DeleZentrale fiel den Fahndern zudem ein Pa- gation des Bundestages, Vertretern des
pier in die Hände, das den Zweifel an der Auswärtigen Amtes und des Wirtschaftsordnungsgemäßen Prüfung des Geschäftes ministeriums vorstehe“, erklärte er vornährt. Bereits am 25. Oktober 1990 hatten vergangenen Freitag der Haftrichterin im
Konzern-Obere notiert, dass „inoffiziell, heimischen Königstein. Wenn der Haftbejedoch verbindlich“, bereits eine Geneh- fehl weiter bestehen bleibe, käme dies, so
migung versprochen sei. Von wem, wissen Kiep, für einen Mann mit seinen Missionen
„einem Berufsverbot gleich“.
die Ermittler allerdings bislang nicht.
Auch die großspurig angekündigte AufNoch sind die politischen Folgen des dubiosen Waffendeals nicht geklärt. Die SPD klärung durch die Union steht noch aus.
hält sich mal wieder mit ihrer liebsten Be- Wenn Kiep tatsächlich auf eigene Faust das
schäftigung auf – sie zweifelt, welches Vor- Geld verteilte, könnte er sich einer Unterschlagung oder Untreue schuldig gemacht
gehen wohl richtig ist.
Wie die Grünen wittert die Schröder- haben. Strafrechtlich wären beide VorwürPartei zwar die Chance, den Steigflug der fe wohl verjährt. Aber die CDU könnte eiUnion abzubremsen, indem sie das System nen Anspruch auf Rückerstattung geltend
Kohl und damit die Partei mit Hilfe eines machen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass
nicht einmal der Versuch gemacht wird, an
die Million zu kommen, ist groß: Einen
* Oben: vergangenen Donnerstag im Bundestag; unten:
Krieg mit ihren ehemaligen Geldbeschafvergangenen Donnerstag im amerikanischen Palo Alto.
Waffenhändler Schreiber (in Toronto)
P. JUELICH / RIRO PRESS
„Das war eine normale Parteispende“
Ex-Schatzmeister Kiep*: „Das käme einem Berufsverbot gleich“
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ten, deren Identität ich nicht preisgeben
kann“.
Aber die Aussichten für den bayerischen
Amigo und seine Kumpane im Regierungsapparat und dessen Umfeld sind
ziemlich düster.
Denn an einem besteht kein Zweifel
mehr: Die mühsame Entschlüsselung von
kodierten Eintragungen in Schreibers Kalendern, das Werk eines einfachen Augsburger Steuerfahnders und eines Staatsanwalts, hat ein geschickt getarntes System
transparent gemacht. Egal, ob der Geldkoffer für den CDU-Schatzmeister persönlich oder für seine Partei bestimmt war:
Jetzt sind die Augsburger erst recht davon überzeugt, auf der richtigen Spur zu
sein.
Wolfgang Krach, Georg Mascolo
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
C. MORRIS / DAS FOTOARCHIV
Titel
US-Soldaten im Golfkrieg (1991): Die Waffenschmieden der Welt hofften auf neue Aufträge
220 Millionen für die Berater
Verschwiegene Vermittler, dunkle Kanäle und gigantische Schmiergelder sollen der
Rüstungsfirma Thyssen Henschel geholfen haben, den Verkauf von Panzern an Saudi-Arabien einzufädeln – und den Widerstand deutscher Politiker gegen das Geschäft zu überwinden.
A
M. DARCHINGER
uch schlechte Nachrichten können und chemischer Kampfstoffe dient. Natür- wissen, „würden wir Ihnen gerne weitere
gut für das Geschäft sein. Als der lich vergaß der Manager nicht, „Ihre Kö- Informationen zusammenstellen“.
Irak Anfang August 1990 in Kuweit nigliche Hoheit“ darauf hinzuweisen, dass
Tatsächlich verkaufte Thyssen Henschel
einmarschierte und am 17. Januar 1991 Thyssen bereits Fuchs-Panzer an die U. S. im Frühjahr 1991 36 Fuchs-Panzerfahrzeuschließlich der Golfkrieg ausbrach, war Army verkauft habe: „Die beiliegende ge an Saudi-Arabien. Doch das blendende
klar, dass den Waffenschmieden die- Fuchs-Broschüre“ beschreibe das erfolg- Geschäft von damals ist heute auf dem besser Welt wieder neue Aufträge ins Haus reiche Modell ausführlich. Bei Interesse, ten Weg, sich zu einer Staatsaffäre auszuließ Maßmann den Verteidigungsminister weiten: Unter dem Aktenzeichen 502 Js
standen.
Das deutsche Rüstungsunternehmen
127135/95 ermittelt seit viereinhalb JahThyssen Henschel wollte sich diese Geren die Staatsanwaltschaft Augsburg die
legenheit nicht entgehen lassen. Sein
Hintergründe des Waffen-Deals. Es geht
Vorstandsmitglied Jürgen Maßmann
um den Verdacht der Untreue, Steuerschickte deshalb am 22. August 1990 eihinterziehung und Bestechung bis in
nen Brief an den saudi-arabischen Verdie Reihen der damaligen Bundesministeidigungsminister Prinz Sultan Ibn
terien.
Abd al-Asis, um ihm „Thyssen HenDie Augsburger Ermittler glauben,
schel vorzustellen“. Das damalige Kasdass ein Netzwerk aus diskreten Vermittlern, gierigen Managern und empseler Tochterunternehmen der Thyssen
fänglichen Politikern – und Geld, viel
Industrie AG gehörte zu den führenGeld – das Geschäft beförderten. Oberden Rüstungsbetrieben des Landes.
Das passende Produkt hatte Maßmann auch im Angebot – ein Panzer* Der saudische General Abdullah al-Scheich bei
fahrzeug namens „Fuchs“, das auch Panzer-Verkäufer Maßmann (l.), Geschäftspartner*
einer Panzer-Präsentation in Hangelar am 30. April
zum Aufspüren atomarer, biologischer Passendes Produkt im Angebot
1986.
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E. GRAMES / BILDERBERG
staatsanwalt Reinhard Nemetz hatte des- potenzieller Kunde. Fortan sollte Maß- er sich erstmals mit dem Fuchs-Projekt behalb sogar einen Haftbefehl gegen den mann, im Vorstand zuständig für Wehr- fasst, so der Manager, „der Kanal, das heißt
früheren CDU-Schatzmeister Walther Leis- technik, mit seinem Vertriebsmanager Jörg die Verbindung zu Herrn Kaschoggi, kam
ler Kiep ausgestellt, der jedoch – gegen Bühler, der nicht von dem Ermittlungsver- jedoch nicht zum Tragen“.
Bühlers Verbindung zu dem bekannten
Zahlung einer Kaution von 500 000 Mark – fahren betroffen ist, die Kontakte zu diWaffenhändler blieb zwar fruchtlos, daaußer Kraft gesetzt wurde.
versen Vermittlern koordinieren.
für waren die BeDas Geschäft, das Thyssen Henschel AnDass im Mittelmühungen seines
fang der neunziger Jahre abwickelte, war punkt von solchen
Kollegen Maßmann
jedenfalls bemerkenswert: Von den 446 „Marketing-AnDem angestrebten
umso erfolgreicher.
Millionen Mark, die Thyssen für den Pan- strengungen“ bei
Geschäft stand ein deutBereits am 26. und
zer-Deal von den Saudis kassierte, flossen Rüstungsgeschäften
sches Gesetz entgegen
27. Juni 1990 traf der
insgesamt rund 220 Millionen Mark als Pro- nicht unbedingt das
Manager in Paris
visionen oder „nützliche Aufwendungen“, Verschicken
von
wie Schmiergelder jahrzehntelang im Steu- Prospektmaterial an „Königliche Hohei- den Geschäftsmann Mansour Ojjeh, um
er-Deutsch genannt wurden, vor allem auf ten“ steht, sondern tragfähige Verbindun- die Möglichkeiten von Fuchs-Exporten
die Konten ausländischer Briefkastenfir- gen zu einschlägigen Waffenhändlern und nach Saudi-Arabien auszuloten.
Der saudische Staatsbürger ist einer der
men. Ein Teil, so der Verdacht, wurde mög- Vermittlern, wird deutlich aus Bühlers Zeulicherweise zurück nach Deutschland ge- genaussage gegenüber der Augsburger reichsten Männer der Welt. Die Ojjeh-Faschleust.
Staatsanwaltschaft. Im August 1990 habe milie kontrolliert die internationale TAGGruppe, Geschäftsmann Mansour
Mittlerweile lässt sich die
Ojjeh selbst ist Miteigentümer des
„Operation Fuchs“ nachzeichnen.
Formel-1-Stalls Mercedes-McLaWichtige Rollen in dem Stück
ren und verfügt über alle Statusspielen: der Thyssen-Manager
symbole des Jet-Set wie LuxusJürgen Maßmann, der mit Berajacht, private Düsenjets, Wohtern horrende Provisionen ausgenungen und Häuser in Paris oder
handelt und dabei selbst mehr als
Marbella.
vier Millionen Mark dafür kasZugleich steht die Familie in
siert haben soll; der ehemalige
dem Ruf, bei der Anbahnung von
Staatssekretär Holger Pfahls, der
Geschäften mit Saudi-Arabien
für 3,8 Millionen Mark im Verteiüber beste Beziehungen zu verdigungsministerium die Widerfügen. Sein 1991 verstorbener Vastände gegen das Panzer-Geschäft
ter Akram Ojjeh, ein gebürtiger
aus dem Weg geräumt haben soll;
Syrer, knüpfte seit Anfang der
und der bayerische Geschäftssiebziger Jahre Wirtschaftskonmann Karlheinz Schreiber, der
takte für die saudische Regierung,
die Millionen an deutsche Politisie führten auf dem Höhepunkt
ker und zwei Thyssen-Manager
der Ölkrise zu einem Vertrag mit
verteilt haben soll.
Frankreich über den Verkauf peAlle Beschuldigten in dem Vertrochemischer Produkte und Waffahren bestreiten die Vorwürfe
fen. Später vertrat Vater Ojjeh
der Augsburger Staatsanwaltfranzösische Rüstungsfirmen exschaft vehement.
klusiv in dem Königreich. Zum
Ihren Anfang nahm die Affäre
Dank für seine Verdienste bürim Frühjahr 1990. Zuvor hatte
gerten die Saudis ihn ein.
Thyssen Henschel Fuchs-Panzer
Der Manager muss das Gean die U. S. Army verkauft, gegen
spräch mit Ojjeh in Paris als viel
das Gebot und die Lobby ameversprechend angesehen haben.
rikanischer Rüstungshersteller.
Und von Beginn an wird deutlich,
Nun sollte das Panzerfahrzeug mit Thyssen-Zentrale in Düsseldorf: Erfolgreiche Waffen-Tochter
wie filigran, undurchsichtig und
Hinweis auf den Verkaufserfolg in
komplex das Beziehungsgeflecht
den USA auch in anderen Länangelegt wurde, über das später
dern vermarktet werden, insbedreistellige
Millionenbeträge
sondere in der Golfregion.
fließen sollten.
Dem angestrebten Geschäfts- Der Thyssen-Konzern im Geschäftsjahr 1990/91
Als die Augsburger Ermittler
erfolg im arabischen Raum stand
Maßmanns Büro durchsuchten,
das deutsche Kriegswaffenkon- Investitionsgüter
Handel und
Edelstahl
Stahl
fanden sie heraus, dass der offizitrollgesetz entgegen, das Rüs- und Verarbeitung
Dienstleistungen
tungsexporte in Krisengebiete
11,3
15,3
3,3
10,4 elle Thyssen-Brief an den saudischen Verteidigungsminister vom
wie den arabischen Golf unter*
Umsätze in Mrd. Mark
22. August 1990 auch direkt an
sagt. Doch mit dem Überfall des
eine französische Nummer und
Irak auf Kuweit im Sommer 1990
an eine Firma in München gefaxt
und dem Eingreifen einer Allianz
Thyssen Industrie
Budd (USA)
Wülfrather Gruppe
wurde.
unter Führung der Amerikaner
Geschäftsführer dieses Untersahen die Henschel-Manager ihre
8,3
2,1
0,9
nehmens war Hermann P.*; seiChance, dennoch mit den Ölstaa- darunter
ten ins Geschäft zu kommen.
Thyssen Henschel
Vor allem Saudi-Arabien, da* Die abgekürzten Namen sind der Redak0,65
mals neben Israel am stärksten
*inkl. Binnenumsätze
tion bekannt, werden aus juristischen Gründurch den Irak bedroht, galt als
den derzeit aber nicht genannt.
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AP
Titel
Saudischer Verteidigungsminister Abd al-Asis
„Bei Interesse weitere Informationen“
nem Unternehmen gehörten früher Anteile an einem Zuliefererwerk für den FuchsPanzer. Zum damaligen Zeitpunkt stand P.
zudem in Geschäftsverbindung mit der
Ojjeh-Gruppe. Fortan sollte sich Maßmann
immer wieder mit ihm treffen, wenn Belange der Ojjeh-Familie berührt waren.
Umso erstaunlicher ist, dass Maßmann
in jenen Wochen angeblich daran arbeitete, eine weitere Verbindung nach SaudiArabien aufzubauen. Am 7. September besuchte der umtriebige Manager das Unternehmen Bayerische Bitumen-Chemie
(BBC) im oberbayerischen Kaufering. Dessen Inhaber kannte er bereits seit Mitte
der achtziger Jahre – sein Name: Karlheinz
Schreiber.
Damals, 1985, bemühte sich Thyssen
Henschel um den Bau einer Rüstungsfabrik in Kanada, Schreiber vermittelte. Als
das so genannte Bearhead-Projekt scheiterte, kassierte Schreiber dennoch Millio- Thyssen-Zahlungen
nen. Noch heute ermitteln Staatsanwälte in Viel, viel Geld
Augsburg und Kanada unter anderem wegen Bestechungsvorwürfen auch gegen ka- Bekannten von ihm, „reichen, einflussreinadische Politiker in diesem und in ande- chen Arabern“, beisammen gesessen, um
ren Geschäften.
die Möglichkeiten eines solchen Geschäfts
Und nun sollte Schreiber bei dem ge- zu besprechen.
planten Panzer-Deal wieder seine KontakMan habe ihm versichert, so Maßmann
te spielen lassen. In den Räumen der BBC weiter, die Saudis seien in der Lage, eine
will Maßmann damals neben Schreiber schriftliche Einladu ng für eine Präsentaauch „Repräsentantion in Riad und die
ten aus Saudi-ArabiAufforderung der
Ein Vertrag war nicht
en“ getroffen haben,
Abgabe eines Angenötig, ein Vermerk genügte
wie er am 11. Sepbotes zu erreichen.
tember 1990 in ei„Für diese Dienste
– und die Millionen flossen
nem internen Ver… wurde eine Promerk notierte. Wer
vision von 1,35 Mildiese Vertreter einer so genannten Beneli- lionen Mark Netto gefordert.“ Er hielt fest:
sen-Gruppe gewesen sein sollen, ist bis „Eine schriftliche Vereinbarung hierzu
heute nicht bekannt.
wurde nicht erstellt.“
Der Geschäftsmann Schreiber bestätigt
Maßmanns Wort genügte. Trotz der erdas Treffen. In Kaufering hätte man mit heblichen Summe forderte anscheinend
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niemand bei Thyssen einen Vertrag. Als am
9. Oktober eine Rechnung der BBC über
1,35 Millionen Mark einging, reichte wenige Tage später ein weiterer Maßmann-Vermerk, um die Zahlung auszulösen: Man
habe zwischenzeitlich eine Einladung erhalten und sei bereits zu ersten Gesprächen in Saudi-Arabien gewesen. Damit
seien die „Bedingungen für die Zahlung
der Provision erfüllt“. Dieser Rechnungsbetrag, notierte der Manager, „sollte umgehend angewiesen werden“.
Tatsächlich war das Geschäft mittlerweile ins Rollen gekommen – und dennoch
haftet dem Vermerk ein Schönheitsfehler
an: Alle Kontakte liefen augenscheinlich
über die Ojjeh-Verbindung, eine Benelisen-Gruppe taucht einzig in dem Maßmann-Vermerk auf.
Als Thyssen 1996, aufgeschreckt durch
die staatsanwaltlichen Ermittlungen, interne Nachforschungen anstellte, bot Maßmann intern eine eigenwillige Erklärung
an: Er habe nicht ausschließen können, dass zwischen den beiden Gruppen Verbindungen
bestanden hätten. Daher seien
die 1,35 Millionen Mark gezahlt worden, um das Projekt
nicht zu gefährden.
Doch zu diesem Zeitpunkt
war das Geschäft über die OjjehGruppe längst eingefädelt. Über
A., angeblich ein Ojjeh-Verbindungsmann, erhielt Thyssen Henschel am 26. September 1990 ein
Schreiben des saudischen Verteidigungsministeriums. Darin lud Brigadegeneral Abd al-Asis Al Hussein
ein technisches Team nach Riad ein
und bat um ein Angebot über zehn
Spürpanzer Fuchs nebst Ersatzteilen,
Logistik und Ausbildung der Mannschaften.
Noch am selben Tag erstellte die
Kalkulationsabteilung eine erste überschlägige Rechnung: Danach kostet die
Umrüstung von zehn Fuchs-Panzern aus
Bundeswehrbeständen inklusive des
Baus von Ersatzfahrzeugen und einiger
Sonderkosten 29,5 Millionen Mark – ein
Schnäppchenpreis.
In den letzten Tagen des September 1990
war somit die Bühne für den ersten Akt der
„Operation Fuchs“ gerichtet: Mit dem
Brief des saudischen Verteidigungsministeriums konnte Thyssen Henschel nun offizielle Verhandlungen über den Verkauf
von Fuchs-Panzern anbahnen. Und Maßmann hatte seine Kontakte aktiviert, die
echte oder vermeintliche Hilfe zum Gelingen des Auftrags leisten konnten.
Am Ende zahlten die Saudis für 36
Fuchs-Fahrzeuge in unterschiedlichen Versionen 446 Millionen Mark – allein 220 Millionen Mark für Beraterhonorare und Provisionen. Für Thyssen schien es selbstverständlich, dass solche Großaufträge ohne
verdeckte Zahlungen nicht möglich sind. Es
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GROMIK / SIPA PRESS
Titel
Vermittler Ojjeh*: Beste Beziehungen in Saudi-Arabien
sei doch allgemein bekannt, erklärte der
Thyssen-Justiziar Wolfgang Pigorsch den
Staatsanwälten, „dass bei Geschäften dieser Art Vermittlungsprovisionen gezahlt
werden“. Provisionen dieser Größenordnung aber dürften selbst im Waffengeschäft
ungewöhnlich sein.
In jenen Tagen trieb die Thyssen-Manager weniger die Frage um, wer noch
alles an dem Geschäft verdiente. Ihr
Interesse galt offenbar allein dem Verschleiern solcher Zahlungen. Denn nach
saudischem Recht sind Vermittlungsleistungen im Zusammenhang mit Waffenlieferungen bei Strafe verboten. Gezahlte Provisionen können vom Auftragswert abgezogen werden. Werden gar saudische Regierungsangestellte oder Offizielle bestochen, wird der Vertrag gekündigt und das Unternehmen von der
Lieferantenliste gestrichen.
Letztlich habe man vor der Frage gestanden, erklärte Pigorsch den Ermittlern,
auf den Auftrag zu verzichten oder zu
ting-Verträge, die den wahren Geschäftsgrund benannten. Die heiklen Dokumente wurden allerdings „nicht im Hause breit
verteilt“, so Pigorsch.
Im Gegenteil: Die Geheimverträge wurden in einem Schließfach des Schweizerischen Bankvereins am Paradeplatz in
Zürich hinterlegt, zu dem nur beide Parteien gemeinsam Zugang hatten.
Als das Geld eingegangen
war, hauchte die
Firma ihr Leben aus
* Mit Sarah Ferguson beim Großen Preis von Monaco im
Mai.
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REUTERS
riskieren, vom saudischen Staat in Anspruch genommen zu werden. Damals
habe man dringend Aufträge benötigt und
sei deshalb das Risiko eingegangen, habe
aber gleichzeitig versucht, es „zu minimieren“.
Das Verfahren, das am Ende der Überlegungen stand, war konspirativ und
trickreich. Zuerst schloss Thyssen Henschel
mit ihren Beratern so genannte Consul-
In der Zwischenzeit tüftelten die Manager an offiziellen Papieren, um die saudische Klausel zu umgehen, und verfielen
dabei auf das „Konzept Marketing-Vertrag“ (Pigorsch). Oberstes Ziel war es, alle
Hinweise auf einen Zusammenhang mit
dem Panzer-Geschäft zu tilgen: Statt mit
Thyssen Henschel bereiteten sie PR-Verträge mit der Muttergesellschaft Thyssen
Industrie AG (TI) in Essen vor. Danach sollten sich die Berater nicht mehr um Aufträge mit dem saudischen Verteidigungsministerium bemühen, sondern in der
Golfregion ganz allgemein; und zwar für
die gesamte Palette der TI-Produkte. Auch
der zeitliche Zusammenhang wurde getilgt. Unterschrieben werden sollten die
Verträge offiziell erst nach Abschluss des
Liefervertrages für die Fuchs-Panzerfahrzeuge.
Als die Marketing-Verträge endlich aufgesetzt werden konnten, sollten sich die
Vertreter von Thyssen und den Beraterfirmen nach Zürich aufmachen, um gemeinsam die justiziablen Consulting-Verträge
aus dem Schließfach zu nehmen und zu
vernichten. Doch die Aktion lief anscheinend nicht reibungslos: Ein Exemplar blieb
übrig, es liegt heute in den Akten der
Staatsanwaltschaft.
Zumindest Maßmann hatte das Papier
unterschrieben, kurz bevor er am 28. September 1990 mit einer kleinen Delegation
nach Riad aufbrach, um dem saudischen
Verteidigungsministerium den
Fuchs-Panzer zu präsentieren.
Vertragspartner ist eine Ovessim Corporation. Die 1989
gegründete Briefkastenfirma
hatte ihren Sitz in Panama
City und Direktoren mit
Wohnsitz Schweiz. Als alle
Zahlungen 1994 geleistet waren, hauchte sie ihr Leben
aus. Übereinstimmend vermuteten intern Thyssen-Mitarbeiter später die Firma in
der Einflusssphäre der OjjehGruppe.
Für ein Jahr sollte nun das
Unternehmen Ovessim – laut
dem Vertrag – Berater von
Thyssen Henschel beim geplanten Verkauf der FuchsPanzerfahrzeuge an das saudische Verteidigungsministerium sein. Als Honorar wurden 27 Prozent des gesamten
Auftragswertes vereinbart.
Streitigkeiten sollten nach
englischem Recht entschieden
werden, der Vertrag selbst
war strengstens geheim zu
halten.
Wie wichtig bei solchen Geschäften die Verbindung von
richtigen Kontakten und
großem Geld sein kann, bewies schon der erste Besuch in
Waffenhändler Kaschoggi, Ehefrau
„Der Kanal kam nicht zum Tragen“
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TORONTO SUN
Titel
Vermittler Schreiber: Wurden die Millionen zurück nach Deutschland geschleust?
in Prozent:
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Die kurze Notiz war ein erster Verteilungsschlüssel der späteren Provisionszahlungen, die sich anteilig nach der Auftragssumme bemaßen. Sie legt den Verdacht nahe, dass Zahlungen bereits frühzeitig geplant waren, für die später nur
noch ein Grund gefunden werden musste.
Die „27“, die Bühler notierte, deckt sich
mit dem Honorar der Ovessim im Consulting-Vertrag. Das Kürzel „VOLN“ wurde
mit notwendigen Zahlungen an den ExGeneral erklärt.
Was „POL“ bedeutet, konnte Bühler bei
einer Thyssen-internen Befragung nicht
mehr entschlüsseln. Dafür
erklärte Maßmann gegenüber Thyssen 1996, POL stehe für Politik. Allerdings bedeute dies keinesfalls Politik
im Sinne öffentlicher Stellen,
vielmehr sei damit der Hausbrauch gemeint, eine Kalkulationsreserve für ungeplante Kosten einzubauen.
An „WE“ hingegen konnte Bühler sich wiederum erinnern, das Kürzel stehe für
Rolf Wegener. Der deutsche
Geschäftsmann mit Wohnsitz
in Monaco gehört zum Typus diskreter Vermittler bei
internationalen Geschäften
wie sein Kollege Schreiber.
Zu seinem Bekanntenkreis zählt auch der
damalige FDP-Wirtschaftsminister Jürgen
Möllemann (SPIEGEL 49/1998).
Doch was soll der Name des Düsseldorfer Geschäftsmanns bereits in einer Notiz
vom 8. Oktober 1990? Das Problem – ein
Steuerdetail –, das zu lösen Wegener angeblich helfen sollte, taucht frühestens
sechs Wochen später erstmals in den Thyssen-Unterlagen auf, der erste nachweisbare Kontakt zu Maßmann gar erst acht Wochen danach. Und seine Spuren in den Do-
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R. SUBBIAH
Riad: Denn die saudischen Generäle forderten von Maßmann und seinen Kollegen
eine Vorführung des Panzerfahrzeugs. Und
so soll Maßmann am 4. Oktober 1990 in einem Brief einen ehemaligen amerikanischen General gebeten haben zu prüfen, ob
nicht die US-Streitkräfte eine solche Demonstration für Thyssen durchführen
könnten. Eine saudische Delegation nach
Deutschland einladen wollte man wohl lieber nicht.
Der Vorstoß des Managers hatte schnellen Erfolg. Bereits am 19. Oktober konnten
sich die saudischen Generäle auf dem amerikanischen Militärstützpunkt in Dhahran einen eigenen Eindruck von der
Leistungsfähigkeit des deutschen Rüstungsgutes in Aktion machen. Zwischen Ende
1992 und Anfang 1995 überwies Thyssen rund eine Million Mark an den ehemaligen General.
In der Zwischenzeit stiegen die Kosten für die
Fuchs-Panzer kräftig. Am
8. Oktober belief sich die
Kalkulation für die Neufertigung und Umrüstung von
zehn Panzern plus Logistik
bereits auf über 115 Millio- Pfahls
nen Mark. Und noch immer
fehlten die Provisionen in dieser Berechnung.
Dass üppige Zahlungen von Anbeginn
geplant waren, belegt eine handschriftliche
Notiz von Thyssen-Mann Bühler auf der
Kalkulation:
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J. H. DARCHINGER
kumenten enden auch nicht, als die Steuerfrage gelöst war.
Zu jenem Zeitpunkt verlagerte sich die
Operation Fuchs auch auf eine andere Bühne: Nachdem die Verhandlungen mit den
Saudis eingefädelt waren, galt es nun, die
deutsche Politik von der Notwendigkeit –
und Rechtmäßigkeit – des Deals zu überzeugen. In diesen Oktobertagen des Jahres
1990 wandte sich Thyssen wegen der Panzer zum ersten Mal an das Wirtschaftsministerium.
Während Schreiber schon Geld erhalten
hatte und Wegener in der Kalkulation anscheinend zumindest berücksichtigt war,
beide aber im Vorfeld der Verhandlungen
augenscheinlich keine besondere Rolle
spielten, liefen die Verbindungen über die
Ojjeh-Schiene wie geschmiert.
Maßmann reiste zu Treffen nach Köln
und London. Dann wieder informierte er
den Ojjeh-Verbindungsmann S. über die
Panzer-Vorführung in Dhahran.
Mittlerweile berücksichtigte Thyssens
Kalkulationsabteilung bei ihren Berechnungen für den Auftrag auch so genannte
Sonderkosten. Am 24. Oktober ermittelte
die Abteilung einen Gesamtwert von rund
220 Millionen Mark für den angestrebten
Auftrag.
Spätestens am 16. November 1990 traten
die Verhandlungen mit den Saudis in die
heiße Phase. Gemeinsam mit Bühler reiste
Minister Stoltenberg, Staatssekretär Riedl (1987): Letzte Barriere
Maßmann an diesem Tag wieder nach
Riad. Während der Manager bereits zwei
Tage später wieder nach Deutschland aufbrach, feilschte Finanzexperte Bühler bis in
den Dezember in der saudischen Hauptstadt um den Vertrag. Schon der erste Vertragsrahmen aus diesen Tagen richtete sich
nach saudischem Recht und enthielt das
Provisionsverbot.
Eine weitere Präsentation vor dem saudischen Generalstabschef muss dort einen
tiefen Eindruck hinterlassen haben. Bereits am 22. November erarbeitete Thyssen Henschel einen Lieferplan über 36
Fuchs-Panzerfahrzeuge in verschiedenen
Ausführungen, der dem tatsächlichen
Vertragsvolumen entsprechen sollte: 10
Spürpanzer, 14 Mannschaftstransporter, 8
Ambulanzfahrzeuge und 4 Kommandofahrzeuge.
Dieser Donnerstag im November verlief in Deutschland eher hektisch. Die Steu-
Titel
erabteilung von Thyssen wies darauf hin, Direktor der ATG Investment Limited
dass einige Liefer- und Leistungsteile des Inc., die laut Maßmann über VerbindunVertrages, wie Service und Ausbildung, der gen in saudi-arabische Finanzkreise versaudischen Steuer unterliegen könnten, fügt. Den Kontakt zur ATG habe sein alwenn sie dort erbracht würden. Dies be- ter Geschäftsfreund Schreiber vermittelt.
deute eine mögliche Belastung von 6,75 Die Augsburger Ermittler glauben, dass
die im Jahr 1984 in Kanada gegründete
Prozent des Vertragspreises.
Noch am selben Tag traf Maßmann We- Briefkastenfirma Schreiber selber gehört,
gener in Bonn. Der Manager will den Ver- was dieser allerdings bestreitet.
Zumindest aber
mittler, den er aus
gibt es enge Geanderen Geschäften
schäftsbeziehungen
bereits kennt, eingeDie Beziehungen mussten
zwischen Wullschläschaltet haben, um
wundertätigen Charakter
ger und der Schreidieses Steuerrisiko
besessen haben
ber-Familie. So sitzt
zu vermeiden. Wein einer Schweizer
gener habe dafür
sorgen sollen, dass die kritischen Leis- Gesellschaft, neben Wullschläger auch der
tungen nicht Vertragsbestandteil werden. Sohn des bayerischen Geschäftsmanns im
Dafür habe er im Erfolgsfall zwei Prozent Verwaltungsrat.
Für die Dienste in Saudi-Arabien jedender gesamten Auftragssumme als Honorar
falls versprach Maßmann der ATG ein Hozugesagt.
Zwei Tage später, an einem Samstag, will norar von sechs Prozent der GesamtaufMaßmann wieder unterwegs gewesen sein, tragssumme. 2,4 Millionen Mark davon
um Hilfe bei der Lösung eines weiteren sollte das Unternehmen an Schreibers FirVerhandlungsproblems einzukaufen: Die ma BBC für die Vermittlung des Kontakts
Saudis sperrten sich gegen das Thyssen- überweisen.
Für das Treffen mit Wullschläger gibt es
Begehren, die Zahlungen für die PanzerLieferungen durch einen „Letter of Cre- – außer der Aussage Maßmanns – anscheidit“, der von einer deutschen Bank be- nend keinerlei Beleg; weder in den Spesenabrechnungen noch in seinen Reiseunstätigt war, abzusichern.
Aus diesem Grund habe er, Maßmann, terlagen.
Überhaupt will der Thyssen-Manager
sich am 24. November 1990 mit Lorenzo
Wullschläger getroffen. Der Schweizer war die diffizile Materie hauptsächlich telefo-
nisch mit dem ATG-Vertreter behandelt
haben.
Schreiber selber sagt, er habe lediglich
mitgeholfen, die Finanzierung des Deals
abzusichern und „die Akkreditive für die
Saudis zu besorgen“. Dafür hätte letztendlich das Unternehmen ATG gesorgt,
und zwar mit Hilfe seiner „arabischen
Freunde“.
Welcherart die angeblichen Beziehungen in die saudischen Finanzkreise gewesen sein könnten, liegt bis heute im Nebel.
Aber sie mussten einen wundertätigen
Charakter besessen haben.
Denn bereits drei Tage nach dem Treffen
faxte Verhandlungsführer Bühler aus Saudi-Arabien den aktuellen Stand in die Zentrale nach Kassel. Danach verpflichtete sich
die saudische Seite, einen „von einer deutschen Bank bestätigten Letter of Credit ...
zu eröffnen“.
Größere Schwierigkeiten hat es anscheinend in Saudi-Arabien nicht gegeben.
Thyssen-intern erklärte Bühler, der
während der gesamten Zeit in Riad die
Verhandlungen führte, er habe die Vertragsinhalte ständig mit Vertretern der
Ojjeh-Gruppe abgestimmt – mit Wegener
und Wullschläger hingegen habe er zu keinem Zeitpunkt Kontakt gehabt.
Diese These stützt auch, dass Hinweise
auf die streng geheimen ConsultingVerträge nur noch im Zusammenhang mit
Titel
zum Preis von 446 Millionen Mark nach
Riad reiste, hatte er am Vortag noch schnell
eine stressige Tour absolviert: Auf seiner
Reiseroute lagen Zürich und Kaufering.
Worum es dabei ging, bleibt im Verborgenen, aus den Reisebelegen geht es nicht
hervor.
In den ersten Tagen des Januars 1991 war
damit das lukrative Panzer-Geschäft für
Thyssen Henschel perfekt. Maßmanns Verbindung zum Ojjeh-Clan hatte sich für das
Unternehmen ausgezahlt; doch um welchen Preis? Insgesamt überwies Thyssen
in den folgenden Jahren 184 Millionen
Mark an die Briefkastenfirmen Ovessim
und Linsur in Panama.
Doch das Stück „Operation Fuchs“ war
mit dem Vertragsabschluss noch längst
nicht zu Ende.
In Deutschland standen die Thyssen-Manager Anfang Januar vor ernsthaften Problemen, bei ihrem Projekt hakte es von
Anbeginn an allen Ecken und Enden:
π Der Fuchs-Panzer galt als Kriegswaffe
im Sinne des Kriegswaffenkontrollgesetzes und konnte deshalb nicht in Krisengebiete geliefert werden;
π gegen Waffenlieferungen nach
Saudi-Arabien gab es ressortübergreifend in den verschiedenen Ministerien größte Bedenken;
π selbst bei der Erteilung einer
Exporterlaubnis war Thyssen Henschel
gar nicht in der Lage, auf die Schnelle
die bestellten 36 Panzer aus eigenen
Beständen zu liefern.
Monatelang hatte Thyssen Henschel
parallel zu den Verhandlungen in SaudiArabien immer wieder versucht, die Hürden in Deutschland aus dem Weg zu räumen. Bereits am 25. September 1990 fragte der Konzern im Außenministerium nach,
ob er mit der Liefererlaubnis für zehn
Fuchs-Panzer nach Saudi-Arabien rechnen
könne – ohne Erfolg.
Im Wirtschaftsministerium stellten die Manager am 29. Oktober
1990 den Antrag, den Fuchs-Panzer
gleich ganz von der Kriegswaffenliste zu streichen und künftig lediglich noch als „sonstiges Rüstungsgut“, das geringeren Exportbeschränkungen unterliegt, zu deklarieren. Zwei Tage später wandte sich
Maßmann direkt an den damals zuständigen Staatssekretär Erich
Riedl, gegen den auch die Augsburger Staatsanwaltschaft ebenfalls seit
Jahren ermittelt, sich der Sache im
Sinne des Unternehmens anzunehmen. Doch der Vorstoß blieb vorerst
noch ohne Wirkung.
Nur im Verteidigungsministerium
musste die Kasseler Rüstungsfirma
zu diesem Zeitpunkt anscheinend
nicht selbst aktiv werden. Dort
machte der inzwischen in Asien untergetauchte ehemalige Staatssekretär Pfahls Druck für das Projekt
CORBIS SYGMA
Firmen zu finden sind, die dem Ein- Mark waren in der Aufstellung anonym
flussbereich des Ojjeh-Clans zugeordnet aufgeführt.
In Riad war das Geschäft zu diesem Zeitwerden.
In Riad liefen derweil die Verhandlungen punkt bereits so gut wie in trockenen
weiter, der Kontrakt nahm seine endgülti- Tüchern. Doch am 29. Dezember schickte
ge Gestalt an. Ende November war die ein Ojjeh-Verbindungsmann aus SaudiSteuerproblematik gelöst, der Letter of Arabien eine Alarmmeldung, die vor allem eins deutlich macht – offizielle KonCredit abgenickt.
takte waren beim
Als Bühler am
Panzer-Deal uner6. Dezember mit
wünscht und eher
dem nahezu fertigen
Offizielle Kontakte
kontraproduktiv.
Vertragswerk nach
waren beim Panzer-Deal
Er habe gehört,
Deutschland zurückunerwünscht
faxte der Ojjeh-Bekehrte, nahm Kolleauftragte an einen
ge Maßmann erneut
seine Reisetätigkeit auf: In den folgenden Thyssen-Mann, der offizielle FirmenverTagen traf er wieder eine ganze Reihe sei- treter in Riad spreche mit einer Reihe von
ner Vermittler aus dem In- und Ausland – Leuten über das Projekt und versuche, jede
mal in Köln, mal in Düsseldorf oder auch mögliche Hilfe zu gewinnen. Das Projekt
laufe wunderbar und benötige von niein Paris.
Am 13. Dezember 1990 tauchte auch der mandem Unterstützung: „Bitte haltet euBeschuldigte Winfried Haastert in den Un- ren Mann in Riadda raus.“
Als Maßmann am 5. Januar 1991 endterlagen auf. An diesem Tag faxte Maßmann dem Vorstandsmitglied von Thyssen lich zur Vertragsunterzeichnung für die
Industrie ein Projektpapier des Panzer- Lieferung von 36 Fuchs-Panzerfahrzeugen
Deals zu, angeblich ausschließlich zur Information.
Doch ausgerechnet dieses Dokument
belegt erstmals, welch gigantische Summen als Provisionen fließen sollten. Und
selbst diese Zahlen waren noch zu tief gegriffen, da der damals angenommene Auftragswert von 415 Millionen Mark noch
steigen sollte. Die Zahlen waren nicht mit
Adressaten verknüpft, später lieferte
Maßmann intern Erläuterungen: 73 Millionen Mark seien ein so genannter
Flexibility Fund, der auf den Auftragswert aufgeschlagen worden sei und zu
Zahlungen an die Ojjeh-Gruppe geführt haben soll. Weitere 95,3 Millionen Mark standen der Gruppe aus
dem Consulting-Vertrag mit Ovessim
zu. Zusätzliche Provisionen von 25,6
Millionen Mark und 8,5 Millionen
Schließfächer des Schweizerischen Bankvereins: Geheimverträge hinterlegt
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Titel
– auf eine Art und Weise, die seherische
Fähigkeiten voraussetzt.
Im September 1990 ließ der CSU-Mann,
der 3,8 Millionen Mark aus dem PanzerGeschäft kassiert haben soll, die Hauptabteilung Rüstung prüfen, ob unter anderem
zehn Fuchs-Panzer aus Bundeswehrbeständen an Saudi-Arabien geliefert werden könnten – gut zwei Wochen bevor
Thyssen Henschel überhaupt von dem Königreich erstmals offiziell aufgefordert wurde, ein Angebot über exakt diese Zahl von
Spürpanzern abzugeben.
erforderlich“: Man benötige die „Genehmigung der Ausfuhr dieser Fahrzeuge“ und
die „Zurverfügungstellung von Transportpanzern aus Bundeswehrbeständen“.
Prägnanter ließen sich die Probleme des
Unternehmens nicht umreißen.
Schreiber bestreitet, auf der politischen
Bühne im Hintergrund irgendeine Rolle
gespielt zu haben. Er habe an niemanden Schmiergeldzahlungen geleistet, auch
nicht an Staatssekretär Pfahls. So etwas
sei überhaupt nicht nötig gewesen, da
der „Deal ein Bombengeschäft für die
„Fuchs“-Produktion bei Thyssen-Henschel: Zu wenig Panzer auf Lager
In den folgenden Tagen und Wochen Bundeswehr war“. Den Widerstand habe
setzte sich Pfahls immer wieder in den er nie verstanden: „Da waren Bürokraten
verschiedenen beteiligten Ministerien und am Werk, die das Geschäft gar nicht beim Bundeskanzleramt dafür ein, endlich griffen haben.“
Und wieder wurde Maßmann umtriebig
die Waffen an Saudi-Arabien zu liefern.
Dass sich sein Vorgesetzter, der damalige und reisefreudig. Doch nun pflegte er vor
CDU-Verteidigungsminister Gerhard Stol- allem die Kontakte zu den deutschen Mittenberg, zu jener Zeit vehement für die telsmännern. Am 16. Januar reiste er nach
Beibehaltung der restriktiven Export- Kaufering, dem Wohnort von Schreiber.
Am folgenden Tag
richtlinien einsetzte,
traf er in Bonn
focht ihn offenbar
Wegener, den deutnicht an.
Der Widerstand in den
schen GeschäftsPfahls’ EngageBonner Ministerien löste
mann mit Wohnsitz
ment war ganz im
sich langsam auf
in Monaco. WeiteSinne Thyssen Henre Zusammenkünfte
schels. Zwar hatte
das Unternehmen nun einen Liefervertrag folgten in den nächsten Wochen – obwohl
mit Saudi-Arabien, aber keine Exportge- doch der Vertrag mit den Saudis unter
nehmigung in Deutschland und zu wenig Dach und Fach und damit der vorgebliche
Panzer auf Lager. Damit jedoch fehlte dem Arbeitsauftrag von Schreiber und Wegener eigentlich erledigt war.
lukrativen Geschäft die Basis.
Zur gleichen Zeit wurde Maßmann im
Doch wozu hat man Freunde und Vermittler? Am 11. Januar 1991 verfasste Maß- Bonner Regierungsviertel aktiv. Am 28. Jamann eine vertrauliche Notiz. Um mög- nuar stellte Thyssen Henschel im Wirtlichst schnell die 36 Panzer nach Saudi- schaftsministerium den Antrag, die FuchsArabien liefern zu können, notierte der Panzer nach Saudi-Arabien liefern zu dürManager, sei „im Wesentlichen Folgendes fen. Wieder übergab Maßmann postwen56
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dend eine Kopie an den Staatssekretär
Riedl.
In den folgenden Wochen löste sich der
Widerstand gegen das Geschäft in den
Bonner Ministerien langsam auf: im Wirtschaftsministerium, im Außenministerium,
im Verteidigungsministerium und im Bundeskanzleramt. Am 27. Februar 1991 genehmigte der Bundessicherheitsrat die Lieferung der Panzerfahrzeuge nach SaudiArabien.
Einen Tag nach dem Beschluss des geheimen Gremiums war Desert Storm, die
Aktion zur Rückeroberung
Kuweits durch die alliierten Truppen, beendet, der
Golfkrieg war vorüber.
Zwei Wochen später lag
auch die Ausfuhrerlaubnis
des Bundesamts für Wirtschaft vor.
Noch immer galt es für
Maßmann, eine letzte,
grundsätzliche Barriere
aus dem Weg zu räumen –
der Rüstungskonzern war
überhaupt nicht in der
Lage, fristgerecht 36 Spürpanzer für die Saudis herzustellen. Also wandte sich
der Manager wieder einmal an die hilfreichen
Geister – dieses Mal an
den Verteidigungsstaatssekretär Pfahls.
Man müsse der saudischen Regierung, ließ Maßmann den CSU-Mann in
einem Schreiben vom 12.
März 1991 wissen, binnen
kürzester Zeit 36 FuchsFahrzeuge liefern. Um
dem Ansinnen folgen zu können, „bitten
wir darum, uns aus Bundeswehrbeständen
Fahrzeuge zur Verfügung zu stellen“. Im
Gegenzug erhalte die Bundeswehr später
neue Panzerfahrzeuge als Ersatz.
Der Staatssekretär bemühte sich um
prompte Erledigung, machte er doch schon
seit Monaten Lobby für das Thyssen-Projekt im Ministerium: Noch am gleichen Tag
genehmigte Pfahls die Thyssen-Bitte und
bat die Hauptabteilung Rüstung und den
Chef des Heeresstabes im Ministerium,
„unverzüglich einen Bericht über die eingeleiteten Maßnahmen“ zu liefern.
Der Wunsch von Thyssen Henschel stieß
jedoch bei den Militärs der Hardthöhe auf
wenig Zustimmung. Im Gegenteil. Bereits
zwei Tage später gab die Heeresleitung in
einem internen Vermerk ihre Linie aus:
„Dieser Vorgehensweise bzgl. Spürpanzer
nicht zustimmen.“
Die ablehnende Haltung der militärischen Führung hatte gute Gründe:
Während des Golfkriegs hatte die Bundeswehr bereits 79 Spürpanzer an andere
Nato-Partner abgetreten. Damit war der
eigene Bestand auf 58 Fahrzeuge abge-
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schmolzen. Schon auf diesem Stand sah Verträge mit den Firmen Ovessim und in Genf wurde die erste Rate von insgesamt
die Heeresleitung die „ABC-Abwehr- Linsur, die innerhalb des Konzerns der 35 Millionen Mark überwiesen. Unter der
fähigkeit des Heeres“ und die „Ausbil- Umgebung der Vermittler-Gruppe um Schecknummer 231651594 verbuchte Thysdungsfähigkeit der ABC-Abwehrtruppe er- Mansour Ojjeh zugerechnet wurden. Das sen 55 Millionen Mark zu Gunsten der Linheblich beeinträchtigt“. Und nun sollten Vertragsformular war in allen Fällen das sur, ebenfalls bei der CCF in Genf.
Doch wie stand es um die Entlohnung
weitere 36 Panzerfahrzeuge nach Saudi- gleiche.
Mit den Vereinbarungen ernannte der der deutschen Vermittler? Ebenfalls am 18.
Arabien geliefert werden.
Doch Pfahls wischte alle Bedenken vom Konzern die panamaische Briefkastenfir- Juni unterschrieben TI-VorstandsvorsitTisch. In einer gemeinsamen Sitzung auf ma Ovessim zu seinem „Berater für Mar- zender Eckhard Rohkamm und sein Fider Hardthöhe am 20. März 1991, an der keting-Zwecke in der Golf-Region“. In den nanzvorstand Ernst Höffken einen weiteauch Maßmann teilnahm, entschied der Bereichen Verteidigungs-, Verkehrs- und ren Marketing-Vertrag, diesmal mit der
Umwelttechnologie Great Aziz Corp. Über das BriefkastenunStaatssekretär, dass
sollte sie Marktana- ternehmen ist so gut wie nichts bekannt;
dem Kasseler Unterlysen erstellen oder außer dass es am 12. Mai 1994, drei Monanehmen im Rahmen
Die „Operation Fuchs“
auch einfach die te nachdem Thyssen die letzte Rate übereines Sachdarlehens
strebte ihrem Höhepunkt
Beschreibung von wiesen hatte, in Liquidation ging.
innerhalb von 14 Tazu – dem Zahltag
Trends. Nur eines
Bei einer internen Thyssen-Befragung
gen insgesamt 36
sollte sie nicht: Zur 1996 erklärte Maßmann, dass er das UnFahrzeuge der Bundeswehr zur Verfügung gestellt werden Aufgabe der Firma gehöre nicht „der ternehmen damals Rolf Wegener zuordsollten. Zugleich erklärte er sich namens Abschluss und die Vermittlung von Ver- nete. Tatsächlich trägt der Marketing-Vertrag für das Unternehmen die Unterschrift
des Ministeriums bereit, später saudische trägen“.
Ganz ließ sich der Zusammenhang zum Wegeners. Die Vereinbarung garantierte
Soldaten auf dem Gerät in der ABC-Schuheiklen Panzer-Geschäft dennoch nicht für drei Jahre ein Gesamthonorar von
le Sonthofen ausbilden zu lassen.
Pfahls’ einführende Erläuterung, dass verdecken. Unter Paragraf 8 waren die Ho- 8,93 Millionen Mark – ebenjene zwei Prodieses Vorgehen der „Wunsch des Kanz- norarausschüttungen an die Vermittler an zent des Auftragsvolumens, die bereits Anleramtes und maßgeblicher Kräfte im deut- Zahlungen des saudischen Verteidigungs- fang Oktober des Vorjahres unter dem
Kürzel „WE“, das für Wegener stehen sollschen Bundestag“ sei, wurde nachträglich ministeriums gekoppelt.
In den so genannten Due Dates of pay- te, in der ersten Provisionsübersicht noaus dem Ergebnisprotokoll gestrichen.
Am Mittwoch, dem 20. März 1991, waren ments, den Zahlungsplänen, die am 18. Juni tiert waren.
damit Maßmanns Marketing-Anstrengungen von Erfolg gekrönt. Zwar musste noch
der Sachdarlehensvertrag mit der Bundeswehr verhandelt, mussten einige Details
mit der saudischen Regierung geregelt werden. Doch von diesem Zeitpunkt an war
das Panzer-Geschäft mit Saudi-Arabien
endgültig unter Dach und Fach.
So sahen es die Thyssen-Manager. Bereits am 21. März – einen Tag nachdem
Staatssekretär Pfahls die Entscheidung auf
der Hardthöhe durchgeknüppelt hatte –
saßen Maßmann und ein Mitarbeiter der
Finanzabteilung der Thyssen Industrie AG
im Flugzeug, um drei der Ojjeh-Verbindungsmänner zu treffen – dieses Mal in
London.
Mit einem Scheck im Aktenkoffer nahm
Maßmanns Kollege die nächste Maschine
zurück nach Deutschland. Noch am selben
Tag wurde bei der Commerzbank, Essen,
der Scheck als erste Rate für das PanzerGeschäft auf einem Thyssen-Konto gutgeschrieben. Wert: 89 275 896 Mark, 20 Prozent der Auftragssumme.
Von nun an strebte das Finale der „Operation Fuchs“ seinem eigentlichen Höhe- Oberstaatsanwalt Nemetz: Verdacht auf Untreue, Steuerhinterziehung und Bestechung
punkt zu – dem Zahltag. Zu verteilen waunterschrieben wurden, waren die genauBereits drei Tage nach Unterschrift stellren immerhin 220 Millionen Mark.
Zuvor aber galt es, das Konstrukt aus en Fälligkeitsdaten für die Einzelraten der te Great Aziz – „entsprechend unseres VerScheinverträgen mit den Vermittlern zu Beraterhonorare festgehalten. Und die trages“ – die erste fällige Rate über fünf
vollenden, um die Spuren zu verwischen. nahmen sich üppig aus: Insgesamt erhielt Millionen Mark in Rechnung. Und ebenso
Noch immer lagerten die Consulting-Ver- Ovessim zwischen Juni 1991 und Dezember prompt wurde die Summe überwiesen.
Die „Operation Fuchs“ lief planmäßig
träge mit den Vermittlern, die wegen des 1993 67,5 Millionen Mark, auf das LinsurProvisionsverbots im Liefervertrag eigent- Konto wurden sogar 116,5 Millionen Mark ihrem Ende entgegen – sieht man davon ab,
dass noch immer die Kleinigkeit von 24,4
lich gar nicht existieren durften, sicher gezahlt.
Noch am Tag der Unterschrift unter die Millionen Mark Beraterhonorar bei Thysverwahrt im Zürcher Bankschließfach. Am
8. Mai 1991 unterschrieben die zuständigen Zahlungspläne floss das erste Geld: Auf sen bereitstanden, aber anscheinend noch
Manager der Thyssen Industrie AG die die Ovessim-Konten 269915 und 269914 bei kein Empfänger für das Geld ausgemacht
ersten beiden unverdächtigen Marketing- der Crédit Commercial des France (CCF) war. Als Thyssen am 3. Juli 1991 eine Fäl58
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DPA
Titel
„Fuchs“-Panzer in Saudi-Arabien: Mehrfach überhöhte Preise für deutsche Qualitätsgüter
ligkeitsliste aus den Zahlungen der Mar- mann und Schreiber vor dem Problem,
keting-Verträge erstellte, wird der Betrag, nicht nur den wahren Adressaten des Gelder später über die Beratungsfirma ATG des nach außen verschleiern zu müssen,
an Schreiber ging, unter „NN“ als Glo- auch innerhalb des Konzerns durfte er
balsumme aufgeführt – fällig seit dem nicht bekannt werden.
Bei dieser Aktion geriet wohl einiges
10. Juni 1991.
Das Verwirrspiel um die Schreiber-Mil- durcheinander. Am 7. Mai 1991 hatte
lionen macht Sinn, wenn man der Ansicht Schreibers Unternehmen BBC bereits
der Augsburger Staatsanwälte folgt. Diese Thyssen Henschel 2,4 Millionen Mark in
gehen davon aus, dass ein Teil des Geldes Rechnung gestellt; das zugesagte Honorar
zurück nach Deutschland ging; zum Bei- für die angebliche Kontaktanbahnung mit
spiel an die CDU. Schreiber hatte den da- ATG, die jedoch bis zu diesem Zeitpunkt
maligen Schatzmeister der Partei, Walther noch keinen Marketing-Vertrag unterLeisler Kiep, in einem Schreiben vom 20. schrieben hatte. Allerdings fanden sich
Februar 1991 um Hilfe bei der politischen gleich zwei BBC-Rechnungen über denselben Betrag, aber
Durchsetzung des
mit unterschiedliPanzer-Geschäfts gechen Begründungen:
beten.
Der Panzer-Deal war
Mal ging es um
Mögen die andefür alle Beteiligten ein
Beraterleistungen im
ren Zahlungen auch
gutes Geschäft
Zusammenhang mit
moralisch verwerfdem Nahen Osten,
lich sein, aus Sicht
des Konzerns waren sie rechtmäßig, mal in „fernöstlichen Ländern“. Abgeschließlich gingen die Gelder an so ge- bucht wurde das Geld bei Thyssen Hennannte Steuerausländer. Und auch bei den schel schließlich am 11. Juni mit dem VerSchreiber-Millionen ging man in den Chef- merk: „Für Thailand“. Die Zahlung stand
etagen von Thyssen davon aus, dass diese aber offensichtlich im Zusammenhang mit
Gelder ins Ausland flossen, um das Panzer- der Vermittlung von Kontakten im saudiGeschäft zu befördern – weder die Staats- schen Geschäft.
Schreiber erhielt nach eigenen Angaben
anwälte noch interne Thyssen-Prüfer fanden für das Gegenteil einen Beleg. Ge- im Zusammenhang mit dem Panzer-Gegenüber den Thyssen-Managern und dem schäft ausschließlich diese 2,4 Millionen
zuständigen Finanzamt Düsseldorf erklär- Mark plus die zuvor gezahlten 1,35 Milliote der Geschäftsmann standfest, dass alle nen Mark, die er ordnungsgemäß versteuGelder letztendlich an Steuerausländer ge- ert habe.
In diesen Tagen hatte Maßmann bei all
gangen seien. Nur so konnte Thyssen die
Provisionszahlungen als „nützliche Ausga- der Geschäftigkeit anscheinend den
Überblick verloren. Allem Anschein nach
ben“ absetzen.
Wenn die Ermittlungsergebnisse der wurden mehrere Adressaten für das noch
Staatsanwälte also zutreffen, standen Maß- ausstehende Honorar über sechs Prozent
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des Auftragsvolumens erwogen und wieder
verworfen.
Am 24. Juli 1991 war schließlich der letzte noch fehlende Vertragspartner gefunden. An diesem Tag trafen sich der Thyssen-Justiziar Pigorsch und Maßmann mit
dem Treuhänder Wullschläger, um den
Marketing-Vertrag mit ATG zu unterschrieben. Am 2. August überwies der Konzern die ersten 11 Millionen von insgesamt
24,4 Millionen Mark auf das Konto Nummer 47252 der Swiss Bank Corp. in Zürich.
Am Ende konnten alle zufrieden sein:
Zwischen Juli und Dezember 1991 verschiffte die United Arab Shipping Company die 36 Fuchs-Panzerfahrzeuge nach
Saudi-Arabien. Damit hatte der arabische
Staat – allerdings zu einem mehrfach überhöhten Preis – endlich lang ersehnte deutsche Qualitäts-Rüstungsgüter, deren Lieferung vorher undenkbar schien.
Durch den Sachdarlehensvertrag zwischen dem Verteidigungsministerium und
Thyssen Henschel vom 26. Juli 1991 erhielt
die Bundeswehr 10 neue Spürpanzer und
26 Transportpanzer.
Trotz der horrenden Provisionszahlungen machte Thyssen Henschel bei dem
Panzer-Deal noch ein gutes Geschäft, mit
einer Umsatzrendite von über 15 Prozent.
Am 8. Februar 1994 gingen 430 000 Mark
auf das Konto der Gesellschaft Great Aziz
ein. Mit dieser allerletzten Provisionsrate
waren insgesamt rund 217 Millionen Mark
an die vier Briefkastenfirmen gelaufen.
Wären 1995 nicht die hartnäckigen
Ermittler der Provinzstaatsanwaltschaft
Augsburg auf den Plan getreten, die „Operation Fuchs“ wäre für alle Akteure ein
voller Erfolg geworden. Markus Dettmer
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F. DARCHINGER
P. LANGROCK / ZENIT
Deutschland
Bonner Verteidigungsministerium, Zweitsitz Bendler-Block in Berlin: Systematisch geplante Arbeitserschwerung
H AU P T S TA D T
„Hallo, wo seid ihr?“
Bonn und Berlin sollten sich die Regierungsarbeit teilen. Doch
nun erledigen die Minister alles Wichtige an der Spree.
Den getrennten Apparaten hilft auch Hightech nicht weiter.
F
transferieren. Wütend brachen die Abgeordneten daraufhin am nächsten Tag ihre
Sitzung ab: Erst nachmittags waren zehn
Bonner zur Stelle.
Regieren im Herbst 1999. Das ist der Versuch, eine systematisch geplante Erschwernis zu ignorieren: die Spaltung des
Regierungsapparates.
Zwei Drittel der insgesamt rund 18 000
Arbeitsplätze sowie 6 von 14 Ministerien
sollen mit ihrem „1. Dienstsitz“ dauerhaft
am Rhein bleiben. Nur mit diesem Zugeständnis war den Umzugsgegnern einst
ihre Zustimmung abzuringen.
Doch nur zwei Monate nach dem Einzug
von Parlament und Regierungsspitzen in
Berlin hat sich das politische Geschäft beinahe vollständig in die Hauptstadt verla-
BACH & PARTNER
ür die Debatte der Gesundheitsreform wollte der zuständige Bundestagsausschuss sich gerade mal 45 Minuten Zeit nehmen. Da müsse es doch reichen, wenn fünf Bonner Beamte zwecks
Beratung eingeflogen würden. Das jedenfalls meinte Werner Sipp, Leiter des Parlaments- und Kabinettsreferates von Gesundheitsministerin Andrea Fischer.
Doch am Nachmittag vor der Sitzung
verabredeten die Politiker für den folgenden Tag eine mehrstündige Debatte. Sie
verlangten nun gleich die Präsenz von
zwölf Ministerialen in Berlin.
Und bescherten damit dem Referatsleiter Sipp eine kaum lösbare Aufgabe: So
schnell lassen sich so viele Beamte offenbar nicht aus Bonn in die neue Hauptstadt
Videokonferenz im Berliner Arbeitsministerium*: Sog gen Osten
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gert. Prompt zeigt sich: Die Arbeit der
zersplitterten Bürokratie wird noch
schwerfälliger, noch teurer und kostet mehr
Nerven.
Auch Minister mit offiziellem Hauptsitz
am Rhein führen am liebsten in Berlin ihre
Geschäfte. Sie mühen sich zwar redlich,
die strengen Personalräte nicht wegen seltener Anwesenheit zu verärgern. Trotzdem
kreuzt etwa Gesundheitsministerin Fischer
höchstens alle zwei Wochen in ihrem Bonner Hauptsitz auf.
Bei Abwesenheit des Chefs aber leidet
die Arbeitsmoral der Truppe, fürchtet
zum Beispiel Verteidigungsminister Rudolf Scharping. Deshalb streift der SPDPolitiker in sitzungsfreien Wochen inzwischen häufiger über die Flure der
Hardthöhe. Wenn allerdings das Parlament
tagt, reicht die Zeit noch nicht einmal zur
Stippvisite.
In den Sitzungswochen hingegen hasten
viele Bonner durch den Reichstag und das
umliegende Regierungsviertel. Abteilungsleiter Hermann Schulte-Sasse aus
dem Gesundheitsressort, zum Beispiel, lebt
dann oft tagelang aus dem Koffer, fliegt
mehrfach zwischen Köln und Berlin hin
und her und absolviert von 8 Uhr bis 23
Uhr pausenlos Termine.
Wie sehr die kleine Stadt am Rhein für
das politische Kerngeschäft abgemeldet ist,
illustrieren die Treffen zwecks Absprachen
zwischen den Ressorts: Sie finden fast nur
noch in Berlin statt. „Sogar die Bonner Ministerien müssen nach Berlin einladen“,
berichtet Jürgen Trittins Abteilungsleiter
Rainer Hinrichs-Rahlwes, „die Berliner
kommen sonst nicht.“
Und der Sog gen Osten wird noch stärker. Freie Stellen vor allem im gehobenen
und höheren Bonner Dienst sind nicht
mehr leicht zu besetzen. Seit längerem findet zum Beispiel Finanzminister Hans Ei* Mit Staatssekretär Werner Tegtmeier (M.).
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Deutschland
P. LANGROCK / ZENIT
Viele Fragen, glaubt Haushaltsausschuss-Vorsitzender Adolf
Roth (CDU), ließen sich mit
den Berliner Kopfstellen klären.
Wenn er sich da mal nicht
täuscht. Auf Hochtouren kann
die Regierungsmaschine an der
Spree nur dienstags bis donnerstags arbeiten. Freitags ab
14 Uhr und montags vor Mittag
geht so gut wie nichts, weil die
Pendler unterwegs sind. Sie
müssen, wie bei einer Pauschalreise nach Katmandu, „am
Flughafen bis 90 Minuten vor
Abflug“ ankommen, hat das
Kölner Bundesamt für Güterverkehr verfügt, um die Beamten-Bomber der beauftragten
Fluglinien zu besteigen.
Mit An- und Abreise wird
auch aus einem halbstündigen
Palaver eines hochdotierten
Regierungsnomaden flugs ein
voller Arbeitstag, zum Ärger der ohnehin
gestressten Berliner Bürokraten.
„Dieses Durcheinander kann kein Dauerzustand bleiben“, ärgert sich Verteidigungsstaatssekretär Walter Stützle. Insgeheim hat seine Truppe bereits ausgemessen, dass in dem riesigen Bendler-Block
am Landwehrkanal, wo nach dem Umbau
Scharping mit 350 Ministerialen residieren
soll, sogar 2000 Personen Platz fänden.
Raum genug also für ein verkleinertes, aber
ungeteiltes Ministerium.
Auch im Kanzleramt verspüren Schröders Mitstreiter teilweise einen „hohen
Druck, das bestehende Modell zu verändern“, sagt ein Spitzenkader.
Schon laufen Wetten, wie lange das Experiment mit der Doppelkopf-Regierung
noch geht. Der Haushaltsausschuss-Vorsitzende Roth ist da ziemlich skeptisch: „Die
Illusion, der momentane Zustand sei ewig
haltbar, schwindet rasch.“
Doch die rot-grüne Koalition fürchtet,
wie ihre Vorgänger, das einflussreiche
Nordrhein-Westfalen. Vor den Landtagswahlen im kommenden Frühjahr soll eine
Debatte möglichst nicht hochkommen.
Vorsorglich hat Innenminister Otto Schily
(SPD) im Entwurf einer umfangreichen Kabinettsvorlage „Moderner Staat, moderne
Verwaltung“ darauf verzichtet, das Thema
überhaupt zu erwähnen.
Die Bonner haben sich allerdings schon
längst auf den Verlust eingestellt und finden durchaus Ersatz für die fehlende
Hauptstadtfunktion.
An Silvester können bei Beethovens
Neunter Sinfonie 800 Gäste, so haben es
die Stadtoberen beschlossen, unter dem
Bundesadler im ehemaligen Plenarsaal feiern. Gegen Mitternacht will der vor Ort
prominente Kabarettist Konrad Beikircher
ans Rednerpult treten, zur „Neujahrsansprache 2000“.
Petra Bornhöft,
Pendelnde Ministerialbeamte (in Berlin): Regierungsmaschine auf Hochtouren
chel keine geeigneten Kandidaten für drei
Spitzenjobs in Bonn.
Dabei schien Deutschlands politischer
Doppelkopf optimal organisiert. Was Menschen und Orte trennt, soll die Technik zusammenführen. Der Einsatz von E-Mail,
Videokonferenzen und elektronischer
Akte, versprachen die Leute des regierungsamtlichen „Informationsverbundes
Berlin-Bonn“ (IVBB), werde die 600 Kilometer Distanz praktisch vergessen machen.
Leider aber funktioniert die interne
Kommunikation schlecht, besonders in den
Bonn-Ressorts. Auf den zwei Kreuzberger
Etagen des Entwicklungshilfe-Ministeriums
– erster Dienstort Bonn – liegen die Räume von Ministerin, Staatssekretären und
Pressesprechern eng beieinander. Doch
selbst einfache telefonische Anfragen landen im Nichts, „seit das Berlin-Ding läuft“,
wie eine Sprecherin einräumt.
Ministeriale in allen Ressorts tun sich
schwer, Informationen per E-Mail auszutauschen. Scharpings Staatssekretäre im
Berliner Bendler-Block etwa, von den Stäben der Hardthöhe auf diesem Wege mit
Vorlagen versorgt, mögen die Texte nicht
selber ausdrucken. Sie erwarten, dass Untergebene, wie es in Bonn Brauch war, die
Papiere in die dafür vorgesehenen Mappen einsortieren. Dafür freilich fehlt in Berlin das Personal.
Besprechungen per Videokonferenz sind
auch nicht sehr verbreitet und beschränken
sich auf unkomplizierte Themen.
Im Berliner Arbeitsministerium, dessen
Personal zu 80 Prozent in der Bonner
Außenstelle zurückblieb, bittet Walter
Riesters Sprecherin, Franziska Fitting, einige Öffentlichkeitsarbeiter zum virtuellen Treffen unter dem Porträt des Bundespräsidenten. Kaum hat sie die auf dem
Bildschirm unscharf erkennbaren Kollegen
begrüßt, scheppert es aus dem Lautsprecher: „Hallo, wo seid ihr?“ Die Bonner
64
können nichts sehen, und die Berliner
haben ihre Fernbedienung für die Kamera unter irgendeine Aktenmappe rutschen
lassen.
Auf der Tagesordnung stehen Absprachen über Filme und Broschüren des Ressorts. Ein Deckblatt, das der Bonner Beamte in die Kamera hält, lässt Fitting heranzoomen – auf der Mattscheibe erscheint
auch die Hand des Bonners immer größer.
„Du hast wohl gestern im Garten gegraben“, lästert ein Berliner.
Für Heiterkeit sorgt der Umgang mit
dem ungewohnten Medium allerorten.
Bild- und Tonqualität sind teilweise noch so
schlecht, dass Gesundheitsstaatssekretär
Erwin Jordan zu Beginn der virtuellen
Konferenzen die Beamten ermahnt: „Meine Herren, bitte sprechen Sie langsam und
bewegen sich nicht so schnell.“
Selbst in Häusern, wo die vom IVBB zugesagte Leitungskapazität inzwischen installiert ist, die Technik funktioniert und
gar probeweise Akten am Bildschirm bearbeitet werden, hat sich die Zahl der
Dienstreisen zwischen den Städten drastisch erhöht. In der neuen Hauptstadt erwarten die Abgeordneten den gleichen
Bürokraten-Service wie früher.
Der Aufwand mutet schon mal grotesk
an. So mussten unlängst 70 hohe Militärs
und Zivilisten des Verteidigungsministeriums mitsamt Aktenbergen in einer „Transall“ an die Spree fliegen, um dort vier Parlamentariern Rede und Antwort zu stehen.
Dass bei der Einbringung des Etats im
Plenum hinter der Regierung kein hoher
General gesessen habe, bedauert der CDUWehrexperte Paul Breuer heftig. Doch was
„früher immer üblich“ war, erscheint heute als schierer Reiseluxus.
Wenigstens die sparsamen Haushälter
wollen sich von einigen Gewohnheiten
trennen und nicht mehr zu jedem Tagesordnungspunkt Bonner Beamte bestellen.
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Alexander Szandar
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Deutschland
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Abschied von der alten BRD“
M. URBAN
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höppner (SPD) über die
Wahlniederlagen seiner Partei, das Verhältnis zur PDS und
die Identitätsprobleme der Westdeutschen nach neun Jahren Einheit
SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, Gerhard
Schröder hat versprochen, den Aufbau Ost
zur Chefsache zu machen.Haben Sie davon
schon etwas bemerkt?
Höppner: Der Kanzler nimmt sich der Sache
inzwischen deutlich an. Trotz der Sparmaßnahmen sind 2,3 Milliarden Mark mehr
für den Aufbau Ost im Haushaltsplan 2000
eingestellt als bei der letzten Regierung
Kohl. Die Koalition lässt keinen Zweifel
daran, dass der Solidarpakt auch nach 2004
fortgesetzt wird.
SPIEGEL: Sind die Ost-Wähler zu dumm,
dies als Wohltat zu begreifen?
Höppner: Unser dramatischer Einbruch bei
den Landtagswahlen im Osten lag daran,
dass wir uns um die Fragen der Gerechtigkeit nicht genug gekümmert haben. Das ist
zwar sachlich nicht ganz berechtigt. Denn
unter dem Strich sind die kleinen und mitt-
68
Reinhard Höppner
regiert seit 1994 mit einem Minderheitskabinett in Sachsen-Anhalt – toleriert von der PDS. In der DDR war der
studierte Mathematiker in der evangelischen Kirche engagiert und Vizepräsident der letzten, frei gewählten
Volkskammer. Seit den Wahlniederlagen der SPD im September sind er und
der niedersächsische Ministerpräsident
Gerhard Glogowski die einzigen Sozialdemokraten, die ohne Koalitionspartner ein Bundesland regieren. Nach
dem Auseinanderbrechen des SPDSpitzenduos Regine Hildebrandt und
Manfred Stolpe in Brandenburg gilt
nun der wesentlich jüngere Höppner,
50, zunehmend als Vormann der ostdeutschen Sozialdemokraten.
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leren Einkommen entlastet worden. Aber
die SPD hat zugelassen, dass im Land der
Eindruck entstand, die Gerechtigkeit wäre
uns nicht mehr so wichtig. Und da ist der
Osten nun besonders empfindlich.
SPIEGEL: Wodurch entstand dieser Eindruck?
Höppner: Durch falsche Symbole. Oskar Lafontaines Rückzug war eines davon …
SPIEGEL: … die Zigarre des Kanzlers ein
weiteres.
Höppner: Schwerer wog Lafontaines Abgang.
SPIEGEL: Vor einem Jahr errang die SPD einen furiosen Wahlsieg. Inzwischen sind
Kanzler, Regierung und SPD beim Wahlvolk unten durch. Wie konnte das passieren?
Höppner: Wir haben uns ein paar Fehler zu
viel geleistet.
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ARIS
Deutschland
Kanzler Schröder*: „Ein paar Fehler zu viel“
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Höppner: Als Norbert Blüm eine neue Ren-
* Oben: beim Besuch des Eko-Stahlwerks am 1. September in Brandenburg; unten: Horand Knaup, Hans-Jörg
Vehlewald und Stefan Berg im WillyBrandt-Haus in Berlin.
70
M. URBAN
tenformel vorlegte, haben wir von Rentenkürzung gesprochen, obwohl das Modell nur die Steigerungsraten verringern
sollte. Wir haben an dieser Stelle absichtsvoll ungenau gesprochen, und das fällt uns
jetzt auf die Füße. Daraus kann man nur
eine Lehre ziehen: Wir müssen auch in
Wahlkämpfen so genau reden, dass die Dinge bis ins Letzte stimmen. Aber es gab eine
Reihe von konkreten Zusagen, die wir eingehalten haben. Das darf nicht vergessen
werden. Doch wir haben im Wahlkampf
nicht genug über die Größe der Herausforderungen geredet, die vor uns stehen.
SPIEGEL: Warum endeten manche Gesetzesprojekte so kläglich wie die Reform der
630-Mark-Jobs?
Höppner: Wir haben manchmal Lösungen
für Probleme angeboten, die die Leute
noch gar nicht als Probleme erkannt hatten. Man kann sagen: Die Problemlösungen wurden zum Problem. Beispiel:
Scheinselbständigkeit oder 630-Mark-Jobs.
Da gab es wirklich Handlungsbedarf, weil
die 630-Mark-Jobs so ausuferten, dass im
Grunde genommen eine breite Grauzone
entstanden ist zur Steuervermeidung.
SPIEGEL: Das haben die Finanzminister begriffen, nicht aber die Wähler.
Höppner: Richtig. Wir hätte den Leuten sagen müssen, was wirklich dahinter steckt.
Wenn die Menschen das Problem erkannt und wir dann
eine Lösung vorgelegt hätten,
hätten die Leute gesagt: Gott
sei Dank, jetzt haben die Sozialdemokraten diese Frage
geklärt.
SPIEGEL: Kann die SPD diese
Schnitzer ausgleichen?
Höppner: Was den Osten betrifft, müssen wir ein Thema
endlich anpacken, das hohen Symbolwert
hat: die Angleichung der Löhne im Öffentlichen Dienst.
SPIEGEL: Berlins Regierender Bürgermeister
Eberhard Diepgen – ein CDU-Mann – hat
das hinbekommen.
Höppner: Er ist aus der Tarifgemeinschaft
der Länder ausgestiegen. Das ist starker
Tobak für einen, der stets nach Bundeshilfen ruft. Ich habe jetzt einen Plan unterbreitet, den ich als das Minimum ansehe. In
den nächsten neun Jahren müssen wir die
Angleichung schaffen: Zwei Jahre lang sollten wir die Arbeitszeiten angleichen, die im
Westen immer noch niedriger sind als im
Osten; sieben Jahre lang die Gehälter.
Dann gibt es endlich gleichen Lohn für
gleiche Arbeit.
SPIEGEL: Wird sich der Kanzler dafür erwärmen?
Höppner: Ich bin darüber im Gespräch mit
dem Bundesfinanzminister. Und ich setze
darauf, dass der Bundesregierung das
Problem jetzt noch bewusster wird, wo
sie in Berlin sitzt und den Tarif-Wirrwarr
zwischen Ost und West erlebt. Der Umzug nach Berlin kann dazu beitragen, dass
ein Bewusstsein für gemeinsame Herausforderungen, für eine gemeinsame Identität von Ost- und Westdeutschen entsteht.
SPIEGEL: Identität entsteht in der Regel eher
durch Abgrenzung.
Höppner, SPIEGEL-Redakteure*: „Saubere Partei“
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Deutschland
Wir können im vereinten
Deutschland unsere Identität nicht mehr
dadurch gewinnen, dass wir Schuld anderen zuschieben. Identität durch Abgrenzung zu finden ist eine gefährliche Geschichte. Das ist durchaus im Moment im
Gange, aber überhaupt kein reines OstProblem. Auch die Westdeutschen haben
ein Identitätsproblem.
SPIEGEL: Das dürfte dem Westen bislang
entgangen sein.
Höppner: Die Westdeutschen haben lange
in der Illusion gelebt, sie bräuchten sich
nicht zu verändern in diesem gemeinsamen Deutschland. Man redet immer von
der „ehemaligen DDR“, was Unsinn ist.
Es gibt nämlich keine neue DDR. Aber
man könnte mit gutem Grund von der
„ehemaligen Bundesrepublik“ sprechen,
denn es gibt ja eine neue seit 1990. Das
nehmen die Westdeutschen noch nicht
wahr, aber vielleicht dämmert es ihnen
langsam.
SPIEGEL: Den Schuldenberg hat die neue
Bundesrepublik aber vor allem der alten
DDR zu verdanken.
Höppner: Den Reformstau jedoch der alten
Bundesrepublik. Die Schwierigkeiten, heute Reformen durchzuführen, werden oft
mit der Einheit erklärt. Also ist wieder der
Osten schuld. Das ist eine schöne westdeutsche Legende, mit der man dem Osten
die Schuld am nötigen Konsolidierungsprogramm zuschieben kann.
SPIEGEL: Schadenfreude, wenn’s jetzt auch
im Westen ans Eingemachte geht?
Höppner: Nein, ich bin überhaupt nicht
schadenfroh. Ich halte es bloß für nötig,
dass die Westdeutschen diesen Lernprozess im Zuge der deutschen Einheit nun
tatsächlich auch vollziehen. Aber auch unsere Lernprozesse sind ja nicht abgeschlossen.
SPIEGEL: Was kommt noch auf den Osten
zu?
Höppner: Bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit muss die Sonderbehandlung Ost
aufhören. Strukturschwachen Regionen im
Westen muss genauso geholfen werden wie
strukturschwachen Gebieten im Osten.Viele Ostdeutsche müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass auch im Westen Arbeitslose und Sozialhilfempfänger leben. Nur
wenn wir diese Ost-West-Denkbarrieren
überwinden, werden wir die Einheit erfolgreich gestalten.
SPIEGEL: Haben Sie sich für dieses Projekt
nicht einen etwas seltsamen Partner ausgesucht? Die PDS lebt von der Abgrenzung vom Westen.
Höppner: Jede Partei muss sich die Frage gefallen lassen: Was tragt ihr denn zum Zusammenwachsen bei? Diese Frage ist zweifellos für die PDS eine besonders dringende. Es geht nicht an, dass eine Partei ihre
Hauptzustimmung aus den Unterschieden
zwischen Ost und West saugt. Das darf
man der PDS nicht durchgehen lassen.
Wenn sie jetzt in ganz Deutschland anHöppner:
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kommen will, muss sie sich von diesem
Ost-Gejammer verabschieden.
SPIEGEL: Damit gewinnt sie aber derzeit im
Osten Wahlen.
Höppner: Wir in Sachsen-Anhalt haben andere Erfahrungen mit der PDS gemacht.
Wir mussten etwa Gelder für Kinderbetreuung kürzen. Die PDS hat diese Entscheidung zwar erst torpediert, dann aber
mitgetragen. Da hat die PDS eine harte
Lernstrecke hinter sich gebracht.
SPIEGEL: Nachdem Sie mit dem Ende des
Magdeburger Modells, der Tolerierung, gedroht hatten.
Höppner: Ich glaube, dass diese Erfahrung
bei der PDS nachhaltig gewesen ist. Das ist
in Mecklenburg-Vorpommern ähnlich.
Auch Ministerpräsident Harald Ringstorff
hat die PDS dazu gebracht, die Haushaltskonsolidierung mitzutragen.
SPIEGEL: Sie sind also nicht generell der Meinung, dass die PDS im Osten koalitionsfähig
ist, sondern nur da, wo die SPD über
Pädagogen wie Sie und Ringstorff verfügt?
Höppner: Generell ist festzustellen, dass die
DDR-Vergangenheit der Parteien bei der
Wahlentscheidung der Menschen keine
entscheidende Rolle mehr spielt. Weder
PDS noch CDU wird angelastet, dass SED
und Ost-CDU mitverantwortlich waren für
Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl.
Und es hilft uns auch nicht, dass die SPD
im Osten eine neu gegründete, schöne, saubere Partei ohne diese Vergangenheit ist.
Wir kriegen keinen Bonus mehr.
SPIEGEL: Die PDS lebt im Osten vom Thema DDR-Biographien. Wie will die SPD
ihr dieses Thema nehmen?
Höppner: Die Frage, wie die Ostdeutschen
als akzeptierte Partner im gemeinsamen
Deutschland ankommen können, sollten
Sozialdemokraten offensiver angehen. Davor haben sich manche gescheut, was mit
unserer Geschichte zu tun hat. Diese Scheu
müssen wir überwinden, weil wir das Feld
nicht der PDS überlassen dürfen.
SPIEGEL: Also Stasi-Überprüfungen abschaffen?
Höppner: Darüber will ich mit den ande-
ren Ministerpräsidenten im Osten reden.
Wir brauchen vergleichbare Spielregeln
in allen neuen Bundesländern. Wenn
die Bildung einer terroristischen Vereinigung nach zehn Jahren verjährt, darf
auch das Ausspionieren nach zehn Jahren keine Nachteile für jemanden mehr
haben. Wir brauchen da schnell eine Lösung.
SPIEGEL: Die einfachste wäre die
Schließung der Gauck-Behörde, oder?
Höppner: Nein, ich will keinen Schlussstrich. Ich halte es übrigens auch für völlig
abwegig, die Gauck-Behörde dem Bundesarchiv zuzuordnen.
SPIEGEL: Befürworten Sie eine Amnestie
für Egon Krenz?
Höppner: Nein. Der Rechtsstaat hat aufs
Ganze gesehen seine Möglichkeiten sinnvoll genutzt. Eine Amnestie kommt für
mich nicht in Frage.
SPIEGEL: Ist die PDS im Osten eine Volkspartei?
Höppner: Volksparteien gibt es im Osten
nicht, wenn man darunter Parteien
mit großen Mitgliederzahlen versteht.
Wenn man sich fragt, wie tief die
Parteien in der Bevölkerung verwurzelt
sind, so würde ich schon sagen: Es gibt
inzwischen drei Volksparteien – SPD,
PDS und CDU.
SPIEGEL: Können Sie sich vorstellen, dass
einmal die SED-Nachfolger eine PDS-SPDKoalition anführen?
Höppner: Sie meinen, dass Sozialdemokraten einen PDS-Ministerpräsidenten
wählen?
SPIEGEL: Die PDS ist schon jetzt in OstBerlin, Sachsen und Thüringen stärker als
die SPD.
Höppner: Glücklicherweise ist Ost-Berlin
kein eigenes Bundesland. Dass Sozialdemokraten einen PDS-Mann zum Ministerpräsidenten wählen, halte ich für ausgeschlossen.
SPIEGEL: Warum?
Höppner: Ich jedenfalls könnte das nicht
befürworten – auf lange Zeit nicht. Landesregierungen müssen so gebildet werden, dass sie im gesamtdeutschen Konzert
des Föderalismus durchsetzungsfähig sind.
Und genau das wäre eine solche Regierung
nicht.
SPIEGEL: Wenn die PDS in einem Landtag
die Mehrzahl der Abgeordneten stellt, geht
der Regierungsauftrag an sie – ob föderal
akzeptiert oder nicht.
Höppner: Die Situation, in der die PDS einmal stärkste Partei ist, wird hoffentlich nie
eintreten.
SPIEGEL: Halten Sie die PDS im Bund für
koalitionsfähig?
Höppner: Nein, weil sie bundesweit nicht
akzeptiert ist. Man braucht für Koalitionen nicht nur im Parlament eine Mehrheit,
sondern auch in der Gesellschaft. Und im
Westen ist diese Partei bis heute eben nicht
akzeptiert.
SPIEGEL: Aber auch dort gewinnt sie an Prozenten hinzu.
Höppner: Die PDS träumt davon, eine
Linkspartei zu werden, vergleichbar mit
den Kommunisten in Frankreich oder Italien. Richtig ist: In fast allen europäischen
Ländern gibt es solche Parteien links von
der Sozialdemokratie, in mehreren Ländern regieren sie sogar mit. Die PDS ist davon noch weit entfernt. Solange noch der
Block von alten Funktionären diese Partei
wesentlich mitbestimmt, sind die Chancen,
eine moderne Linkspartei zu werden, nicht
sehr groß.
SPIEGEL: Herr Höppner, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
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INNERE SICHERHEIT
Guck und Greif
In Dresden und Leipzig überwacht
die Polizei Teile der Innenstadt
per Video. Andere Städte wollen
folgen. Ob Kameras Kriminelle abschrecken, ist umstritten.
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Überwachungskamera an der Prager Straße in
FOTOS: S. DÖRING / VISUM / PLUS 49
er neue Job von Polizeihauptmeister Lothar Arndt ist in der Regel
ziemlich langweilig: Nach einem
vom Computer festgelegten Kurs schwenken zwei Videokameras über die Dresdner
Fußgängerzone hinter dem Hauptbahnhof.
Arndt verfolgt das Treiben in der Einkaufsstraße auf zwei Monitoren in der Einsatzzentrale.
Bemerkt der Beamte etwas Auffälliges,
dirigiert Arndt mit einem Joystick das elektronische Auge dorthin, wo Sicherheit und
Ordnung auf der Dresdner Flaniermeile
Prager Straße in Gefahr sind. Per Funk
wird ein Streifenpolizist zum Tatort gelotst.
Passiert ist das, seit die Dresdner
Fußgängerzone elektronisch überwacht
wird, noch nie. „Verbrechen haben wir keine aufgeklärt“, sagt Arndt. Er und zwölf
Kollegen sind seit dem 5. Oktober abkommandiert zum Videogucken – von zehn
Uhr morgens bis zwei Uhr nachts. Nach
zwei Stunden werden die Teams, immer
zwei Personen, abgelöst.
Vor ihrem Einsatz mussten die Beamten
Datenschutzbestimmungen pauken: keine
Aufzeichnungen, ohne dass ein konkreter
Tatverdacht vorliegt. Bestätigt sich der Verdacht nicht, muss sofort gelöscht werden.
Polizeisprecher Karsten Schlinzig hört das
Wort Videoüberwachung gar nicht gern:
„Das klingt so nach Stasi, Horch und
Guck.“ Er spricht lieber von „Bildübertragung mit präventivem Charakter“.
Die Landeshauptstadt ist nicht der einzige Ort im Sächsischen, wo Hightech das
„subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger
erhöhen soll“ (Schlinzig). Seit drei Jahren
wird das Areal rund um den Leipziger
Hauptbahnhof elektronisch observiert.
Das SPD-regierte Niedersachsen schuf
vor fünf Jahren in seinem Gefahrenabwehrgesetz erstmals die juristischen Voraussetzungen für Guck und Greif. In
Braunschweig, Osnabrück, Melle und Lehrte wurden Überwachungsanlagen in dunklen Unterführungen und Tunneln – meist in
Bahnhofsnähe – installiert. Ein Jahr später
folgten die Sachsen. Erwogen wird der Einsatz der Videotechnik in Berlin, Halle und
in der Hessen-Metropole Frankfurt.
Polizei-Praktiker sind skeptisch, ob
Überwachungskameras tatsächlich die
Straßenkriminalität eindämmen können.
Zwar sind etwa in Leipzig die Autodiebstähle rund um den Hauptbahnhof um
die Hälfte zurückgegangen. Doch ob das
Kontrollmonitore in Dresden
„Bei Schnee alles grisselig“
nur auf die Fernseh-Dauerüberwachung
zurückzuführen ist, weiß Polizeisprecher
Günter Pusch nicht: „Eine richtige Untersuchung über die Wirksamkeit der Technik
gibt es nicht.“ Kritiker argwöhnen, die
Kameras führten bloß dazu, dass die Diebe woanders in der Stadt zuschlagen.
In Dresden sind dem amtlichen Voyeurismus zudem technische Grenzen gesetzt.
Bei Platzregen liefert die Kamera Bilder in
derart bescheidener Qualität, dass der Beamte am Monitor nur noch erahnen kann,
was auf der Prager Straße vorgeht. „Bei
Schneetreiben“, schwant einem Schutzmann, „wird das wohl die Qualität vom
Westfernsehen zu DDR-Zeiten haben: alles grisselig.“
Bei der ostdeutschen Bevölkerung indes
findet der Einsatz von Kameras auf Plätzen
und in Fußgängerzonen vorbehaltlose Zustimmung – als hätte es die einst allgegenwärtige Stasi nie gegeben. Bei einer
Telefonumfrage des Mitteldeutschen Rundfunks sprachen sich 86 Prozent der Anrufer für die Videoüberwachung aus.
Die Polizei im sachsen-anhaltinischen
Halle möchte denn auch möglichst bald
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Deutschland
den Marktplatz mit Videokameras überwachen lassen. Doch noch lässt das Sicherheits- und Ordnungsgesetz des Landes
die elektronische Observation öffentlicher
Areale nicht zu. Das will nicht nur die oppositionelle CDU im Magdeburger Landtag ändern, auch Innenminister Manfred
Püchel (SPD) gewinnt dem Kameraeinsatz positive Seiten ab. An Kriminalitätsschwerpunkten, so der Minister Anfang
Oktober vor dem Magdeburger Landtag,
sei „der gezielte Einsatz von Videoüberwachungstechnik ein sinnvolles, notwendiges polizeiliches Mittel“.
Die PDS, der Tolerierungspartner der
SPD-Minderheitsregierung, hält von einer
Gesetzesänderung indes nichts. „Da wird
es zum Showdown zwischen Püchel und
uns kommen“, droht ein führender PDSGenosse.
Mit Unbehagen beobachten auch die
Datenschutzbeauftragten des Bundes und
der Länder den wachsenden Drang der
Politiker, Straßenkriminalität per Bild-
schirm bekämpfen zu wollen. Auf ihrer
Jahrestagung Anfang Oktober in Rostock
forderten sie den Gesetzgeber auf, Vorkehrungen zu treffen, „damit der schmale
Grat zum Missbrauch“ nicht überschritten wird.
In vielen Städten sind öffentliche Plätze
und Privatwohnungen mittlerweile die einzigen Orte, die nicht elektronisch überwacht werden. In Kaufhäusern, Tankstellen, Tiefgaragen, Banken, Bahnhöfen und
Flughäfen haben elektronische Augen den
Passanten längst im Dauervisier. 100 Kameras sind allein auf dem Frankfurter
Hauptbahnhof installiert. „Wer kann denn
wirklich noch garantieren“, klagt ein Datenschützer, „dass die Technik nicht missbraucht wird.“
Andernorts sind die Behörden nicht so
pingelig. Im Londoner Stadtteil Newham
etwa kontrollieren 250 Kameras nahezu jeden Winkel (SPIEGEL 27/1999). Nach Berechnungen von britischen Bürgerrechtsorganisationen geben staatliche Stellen fast
B. KOBER / PUNCTUM
Dresden: „Wer kann garantieren, dass die Technik nicht missbraucht wird?“
Polizeiwarnung am Leipziger Hauptbahnhof
Sponsoren aus der Wirtschaft?
900 Millionen Mark pro Jahr für immer
ausgefeiltere Videotechnik aus.
Mehr als das Lamento der Datenschützer lassen die Kosten viele Kommunen in
Deutschland vor einer Totalüberwachung
ihrer Innenstädte zurückschrecken. Abhilfe könnte von der Wirtschaft kommen: Die
100 000 Mark teure Dresdner Videoanlage
sponserte ein örtliches Kaufhaus.
Hans-Jörg Vehlewald, Andreas Wassermann
Deutschland
K R I M I N A L I TÄT
Nur Taschengeld
Ein Richter steht in Kiel vor
Gericht: Er soll mehrere Banken
um Millionen gebracht haben.
A
C. AUGUSTIN
ls der Beschuldigte im März verhaftet wurde, sackte ihm vor
Schreck der Kreislauf weg. Zwar
hatten drei Staatsanwälte und bis zu
zwölf LKA-Beamte ein Dreivierteljahr lang
gegen ihn ermittelt, doch Klaus-Dieter
Jöcks, 55, wähnte sich stets sicher. Kein
Wunder – der Mann ist Richter.
Am Donnerstag dieser Woche beginnt
vor der 6. Großen Strafkammer am Landgericht Kiel der Prozess gegen den
ehemaligen Richter am Amtsgericht im
schleswig-holsteinischen Neumünster. Die
Staatsanwaltschaft wirft ihm in ihrer 420
Seiten umfassenden Anklageschrift (Aktenzeichen 590 Js 27508/98) unter anderem
gefährliche Körperverletzung, Bedrohung,
Veruntreuung, Betrug, Urkundenfälschung,
Rechtsbeugung und Bestechlichkeit vor.
Damit wird erstmals in der neueren deutschen Justizgeschichte einem Richter wegen einer ganzen Reihe schwerer Straftaten der Prozess gemacht. Jöcks drohen bis
zu zehn Jahre Haft. Jöcks und sein Anwalt
mochten sich gegenüber dem SPIEGEL zu
der Anklage vergangene Woche nicht
äußern.
Als Amtsrichter bekam der Angeklagte
nach Besoldungsgruppe R 1 9076 Mark
Grundgehalt im Monat. Vor Juristenkollegen brüstete er sich, das sei für ihn „ja nur
ein Taschengeld“, wie sich der Neumüns-
Strohmänner, die mit ein paar tausend
Mark abgefunden werden sollten – bekommen haben sie nichts. Unter anderem
soll Jöcks eine Protokollführerin des Amtsgerichts Neumünster benutzt haben, die
aufgrund „ihres grenzenlosen Vertrauens“
(Anklageschrift) zum Amtsrichter mehrere Kaufverträge unterschrieb. Die Frau
steht nun bei der Bank mit einer sechsstelligen Summe in der Kreide.
Mit gefälschten Papieren und dem
guten Namen des Amtsrichters sollen die
Banken von der Seriosität des Geschäfts
überzeugt und zur Gewährung von Krediten in sechsstelliger Höhe bewogen worden
sein. Als von den Strohmännern kein Geld
kam, wurden die Objekte zwangsversteigert, die VIM Möller GmbH konnte sie billig zurückkaufen. „Kick-back-Geschäfte“
nennen das die Ermittler. Mit einigen Dutzend solcher Deals sollen Jöcks und seine
Truppe einen Schaden von mehreren Millionen Mark verursacht haben, Schätzungen gehen bis zwölf Millionen. Genauere
Zahlen gibt es bislang nicht.
Anfang 1997 geriet die VIM Möller
GmbH weiter ins Schleudern: Die Sparkasse Kiel forderte Kredite über sieben Millionen Mark zurück. In ihrer Not erschienen einige Komplizen Jöcks’ beim Notar
Preuß: Die VIM Möller GmbH wollte das
Stadthaus am Kieler Lorentzendamm und
ein Mehrfamilienhaus auf Sylt
an den „gut betuchten Reederssohn“ (Preuß) Gernot Fischer aus Hamburg verkaufen.
Der Kaufpreis sollte rund 9,4
Millionen Mark betragen – der
tatsächliche Wert lag laut Anklage bei etwa 6 Millionen.
Nach Einschätzung der Ermittler wurde Reederssohn Fischer vom weiteren Mitangeklagten Günter S. gespielt, der
Beschuldigter Jöcks
sich mit einem gefälschten Reisepass legitimierte. Mit den Kaufverträgen
sollte der Gläubigerbank Liquidität vorgetäuscht werden – was tatsächlich gelang.
Die Sparkasse Kiel verzichtete darauf, ihre
Millionenforderung sofort geltend zu machen. Nach vier Wochen wurden die Verträge bei Preuß wieder aufgehoben.
Wenn Kaufinteressenten Probleme
machten, sollen Jöcks’ Leute auch schon
mal brutal geworden sein. Als man sich mit
einem Interessenten nicht über den Verkauf der Sylt-Immobilie einig wurde, hätten Jöcks und Farzin S. laut Anklageschrift
einen türkischen Mitarbeiter beauftragt,
den Mann zusammenschlagen zu lassen.
Der wurde kurz darauf von zwei Unbekannten mit Baseballschlägern verprügelt.
Die Pflichten seines Amtes scheint Richter Jöcks immer weiter aus den Augen verloren zu haben: Im Sommer 1995 meldete
er sich für drei Wochen krank – und machte Urlaub auf Sylt. Seine ZeitschriftenAbos hatte er zuvor auf die Sylter Ferienadresse umgemeldet.
Florian Gless
teraner Ex-Notar Andreas Preuß erinnert.
In Justizkreisen der holsteinischen Provinz
habe man sich, so Preuß, „immer schon“
gewundert, wie Jöcks Jahr für Jahr den
neuen Mercedes finanziert habe.
Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft mit
unsauberen Geschäften. Neben seiner
Richtertätigkeit war Jöcks Alleingesellschafter und, so die Anklage, auch Geschäftsführer einer Immobilien-Gesellschaft, der Kieler VIM Möller GmbH. Eine
solche Nebentätigkeit ist Richtern gesetzlich untersagt.
Laut Anklage geriet die VIM Möller
GmbH Ende 1995 in finanzielle Schwierigkeiten. Beim Kauf einer Millionen-Immobilie in bester Lage am Kieler Lorentzendamm hatte sich die Gesellschaft übernommen. Daher habe Jöcks mit einigen
Bekannten den Entschluss gefasst, Immobilien der Firma zu weit überhöhten Preisen zu verkaufen.
Nach Zeugenaussagen bildeten die Beteiligten eine Gruppe, in der die Aufgaben
klar verteilt waren: Jöcks soll der Chef gewesen sein. Zwei Geschäftsleute seien für
die Finanzierungen und die Kontakte zu
den Banken verantwortlich gewesen. Der
Mitangeklagte Farzin S., ein in der Kieler
Halbwelt bekannter Schläger, sollte als Geschäftsführer auftreten. Zudem wurde, so
berichtet ein Zeuge, ein ehemaliger Kriminalbeamter aus Neumünster
hinzugezogen, der Jöcks und
seine Komplizen über mögliche Ermittlungen der Justiz auf
dem Laufenden halten sollte.
Die Deals liefen, so die Anklage, immer nach dem gleichen Muster: Die VIM Möller
GmbH veräußerte Immobilien
stark überteuert an mittellose
Stadthaus am Kieler Lorentzendamm: Verkauf an falschen Reederssohn?
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Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
H AU P T S TA D T
Unesco-Schutz für Hitlers Bunker?
Bauarbeiter stießen im Berliner Regierungsviertel auf Teile des „Führerbunkers“ –
und belebten die Diskussion über den Umgang mit der Vergangenheit neu. Historiker
fordern die Freilegung und Einrichtung einer Gedenkstätte, Nazi-Forscher
Daniel Goldhagen möchte die Betonruine gar unter internationale Protektion stellen.
D
ie Genossen wollten gründlich aufräumen. Mit Bohrgerät aus Schweden und reichlich Gelamon-22-405Dynamitstäben aus dem VEB Sprengstoffwerk Schönebeck rückte die DDR im Mai
1988 dem geheimnisumwitterten Bollwerk
im Todesstreifen zwischen Ost- und WestBerlin zu Leibe.
Die Detonation ließ Fensterscheiben in
der Umgebung bersten. Doch die 3,50 Meter starke Stahlbetondecke des „Führerbunkers“, erinnert sich der Ost-Berliner
Augenzeuge Erhard Schreier, habe dem
staatlich verordneten Anschlag weitgehend
standgehalten. In mühseliger Kleinarbeit
wurde schließlich das Dach zertrümmert.
Doch dann, Ende 1988, kapitulierte der
Bautrupp ebenso vor dem Trumm wie einst
die ruhmreiche Sowjetarmee. Bodenplatte
und Außenwände – an die 400 Zentimeter
stark – blieben weitgehend heil. Über der
mit Kies verfüllten Ruine entstand ganz
unverfänglich ein Parkplatz.
Das Staatsbegräbnis brachte dem Mythos um den letzten Zufluchtsort Adolf
Hitlers nicht die erhoffte ewige Ruhe. Ausgerechnet der Bauboom im wieder vereinigten Berlin belebt die Angst vor der Vergangenheit neu: Bei Ausschachtarbeiten
für eine Straße in den früheren Ministergärten nahe des Brandenburger Tores
stießen Arbeiter Mitte Oktober in vier Meter Tiefe erneut auf Fundamente und Stahlarmierungen des Bunkers, in dem Hitler
und Goebbels mit ihren Frauen, Kindern
und Hunden Ende April, Anfang Mai 1945
ihr Ende fanden.
Um die „Reichs-Betondecke“ („Frankfurter Allgemeine“) entstand binnen weniger Tage ein Streit, der symbolisch ist für
die Ratlosigkeit des neuen Berlin im Umgang mit den im einstigen Niemandsland
immer wieder auftauchenden Spuren aus
der Zeit des Dritten Reiches. Während in
Bayern auf dem Obersalzberg, der als Hitlers zweiter Regierungssitz galt, inzwischen
ein Dokumentationszentrum eröffnet wurde, zu dem auch Bunkeranlagen gehören,
wollen die Berliner das dunkle Kapitel der
deutschen Geschichte im Sand verstecken.
„Sprengen“, forderte Lea Rosh, Chefin
des Fördervereins zur Errichtung des Holocaust-Mahnmals, nach der Wiederentdeckung des Hitler-Bunkers. Das Mahnmal
soll in Sichtweite der Betonklotzreste ent80
Hitler (r.) in der verwüsteten Reichskanzlei (im April 1945): Ort der Schande
stehen. „Sand drüber und zuschütten“, riet schen und politischen Ziele das Schicksal
der Chef der obersten Denkmalbehörde dieses Bunkers bestimmen“.
von Berlin Helmut Engel.
Weil Hitler ein Mann von globalem ZerDer zuständige Senator für Stadtent- störungsgeist gewesen sei, solle der Führerwicklung, Peter Strieder (SPD), diagnosti- bunker „nicht allein als deutsche Stätte,
zierte umgehend, dass „keine Veranlas- vielleicht nicht einmal als nur europäische
sung“ bestehe, „die Bunkeranlage zu öff- Stätte behandelt werden“. Stattdessen regt
nen“. Die Bauarbeiten an den Minister- der amerikanische Politologe an, die Begärten, wo die Vertretungen der Länder Nie- tonruine freizulegen und der Schirmherrdersachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland- schaft der Unesco zu unterstellen. Denn:
Pfalz,
Saarland,
Hessen,
Brandenburg und MecklenburgVorpommern entstehen, würden
„wie vorgesehen durchgeführt“.
Über Teilen des Führerbunkers
wird eine Straße gebaut, die auf
den Bauplänen ganz schlicht
„Kleine Querallee“ heißt.
Die Vergangenheitsbewältigung mit der Dampfwalze stößt
bei Historikern im In- und Ausland auf Kritik. So spricht Daniel J. Goldhagen („Hitlers willige Vollstrecker“) den Deutschen das Recht ab, allein zu
entscheiden, „welche Symbole,
welche Werte, welche prakti- NS-Bunker im Regierungsviertel: „Chaotische Zustände“
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„Alle
Ebertstraße
Wandmalereien, denen Experten
Bei verantwortungsvollem Umeine Mischung aus Herrenideologang könne der Ort der Schande Historisch kontaminiert Bunkerreste in Berlins Mitte
gie und Kitsch bescheinigten.
als „Schule der Abschreckung, des
Am nördlichen Ende der eheNachdenkens und des Lernens
Pariser Platz
Brandenmaligen Gärten, wo jetzt das Hodienen“.
burger Tor
locaust-Denkmal entstehen soll,
In der Frage des angemessenen
wurde 1992 der gut erhaltene
Umgangs mit den Überresten des
Goebbels-Bunker freigelegt. Ein
Hitler-Verstecks zeichnet sich inwenig südlich fand sich unter
zwischen eine Allianz der ehedem Sand das Marmorbad des
maligen Sieger ab. Für den Mosehemaligen Reichspräsidentenpakauer Historiker Lew Besymenski,
e
ß
Goebbelsnstra
e
r
lais. Archäologen entdeckten zuder für die Sowjetführung nach
h
Be
Bunker
dem Teile des Innenhofs der NeuKriegsende in einer Geheimaktion
en Reichskanzlei – verkleidet mit
das Bauwerk erforschte, wäre es
Kellerreste
geschliffenen und zweifach profi„unverzeihlich, die Bunkerreste
des ehemaligen
lierten Muschelkalksteinplatten.
einfach zu bebauen“. Die Anlage
Geplantes
ReichspräsidentenFür den Wissenschaftler Alfred
müsse „als lebendige Erinnerung
Holocaustpalais
Kernd’l, inzwischen pensionierter
an die Schrecken des Krieges“
Mahnmal
Direktor des Archäologischen
freigelegt werden, auch wenn sie
Landesamtes Berlin, liefert gerade
nur in Fragmenten erhalten sei.
Manndieses belastete Areal eine besonAuch der Kölner Historiker Jost
schaftsTiefgarage
quartiere
dere Verpflichtung zur UnterDülffer warnt davor, die Kataschutzstellung: „Eine geschichtskomben im Umfeld der früheren
Länderentsorgte Brache als Platz ausgeNS-Kommandozentrale einfach zu
vertretungen
„Führer-rechnet für das Holocaust-Denknegieren. An den Originalschau“
„Kleine Querallee Bunker“
mal wäre eine peinliche Flucht vor
plätzen sollten die Spuren der
der Vergangenheit.“
Nazi-Zeit sichtbar gemacht werDoch im Umgang mit dem Kulden. Für ihn ist der Bunker ein Ge„Fahrerturschutt der NS-Diktatur blieben
schichtsort, der Bestandteil eines
Bunker“
Bunker Neue
die Berliner so konsequent wie daGeschichtspfades durch die BerliReichskanzlei
Garage
vor schon bei dem steingewordener Mitte werden könne.
Bunker
nen Zeugnis des SED-Regimes. So
Als Musterbeispiel für den Uman der
Terrasse
Voßstraße
wie der Senat der eiligen Zergang mit architektonischen Resten
Kartengrundlage:
GrafikBüro Adler & Schmidt
trümmerung der Mauer nichts entdes Nazi-Regimes in Berlin gilt die
gegensetzte, wurde der Bunker
„Topographie des Terrors“. Dort,
an der ehemaligen Prinz-Albrecht-Straße, die Senatsverwaltung noch im Januar 1996 der Neuen Reichskanzlei, von dem 29 Räuwerden Reste der Berliner Gestapo-Zen- gegenüber den Abgeordneten abgab. Da me erhalten blieben, versiegelt und mit
räumte die Behörde ein, dass „über Zu- Erdreich bedeckt. Auch die übrigen NStrale für Besucher zugänglich gemacht.
Der Berliner Senat hingegen will sich stand und Beschaffenheit“ der Reste des Katakomben, wie der Goebbels- und der
des Themas möglichst schnell entledigen. Führerbunkers „keine gesicherten Er- Fahrerbunker, sind nicht mehr zugänglich.
Ihn treibt ganz offensichtlich die Angst, kenntnisse“ vorlägen. Es könne daher zum Die Überbleibsel des Marmorbades wurdass der schon 1992 nur halbherzig ausge- jetzigen Zeitpunkt keine Bewertung vor- den entsorgt, die jetzt entdeckten Reste
tragene Streit zwischen Politikern, Ar- genommen werden, ob der Bunker unter des Führerbunkers verschwanden umgechäologen und Denkmalschützern über Denkmalschutz-Aspekten zu erhalten hend wieder unter dem Sand.
Dabei hat der Bunker in der Mitte Berden Umgang mit den unseligen Überresten wäre. Zugleich wurde den Abgeordneten
aber versichert: „Die Reste des Führer- lins, in dem sich Hitler mit seinem Gefolim Boden wieder neu entfacht wird.
Vorbeugend erklärte Senator Strieder bunkers werden nicht überbaut, überdies ge kurz vor Kriegsende vor den anrückenden Alliierten verkroch, von jeher eine
jetzt, der Führerbunker sei „seit 1990 kar- befinden sie sich in großer Tiefe.“
Dabei geht es nicht nur um Hitlers Bun- eigentümliche Faszination ausgeübt. So
tografisch erfasst und wurde 1993 detailliert
dokumentiert“. Neue Untersuchungen sei- ker allein. Die Mauerbrache, auf der vor wurde Lew Besymenski im Juni 1945 vom
en damit unnötig. Diese Behauptung steht zehn Jahren nur Kaninchen hoppelten, ist späteren sowjetischen Innenminister Sergej
im Widerspruch zu einer Erklärung, welche seit der Wiedervereinigung für die Politik Kruglow in den Bunker geschickt, um das
zum minenverseuchten Gelände Bauwerk genauestens zu dokumentieren.
geworden. Denn das mehr als
Der Russe, der für den Armee-Geheim40000 Quadratmeter große Areal dienst arbeitete, entdeckte eine „leicht anin Berlins bester Lage ist hoch- gebrannte weiße Uniformjacke mit einer
gradig historisch kontaminiert.
roten Binde am rechten Ärmel“: Hitlers
Im Einheitstaumel 1990 wur- Parteiuniform. In großen Mahagoniden beim Aufbau des Pink- schränken fand sich Hitlers Sammlung von
Floyd-Spektakels „The Wall“ Architekturliteratur. „Alle Räume erstauder Zugang zu einer erhaltenen nen durch ihre geringe Größe, in ihnen
Bunkeranlage der ehemaligen kann man sich buchstäblich kaum umdreNeuen Reichskanzlei und ein hen“, hielt Besymenski fest. Das ArbeitsBunker der Fahrbereitschaft zimmer Hitlers wurde mit 10,7 QuadratHitlers im Sand freigelegt.
metern vermessen – Zellenformat.
Im so genannten FahrerbunAuch die Stasi interessierte sich für den
ker, den seit Kriegsende nie- Bau, der nach 1961 im Todesstreifen zwimand mehr betreten hatte, schen Ost- und West-Berlin lag. Weil die
„Führerbunker“ (1988): „Die Geschichte wurde ausgelöscht“ fanden sich acht naive SS- Mielke-Truppe im halb zerstörten BunE. SCHREIER
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Wilhe
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Deutschland
mit mehr als 400 Zeichnungen die Phasen
der Geschichtsentsorgung und hielt seine
Erlebnisse im Führerbunker in einem Tagebuch fest: „In 9,50 Meter Sohlentiefe
stand das Wasser hüfthoch, klebrig-bräunliche Färbungen waren an Wand und
Decke erkennbar. Teile der Zwischendecke
lagen zerborsten im Wasser. Stahlarmierungen ragten in alle Himmelsrichtungen,
die Temperatur lag bei 13 Grad.“
„Die Geschichte wurde zu DDR-Zeiten
mit der teilweisen Sprengung des Bunkers
ausgelöscht“, sagt Hans Stimmann, Staatssekretär für Stadtentwicklung in Berlin.
Ohnehin sei die heikle Bunkerruine in bestehende Gedenkorte der Stadt „nicht integrierbar“, auch nicht in einen Geschichtspfad.
In der ablehnenden Haltung der Politik
schwingt auch die Angst mit, der ausge-
K. MEHNER
kersystem unterirdische Fluchtwege in den
Westen vermutete, wurden die Räume, die
bis auf einen halben Meter unter die Decke
geflutet waren, von 1973 an erkundet. Ein
Unterleutnant Nickel berichtete der Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin,
dass mehrere Räume des unterirdischen
Bauwerkes „mit einer schlammartigen
Masse ehemaligen Bunkerinventars
knöcheltief bedeckt“ seien. Von dem
Schlamm gehe ein unangenehmer Petroleumgeruch aus, im Bunker herrschten
„chaotische Zustände“.
Die Suche der Stasi-Leute lohnte sich
dennoch: Zwar wurde kein Fluchtweg entdeckt, doch fanden sich im Papierschlamm
13 500 Blätter. Diese wurden einer Grobund Feinwäsche unterzogen, dann „zwischen Fließpapier“ getrocknet. Die Bedeutung des Fundes erfuhr die Welt erst
Freigelegte Fundamente in den Ministergärten: Angst vor Wallfahrten von Neonazis
nach dem Fall der Mauer. Die Genossen
hatten Teile des Tagebuchs von Propagandaminister Joseph Goebbels gefunden.
Nach der Erkundung verschwand der
Bunker wieder unter der Erde, bis die DDR
Ende der achtziger Jahre Luxus-Plattenbauten für verdiente Genossen an der damaligen Otto-Grotewohl-Straße, der heutigen Wilhelmstraße, errichten wollte. Für
die Fundamente mussten auf dem
geschichtsträchtigen Gelände alte Mauerreste tiefenenttrümmert werden. Dafür
brauchte selbst die Stasi eine Genehmigung, weil das Baugebiet unmittelbar an
die Grenzsicherungsanlagen anschloss.
Schließlich rückten Bautrupps dem weitgehend erhaltenen Führerbunker zu Leibe,
ein Teich sollte über Hitlers letztem Unterschlupf entstehen.
Was sich damals im Sperrgebiet abspielte, kann der Berliner Erhard Schreier beschreiben. Der Maler dokumentierte, mit
Erlaubnis der Ost-Berliner Baudirektion,
82
d e r
grabene Bunker in der Nachbarschaft des
geplanten Holocaust-Denkmals könnte
Neonazis aus aller Welt als Wallfahrtsstätte dienen. „Eine selbstbewusste Republik
wie die unsere sollte dem gelassen entgegensehen“, meint hingegen der Kölner
Historiker Dülffer. Falls Neonazis an den
Bunker strömen, sagt sein amerikanischer
Kollege Goldhagen, „dann lasst die Menschen in Deutschland und Europa das
heutige Übel sehen, lasst sie darüber erschrecken, es bekämpfen und mit unbeirrbarem Sinn, den es vor 60 Jahren nicht
gab, besiegen“.
Hitler- und Speer-Biograf Joachim Fest
jedoch hält die Bunkerruine nicht für „einen Ort der Erinnerung“. Sie zu sprengen,
findet der Feingeist zwar albern, doch mit
der Idee, den Bunker unter Schutz zu stellen, kann Fest auch nichts anfangen: „Um
Gottes Willen. Wir ersticken fast an Gedenk-Orten.“
Wolfgang Bayer,
s p i e g e l
Steffen Winter
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Deutschland
JUSTIZ
„Einladung zum Strafantritt“
ACTION PRESS
Der wegen der Mauermorde verurteilte Ex-DDRRegierungschef Egon Krenz hofft auf Hilfe vom Verfassungsgericht und vom
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – wohl vergebens.
Verurteilter Krenz*: „Kalter Krieg im Gerichtssaal“
* Mit seinem Anwalt Robert Unger
am vergangenen Montag im Bundesgerichtshof in Leipzig.
84
geschickt. Dann folgt, frühestens Ende des
Jahres, die „Einladung zum Strafantritt“.
Doch der letzte Staatsratsvorsitzende
der DDR hofft, diese Einladung nicht annehmen zu müssen, und baut auf die
Rechtsmittel seiner Anwälte. Die bereiten
nach Angaben von Krenz-Anwalt Robert
Unger eine Verfassungsbeschwerde gegen
das Urteil des Bundesgerichtshofs vor.
Schon im Juni 1998 hatte Krenz zudem
Klage beim Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte erhoben, weil er sich
durch die Verurteilung in seinen Menschenrechten verletzt sieht.
P. RONDHOLZ
K
aum war in Leipzig das Urteil
gegen die Politbüro-Mitglieder
Günter Schabowski, Günther Kleiber und Egon Krenz verlesen, griff der
Berliner Oberstaatsanwalt Bernhard
Jahntz hektisch zum Handy. Die Anwälte
von Krenz, der wegen Totschlags für
sechseinhalb Jahre ins Gefängnis muss,
waren aufgeschreckt. „Wir dachten, der
bestellt jetzt die Aufhebung der Haftverschonung für Krenz“, so Dieter
Wissgott, „und wenn wir zurückfahren,
wartet in Pankow schon ein Kommando
mit Handschellen auf ihn.“
So schnell arbeitet die
deutsche Justiz auch wieder nicht. Nachdem der 5.
Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) am vergangenen Montag den
Spruch der Vorinstanz gegen die Verantwortlichen für
den Schießbefehl an der
deutsch-deutschen Grenze
bestätigt hat, werden erst
mal die Akten nach Berlin
Grab eines Mauertoten: Wenn notwendig, vernichten
d e r
s p i e g e l
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Das Straßburger Gericht, für die Einhaltung der Menschenrechte in 41 europäischen Staaten zuständig, betrachtet
sich selbst als europäischen Verfassungsgerichtshof, der auch schon mal anders entscheidet als das Bundesverfassungsgericht.
Auf ihn setzten ebenfalls der DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler und sein
Vize, Generaloberst Fritz Streletz, nachdem sie 1996 rechtskräftig zu siebeneinhalb und fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt worden waren.
Erste Signale aus Straßburg stimmen die
Krenz-Verteidiger zuversichtlich. Denn die
Richter haben vor kurzem vorgeschlagen,
vor der Großen Kammer über die Politbüro-Fälle zu verhandeln. „Es kommt äußerst selten vor, dass ein Fall so wichtig und
schwerwiegend erscheint, dass er nur vom
Plenum entschieden werden kann“, sagt der
Londoner Anwalt Piers Gardner, der Krenz
und Kollegen in Straßburg verteidigt.
Die Frage, ob sich die Taten eines deutschen Unrechtsregimes mit den Mitteln eines deutschen Rechtsstaats aufarbeiten lassen, wird damit auf europäischer Ebene
behandelt.
Mord und Totschlag waren auch in der
DDR strafbar – doch die politische Führung
der DDR schuf sich passend zum Mauerbau
Rechtfertigungsvorschriften, um Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze
von der Strafverfolgung auszuschließen. Die
Grenz- und Polizeigesetze erlaubten den
Schusswaffengebrauch, zahlreiche Befehle
und Dienstvorschriften sollten den Grenzsoldaten verdeutlichen, dass „Grenzverletzer in jedem Fall als Gegner gestellt, wenn
notwendig, vernichtet werden müssen“, wie
es in einem Beschluss des Nationalen Verteidigungsrats vom September 1962 hieß.
Mehrere hundert Tote forderte dieses
blutige Grenzregime. Sie wurden zerfetzt
von Minen, erschossen von Grenzern und
Selbstschuss-Automaten. Die vier MauerOpfer Michael-Horst Schmidt, Michael
Bittner, Lutz Schmidt und Chris Gueffroy
kamen um, als die Politbüro-Mitglieder
Krenz, Schabowski und Kleiber „neben
der politischen Verantwortung auch die
strafrechtliche Verantwortung“ trugen, wie
die Vorsitzende Richterin Monika Harms in
Leipzig das BGH-Urteil begründete.
In den Prozessen nach der Wende erklärten die Gerichte die Rechtfertigungsgesetze regelmäßig für unwirksam. Das
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Deutschland
J. GIRIBAS
REUTERS
AP
Schabowski
Kleiber
Streletz
Schießbefehl-Verantwortliche: Hintermänner der Grenzer
DPA
Grenzregime, stellte der BGH 1993 in einer
Grundsatzentscheidung zur Strafverfolgung von Mauerschützen fest, habe gegen
den „Kernbereich des Menschlichen verstoßen“. Auch im Fall der vom Landgericht Berlin im August 1997 verurteilten
Krenz, Schabowski und Kleiber hat der
BGH entschieden, dass das DDR-Grenzregime nicht zu rechtfertigen sei. Den Mitgliedern des Politbüros komme deshalb als
„Hintermännern“ hinter den Grenzern
eine „mittelbare Täterschaft“ zu.
Wie gewohnt schimpfte Krenz nach der
Leipziger Verkündung über die „Siegerjustiz“: Das sei „Kalter Krieg im Gerichtssaal“. Weil die BGH-Richter das einschlägige DDR-Recht nicht anerkennen, seien
ihre Strafurteile rechtswidrig, so Krenz:
„Sie widersprechen dem Grundgesetz, in
dem das Rückwirkungsverbot klar definiert ist.“
Nach diesem Verfassungsartikel kann
man nur wegen einer Tat verurteilt werden,
„wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt
war, bevor die Tat begangen wurde“. Doch
das Bundesverfassungsgericht, das Krenz
jetzt anrufen will, hat schon 1996 in den
Fällen Keßler und Streletz erkannt, das
Rückwirkungsgebot gelte „nicht mehr un-
Europäischer Menschenrechtsgerichtshof
Rettung vor dem Gefängnis?
eingeschränkt“ bei Taten wie den Mauerschüssen, gerade weil dafür nach dem Einigungsvertrag DDR-Recht anzuwenden
sei. Nur im Rechtsstaat dürfe man auf
Straflosigkeit vertrauen, so die Argumentation der Verfassungsrichter, nicht aber,
wenn ein Staat wie die DDR zum eigenen
86
Strafrecht Ausnahmeregeln aufstelle, die
gegen die Menschenrechte verstießen.
Den Polit-Größen des SED-Regimes wurde dabei auch zum Verhängnis, dass sich
die DDR in internationalen Abmachungen
zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet hatte: „Jedermann steht es frei, jedes Land einschließlich seines eigenen zu
verlassen“, heißt es im Internationalen Pakt
über bürgerliche und politische Rechte, dem
auch die DDR beigetreten war.
Ausgerechnet die Menschenrechte sollen
nun auch Krenz vor dem Gefängnis retten.
Sein Anwalt Gardner will vor dem Menschenrechtsgerichtshof vorbringen, dass
„das innerstaatliche deutsche Recht nicht
in Übereinstimmung mit der Europäischen
Menschenrechtskonvention ist“. Denn das
Rückwirkungsverbot ist in der Konvention
in Artikel 7 verankert und zählt damit selbst
wiederum zu den Menschenrechten.
Allerdings steht dort auch die so genannte Nürnberg-Klausel, eine Lehre aus
den Nazi-Verbrechen, die sich gegen Krenz
und Konsorten richten ließe. Dieser Zusatz
besagt, dass trotz fehlender geschriebener
Strafregeln eine Tat bestraft werden kann,
„die zur Zeit ihrer Begehung nach den von
den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war“.
Doch für die Bundesrepublik gilt zu dieser Klausel der so genannte Adenauer-Vorbehalt: Kanzler Konrad Adenauer hatte erklären lassen, dass die Nürnberg-Klausel
nur greifen soll, soweit die deutsche Verfassung das zulässt. Die Krenz-Anwälte
rechnen sich deshalb beim Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg „höhere
Chancen“ aus als in Karlsruhe.
Doch da könnten sie sich täuschen. Denn
der Adenauer-Vorbehalt bedeutet nur, dass
die Bundesrepublik nicht verpflichtet werden kann, Strafen auszusprechen, die über
ein strenges Rückwirkungsverbot hinausgehen. „Das heißt nicht“, so der Münchner
Völkerrechts-Professor Bruno Simma, „dass
sie es nicht darf.“ Mittlerweile hat die Bundesrepublik zudem im internationalen Bürgerrechtspakt eine identische Klausel anerkannt – ohne einen solchen Vorbehalt. Und
auch der Adenauer-Vorbehalt selbst, so Simma, sei mittlerweile „gegenstandslos ged e r
worden“: Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht in seiner
Mauerschützen-Rechtsprechung
die internationale Nürnberg-Klausel nachgebildet.
Die einzige Chance für Krenz
und seine SED-Kollegen liegt somit in der „Ironie“ (Simma), dass
ausgerechnet der europäische
Menschenrechtsgerichtshof das
DDR-Grenzrecht für legitim erklären könnte. Das aber halten
deutsche Völkerrechtler für sehr
unwahrscheinlich. „Der Sinn der
Menschenrechte liegt doch darin“, so auch Simmas Kollege
Ulrich Fastenrath, „dass man die
Staatsführung an sie binden will und nicht,
dass die Staatsführung ihr rechtswidriges
Verhalten selbst legitimieren kann.“
Auf eine generelle Amnestie in Deutschland dürfen Mauertäter wie Krenz nicht
hoffen. Kanzler Gerhard Schröder will
„keinen Schlussstrich unter die geschichtliche und gerichtliche Aufarbeitung“ ziehen. Auch im Justizministerium gilt die
Amnestie-Debatte als „megatot“ – Ressortchefin Herta Däubler-Gmelin (SPD)
meint: „Nach dem Rechtsverständnis der
Bundesrepublik steht die Einzelfallprüfung
im Vordergrund und nicht die Amnestie.“
Viele Mauertäter würden ohnehin nicht
von einem staatlichen Straferlass profitieren. Nur in wenigen Fällen wurden
Haftstrafen verhängt – die meisten Mauerschützen kamen mit Bewährung davon.
Dass Krenz nicht aus seiner Verantwortung kommt, befriedigt die DDR-Bürgerrechtler, die den Fall der Mauer mit bewirkt haben. „Die Mauerschützen zu bestrafen und die Herren des Schießbefehls
ungestraft hinter ihren Nebelwänden aus
Ausflüchten verschwinden zu lassen“, sagt
der Ex-Dissident Wolfgang Templin, „hätte die Opfer noch einmal gedemütigt.“
Doch vielen Bürgerrechtlern reicht das
Urteil gegen die Politbüro-Mitglieder als
Anerkennung des DDR-Unrechts schon
aus – ob die alten Männer wirklich hinter
Gitter müssen, ist vielen nicht so wichtig.
Die Klagen in Straßburg werden das vorerst nicht verhindern – sie haben keine aufschiebende Wirkung. Und auch das Verfassungsgericht wird Krenz den Haftantritt
kaum ersparen. Dennoch wird der Verurteilte es vergleichsweise bequem haben.
Der Ex-Staatschef kommt in den offenen
Vollzug, vermutlich in die Justizvollzugsanstalt Hakenfelde in Berlin-Spandau, wie
früher auch Keßler und Streletz.
Tagsüber könnte Krenz wie andere Delinquenten das Gefängnis verlassen und
einer Arbeit nachgehen – solange keine
Fluchtgefahr besteht oder ein Rückfall des
Täters befürchtet werden muss. „Angesichts des Falls des Mauer“, so Krenz-Anwalt Wissgott ironisch, „ist eine Wiederholungstat nicht zu befürchten.“
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Carolin Emcke, Dietmar Hipp
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Deutschland
LAUE
J. H. DARCHINGER
B. BOSTELMANN / ARGUM
der Robert Apon, der 1995 das
Wörtchen „Euro“ eintragen
ließ, war der Pionier der Branche, wurde berühmt und vermutlich richtig reich; die Beteiligten, Apon und das Finanzministerium in Den Haag,
schweigen über den Handel.
Seither ist ein gewaltiger
Markt entstanden. Makler
zocken mit, die beispielsweise
den Namen der früheren
DDR-Fluggesellschaft Interflug
für 20 000 Mark anbieten.
„Nietzsche“, „Winnetou“ und
das „Oktoberfest“ sind inzwischen vergriffen, „Lady Di“
ging noch am Todestag der
Prinzessin weg. Und ein Berliner Geschäftsmann hat sich im
Sport umgeschaut und entdeckt, dass „Werder Bremen“
oder „GWD Minden“ noch
frei waren; vor allem im Fußball sind beim Geschäft mit
Fanartikeln Millionen im Spiel.
Ohne Streit geht es selten ab. Bäcker aus
Dresden kämpfen seit Jahren um das Monopol auf „Dresdner Christstollen“. Auch
Konditoren in München und Hamburg verwenden den Namen für ihre Waren. Ein
freier Journalist hatte sich die „Chemnitzer
Morgenpost“ sichern lassen, wurde eingestellt, trat den Namen ab und flog nach der
Probezeit wieder raus.
Zu fetten Gewinnen kommen beim
Rechtehandel aber nur wenige, denn die,
die sich geprellt fühlen, verstehen zunehmend weniger Spaß. Die Telekom führt momentan auch Prozesse gegen eine TouchNet
GmbH, die in ihrer Internet-Adresse den
Namen „T-Net“ verwendet – so heißt der
Anrufbeantworter-Dienst der Telekom.
Auf die Liechtensteiner Polarius ging der
Konzern mit geballter juristischer Kraft los:
Da wurde der Streitwert auf drei Millionen
Mark festgelegt; allein für Prozesskosten
musste Polarius 250 000 Mark zahlen. „So
etwas können Privatleute kaum durchhalten“, sagt Advokatin Hartmann.
Darum ist der Rechtsstreit wohl bald
vorbei. „Polarius hat sich verpflichtet, die
Einwilligung in die Löschung des Namens
,Deutsche Telekom T‘ zu geben“, sagt
Telekom-Anwalt Michaeli. „Noch ist nichts
gelöscht, aber der Fall ist wohl bald erledigt“, gibt Polarius-Anwältin Hartmann zu.
Doch die Polarius-Leute wollen so
schnell nicht aufgeben. Sie suchen sich einen potenten Partner, der die Gerichtskosten übernimmt und einen Anwalt mitbringt – „dann können wir die Sache noch
mal richtig aufziehen“. Mit einem Kompagnon in Amerika haben sie bereits
einen Vorvertrag erarbeitet. Der könnte
es mit der Telekom aufnehmen und
versteht etwas vom Pokern – TelekomInsidern zufolge ist es der Boxmanager
Don King.
Klaus Brinkbäumer
Umstrittene Markennamen: Zu fetten Gewinnen kommen nur wenige
MARKENSCHUTZ
Ötzi und Lady Di
Clevere Geschäftsleute
sichern sich die lukrativen Rechte
an ungeschützten Namen.
Jüngstes Opfer ist die Telekom.
D
ie Firma hat ihren Sitz im liechtensteinischen Vaduz, Postanschrift
Städtle 20. In dem Unternehmen
arbeiten keine Menschen, es gibt nicht
einmal ein Telefon. Die Polarius HandelsAnstalt hat nur einen Daseinszweck: Sie
besitzt den Namen „Deutsche Telekom T“.
Seit drei Jahren liegt Polarius im Clinch
mit der deutschen Telefongesellschaft. Es
geht in diesem juristischen Scharmützel
um die Namensrechte an der beim Deutschen Patentamt in München eingetragenen Marke Nr. 39 603 139.
Zuerst sicherte sich im Januar 1996 Helgard Janson die Rechte, die Ehefrau des
Schauspielers Horst Janson („Der Bastian“). Sie habe, erinnern sich Eingeweihte, nicht wirklich die Gründung einer Telefonfirma geplant; sie habe viel mehr auf
ein Geschäft mit der Telekom gehofft – den
Namen gegen Bargeld.
Doch der Konzern, der sich im Februar
1996 den Namen „Deutsche Telekom“ –
ohne „T“ – schützen ließ, berief sich auf
seine „Benutzerrechte“ und konterte mit
Klagen. Entnervt reichte Helgard Janson
im August 1996 die Rechte an die Firma Polarius weiter, mit deren Vollmacht nun zwei
Münchner Brüder agieren.
An diesem Vorgang sei nichts verwerflich, sagt die Polarius-Anwältin Birgit Hartmann: „Die Telekom war dumm, sich die90
sen Namen nicht selbst schützen zu lassen.“ Die Telefongesellschaft sieht den Vorgang anders, nämlich als Abzockerei; deren
Advokat Klaus-Jürgen Michaeli spricht von
„Markengrabbing“ und meint ein bizarres
Phänomen: Überall im Lande und – seit
es das Internet mit seinen Abermillionen
Adressen gibt – zunehmend auch weltweit
lassen sich clevere Zeitgenossen die Namen von Firmen oder toten Berühmtheiten
patentieren, weil sie hoffen, sie gewinnbringend wieder veräußern zu können.
Ein Gelsenkirchener Geschäftsmann hat
sich beispielsweise „Johann Sebastian
Bach“ schützen lassen. Leipzig will im
nächsten Jahr den 250. Todestag des Komponisten vermarkten. Das Kalkül des
Händlers aus dem Kohlenpott: Die Stadt
müsse ihm erst mal den Namen abkaufen.
Andere Firmen haben sich den Begriff
„Ötzi“ eintragen lassen und produzieren
nun Hygieneartikel oder Babynahrung im
Namen des Mannes aus dem ewigen Eis. In
Bozen, wo Ötzi ausgestellt ist, streiten sich
inzwischen die Stadtväter darüber, wer das
Geschäft verschlafen und vergessen hat,
den Namen zu schützen.
Historische Namen, darauf bauen Geschäftemacher, verleihen jedem Produkt
Seriosität. Franz-Martin Heder aus Brandenburg besitzt „Theodor Fontane“ und
„Martin Luther“; Werner Weßeler aus Issum (bei Duisburg) setzt auf „Frank Sinatra“. Und Schnapsbrennereien verkaufen
Hochprozenter mit den geschützten Markennamen „Friedrich von Schiller“ oder
„Ludwig van Beethoven“.
Seit 1995 gilt das neue Markenrecht, und
nun „kann jeder die Eintragung eines Namenspatents beantragen“, sagt Norbert
Haugg, Präsident des Deutschen Patentamts; je nach Umfang des Schutzes kostet
das mindestens 500 Mark. Der Niederländ e r
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Deutschland
S TA S I
„Die Quelle ist zuverlässig“
FOTO RECHTS: SVEN SIMON
Erich Mielkes Ministerium benutzte zum Spitzeln bevorzugt
Journalisten. Jetzt erschüttern Enthüllungen über Stasi-Zuträger in den eigenen
Reihen die „Bild“-Zeitung. Drei Redakteure sind gegangen.
Stasi-Chef Mielke (1982), Einmarsch der DDR-Olympiamannschaft in Montreal 1976: Subversive Aktivitäten abgewehrt
J
ahrelang hatte sie nur eine Ahnung,
mehr nicht. Irgendjemand musste der
Staatssicherheit verraten haben, dass
Ellen Thiemann 1972 aus der DDR fliehen
wollte; am Schlagbaum warteten damals
die Sicherheitsbeamten. Zweieinhalb Jahre lang saß sie deshalb im Frauengefängnis
von Hoheneck, gequält mit Schlafentzug,
Zwangsarbeit und von einem Verdacht:
Hatte ihr Ehemann Klaus der Stasi den
Fluchtplan verraten?
Fast 20 Jahre später fand Ellen Thiemann
in Akten der Gauck-Behörde einen Brief
an eine Tante in Westdeutschland, den sie
dem Ehemann einst mitgegeben hatte, um
ihn in der ostdeutschen Provinz in einen
Briefkasten zu werfen.Wie kam das Schreiben in die Ordner der Stasi?
92
Dann stieß sie auf den Tarnnamen
„Klaus“ eines Inoffiziellen Mitarbeiters
(IM) der Staatssicherheit. Sie beantragte
die Offenlegung des Klarnamens. Die Antwort: „Name: Thiemann, Vorname: Klaus,
geb. am: 19.02.1935, Geburtsort: Dippoldiswalde.“
Es war ihr Mann, die Personalien stimmten; nur der Tarnname Klaus war veraltet:
Der Sportjournalist Klaus Thiemann wirkte in Wahrheit fast zwei Jahrzehnte lang als
IM „Mathias“ – und danach als Fußballreporter für „Bild“ und „Bild am Sonntag“
mit dem Spezialgebiet Hansa Rostock.
Als der SPIEGEL „Bild“-Chefredakteur
Udo Röbel mit den Informationen über
den IM Mathias konfrontierte, war der
überrascht: „Das ist uns neu, aber bei uns
d e r
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gilt das rechtsstaatliche Prinzip der Einzelfallprüfung.“ Drei Tage später war Reporter Thiemann in den Ruhestand verabschiedet. „Das war planmäßig vorgesehen“, so Röbel; Thiemann ist 64 Jahre alt.
Der IM-Fall Thiemann ist der dritte
in einer Kette. Ende Oktober hatte der
Deutschlandfunk den „Bild“-Reporter
Manfred Hönel (IM „Harro“) und den
stellvertretenden Chefredakteur KlausDieter Kimmel (IM „Fuchs“ und IM „Manfred Meinel“) als Stasi-Zuträger enttarnt.
Beide schieden vorvergangenen Mittwoch
„auf eigenen Wunsch“, so der SpringerVerlag, aus den Diensten des Blattes.
Führende Springer-Leute sagen, dass Informationen über die Spitzel im Haus seit
etwa fünf Jahren vorlägen. Verlagsspre-
gestellt wurde, bekam neTeile der Hönel-Akte sind
ben „Sportecho“-Redakteur
verschwunden. „Ich kann
Kimmel auch der „Junge
nichts erklären“, so Hönel,
Welt“-Reporter Hönel, heute
„ich habe mich gegenüber
62, einen Vertrag bei „Bild“.
Springer verpflichtet, darüSelbstverständlich, sagt der
ber nicht mehr zu reden.“
damalige Sportchef Hans
Auch die Stasi-Karriere
Reski, der „die Genossen einvon Kimmel, heute 52, hat
gekauft“ hat, „wäre die eine
ihre Besonderheiten. Der
oder andere Stasi-Geschichte
Sportredakteur der Berliner
zu erwarten gewesen, aber da
„Jungen Welt“ hatte sich 1974
hat sich kein Mensch drum
der Stasi verpflichtet und sich
gekümmert“.
den IM-Namen „Fuchs“ geDass zuerst ausgerechnet
geben. Anfänglich war er ein
der gutmütige Kollege Hönel
so guter Informant, dass sich
als langjähriger IM überführt
das MfS die Mitarbeit einiges
wurde, bedauerten nicht nur
kosten ließ. Er bekam zwidie Journalisten der eigenen
schen 1974 und 1976, so steht
Redaktion – der „Manne“,
es in der Akte, Honorare von
der für Radprofi Jan Ullinsgesamt 2350 Ost- und 300
rich dessen „Bild“-Kolumnen
West-Mark, eine ganze Menschrieb, war immer lieb und
ge für die knauserige Stasi.
nett, wenn ein Neuling nicht Redakteur Kimmel (1990) Ausdrückliches Lob gab es
weiterwusste.
auch: „Die Informationen
Seine Nähe zu alten SED-Größen war waren wertvoll“, heißt es etwa über Kimallerdings bekannt. Als er 1997 zusammen mel-Berichte aus den Jahren 1975/76.
mit dem „Bild“-Kolumnisten Rudolf ScharÜber einen Kollegen hatte IM Fuchs im
ping von der Tour de France berichtete, Oktober 1976 beispielsweise gemeldet, der
sagte Hönel, die enge Zusammenarbeit pla- junge Mann habe als Student für „Bild“ eige ihn wenig – schließlich habe er bereits nen Artikel über die ostdeutsche Fußball„mit dem Krenz Liegestütz jemacht. Ick nationalmannschaft verfasst – und dafür
musste immer verlieren“.
vom Klassenfeind „300 bis 400 West-Mark“
Hönel geriet nach Aktenlage schon früh bekommen. Solche Petzereien konnten das
in die Hände der Staatssicherheit. Im Sep- Opfer die Karriere kosten und Gefängnis
tember 1969 machte sich das MfS daran, einbringen.„Die Quelle ist zuverlässig“,
den damals 31-Jährigen anzuwerben. Erich notierte ein Major Heiner von der Stasi-BeMielkes Leute waren sehr zufrieden mit zirksverwaltung Groß-Berlin.
ihrem IM „Harro“. 1984 sollte der SportAber dann verlor Kimmel sein Interesse
reporter laut Protokoll als „Dank für sei- am Spitzeln, und er bekam 1977 von seinem
ne langjährige Zusammenarbeit mit dem Führungsoffizier die „Entpflichtung“. 1988,
MfS“ die „Medaille für Treue Dienste der als Kimmel für eine internationale HandNVA in Gold“ erhalten.
ballzeitung arbeiten wollte, erklärte er sich
Denn Hönel arbeitete gut. Er lieferte de- „im Interesse der Sicherheit unserer Reputaillierte Berichte über die Republikflucht blik“ erneut zur Kooperation bereit. Allerdes DDR-Eiskunstläufers Günther Zöller. dings, so erklärt „Bild“-Chefredakteur
Er erzählte, wie eine Erfurterin im Urlaub Röbel den Vorgang, habe Kimmel eine „Eham Plattensee mit Westdeutschen anban- renerklärung“ geleistet, „nie Informatiodelte, und vor allem betätigte er sich als nen über Personen abgegeben zu haben,
Aufpasser für DDR-Athleten im Ausland. die diesen Schaden zugefügt haben“.
Was IM Harro sonst noch getrieben hat,
Das stützen weniger die frühen, eher die
bleibt weitgehend im Verborgenen – große späten Akten. „Bei den zuletzt genannten
Aufgaben konnten keine wesentlichen Ergebnisse erlangt werden“, steht da, „insgesamt weigert sich der IM, Informationen
und Angaben zu DDR-Bürgern zu geben.“
Am engsten kooperierte offenbar der
Kollege Thiemann mit den Regimeschützern. IM Mathias unterzeichnete am
10. Oktober 1973 eine Verpflichtungserklärung, wonach die Zusammenarbeit mit
der Stasi „alle Bereiche meines Wirkens,
einschließlich des Freizeitbereichs, und alle
Möglichkeiten meinerseits auf Grund der
journalistischen Fähigkeit“ umfasste.
So war es dann auch. Thiemann
belauschte die Nationaltrainer Georg
Buschner (Ost) und Helmut Schön (West),
und er schrieb Berichte über geflohene
Hochzeitspaar Thiemann (1960)
Fußballer wie Norbert Nachtweih und
Die Flucht der Ehefrau verraten?
cherin Edda Fels dementiert: „Darüber ist
uns nichts bekannt.“
Zumindest vom Spitzel Thiemann hätte
die Haus-Spitze schon länger wissen können: Im November 1998 hatte Ellen Thiemann nach eigener Aussage das Schreiben
der Gauck-Behörde über ihren früheren
Ehemann Klaus an den Axel-Springer-Verlag weitergeleitet. „Das haben wir nie gesehen“, sagen Röbel und Michael Spreng,
Chefredakteur der „Bild am Sonntag“, unisono. Also schrieb Klaus Thiemann weiter
über den FC Hansa Rostock.
Die Affäre um die Stasi-Zuträger begann
zwar im Sportressort, beschäftigte aber
rasch die gesamte Redaktion. Kein Mitarbeiter, hieß es zunächst, dürfe öffentlich
Kommentare abgeben; viele Ost-Kollegen
waren auf einmal wieder verdächtig.
Gerade Sportreporter waren schließlich
eine ideale Klientel für das Ministerium
für Staatssicherheit: Sie begleiteten die erlesene Clique der DDR-Sportler auf Auslandsreisen, eigneten sich daher bestens
als Aufpasser der eigenen Leute und als
Kontaktpersonen zu den für die Stasi interessanten Sportlern und Funktionären
des Westens.
Was die SED-Oberen von ihren Reportern erwarteten, stand in der „Kleinen Enzyklopädie – Körperkultur und Sport“. Sie
sollten „den Aufbau der sozialistischen
Körperkultur in der DDR vollenden. Der
verantwortungsbewusste Sportjournalist
stellt reaktionäre Auffassungen an den
Pranger“.
Die Stasi formulierte es prosaischer: Aufgabe der Sportjournalisten sei die „politisch-operative Absicherung“ der Sportler
bei Olympischen Spielen und internationalen Massenveranstaltungen. Zu deutsch:
Die Genossen Redakteure sollten mithelfen, Kontakte zwischen den Aktiven und
dem Klassenfeind zu unterbinden.
Das funktionierte während des Kalten
Krieges so: Die Ost-Reporter drängten Kollegen aus dem Westen in den Wassergraben, wenn diese im Stadion DDR-Asse wie
die Sprinterin Renate Stecher befragen
wollten. Bei Gesprächen unter Journalisten
aus Ost und West ging Klaus Huhn dazwischen, Sportchef des „Neuen Deutschlands“ und oberster Aufpasser im Trupp
der Aufpasser – „und wenn Huhn nieste,
waren alle Ossis krank“, so erinnert sich
der Westdeutsche Franz-Hellmut Urban,
damals Reporter und heute Sportchef der
Münchner „Abendzeitung“.
Männer wie Huhn und Hönel waren
auch nach der Wende gefragt, da Ost-Stars
wie Katrin Krabbe, Ulf Kirsten oder Katarina Witt lieber mit denen redeten, die sie
kannten. „Bild“ wollte besonders flink
neue Märkte erschließen. Als 1990 die OstZeitung „Deutsches Sportecho“ von Springer gekauft und neun Monate später ein-
93
Deutschland
BONGARTS
Lutz Eigendorf. „Der IMS wurde nochmals
orientiert, Möglichkeiten für eine Verbindung in das Operationsgebiet aufzuklären
und zu schaffen, um an die Verräter direkt
heranzukommen“, notierte Thiemanns
Führungsoffizier.
Der Stasi gelang es, den geflüchteten
Lutz Eigendorf zu finden – der kam im
„Bild“-Reporter Hönel, Radstar Ullrich
„Mit dem Krenz Liegestütz jemacht“
März 1983 unter mysteriösen Umständen
bei einem Verkehrsunfall zu Tode. Die
Gerüchte über ein Stasi-Attentat verstummten nie; die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt noch immer.
IM Mathias stand, so sein Führungsoffizier, „auch in schwieriger Situation voll
zu seiner Verpflichtung“. Solch schwierige
Situationen traten ein, wenn er Kollegen
vom West-Fachblatt „Kicker“ aushorchte,
die Büros seiner Chefs durchsuchte – oder
wenn Thiemann den Chefredakteur der
ostdeutschen „Fußballwoche“, Günter Simon, zu Gesicht bekam.
Den mochte er nicht, und das schrieb er
auch: Simon sei „Großsprecherei“ vorzu* Bei der Erstürmung der Stasi-Zentrale in der Berliner
Ruschestraße am 15. Januar 1990.
werfen, „eine Haltung, die einem Genossen
nicht zukommt“; „ihm mangelt es an Verantwortungsbewusstsein, an Leitungsqualitäten, an Organisationsvermögen, Disziplin, aber auch schlichtweg an Kollegialität“. Für so viel Offenheit spendierte die
Stasi schon mal eine Flasche Whisky.
Am Ende wollte Thiemann mit all dem
überhaupt nicht mehr aufhören. Noch am
15. Dezember 1989, die DDR war längst
verloren, empfing er seinen Führungsoffizier Radeke und bekam 200 Mark Prämie,
wofür er sich laut Protokoll „herzlich bedankte“. Gegenüber dem SPIEGEL mochte Thiemann seine Vergangenheit nicht
kommentieren.
Spitzel wie Thiemann gab es unter den
DDR-Reportern offenbar eine ganze Menge. Ob Sportjournalisten in der Provinz arbeiteten oder mit Stars auf Reisen gingen:
Irgendwann bekamen alle Kontakt mit der
Stasi, auch die Großen der Zunft – das hat
Giselher Spitzer nachgewiesen, der an der
Universität Potsdam die Zusammenhänge
von Stasi und Sport erforscht.
Das MfS führte beispielsweise den Fernsehreporter Heinz-Florian Oertel, heute
71, als Gesellschaftlichen Mitarbeiter Sicherheit (GMS), Deckname: „Heinz“. Die
Stasi notierte, dass Oertel ein „gutes Vertrauensverhältnis zum MfS“ hatte. Doch
der „Harry Valérien des Ostens“ erwies
sich wohl als zu berühmt, um im Verborgenen zu wirken. „Auf Grund der exponierten Stellung“, schrieb ein Stasi-Mann
im Dezember 1989 in die Akte, „besteht
seit 15 Jahren kein Kontakt mehr zu dem
GMS.“ Nur noch 31 Seiten über Oertel befinden sich in der Gauck-Behörde. „Das
ist die dünnste IM-Akte, die ich je gesehen
habe“, so Wissenschaftler Spitzer.
Klaus Huhn, der mächtige Sportchef des
„Neuen Deutschland“, unterschrieb am 6.
Januar 1960 eine Verpflichtungserklärung
als Inoffizieller Mitarbeiter „Heinz Mohr“.
H.-J. HORN / BACH & PARTNER
DDR-Reporter Hönel (Kreis)*: Medaille für treue Dienste
Der Stasi meldete er Sportler, bei denen
„nach wie vor Verdacht auf Republikflucht“ bestehe. Manchmal trug er auch
Banalitäten weiter: 1973 habe sich der
CSU-Politiker Peter Gauweiler bei ihm gemeldet und nach Eintrittskarten für die
Weltfestspiele der Jugend gefragt. Huhn
kann sich nicht erinnern, „jemals etwas
unterschrieben zu haben“.
Und der Sportchef der FDJ-Postille
„Junge Welt“, Volker Kluge, der nach der
Wende als Persönliches Mitglied ins Nationale Olympische Komitee (NOK) geholt
wurde, hat nach Aktenlage als IM „Frank“
im MfS-Auftrag unter anderem die Eiskunstläuferin Witt bespitzelt. Noch kurz
vor dem Mauerfall erhielt er eine Geburtstagsprämie von 95 DDR-Mark. 1995
kam Kluges Vergangenheit heraus, er dementierte, aber das NOK untersagte ihm,
weiter im Verbandsorgan zu schreiben.
Jährlich legte das MfS in Berlin detailliert fest, welche „massenwirksamen Sportwettkämpfe“ besonderer Aufmerksamkeit
bedurften. Dann entwickelten die Spezialisten des Ministeriums konkrete Maßnahmen, um „gegnerische Störversuche und
Provokationen“ zu verhindern.
Zu den Olympischen Spielen 1976 in
Montreal entsandte die DDR 585 Sportler,
Funktionäre und Reporter. 77 Reisekader,
also jeder achte DDR-Abgesandte, berichteten nach Aktenlage als IM an die Stasi,
dazu gesellten sich drei hauptamtliche Offiziere Erich Mielkes.
Immerhin acht Spitzel kamen aus dem
Kreis der Journalisten – und die leisteten
gute Arbeit. Trotz „subversiver Aktivitäten“ des Feindes, heißt es im Abschlussbericht, sei es „kaum zu nennenswerten
Kontakten“ zwischen Ost-Sportlern und
der bösen Welt des Westens gekommen.
Die Sportjournalisten kundschafteten
nicht nur Athleten und Funktionäre aus,
sie mussten sich auch untereinander kontrollieren. So berichtete Roland Sänger
(IM „August“), Sportredakteur beim
„Freien Wort“ in Suhl, dem MfS, welcher
Kollege sich im Ausland mit „so genannten
Sex- und Pornografieheften“ eindeckte.
Und einmal schwärzte IM August eine Friseurin an; die hatte beim WM-Siegtor von
Gerd Müller 1974 vor Freude „zweimal
den Teppich geküsst“. Als Sängers Berichte 1995 bekannt wurden, war er seinen
Job los.
Ellen Thiemann, inzwischen längst von
IM Mathias geschieden, kam 1975 aus Hoheneck, dem berüchtigten Frauenknast im
Erzgebirge, frei. Ihr Ehemann Klaus habe
zwei Geliebte gehabt, erzählt sie, und ihr
kühl zur Ausreise geraten. Er komme nicht
mit, weil er beim „Sportecho“ inzwischen
Karriere gemacht habe, die könne er drüben nicht machen.
Nach der Wende ging es dann doch: 1991
heuerte Klaus Thiemann bei „Bild“ an.
Klaus Brinkbäumer, Udo Ludwig,
Georg Mascolo, Thomas Purschke
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BILDERBERG
CORBIS SYGMA
Deutschland
Umstrittene Bauprojekte*: Widerstand einer großen Volksbewegung
B U N D E S H AU S H A LT
Heimliches Risiko
Ohne Kontrolle des Parlaments bürgt der Bund für oft
zweifelhafte Exportgeschäfte. Die von Rot-Grün
geplante Reform des Vergabesystems droht zu scheitern.
D
er Ort verführt zum Schwärmen.
Hoch über dem Tal des Tigris
thront eine Burg auf einem Felsen,
um den sich hunderte uralter Häuser
und mehrere Moscheen drängen. In Hasankeyf, der einzigen noch vollständig
erhaltenen mittelalterlichen Siedlung im
türkischen Kurdistan, vermischten sich
schon vor 2000 Jahren die Kulturen Mesopotamiens, Innerasiens und des alten
Rom – für Archäologen eine einzigartige
Fundstätte.
Doch bald könnte Hasankeyf in den Fluten versinken. Flussabwärts in der Region
Ilisu plant die türkische Regierung die
Errichtung eines 130 Meter hohen
Staudamms. Im künstlichen See dahinter
würden neben dem antiken Handelszentrum über 100 Dörfer und Kleinstädte
untergehen.
An die 30 000 Menschen drohe die Vertreibung, protestieren kurdische Menschenrechtler. Das Ilisu-Projekt verschärfe
den schwelenden Bürgerkrieg in der Region. Zudem beschwert sich die syrische
Regierung, die Türkei wolle mit dem
Damm dem feindlichen Nachbarn die
wichtigste Wasserquelle abdrehen.
Der Damm sorgt nicht nur im Nahen
Osten für Konflikte, sondern auch am Kabinettstisch der rot-grünen Koalition in
* Links: Sardar-Sarovar-Damm im Narmada-Fluss in Indien; rechts: Atomkraftwerk „Rowno“ in der Ukraine.
98
Berlin. Die Minister müssen demnächst entscheiden, ob sie einem der mit dem Bau des
Wasserkraftwerks beauftragten Unternehmen, einer Tochterfirma des Elektrotechnik-Konzerns ABB, eine so genannte Hermes-Bürgschaft gewähren. Mit solchen „au-
Meistens Miese
Jährliches Defizit bei Bundesbürg-
schaften (Hermesgarantien)*
in Millionen Mark
585
846
17
– 82
– 973
– 1300
– 1578
– 1586
– 2623
– 3943
* inkl. binnenwirtschaftlicher Gewährleistungen, Quelle:
Finanzministerium
– 4944
Prognose
1980 82 84 86 88 90 92 94 96 98 2000
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ßenwirtschaftlichen Gewährleistungen“ (so
der Budget-Titel) übernimmt der Bund das
Risiko für den Fall, dass die Auftraggeber
von Exportgeschäften nicht zahlen können.
Das beschert der Regierung aber indirekt auch die Verantwortung für die Folgen
der geförderten Projekte. Weil das Vorhaben die Spannungen in der Krisenregion
anheize, „sollten wir bei dem Ilisu-Damm
nicht mitmachen“, meint darum Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) und weiß sich darin einig
mit mehreren Abgeordneten beider Koalitionsfraktionen.
Sowohl der parteilose Wirtschaftsminister Werner Müller als auch Außenamtschef
Joschka Fischer (Grüne) signalisierten dagegen bereits ihre Zustimmung. „Das wird
noch eine harte Auseinandersetzung“,
schwant einem der beteiligten Beamten.
Mit dem Streit um den Tigris-Damm
kommt ein weiterer Konflikt um ein rotgrünes Reformprojekt zum Vorschein: Die
Außenwirtschaftsförderung sollte laut Koalitionsvertrag „unter ökologischen, sozialen und entwicklungsverträglichen Gesichtspunkten“ umgebaut werden – daraus wird wohl nichts.
Es geht um jährlich über 30 000 Bürgschaften, die das Hamburger Versicherungsunternehmen Hermes AG, eine Tochter des Allianz-Konzerns, gegen die Zahlung von Gebühren im Auftrag des Bundes
für Exporte in wirtschaftlich instabile Länder der Dritten Welt oder Osteuropas übernimmt.
Eine solche Risiko-Absicherung zu Lasten des Steuerzahlers ist in allen westlichen
Industriestaaten eine gängige Methode der
Exportförderung. Vielfach werden aber auf
diesem Weg Projekte ermöglicht, die in den
Importstaaten erhebliche ökologische und
soziale Probleme verursachen.
Die bettelarme Slowakei etwa ließ mit
Hermes-Deckung für 130 Millionen Mark
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Deutschland
M. URBAN
K.-B. KARWASZ / ARGUS
Gouvernanzinstrument maein Atomkraftwerk sowjetichen“, meint nun auch
scher Bauart durch den SieSPD-Fraktionsvize Ernst
mens-Konzern fertig stellen,
Schwanhold. Darum seien
obwohl die Anlage wichtige
die alten Reformvorschläwestliche Sicherheitsstange nicht zu verwirklichen.
dards nicht erfüllt. In China
„Die Entscheidungen der
bürgt der Bund für einen
Importländer“ seien zu „regroßen Teil der Bauleistunspektieren“.
gen am so genannten DreiDen Vorschlag des grünen
Schluchten-Damm. Dessen
Haushälters Metzger, mit
Errichtung erzwingt die Umdem neuen Haushaltsgesetz
siedlung von mehr als einer
dem Budget-Ausschuss des
Million Menschen, ist techBundestags ein Mitentscheinisch hoch riskant und fördungsrecht bei Bürgschaften
dert die Ausbreitung tödlivon über 50 Millionen Mark
cher Parasitenkrankheiten.
einzuräumen, schmetterte
Britische Wissenschaftler bedie SPD in der koalitionsinzeichneten das Vorhaben als
ternen Arbeitsgruppe Hausdas „Tschernobyl der Washalt vergangene Woche
serkraft“.
rundheraus ab.
Zugleich verführt die beDoch die bisherige Lässigqueme Staatsgarantie zu un- Hermes-Zentrale*: Jährlich 100 Millionen Mark für die Allianz
keit bei der Vergabe von
soliden Kalkulationen in den
Bürgschaften wird die Koalition genau wie
Käuferstaaten. Knapp ein Drittel der Schulbei Rüstungsexporten in immer neue Konden von Entwicklungsländern gegenüber
flikte stürzen. Neben dem Ilisu-Damm steDeutschland sind Forderungen aus fällig
hen in der nächsten Zeit zwei weitere kniffgewordenen Handelsbürgschaften.
lige Entscheidungen an:
Die Rechnung wird mit Steuergeldern
π Die Ukraine will zwei Atomkraftwerke
beglichen. Die Versicherungsgebühren und
sowjetischer Bauart mit westlichen
die ausgezahlten Schadenserstattungen
Krediten durch ein Konsortium aus Sielaufen direkt durch den Bundeshaushalt.
mens und dem französischen StaatsAn die 100 Millionen Mark im Jahr kassiert
konzern Framatome fertig stellen lasdabei die Allianz für die Verwaltung.
sen. Ohne Hermes-Deckung würde die
Das System macht meistens Miese. Je
Finanzierung platzen, die ukrainische
nach Krisenlage der Weltwirtschaft und Grüner Haushälter Metzger
Betreibergesellschaft gilt als zahlungspolitischen Umbrüchen in den Importlän- Von der SPD abgeschmettert
unfähig. Bundeskanzler Gerhard Schrödern muss der Steuerzahler für Schäden
der hat allerdings gegenüber dem
von bis zu fünf Milliarden Mark im Jahr ge- Verbands World Economy, Ecology and
Hauptfinanzier, der Londoner Osteuradestehen (siehe Grafik Seite 98). Seit Development (WEED) fordert daher seit
ropabank, Deutschlands Zustimmung
1983 lief ein Defizit von über 26 Milliarden langem die Öffnung des Verfahrens und
schon avisiert.
Mark auf.
ein Anhörungsrecht für kritische WissenOb und wann die Gelder von den schaftler sowie Vertreter der betroffenen π In Indien will ein privater Konzern das
Wasserkraftwerk Maheschwar bauen.
Schuldnerländern wieder eingetrieben Bevölkerung aus den Importländern.
Das Projekt, zu dem auch ein riesiger
werden können, vermag niemand zu saDafür haben die Aktivisten ein überraStaudamm im Narmada-Fluss gehört,
gen. „Auch für die kommenden Jahre ist schendes Vorbild – die US-Regierung.
stößt auf den Widerstand einer großen
mit relativ hohen Ausgaben für politische Deren Exportgarantie-Behörde hat sich
Volksbewegung (SPIEGEL 30/1999). ObSchäden zu rechnen“, kündigte das Fi- die strengen ökologischen und sozialen
wohl die staatliche Elektrizitätsgesellnanzministerium vergangenen Mai in ei- Standards der Weltbank zu Eigen geschaft die Stromabnahme voraussichtnem als „Verschlusssache“ deklarierten macht und fordert Kritiker bei strittigen
lich gar nicht bezahlen kann und der
Bericht zu den Hermes-Finanzen an.
Vorhaben öffentlich per Internet zu StelMünchner Viag-Konzern sich aus dem
Den Milliardenposten im Etat kann der lungnahmen auf.
Projekt zurückzog, wollen die zuständiBundestag praktisch nicht kontrollieren.
Bis zum Regierungsantritt konnten sich
gen Beamten des WirtschaftsministeriDie Bürgschaften im Zeichen des Götter- die Anti-Hermes-Streiter denn auch der
ums den Bund für die Bezahlung der bei
boten Hermes vergibt ein Ausschuss von Unterstützung von Grünen und SozialdeSiemens bestellten Elektrotechnik bürBeamten aus Wirtschafts-, Finanz-, Außen- mokraten sicher sein, die mehrfach entgen lassen.
und Entwicklungshilfe-Ministerium, im sprechende Anträge im Bundestag einDamit steht vor allem für die Grünen
Streitfall entscheidet das Kabinett. „Der brachten.
Bund zahlt Milliardensummen aus, und wir
Seit dem Machtwechsel befiel die rot- viel auf dem Spiel. Insbesondere die
Haushaltspolitiker sind dabei völlig ohn- grünen Reformer aber Furcht vor der ei- Untätigkeit von Außenminister Joschka Fimächtig“, beklagt der grüne Abgeordnete genen Courage. „Das Hermes-System ist scher sorgt für Irritation bei der grünen
Oswald Metzger.
kein Instrument der Entwicklungshilfe, Klientel. In Sachen Ilisu-Damm böte die
Zudem sind alle Vorhaben grundsätzlich sondern soll die deutsche Industrie im Konfliktlage in Kurdistan eigentlich ausgeheim. Zweifelhafte Projekte kamen bis- internationalen Wettbewerb effizient un- reichend Grund für ein Veto des Auswärtilang stets nur an die Öffentlichkeit, wenn terstützen“, argumentiert Michael Kruse, gen Amts.
Hinter der Reformkampagne, mahnt
Umwelt- und Solidaritätsgruppen Proteste der für Hermes zuständige Referatsleiter
und Kritik aus den Importstaaten publik von Wirtschaftsminister Müller. Man kön- WEED-Sprecherin Barbara Unmüssig,
machten.
ne die Bürgschaftsvergabe „nicht zu einem „stehen Organisationen mit über einer Million Mitgliedern, darunter sicher viele GrüEin Bündnis von 120 solcher Nichtregienen-Wähler“.
rungsorganisationen unter Führung des * In Hamburg.
Harald Schumann
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Deutschland
DPA
zösischen Lens, wo am 21. Juni 1998 anlässlich der Fußball-WM Deutschland gegen
Jugoslawien spielte. Das Foto des in seinem
Blut liegenden Nivel kennt jeder.
Auch ein paar Haftjahre mehr „hätten
an der Sache nichts geändert“, sagte Lorette Nivel, die mit ihrem Ehemann und einem der Söhne zur Urteilsverkündung gekommen war, weil sich die Medien, so der
die Nebenklage vertretende Anwalt, an ihrer Anwesenheit und Reaktion interessiert
zeigten. Nivel, er ist 44, wird für sein
Leben schwerst behindert bleiben, ein
Mensch, der nicht mehr aufnimmt, was geschieht, und mit dem man sich nicht mehr
austauschen kann. Ein Journalist fragte den
Sohn, ob er den Tätern verzeihen könne.
Er kann es nicht, welch eine Frage. Eine
unerträgliche Frage wegen ihrer kalkulier-
Angriff auf den Gendarmen Nivel 1998: Wie Monster verhalten
STRAFJUSTIZ
AFP / DPA
Was fasziniert so an Gewalt?
Im Hooligan-Prozess hat das Landgericht Essen
hohe Strafen verhängt – eine abschreckende Wirkung werden
sie kaum erzielen. Von Gisela Friedrichsen
Angeklagte Renger, Zawacki
Missachtung von Tabus
104
AP
D
er Generalsekretär des Deutschen
Fußball-Bundes (DFB) Horst
Schmidt hofft, das Essener Urteil
werde in der Hooligan-Szene als „eindeutige Botschaft“ begriffen. Und der beim
DFB für die Medien zuständige Wolfgang
Niersbach setzt auf die „abschreckende
Wirkung“ des Richterspruchs. Die Gerichte, so sehen es die Funktionäre der Weltmacht Fußball, richten es schon.
Die Auffassung, hohe Strafen schreckten ab, hat ein zähes Leben. Nicht einmal
von der Todesstrafe haben sich Mörder
oder Totschläger aufhalten lassen. Dass die
Essener Angeklagten des versuchten Mordes an dem französischen Gendarmen Daniel Nivel beschuldigt wurden, dass zumindest ein Lebenslang und hohe Haftstrafen drohten – die Krawallmacher trieben
bis heute unbeeindruckt ihr Unwesen. Und
sie treiben es weiter.
Die 2. Große Strafkammer des Landgerichts Essen ist mit ihrem Urteil zwar unter den Strafanträgen der Anklage geblieben. Doch milde gestraft hat sie nicht: für
André Zawacki, 28, zehn Jahre Freiheitsstrafe statt der beantragten 14 Jahre; für Tobias Reifschläger, 25, sechs Jahre, beantragt
waren acht Jahre; für Frank Renger, 31,
fünf statt sieben Jahre; für Christopher
Rauch, 24, drei Jahre und sechs Monate
statt sechs Jahre. Zawacki wurde wegen
Angeklagte Rauch, Reifschläger
Das Gericht hat kein Exempel statuiert
versuchten Mordes und wie alle Mitangeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt.
Das Gericht hat kein Exempel statuiert,
weil dies die Achtung vor der Würde auch
des Menschen verbiete, der sich schuldig
gemacht hat. Die Angeklagten wurden daher auch nicht für die „Schande“ bestraft,
die sie angeblich über die Fußballnation
Deutschland gebracht haben, was die Öffentlichkeit, von den Medien in beispielloser Weise munitioniert, gern gesehen hätte. Die Anklageschrift war schon weit vor
Prozessbeginn in einer Zeitung ausgebreitet worden. Es gab Filme und Fotos ohne
Ende von den Schreckensszenen im frand e r
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ten Publikumswirksamkeit. Drei der Angeklagten haben bereut, einer hat die
schrecklichen Folgen bedauert. „Was haben Sie von den Angeklagten erwartet?“
„Ich glaube nicht, dass ich etwas von ihnen
erwarte“, sagt Frau Nivel leise. „Hatten
Sie schon Zeit, mit Ihrem Mann über das
Urteil zu sprechen? Wie ist seine Reaktion?“ Jeder weiß, dass er nicht mehr reagieren kann. „Ich habe ihn gefragt, ob es
ihm gut geht“, antwortet sie.
Die Angeklagten sind nicht Monster,
sondern Menschen, auch wenn sie sich an
jenem unseligen Tag wie Monster verhalten haben, sagt der Vorsitzende Richter
Rudolf Esders, 59, in der Urteilsbegründung.
Wie soll ein Gericht solche Menschen
bestrafen? Adolf Arndt, der Jurist und
SPD-Rechtspolitiker, hat das Unheil beschrieben, das, angerichtet von Menschenhand, sich durch Menschenhand nicht
wieder gutmachen lässt: „Die Frage des
Strafens erhebt sich dort vor uns, wo Gerechtigkeit unerreichbar wurde.“
„Man kann sie nur nach ihrem Handeln
verurteilen“, sagt Esders. Und bedrückt,
nicht ohne Resignation fährt er fort: „Sie
werden ein paar Jahre weggesperrt. Das
kann ein Strafgericht erledigen. Wir können dann mit dem Finger auf sie zeigen
und ihr Tun und ihren Charakter be-
Werbeseite
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schimpfen und zur Tagesordnung überge- Michael Eder hat in der „Frankfurter Allhen im Gefühl, besser zu sein als sie.“ Un- gemeinen“ beschrieben, wie Spieltag für
überhörbar die Ratlosigkeit, die schmerz- Spieltag „hoch bezahlte Bundesligaprofis
lichen Erfahrungen im Sinne Arndts, die ihre Aggressivität zu Markte“ tragen. „Die
auch ein erfahrenes Gericht und einen Tendenz zur Gewalt auf dem Platz wird
Richter auf dem Höhepunkt seines An- verharmlost statt verurteilt.“ Es ist kein
sehens nicht loslassen.
Kavaliersdelikt, wenn ein Spieler dem anWas fasziniert so an Gewalt? Warum er- deren ins Gesicht tritt und wenn dieser
liegen ihr gerade junge Menschen? Warum Ausschnitt dann in Großaufnahme auf dem
suchen sie Geborgenheit ausgerechnet un- Bildschirm zu konsumieren ist.
ter Gewalttätern? Welche Instinkte werMan wolle nicht dem Druck einer „verden dabei angesprochen? Müssen wir uns schwindend kleinen Gruppe“ von Tätern
abfinden damit, dass Gewalt
Spaß macht? Dass es eine Lust
gibt am Abbau von Hemmungen, an der Missachtung von
Tabus und Normen? Manche
Fragen, die Esders ausspricht,
sind schon die Antwort.
Die Strafgerichte befinden
sich heute in einer prekären
Situation. Eine populistische
Politik, die sich den von
Medien allzu oft geschürten
Ängsten vor dem Verbrechen
zu empfehlen sucht, indem sie
Strafmaße erhöht, überfüllt
die Strafanstalten. In denen
geschieht nichts, was der Einsicht und Reue der Verurteilten, und damit dem Leid der Ehepaar Nivel: Den Tätern verzeihen?
Opfer, dient. Die Gerichte
werden bedrängt von Erwartungen, sie nachgeben, heißt es von den Funktionären
werden dazu angehalten vom Gesetzge- des Millionengeschäfts Fußball. Doch die
ber, immer höhere Strafen zu verhängen Lust an der Gewalt fährt nicht wie die bib– doch dem Hooliganismus und anderen lischen bösen Geister in eine Herde verFehlentwicklungen stehen nur dürftige abscheuungswürdiger Säue. Die Gefahr,
Bemühungen entgegen. In Essen etwa ka- dass es im Zusammenhang mit dem robusmen erhebliche Zweifel am Nutzen von ten Kampfsport Fußball zu Katastrophen
Fanprojekten, Szenebeobachtern und Be- kommt, wird auch genährt von dem, was
treuern auf.
immer wieder ungerügt im Spiel und daDas Fußballspiel ist schon längst nicht nach geschieht. Der Nationalstürmer Enrimehr die schönste Nebensache der Welt co Chiesa vom AC Parma jubelte im Mai
und auch keine bloß sportliche, friedliche nach dem Sieg über Olympique Marseille:
Veranstaltung. Die Geschichte der Kra- „Marseille wurde massakriert!“ Zu sich
walle rund um den Fußball und ihrer Op- endlos wiederholenden Untaten – der Ton,
fer wird verdrängt: 1964 in Lima – mehr als der dazu passt.
300 Tote nach einem Länderspiel zwischen
Das Essener Urteil wird voraussichtlich
Peru und Argentinien. 1971 in Glasgow – 66 die Revision zu bestehen haben. Die VerTote anlässlich eines Spiels zwischen den teidiger Peter Kruse (für Zawacki) und
Ortsrivalen Rangers und Celtic. Mai 1985, Henning Plähn (für Rauch) haben rechtliBrüssel, Heyselstadion – 39 Tote bei einem che Argumente für ihre Mandanten vorgeSpiel zwischen einer britischen und einer bracht, die sie, zunächst, für nicht ausreiitalienischen Mannschaft. Die Liste lässt chend berücksichtigt halten. Man mag
sich vorwärts wie rückwärts verlängern.
kritisieren, dass in der mündlichen BeDie Niederlande und Belgien, Gastge- gründung nicht auf die schwierige Beweisber der EM im Jahr 2000, werden immer lage eingegangen wurde, nicht auf die verwieder von schwersten Krawallen mit To- wirrende Wirkung der Fotos, nicht auf die
ten und Schwerverletzten heimgesucht, die vielen schweigenden Zeugen, die an dem
Polizei greift zu Schusswaffen. Während Unglück von Lens auch ihren Anteil hades Essener Prozesses wusste sich Borussia ben, nicht auf den aus unserer Sicht unDortmund vor einem Spiel in Rotterdam gewöhnlichen Umgang mit Asservaten in
nicht mehr anders zu helfen, als die dem Frankreich.
Verein zustehenden Karten zurückzuDoch dies mindert, so oder so, nicht
schicken, nachdem vor einem Großangriff den Appell des Gerichts, nachzudenken,
auf die Fans gewarnt wurde.
wieso Menschen sich so schwer schuldig
Die Gewalt ist mittlerweile bis in den machen. Und ob es genügt, sich damit abJugendfußball vorgedrungen, wo sich El- zufinden – dass gestraft wird, wenn es zu
tern auf den Zuschauerplätzen prügeln. spät ist.
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Deutschland
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Ich habe lernen müssen“
M. DARCHINGER
Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) über die Kritik an seiner Asylpolitik
und eine neue Regelung der Zuwanderung
Minister Schily: „Debatte auf europäischer Ebene“
SPIEGEL: Warum aber dieses
Thema in dieser Tonlage
zu einem Zeitpunkt, da
es im rot-grünen Bündnis
ohnehin an allen Ecken
brennt?
Schily: Ich halte eine
freundliche und sachliche
Tonlage ein. Europa hat sich
ein gemeinsames Regelwerk
für Asyl-, Bürgerkriegsflüchtlings- und Migrationsfragen zur Aufgabe gemacht. Deutschland kann
sich aus dieser Debatte
nicht heraushalten.
SPIEGEL: Und doch ist es
eine gründliche Abkehr von
der Haltung, die bisher als
politisch korrekt in Sachen
Asylrecht galt.
Verfolgte bei uns Zuflucht finden sollen,
wird dadurch nicht in Frage gestellt.
SPIEGEL: Und nun ist der Artikel mit der
Wirklichkeit nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen?
Schily: Die gegenwärtige Rechtslage führt
zu einer jährlichen Zuwanderung von rund
100 000 Menschen, verbunden mit äußerst
kostspieligen und aufwendigen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren, von den Sozialhilfekosten ganz abgesehen. Und nur
zwischen drei und vier Prozent werden als
Asylberechtigte anerkannt. Ein weiterer
geringer Prozentsatz erreicht die Anerkennung auf dem Klagewege.
SPIEGEL: Wollen Sie allen Ernstes dabei
bleiben, dass 97 Prozent der Asylsuchenden in Deutschland „Wirtschaftsflüchtlinge“ sind, wie Sie sie genannt haben?
Schily: Der Ausdruck „Wirtschaftsflüchtlinge“ war unglücklich gewählt. Wir spre-
tionspartner wirft Ihnen nach Ihrem Vorstoß, das Asylrecht zu überdenken, einen
„Frontalangriff auf Flüchtlinge“ vor. Wird
der Innenminister zur Belastung für die
rot-grüne Koalition?
Schily: Die Aufregung ist völlig überflüssig.
Die nervösen Reaktionen sind mir unverständlich, ich habe keinen Gesetzentwurf
oder gar ein verfassungsänderndes Gesetz
auf den Tisch gelegt. Ich habe über eine
Perspektive gesprochen. Es sollte wenigstens ausnahmsweise einmal erlaubt sein, in
langen Linien zu denken.
SPIEGEL: Sie tasten nicht nur ein Kernthema der Bündnisgrünen an; immerhin stellen Sie auch einen Artikel des Grundgesetzes in Frage.
Schily: Sich auf Symbolpolitik zu reduzieren, mag der eigenen Befindlichkeit dienen. Davon haben aber die Menschen herzlich wenig. Im Übrigen: Wer meint, er habe
die besseren Argumente, der soll sie geltend machen. Wir müssen doch in der Lage
sein, ohne Unruhe einen gesellschaftlichen
Diskurs zu führen.
SPIEGEL: Nicht ganz einfach, wenn der Innenminister eine grundsätzlich neue Position einnimmt und nebenbei an einem
Tabu rührt.
Schily: Sie ist gar nicht so nagelneu.
Schon bei der Debatte um den sogenannten Asylkompromiss 1993 hat der Abgeordnete Otto Schily diese Position vertreten.
DPA
SPIEGEL: Herr Minister Schily, Ihr Koali-
Abschiebung von Kosovo-Albanern (1998)*: „Straftäter zuerst“
Schily: Ich war früher selbst ein vehementer Befürworter der alten Fassung von
Artikel 16 des Grundgesetzes, aber ich
habe lernen müssen, dass die Norm in der
Wirklichkeit anders ankommt, als sie gemeint war. Der Grundsatz, dass politisch
* Auf dem Münchner Flughafen.
d e r
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chen besser von „Armutsflüchtlingen“.
Dass Menschen aus Gründen, die mit politischer Verfolgung nichts zu tun haben,
versuchen, nach Deutschland zu gelangen,
ist moralisch nicht zu verurteilen. Ich frage nur, macht es Sinn, diese Zuwanderung
de facto über das Asylverfahren zu ermöglichen? Sollten wir nicht besser frei
107
Deutschland
438 191
Abschied von
Deutschland
Anträge und
Abschiebungen
von Asylbewerbern
in Deutschland
VERSION
entscheiden, wen wir unter bestimmten Voraussetzungen bei uns aufnehmen wollen und wen nicht?
SPIEGEL: Also ein Zuwanderungsgesetz?
Schily: Möglicherweise. Vielleicht
reicht aber eine Überarbeitung des
Ausländergesetzes aus. Wichtig ist,
dass wir auf europäischer Ebene zu
einer Angleichung des formellen und
materiellen Rechts kommen. Sicherlich ist auch der Hinweis richtig, dass
unter denen, die Asyl beantragen, einige sind, denen zwar kein Asyl, aber
Abschiebeschutz zuerkannt wird.
Gleichwohl steht fest, dass die weitaus überwiegende Zahl der Asylbewerber Menschen sind, die keinen
Asylschutz genießen.
SPIEGEL: Müssen Sie deswegen gleich
einen Verfassungsartikel über Bord
werfen?
Schily: Es geht um die schlichte Frage, wie wir mit weniger Verwaltungs-
Kirchenschutz für Flüchtlinge*: „Zielgenaue Entscheidungen“
Eine Entscheidung, die aus freien
Stücken getroffen wird
Anträge
und nicht über ein Gericht erzwungen werden
Quelle: Bundesinnenministerium
256 112
kann, ist deshalb kein
Gnadenerweis. Das gilt
auch für das Asyl. Die
Vorstellung, durch ein
Klagerecht sei die Richtigkeit und Zielgenauig104 353
keit der Entscheidung
98 644
eher garantiert, beruht
80 620
auf einem Irrtum.
Jan. bis
SPIEGEL:
Gibt die Genfer
Abschiebungen
Okt.
38 205
1999
Flüchtlingskonvention
10 798
21 000
nicht ein unmittelbar
Erstes
Halbj. 1998
einklagbares Recht auf
8232
Asyl?
1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999
Schily: Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt
aufwand zu zielgenauen Entscheidungen das „Recht im Asyl“, sie begründet aber
gelangen, Beschwörungen von Tabus sind kein Recht „auf Asyl“. Aus der Genfer
Flüchtlingskonvention ergeben sich ledigdabei wenig hilfreich.
SPIEGEL: Ihr Koalitionspartner sieht das lich bestimmte Rechte auf Abschiebeschutz, die allerdings auch gerichtlich gelanders.
Schily: Wir sollten die Diskussion nicht tend gemacht werden können.
auf den nationalen Rahmen verengen. SPIEGEL: Sollten wir einfach selbst entDie Debatte gehört auf die europäische scheiden, wem wir helfen?
Ebene. In diesem Zusammenhang stellt Schily: Meiner Meinung nach sollten wir
sich die Frage, ob die Richtigkeitsgewähr mehr der moralischen Integrität der zur
einer Entscheidung positiv oder negativ Entscheidung Berufenen vertrauen als umdadurch beeinflusst wird, ob sie mit ei- ständlichen Verwaltungs- und Gerichtsvernem subjektiven Klagerecht verbunden fahren. Jedoch muss verfassungsrechtlich
ist. Es fordert beispielsweise ja niemand abgesichert werden, dass eine unabhängiein einklagbares Recht auf Zuwanderung ge Institution geschaffen wird, der die entoder auf Gewährung von Entwicklungs- sprechenden Entscheidungen zu übertrahilfe.
gen sind.
SPIEGEL: Dann wird Asyl zum Gnaden- SPIEGEL: Welcher Institution wollen Sie
recht.
eine solche Entscheidung anvertrauen?
108
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Schily:
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Schily: Das könnte ein unabhängiger Asylbeauftragter sein mit einem Beirat, in dem
die Kirchen und Gewerkschaften vertreten sind.
SPIEGEL: Was wären die konkreten Vorteile?
Schily: Dieses Verfahren hätte den Vorteil
der größeren Flexibilität, zum Beispiel bei
der umstrittenen Frage der Abgrenzung
von staatlicher und nichtstaatlicher Verfolgung als Asylgrund. Das von uns bisher
praktizierte starre Verfahren bietet diese
Flexibilität nicht.
SPIEGEL: Die Väter des Grundgesetzes haben sich doch etwas dabei gedacht, als sie
das Asylrecht in die Verfassung geschrieben
haben. Haben die sich geirrt?
Schily: Nein. Der Grundgedanke war im
Rückblick auf die Vergangenheit, nicht zuletzt auf das Schicksal jüdischer Emigranten aus Deutschland, richtig. Der Grundgedanke, politisch Verfolgten Schutz zu gewähren, bleibt auch heute richtig. Es ist
nur die Frage, wie man ihn am besten verwirklicht. Ich glaube nicht, dass die Mütter
und Väter des Grundgesetzes mit dem
Asylartikel ein Zuwanderungsrecht schaffen wollten. Für mich gilt nach wie vor,
was mir vor langer Zeit ein Vertreter des
Uno-Flüchtlingskommissars in Zirndorf gesagt hat: „Ihr Deutschen habt das liberalste Zugangsrecht in Europa und zugleich
die illiberalste Anerkennungspraxis.“
SPIEGEL: Ohne Verfassungsrang bleibt das
Asylrecht der Willkür und politischen Beliebigkeit überlassen.
Schily: Die Gefahr ist nicht zu bestreiten.
Aber wodurch begegne ich ihr? Durch
* Kurden in der Bonner Kreuzkirche 1998.
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Asylbewerber in Abschiebehaft: „Besser von Armutsflüchtlingen sprechen“
Verwaltungsvorschriften und Gerichtsentscheidungen oder durch die moralische Autorität einer solchen unabhängigen Institution? Das ist doch die Frage.
SPIEGEL: Und wer garantiert eine solche
Institution?
Schily: Institutionelle Garantie kann nicht
heißen, dass man nur einen Programmsatz
in die Verfassung schreibt. Die Institution
muss in der Verfassung verankert sein und
dadurch die Garantie dafür werden, dass
dem Schutzbedürfnis für politische Flüchtlinge auch entsprochen wird.
SPIEGEL: Würden dann mehr oder weniger
Fälle positiv beschieden werden als heute?
Schily: Es könnte sein, dass im begrenzten
Umfang mehr Menschen Asyl gewährt
wird, weil das Verfahren flexibler und nicht
mit einer Präjudizwirkung verbunden
wäre.
SPIEGEL: Fakt bleibt aber: Die Abschaffung
des Asylartikels, für die Sie eigentlich plädieren, ist ein Tabubruch für das gesamte
rot-grüne Lager.
Schily: Ich respektiere ja, dass viele Leute
Schwierigkeiten mit dem Thema haben.
Allen, die am subjektiven Recht auf
Asylgewährung festhalten wollen, ist
gewiss eine idealistische und ehrenwerte
Haltung zu attestieren. Ich hoffe, dass es
gelingt, die Debatte wieder zu versachlichen.
SPIEGEL: Ihr Koalitionspartner kann sich
nach wie vor mit dem Flughafenverfahren
nicht anfreunden, also dem Abfangen von
Asylsuchenden, bevor sie deutsches
Rechtsgebiet betreten können.
Schily: Um das klar zu sagen: Das Flughafenverfahren bleibt bestehen. Wir werden
jedoch die Unterbringungsmöglichkeiten
auf dem Frankfurter Flughafen verbessern.
SPIEGEL: Für Kinder ist das Verfahren aber
auch dann nicht geeignet.
110
Eindruck erwecken, als ob die Ausreisepflicht nur auf dem Papier besteht.
SPIEGEL: Ist das humanitäres Handeln?
Schily: Um die Bereitschaft der Bevölkerung zur Aufnahme aufrechtzuerhalten,
muss garantiert sein, dass der Aufenthalt
für Flüchtlinge vorübergehend ist.
SPIEGEL: Den Ländern haben Sie mitgeteilt,
dass der Bund vom kommenden April an
die Kosten für die Kriegsflüchtlinge nicht
mehr trägt. Das heißt, spätestens dann wird
zurückgeschoben.
Schily: Richtig.
SPIEGEL: Auch der UNHCR hat Schwierigkeiten mit Ihrer Flüchtlingspolitik.
Schily: Mit dem UNHCR gibt es da und
dort Meinungsverschiedenheiten. Aber in
der Regel arbeiten wir sehr gut zusammen.
SPIEGEL: Mehr noch: Ihr Haus hat die Länderministerien aufgefordert zu prüfen, ob
auch bei anerkannten Asylbewerbern die
Aufenthaltserlaubnis widerrufen werden
kann.
Schily: Das gilt nur für straffällig gewordene
Kosovo-Albaner, und das auch nur, soweit
es sich nicht um Bagatelldelikte handelt.
SPIEGEL: Die Innenminister von Bund und
Ländern denken darüber nach, KosovoAlbaner, bei denen der Verdacht krummer
Geschäfte nahe liegt, zuerst nach Hause
zu schicken.
Schily: Das könnte eine Überlegung sein,
aber dafür sind die Länder zuständig. In
der ersten Phase werden sicherlich Abschiebungen vorgezogen, denen ein Ausweisungstatbestand aufgrund strafbaren
Schily: Ich befolge den Grundsatz, dass
Minderjährigkeit nicht gleichbedeutend
mit einem Einreiserecht ist.
SPIEGEL: Aber ein bestimmtes Lebensalter
verpflichtet auch zu einer besonderen Behandlung.
Schily: Das ist gewiss richtig. Aber das heißt
nicht, dass Minderjährige, die auf dem
Luftweg bei uns ankommen, grundsätzlich
einreisen dürfen.
SPIEGEL: Das wollen die
Kritiker dieses Verfahrens
auch nicht unbedingt.
Schily: Wer von Kinderknast mit Teddybär redet,
will eine bestimmte emotionale Reaktion in der
Öffentlichkeit
hervorrufen. Das muss ich aushalten.
SPIEGEL: Sie wollen sämtliche bisher hier geduldeten Kosovo-Albaner in
Deutschland nach Hause
abschieben. Wann werden
alle das Land verlassen ha- Schily beim SPIEGEL-Gespräch*: „Denken in langen Linien“
ben?
Schily: Wir gehen die Sache sehr behutsam Verhaltens zugrunde liegt. Es wird schon in
und sehr pragmatisch an. Es geht doch in den nächsten Wochen zu einigen Abschieerster Linie um die Förderung der freiwil- bungen kommen. Außerdem werden wir
ligen Rückkehr. Man muss aber auch dar- im Einverständnis mit dem UNHCR diejeauf bestehen, dass die, die ausreisepflichtig nigen zurückschicken, die nach Beendigung der Militäraktionen zu uns kommen.
sind, auch wirklich ausreisen.
SPIEGEL: Also keine Ausreisepflicht in den SPIEGEL: Und bei Leuten, bei denen zwar
kommenden zwölf Monaten?
kein Urteil, aber ein entsprechender VerSchily: Vielleicht war es eine etwas zu op- dacht vorliegt?
timistische Erwartung, dass die Verfahren Schily: Wir müssen leider sagen, wir haben
im kommenden Jahr abgeschlossen sind. unter den Kosovo-Albanern einige unerAber es muss so schnell wie möglich gehen. freuliche Gestalten. Die sind der deutschen
Wir dürfen in der Öffentlichkeit nicht den Bevölkerung nicht zuzumuten. Da darf
man die Toleranz nicht überbeanspruchen.
SPIEGEL: Herr Schily, wir danken Ihnen für
* Mit Redakteuren Stefan Aust, Georg Mascolo und
Horand Knaup in Berlin.
dieses Gespräch.
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M. DARCHINGER
A. PACZENSKY / IMAGES.DE
Deutschland
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Deutschland
G E WA LT
„Wie im falschen Film“
Nachdem in Meißen ein Schüler seine Lehrerin erstochen hat,
fordern Berufsverbände mehr
Sicherheit in den Schulen, Experten warnen vor Panik.
112
gen“ Familie. Die Eltern haben sich vor
dem Medienrummel versteckt, die Mutter
ist in der Neuapostolischen Gemeinde, einer Sekte, aktiv. Gerüchte, der Junge gehöre zur Grufti-Szene, erwiesen sich als
Unsinn.
Die Meißner Tragödie scheint das
Alarmsignal für eine gefährliche Entwicklung: Die Gewalt an Sachsens Schulen hat
nach Angaben des Landeskriminalamtes
in den vergangenen zwei Jahren zugenommen. Die Polizei registrierte in diesem
Zeitraum 1440 leichte und schwere Körperverletzungen. In Thüringen wurden
1998 an den Schulen 2676 Straftaten gezählt, darunter 429 Fälle von Körperverletzung. „Die Hemmschwelle zur Gewalt
ist in den vergangenen Jahren mehr und
mehr gesunken“, glaubt Cornelia Franke
vom Regionalschulamt Riesa.
Schon fordern Lehrer aus Sachsen und
Thüringen professionelle Sicherheitskräfte
nach US-Vorbild an den Schulen, verschärfte Strafen, Metalldetektoren und
Videoüberwachung auf den Schulhöfen. In
FOTOS: DRESDNER MORGENPOST
D
ie Vorlesung wird zur Gedenkveranstaltung. Gebannt lauschen etwa 100 angehende Lehrerinnen und
Lehrer den Worten ihres Professors. Wolfgang Melzer hat „aus gegebenem Anlass“
das im Semesterprogramm angekündigte
Thema „Sozialisation und Schule“ gegen
„Gewalt in der Schule“ ausgewechselt.
Die beklemmende Aktualität – zwei
Tage zuvor hatte an einem Gymnasium im
nahen Meißen ein Schüler seine Lehrerin
getötet – war auch im Hörsaal 136 der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät an der
TU Dresden zu spüren. „Als ich von dem
Attentat hörte“, sagt nachdenklich eine
Studentin, „da hab ich schon gegrübelt,
ob ich auch den richtigen Beruf gewählt
habe.“
Am vergangenen Dienstagmorgen war
der Schüler Andreas S., 15, maskiert
während des Unterrichts in seine neunte
Klasse des Meißner Gymnasiums Franziskaneum gestürmt und hatte mit zwei Messern 22-mal auf die Geschichtslehrerin
Sigrun Leuteritz, 44, eingestochen. Die
Lehrerin, die ihre Schüler als „streng“
empfanden, starb nur wenige Sekunden
später in den Armen einer Kollegin. Bei
seiner Festnahme kurz nach der Tat sagte
Andreas S., der gefasst und ruhig wirkte:
„Ich habe sie gehasst.“
Die in der deutschen Kriminalgeschichte einmalige Bluttat war seit langem vorbereitet. Und, kaum fassbar: Andreas S.
hatte Mitschüler in die Mordpläne gegen
seine Lehrerin eingeweiht. „Er hat immer
wieder gesagt, ich bring sie um“, erzählt
ein Freund, „aber wir haben ihm nicht geglaubt.“ Staatsanwalt Michael Respondek
ermittelt nun nicht nur gegen Andreas S.
„wegen heimtückischen Mordes“, sondern
auch gegen Mitschüler „wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten“.
Lehrer, Schüler, Eltern und Kultusbürokraten fragen sich entsetzt, wie es zu der
kaltblütigen Tat kommen konnte. Sie stehen vor einem Rätsel.
Die Tat von Meißen passt in kein Klischee: Die Schule soll – bis auf ein paar
Rangeleien auf dem Pausenhof – bisher
keine Gewalttaten erlebt haben. In Meißen
gibt es kaum soziale Brennpunkte. Der Täter war bisher noch nicht auffällig geworden. „Er musste uns nichts beweisen“, erzählt ein Mitschüler, „er war ein guter
Kumpel, und wir mochten ihn.“ Andreas
stammt aus einer so genannten „anständi-
einem offenen Brief an den sächsischen
Kultusminister Matthias Rößler fragt der
Religionslehrer Matthias Werner: „Müssen
denn noch mehr Lehrerinnen und Lehrer
sterben, bis man im Ministerium konkrete
Schritte unternimmt, um dem Phänomen
Aggression auf den Leib zu rücken?“
Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang
Melzer warnt vor Panik (siehe Interview).
In einer Langzeitstudie hat er mit Kollegen
aus Westdeutschland jeweils über 3000
Schüler zwischen 12 und 16 Jahren in Hessen und Sachsen mehrfach zum Thema Gewalt befragt.
Die Studie stuft immerhin 175 000
Schüler der Sekundarstufe I als gewalttätig
ein, das sind von fünf Millionen Schülern
in Deutschland 3 bis 4 Prozent. An der
Spitze stehen verbale Aggression, Prügeleien und sexuelle Belästigung. Zur Waffe
wie in Meißen greifen Deutschlands
Schüler bisher nur höchst selten.
Im ersten Stock des Franziskaneums, eines Baus aus der Jahrhundertwende, welken an der Stelle, an der die Lehrerin verblutete, Lilien, Rosen und Asternsträuße.
Kerzen, Briefe, Zettel stehen und liegen
auf dem Boden. Hier konnten die Schüler
mit Psychologen über das traumatische Erlebnis sprechen. Doch die meisten haben
sich von dem Schock noch nicht erholt.
„Es war, als ob wir im falschen Film waren,
als ob wir neben uns stehen“, das äußern
sie immer wieder.
„Wir sitzen mit den Schülern mit unserer gemeinsamen Trauer gewissermaßen in
einem Boot“, sagt Dietmar Liesch, Direk-
Täter Andreas S.
Opfer Sigrun Leuteritz
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Abtransport der toten Lehrerin vor dem Franziskaneum in
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„Aggressionen nehmen zu“
Der Dresdner Erziehungswissenschaftler Wolfgang Melzer, 51,
über Ursachen und Folgen der Bluttat von Meißen
S. DÖRING / VISUM / PLUS 49
autoritärer als WestSPIEGEL: Sollen die LehLehrer, üben sie nach
rer an Deutschlands
Ihren Beobachtungen
Schulen jetzt kugeleinen größeren Leissichere Westen tragen?
tungsdruck aus?
Melzer: Der Meißner
Fall darf, so tragisch
Melzer:
Im
Osten
er ist, nicht bewirken,
Deutschlands wurde
dass sich Lehrer bloß
nach der Wende die
noch als Opfer sehen.
bürokratische StaatsUntersuchungen zeischule fortgesetzt, die
gen, dass mehr als 40
Lehrer-Schüler-Rollen
Prozent der Schüler
werden immer noch
unter Schulangst leiviel traditioneller geden. Lehrer, von denen
sehen als im Westen.
ja der Leistungsdruck
Die Erfahrungen der
meist ausgeht, werden
Jugendlichen von Freials mächtig empfunheit und Autonomie
den, zum Teil auch als
außerhalb der Schule
ungerecht. Die grausaspiegeln sich in der
me Tat darf Lehrer Gewalt-Experte Melzer
Schule kaum wider, das
nicht davon abhalten,
erzeugt Konflikte.
auch nach ihrem Anteil an der Eskala- SPIEGEL: Lehrerverbände fordern schärtion der Gewalt zu fragen.
fere Maßnahmen an den Schulen, SachSPIEGEL: Wie kam es zum Mord von sens Kultusminister propagiert seit dem
vergangenen Sommer die „SicherheitsMeißen?
Melzer: Noch fehlen uns detaillierte In- partnerschaft“ mit der Polizei und führformationen über die Hintergründe. Ty- te gerade die so genannten Kopfnoten,
pisch ist, dass ein männlicher Jugend- etwa für Betragen, wieder ein. Halten
licher die Tat beging, dass Sie solche Vorstöße für probate Mittel,
Gleichaltrige ihn vielleicht be- der wachsenden Gewalt an Schulen zu
stärkten und dass die Umge- begegnen?
bung seine Drohungen wohl Melzer: Mit Sanktionen und Abnicht ernst nahm. Untypisch schreckung kann man Gewalt nicht abist, dass die Bluttat an einem bauen. Von Ranzenkontrollen und ViGymnasium geschah.Absolut deoüberwachung auf dem Schulhof lasuntypisch ist das Ausmaß: sen sich potenzielle Gewalttäter nicht
Mordfälle kommen in der Ge- abhalten. Und die Kopfnoten, die ich
waltstatistik der Schulen bis- für fragwürdig halte, wurden kurz vor
lang nicht vor, und das werden der Landtagswahl eingeführt, weil sie
sie auch künftig wohl nicht.
hier in Sachsen bei der Bevölkerung
SPIEGEL: Die Meißner Tat hät- gut ankommen.
te wohl auch im Westen pas- SPIEGEL: Was aber soll geschehen, um
sieren können. Ihre jahrelan- die Aggressionen bei Schülern zu zügen Untersuchungen über geln?
Gewalt an den Schulen in Melzer: Wenn die Schülerinnen und
Sachsen und Hessen belegen, Schüler das Gefühl haben, die Lehrer
dass das Ausmaß der Aggres- gehen auf sie ein, das Lerntempo ist
sionen im Osten nicht höher ausgerichtet auf ihre Bedürfnisse, wenn
ist als im Westen.
sie gefragt und auch ernst genommen
Melzer: Es gibt eine Aus- werden, wenn nicht mehr so viel von
nahme: Aggressionen ge- Fordern, sondern mehr von Fördern die
gen die eigenen Lehrer sind Rede ist, dann wird sich nicht nur die
in den neuen Ländern ganz Fachleistung steigern, sondern dann
klar größer, und sie neh- werden auch Aggressionen eingemen zu.
dämmt. Nur die Schule selbst, Eltern,
SPIEGEL: Sind die Ost-Lehrer Lehrer, Schüler, können langfristig
auf Grund ihrer Ausbildung präventiv wirken. Das ist der einzige
und Praxis zu DDR-Zeiten Schutz vor Gewalt.
ACTION PRESS
tor des Franziskaneums, auf einer Veranstaltung vergangene Woche im Meißner
Theater.
Makabres Zusammentreffen von Fiktion
und Wirklichkeit: Zwei Tage nach dem
Mord von Meißen lief in über 200 Kinos
der Bundesrepublik ein Spielfilm an, der
scheinbar dem wahren Leben gleicht: Drei
sympathische Teenager schwingen sich in
der Hollywood-Komödie zu Rächern ihrer
High School auf. „Tötet Mrs. Tingle!“ (freigegeben ab zwölf) heißt der Streifen.
Der Geschichtslehrerin Mrs. Tingle, ein
fieses Scheusal, das Schülern, Lehrerkollegen und selbst dem Direktor gleichermaßen verhasst ist, wird eine Lektion erteilt.
Der Film läuft auch im 25 Kilometer von
Meißen entfernten Dresden. Das vorwiegend jugendliche Publikum amüsiert sich
königlich im Kinosaal 6 des riesigen Cinema-Centers im Elbepark.
„Geradezu pervers“ nennt Josef Kraus,
Präsident des Deutschen Lehrerverbandes,
den Start des Films gerade jetzt. Es sei doch
nur eine „Komödie mit schwarzem Humor“, verteidigt sich der Filmverleih, hat
allerdings vielerorts die Plakate „Tötet
Mrs. Tingle!“ durch eine positive Variante
ersetzt: „Rettet Mrs. Tingle!“
Im Film wird Mrs. Tingle von ihren
Schülern tagelang im eigenen Haus ans
Bett gefesselt. Es fließt zwar Blut, Pfeile fliegen aus einer Armbrust, doch die
verhasste Lehrerin wird – immerhin – nicht
umgebracht, wie es der Titel verspricht.
Ganz anders als im wirklichen Leben.
Almut Hielscher
Meißen: „Ich habe sie gehasst“
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Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
Trends
S TA AT S F I N A N Z E N
DRESDNER BANK
Bundesländer steigern
Neuverschuldung
Bayern planen
Übernahme
I
M. VOLLMER
ntensiv beschäftigt sich der Vorstand
der HypoVereinsbank mit einer
Übernahme der Dresdner Bank. Hochrangigen Managern des bayerischen Instituts zufolge hat Markus Fell, Leiter
der Abteilung Konzernstrategie, mögliche Varianten des Deals ausgearbeitet.
Fell buche seit Wochen seine Flüge
selbst, auch seine Sekretärin wisse oft
nicht, wo er sich aufhalte, so Insider aus
der Bank. Nach ihren Informationen
trifft sich Fell regelmäßig mit Vorstandschef Albrecht Schmidt. Auch die Allianz, die an beiden Häusern beteiligt
ist, habe grünes Licht gegeben, berichten die Banker. Das neue Institut werde weder von Schmidt noch von Dresdner-Bank-Chef Bernhard Walter geleitet. Stattdessen werde ein Banker aus
einer deutschen Bank antreten, eventuell für einige Monate zusammen mit
Schmidt. Die Banker halten es für möglich, dass die Übernahme noch in diesem Jahr verkündet wird. Wahrscheinlicher sei aber eine Bekanntgabe Anfang nächsten Jahres.
DPA
Dresdner-Bank-Zentrale in Frankfurt,
Schmidt
Schneller nach Berlin?
D
ie Deutsche Bahn könnte die Fahrtzeiten zwischen Hamburg und Berlin unter zwei Stunden drücken, wenn die
Züge von derzeit 160 bis auf 200 Kilometer pro Stunde beschleunigt würden, so das Fazit eines bahninternen AlternativSzenarios für den Fall, dass der Transrapid nicht gebaut wird.
Bei einem Spitzentempo 230 wären sogar Rekordfahrten von
rund 90 Minuten möglich. Doch dagegen steht das „Eisenbahnkreuzungsgesetz“. Geschwindigkeiten über 160 Kilometer pro Stunde genehmigt das Eisenbahnbundesamt aus Sicherheitsgründen nur für kreuzungsfreie Trassen. Auf der
Strecke gibt es jedoch fast 70 Bahnübergänge. Deshalb hoffen
die Eisenbahner auf eine Ausnahmegenehmigung. Für rund
700 Millionen Mark sollten die Übergänge durch Vollschranken verstärkt und die Fernsteuerungstechnik LZB (Linienzugbeeinflussung) ausgebaut werden. Der Kompromiss ist halbd e r
herzig. Denn von Hamburg nach Hannover und von dort nach
Berlin gibt es bereits schnelle Trassen. Durch einen Ausbau
der Abkürzung von Uelzen nach Stendal könnten ICE-Züge
auf einer reinen Hochgeschwindigkeitsstrecke in weniger als
90 Minuten von Hamburg bis zum Bahnhof Zoo fahren.
BACH & PARTNER
DEUTSCHE BAHN
rotz des Sparpakets werden die öffentlichen Haushalte in Deutschland
im nächsten Jahr mehr Schulden machen als noch 1999. Statt bisher 64 Milliarden Mark werden Bund, Länder und
Gemeinden rund 75 Milliarden Mark an
Krediten aufnehmen. Dafür sind, so
weist es die interne Vorlage des Bundesfinanzministeriums für den „Arbeitskreis Finanzplanungsrat“ aus, vor allem
die alten Bundesländer verantwortlich,
deren Neuverschuldung drastisch steigen wird. Demnach wird das Minus in
den Kassen der Westländer von 15 auf
21,5 Milliarden Mark wachsen – ein Anstieg von über 40
Prozent. Bundesfinanzminister Hans
Eichel dagegen reduziert das Defizit des
Bundes um vier Milliarden Mark. Dennoch rechnen die
Berliner Haushaltsexperten damit, dass
Deutschland im
nächsten Jahr gemäß der MaasEichel
tricht-Kriterien besser dastehen wird als noch 1999. Dies
liegt nicht zuletzt daran, dass die
Wirtschaft im Jahr 2000 mit nominal
3,5 Prozent kräftig – und damit noch
schneller als die Schulden – wachsen
soll. So sinkt, laut Vorlage für den
„Arbeitskreis Finanzplanungsrat“, die
deutsche Neuverschuldung gemäß
Maastricht demnach von 1,5 auf 1,25
Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
ICE-Zug in Berlin
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M. DARCHINGER
T
Lufthansa-Maschine (in Frankfurt)
TOURISTIK
Lufthansa verprellt
D
er Einstieg bei der Bahn-Touristik-Tochter Deutsches Reisebüro
(DER) könnte Rewe-Chef Hans Reischl
noch ungeahnte Probleme bereiten.
Als neuem Eigentümer drohen dem
demnächst drittgrößten Urlaubskonzern (ITS, Airconti,
Atlas-Reisebüros, DER) zweistellige Millioneneinbußen
beim Verkauf von LufthansaTickets in seinen Reisebüros.
Mit den geplanten Provisionskürzungen könnte die
Lufthansa, deren Touristiktochter C & N beim Poker um
DER unterlag, den Konkurrenten empfindlich schwä- Reischl
chen. Lufthansa hatte noch
bis vergangene Woche gehofft, den Zuschlag für den Bahnableger zu bekommen. Bereits im Oktober trafen sich
Lufthansa-Chef Jürgen Weber und der
KABELNETZ
Fallstricke der Telekom
neue Bahnchef Hartmut Mehdorn, um
Möglichkeiten einer Zusammenarbeit
auszuloten. Weber wollte für DER zwar
deutlich weniger bieten als Rewe. Dafür
sollte die Bahn aber Zugang zu den
Call-Centern, den Ticketautomaten und zum Miles &
More-System der Lufthansa
erhalten. Gemeinsame Arbeitsgruppen tüftelten noch
bis zuletzt an den Details der
Kooperation, die Anfang Dezember verkündet werden
sollte. Stattdessen musste
Weber aus der Zeitung vom
Deal mit Rewe erfahren. Die
Lufthansa überlegt nun, DER
freiwillige Zusatzprovisionen
zu kürzen – für Reischl ein schwerer
Schlag: Seine Reisebüros setzen mit dem
Verkauf von Lufthansa-Tickets fast 800
Millionen Mark um.
unkündbaren Zehn-Jahres-Vertrag der
Telekom-Tochter MSG zugeschanzt
worden. In so genannten Konzernleistungsvereinbarungen ist vorgesehen,
is Ende November erwartet die
Deutsche Telekom für ihr TV-Kabelnetz in Hessen und Nordrhein-Westfalen definitive Kaufangebote. Doch die
potenziellen Bieter Microsoft, Deutsche
Bank, Murdoch und die Kabelnetzbetreiber NTL und UPC entdeckten bei
der Durchsicht der Telekom-Verträge
einige Fallstricke, die die künftige Nutzung des Kabelnetzes stark behindern
können. So ist die Einspeisung der bisher über das Kabel verfügbaren digitalen Fernsehkanäle durch einen neuen,
116
J. BITTNER / JOKER
B
Telekom-Zentrale in Bonn
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V E R B R AU C H E R
Krieg um Cola
F
rankreich streitet mit Großbritannien nicht nur über BSE-Fleisch, es
verbietet auch den Verkauf von ColaGetränken mit englischer Aufschrift:
Weil die französische Supermarktkette
Casino aus Großbritannien eingeführte
Coca-Cola-Flaschen mit englischen Etiketten verkauft hat, wurde ein CasinoGeschäftsführer vor ein französisches
Strafgericht gestellt. Dort wurde er zu
einer Geldbuße von 50 Francs (etwa 15
Mark) je Flasche verurteilt. Nach Ansicht der französischen Richter verstieß
der Supermarkt gegen Vorschriften, wonach Lebensmittel ausschließlich in der
Landessprache beschriftet sein dürfen.
Ein normal informierter Franzose müsse
den Aufdruck „soft drink with vegetable extracts“ nicht verstehen können.
Die Supermarktkette, die inzwischen
ein französisches Appellationsgericht
anrief, meint dagegen, der von den
Behörden geforderte Vermerk „kohlensäurehaltiges Getränk mit Pflanzenextrakten“ sei auf französisch auch
nicht verständlicher
als im englischen Original. Inzwischen befasst sich der Europäische Gerichtshof
(EuGH) mit dem
Cola-Streit; er prüft,
ob die von Frankreich
vorgeschriebene
Sprachtümelei überhaupt mit dem EUGrundsatz des freien
Warenverkehrs vereinbar ist. Am
25. November will
der EuGH-Generalanwalt seinen Schlussantrag vorlegen.
Coca-Cola-Flaschen
GAMMA / STUDIO X
FOTOS: J. WISCHMANN / AGENTUR FOCUS ( ob.); J. DIETRICH / NETZHAUT ( u.)
Trends
dass die Regionalgesellschaften hunderte von Telekom-Mitarbeitern übernehmen und Miete für das Glasfasernetz
der Telekom zahlen sollen. Auch sonst
will die Telekom die Kontrolle über ihr
Kabelnetz (geschätzter Wert: bis zu 35
Milliarden Mark) möglichst behalten. In
der vergangenen Woche hatte sie verkündet, dass sie nur 35 statt 75 Prozent
ihrer Anteile an strategische Investoren
abgeben, 40 Prozent später an die Börse
bringen und die restlichen 25 Prozent
selbst behalten will. „Damit sind wir
immer auf das Wohlwollen der Telekom
angewiesen“, sagt einer der potenziellen Käufer. Das werde die Kaufgebote
deutlich drücken.
Geld
Quelle: Datastream
Aktienindizes in Europa
5000
5800
Frankreich
CAC 40
4100
Deutschland
Dax
7400
Europa
DJ Euro Stoxx 50
6700
Schweiz
SMI
Großbritannien
FTSE 100
4000
5600
6500
7200
3900
4800
5400
3800
5200
6300
7000
4600
6100
3700
6800
4400
3600
5000
4200
Juni
Nov.
5900
Juni
AKTIENMÄRKTE
Beginn einer Rallye?
D
ie europäischen Börsen im Höhenflug: Seit Ende Oktober legte der
Dax um zehn Prozent zu, aber auch der
französische Index CAC 40, der englische FTSE sowie der schweizerische
SMI und der Dow Jones Euro-Stoxx
stiegen um rund neun Prozent. Deutsche Analysten halten den Trend für
nachhaltig. Zwar könne es bis zum Jah-
Nov.
Juni
Nov.
Juni
resende noch Kurskorrekturen geben.
Die aber sollten Anleger zum Einstieg
nutzen, raten beispielsweise Experten
der WestLB Panmure in ihrer jüngsten
Studie über eine „Pan-Europäische Aktienstrategie“. Auch für Harald Schmidlin von der Commerzbank zeigen die
Indikatoren nach oben. „Der überzogene Anstieg der Rentenmarktzinsen
scheint gestoppt“, so Schmidlin, „und
im kommenden Jahr werden sich die
weltwirtschaftlichen Wachstumsraten
synchronisieren und beschleunigen.
Nov.
Juni
Hinzu kommen Gewinnsteigerungen
der Unternehmen im zweistelligen Bereich.“ Für den Analysten ist der momentane Aufschwung an den Börsen
bereits der Beginn einer Jahr-2000-Rallye – die aber von einigen Risiken begleitet werde. Nach wie vor bleibt etwa
das Risiko dramatischer Computer-Abstürze zur Jahrtausendwende. Aber
auch eine veränderte Politik des IWF
gegenüber Russland könnte das ehemalige Weltreich in eine Krise stürzen und
damit den Finanzmärkten schaden.
LEBENSVERSICHERUNGEN
WERBE-AKTIEN
Schlechte Anlage
Gewinn mit Reklame-Papieren
B
ei Versicherungsvertretern laufen die Geschäfte so
gut wie selten zuvor: Von nächstem Jahr an sollen
die Erträge von Lebensversicherungen steuerpflichtig
werden, wer aber zuvor einen Vertrag (Mindestlaufzeit
zwölf Jahre) abschließt, braucht später die Zinsen nicht
zu versteuern. Doch auch eine Lebensversicherung mit
steuerfreien Erträgen bleibt zumeist eine schlechte Kapitalanlage. Zur Absicherung von Familienangehörigen
empfehlen Experten eine preisgünstigere Risiko-Lebensversicherung, die nur im Todesfall zahlt. Zur Altersvorsorge sollte der
3500
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1999
Zuwachsraten.
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Nov.
Jan.
Nov.
Jan.
Nov.
Auch Omnicom
(mit den Tochteragenturen BBDO und DDB) in New York zog kräftig an. Die
Großagenturen profitieren von der guten Konjunktur insbesondere
in den USA, auf die allein fast 40 Prozent des internationalen Werbebudgets entfallen. Die Aussichten bleiben günstig: In diesem Jahr
sollen die weltweiten Werbeausgaben um rund vier Prozent und im
Jahr 2000, so eine optimistische Prognose der Agentur McCannErickson, um fast sieben Prozent steigen. Zudem bringt auch die
Globalisierung mit zahlreichen Fusionen und Firmenübernahmen
den Werbern Vorteile. Davon profitieren in erster Linie die internationalen Agenturen. In Deutschland hingegen halten sich die Kreativschmieden noch von der Börse zurück. Preisgekrönte und hoch
profitable Agenturen wie Jung von Matt oder Springer & Jacoby
kassieren ihre Gewinne lieber allein.
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117
Wirtschaft
T E L E KO M M U N I K AT I O N
Vom Jäger zum Gejagten
B. CORR / FINANCIAL TIMES
Der Mobilfunkkonzern Vodafone plant eine feindliche Übernahme von Mannesmann, und selbst
die Deutsche Telekom kann vor Aufkäufern nicht sicher sein: In der Welt der globalen
Telefonkonzerne werden die Fusionen immer gigantischer – und die Methoden immer brutaler.
Vodafone-Chef Gent: „Dann schnappen wir zu“
R
on Sommer setzte sein breitestes
Lächeln auf, dann stichelte er los:
„Wenn ich der Chef von Vodafone
wäre“, ließ der Telekom-Chef seinen Erzkonkurrenten Klaus Esser im noblen Berliner Hotel Adlon vor rund 200 geladenen
Gästen wissen, „würde ich Ihnen in den
nächsten Tagen einen Besuch abstatten und
neben einem Strauß Blumen auch ein
dickes Scheckbuch mitbringen.“
Der nicht ganz ernst gemeinte Seitenhieb, den Sommer vor knapp vier Wochen
auf der Geburtstagsparty der Mannesmann-Handy-Tochter D2 austeilte, ist inzwischen fast Realität geworden. Fieberhaft bereitet sich Mannesmann-Chef Esser
mit wenigen Vertrauten in der Zentrale des
Düsseldorfer Traditionskonzerns auf eine
Attacke des englisch-amerikanischen Mobilfunkgiganten Vodafone Airtouch vor.
Zwar liegt den Mannesmann-Aktionären
bisher noch kein offizielles Angebot zum
Tausch ihrer Papiere vor. Und auch Chris
Gent, Chef des aggressiven angloamerikanischen Handy-Riesen, hat noch keinen
persönlichen Besuchstermin vereinbart,
um dem Vorstand Blumen und Scheck zu
überreichen. Dass seine Truppen aber bereitstehen, den ehemaligen Verbündeten
zu schlucken, daran ließ der englische Ma-
118
nager vergangene Woche bei einem Essen
mit europäischen Telekommunikationsmanagern keinen Zweifel aufkommen.
Wenn die Gelegenheit halbwegs günstig
ist, so der Vodafone-Chef im vertrauten
Kreis, „dann schnappen wir zu“.
Hatten Esser und seine Kollegen solche
Äußerungen noch vor zwei Wochen als
„taktisches Geplänkel“ abgetan, so ist die
Ernsthaftigkeit der Übernahmepläne inzwischen auch bei ihnen zur Gewissheit
geworden. Die Stimmung in der über hundert Jahre alten Mannesmann-Zentrale
nahe der Düsseldorfer Altstadt ist gespannt
wie nie zuvor.
Fast täglich gehen dort neue Hiobsbotschaften aus London ein, enthüllen deutsche und englische Wirtschaftszeitungen
Details des geplanten Vodafone-Coups. In
London und Frankfurt, so heißt es, seien
große Anwaltskanzleien bereits damit
beschäftigt, die Übernahmeverträge auszuarbeiten. Danach ist Gent bereit, die
Rekordsumme von 140 Milliarden bis
190 Milliarden Mark für die Übernahme
von Mannesmann zu bezahlen.
Gent kommt wahrscheinlich nicht allein,
sondern hat sich France Télécom als Partner für die bevorstehende Übernahmeschlacht gesichert. Die Franzosen wollen
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Gent nach dem Sieg einige MannesmannTöchter wie die deutsche Festnetzgesellschaft Arcor oder das britische Mobilfunkunternehmen Orange abnehmen, da
die in den Plänen von Vodafone keine Rolle spielen.
Sollte der Deal tatsächlich klappen, würde erstmals in der Geschichte der deutschen Wirtschaft ein Großkonzern durch
eine feindliche Übernahme in ausländische
Hände fallen. Und das Opfer wäre ausgerechnet das Unternehmen, das sich in den
vergangenen Jahren zu einem der wenigen deutschen Vorzeigekonzerne und zum
Börsenliebling gemausert hatte.
Die Übernahme- und Fusionswelle im
internationalen Telekommunikationsmarkt
nimmt immer groteskere Formen an: Kein
Unternehmen, und sei es noch so gesund,
ist vor den Attacken der Konkurrenten sicher. Wer heute noch Jäger ist, wird morgen zum Gejagten. Am Ende wird wohl
nur eine Hand voll so genannter Global
Player übrig bleiben.
Längst sind die Preise für Übernahmekandidaten in astronomische Höhen gestiegen, die mit rationalen betriebswirtschaftlichen Kriterien nicht mehr zu
rechtfertigen sind: Es geht um die Macht
in der Schlüsselbranche des Informationszeitalters.
Weltweit fallen Preise und Telefongebühren und damit auch die Gewinnmargen
der Konzerne. Gleichzeitig aber steigen die
Möglichkeiten, jedem Kunden neue, profitable Leistungen zu verkaufen – über das
Internet und über das Handy. Dann, so hoffen die Telefonkonzerne, werden sich auch
die strategischen Preise für die Übernahmen von heute rechnen.
Von dieser Entwicklung konnte der
Mannesmann-Konzern nichts ahnen, als er
vor zehn Jahren als erstes Privatunternehmen in Deutschland die Lizenz für ein Mobilfunknetz-Netz bekam. Mit einem kleinen Team versuchte er, dem vormaligen
Monopolisten Telekom Konkurrenz zu machen. Mit Erfolg: Das Mannesmann-D2
hängte die Konkurrenz von D1 ab.
Seither wurde der ehemalige Röhrenkonzern mit Milliardeneinsatz zum florierenden Telefonkonzern umgebaut. Erst in
der vergangenen Woche konnte Esser neue
Rekordzahlen melden. Der Umsatz in der
Telefonsparte, so der Vorstand, sei von Ja-
Alte und neue Sparten
+15%
Unternehmensbereiche bei Mannesmann 1998
+10%
+5%
MASCHINENBAU
12,9
Mannesmann
0
Veränderung gegenüber dem Vorjahr
– 20 %
seit dem 12. Oktober
–5%
AUTOMOBILTECHNIK
10,7
+ 29 %
TELEKOMMUNIKATION
9,1
–10%
Vodafone
+34 %
Okt.
Nov.
RÖHREN
4,6
998 rund
Erzielte 1 s Konzern80 % dsevon 1,23
gewinn Mark
Milliarden
45 500
–32 %
14 100
12 200
Beschäftigte
Beschäftigte
42 850 Beschäftigte
nuar bis September auf 11,3 Milliarden
Mark gestiegen – ein Sprung um mehr als
70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Der Mannesmann-Chef setzt voll auf die
Wachstumsbranche Telekommunikation.
Nicht nur in Deutschland, sondern „in
ganz Europa“, so Essers Ziel, solle Mannesmann zu einem „führenden Anbieter
von Telekommunikationsdienstleistungen“
werden.
Entsprechend legte der frühere Finanzvorstand los: Im Februar sicherte er sich für
rund 15 Milliarden Mark eine Beteiligung
an dem boomenden italienischen HandyUnternehmen Omnitel und der Festnetzgesellschaft Infostrada. Wenige Wochen
später übernahm er von den im Kommunikationsgeschäft glücklosen Energiekonzernen RWE und Veba deren Telefontochter Otelo für gut 2,25 Milliarden Mark.
Die Einkaufspolitik wurde von Analysten und Anlegern belohnt. Der Kurs der
Mannesmann-Aktie stieg – genauso wie
die Begehrlichkeiten der wirklich großen
Player auf dem internationalen Telekommunikationsmarkt. Besonders VodafoneChef Gent hat seit langem ein Auge auf
die Handy-Aktivitäten von Mannesmann
geworfen.
Der Engländer hat großen Ehrgeiz und
strebt eine weltweit dominierende Stellung im Mobilfunk an. Seinen bisher größten Erfolg landete er im Januar dieses Jahres. Da nämlich schluckte der Firmenchef,
der Vodafone durch geschickte Zukäufe
zahlreicher Beteiligungen an jungen Mobilfunkfirmen bereits zum bedeutendsten
europäischen Handy-Konzern ausgebaut
hatte, auch noch das US-Unternehmen
Airtouch.
Damit hatte Gent nicht nur die globale Spitzenposition der Mobilfunkbranche
erreicht (rund 29 Millionen Kunden).
Gleichzeitig bekam er einen Fuß in die
Tür von Mannesmann. Denn die US-Firma
Airtouch war von Anfang an als Partner
von Mannesmann beim Aufbau der wichtigsten Mobilfunktöchter D2 und Omnitel
beteiligt.
Die Rolle des Junior-Partners (35 Prozent an D2) bei Mannesmann reicht Gent
aber nicht. Schon früh machte er den Deutschen durch dezente Andeutungen klar,
dass Vodafone Airtouch gewillt sei, seine
Anteile langfristig aufzustocken – notfalls
Düsseldorfer Mannesmann-Zentrale, Chef Esser
Hektische Abwehrreaktionen
FOTOS: S. WIELAND / LAIF (gr.); VARIO-PRESS ( kl.)
Umsatz in
Milliarden
Mark
Kursentwicklung
Wirtschaft
Telekom-Chef Sommer
„Blumen und ein dickes Scheckbuch“
Ärmel zaubert, ein Unternehmen also, das
mit dem Düsseldorfer Konzern fusioniert,
um eine feindliche Übernahme durch
Vodafone Airtouch zu verhindern.
Aber selbst wenn es Mannesmann gelingen sollte, die Attacken vorerst abzuwehren, ist die Gefahr damit nicht gebannt.
Globale Talkshow
Die großen Konzerne in der Telekommunikation...
...und im Bereich Mobilfunk
Umsatz 1998 in
Milliarden Dollar
NTT
Bell Atlantic/GTE*
AT&T
MCI-Worldcom/Sprint
SBC/Ameritech*
Deutsche Telekom
British Telecom
France Télécom
Telecom Italia
China Telecom
*Zusammenschluss
81,6
57,0
53,2
47,6
45,9
41,8
29,4
28,8
27,5
24,1
120
Mobilfunk-Teilnehmer
in Millionen
Vodafone AirTouch
NTT DoCoMo
China Telecom
Telecom Italia Mobile
BellSouth
SBC/Ameritech*
AT&T
Bell Atlantic
Mannesmann Mobilfunk
T-Mobil Deutsche Telekom
weltweit
29,0
26,3
23,6
15,1
10,3
10,1
10,1
9,9
8,1
7,7
geplant
setzliche Hürden wie die Mitbestimmung
der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat und
eine Beschränkung des Stimmrechts für
Einzelaktionäre von fünf Prozent überwinden.
Ausgeschlossen ist in dem MilliardenPoker nichts. Auch nicht, dass sich Esser in
letzter Minute mit dem Angreifer einigt
oder sogar einen „weißen Ritter“ aus dem
internationales Geschäft zu verstärken.
Da die Claims auf dem amerikanischen Markt durch MegaDeals wie den Zusammenschluss
von AT&T und Media One
oder der Fusion von Sprint und
Worldcom bereits weitgehend
abgesteckt sind, konzentrieren
sich die Telefongiganten zunehmend auf den europäischen
Markt, in dem Deutschland eine wichtige Schlüsselposition
einnimmt.
Fast im Monatsrhythmus werden neue Fusions- und Übernahmepläne geschmiedet, wechseln
junge Telefonunternehmen wie
die deutsche Mobilfunk-Firma
E-Plus zu Fabelpreisen ihre Besitzer. Erst in der vergangenen
Woche bot beispielsweise BT den
Managern der geplanten Stromallianz Veba/Viag an, deren Anteil am dritten deutschen Mobilfunkbetreiber Viag Interkom zu
übernehmen. Für die restlichen
55 Prozent des Unternehmens, an
dem die Briten seit 1995 bereits
mit 45 Prozent beteiligt sind,
würden sie rund fünf Milliarden
Pfund zahlen.
Selbst Ron Sommer, der noch in Berlin
über seinen Konkurrenten Esser spöttelte,
könnte mit seiner immerhin größten Telefongesellschaft Europas schon bald ein
Opfer der globalen Übernahmeschlachten werden.
Bisher brauchte sich der ehemalige
Sony-Manager über feindliche Übernahmeversuche keine Sorgen zu machen, weil
der Bund den Großteil seiner Aktien hält.
Doch im Mai nächsten Jahres wird sich
diese Situation schlagartig ändern. Dann
kann Finanzminister Hans Eichel ein rund
22 Prozent großes Aktienpaket mit einem
Wert von derzeit über 60 Milliarden Mark
an die Börse bringen, das bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau geparkt ist.
Schon haben sich erste ausländische Interessenten gemeldet, die bereit sind, dem
Finanzminister das Aktienpaket mit einem
kräftigen Aufschlag abzukaufen. Eichel
könnte das Geld gut gebrauchen. Für Sommer wäre der Verkauf an einen ausländischen Konkurrenten dagegen ein harter
Schlag. „Für die Telekom“, sagte er vor
wenigen Tagen im kleinen Kreis, könnte
es dann „richtig eng werden“.
Eine Hoffnung bleibt dem Telekom-Chef
jedoch noch, den Ausverkauf abzuwenden.
Die Privatisierer der Bundesregierung arbeiten auch an einer Alternative, bei der
das Paket an ein deutsches Konsortium
geht, das sich im Gegenzug verpflichtet,
die Aktien über mehrere Jahre zu halten.
Als heißeste Kandidaten gelten die Allianz
und die Deutsche Bank.
W. v. BRAUCHITSCH
auch über den Weg einer Übernahme des
gesamten Mannesmann-Konzerns.
Doch auf die Offerten des mächtigen
Engländers ging Esser nicht ein. Er entschloss sich zum Gegenschlag. Vor gut drei
Wochen verkündete er, dass Mannesmann
den drittgrößten britischen Mobilfunkbetreiber Orange für den Rekordpreis von
über 60 Milliarden Mark erwerben wolle
(SPIEGEL 43/1999).
Die „vergiftete Pille“, wie Analysten
solche Abwehrmaßnahmen nennen, mit
denen der Preis für einen Angreifer hochgetrieben wird, könnte für Esser nun selbst
zu einer Gefahr werden. Der VodafoneChef empfindet den Mannesmann-Vorstoß
auf die britische Insel als Angriff auf
seinen Heimatmarkt und sinnt seitdem
auf Rache.
Noch ist völlig offen, ob Gent dabei so
weit geht, in den nächsten Tagen tatsächlich
ein Übernahmeangebot zu unterbreiten,
wie es die meisten Experten erwarten. Es
habe, hieß es vergangenen Freitag in London, noch keine Entscheidung für irgendeine Option gegeben. Und das hat gute
Gründe: Denn selbst für das teuerste Mobilfunkunternehmen der Welt (Börsenwert:
rund 285 Milliarden Mark) wäre Mannesmann ein schwerer Brocken.
So stieg der Kurs der Mannesmann-Aktie in den vergangenen Tagen durch die
Übernahmegerüchte um mehr als 28 Prozent auf über 360 Mark an. Um den verwöhnten Aktionären einen Verkauf ihrer
Papiere schmackhaft zu machen, müsste
Gent damit schon einen Preis von deutlich
über 180 Milliarden Mark bieten. Außerdem müsste er viele technische und ge-
Denn nicht nur Gent wird dann auf jeden
Ausrutscher Essers lauern, um zu einem
deutlich niedrigeren Kurs doch noch bei
Mannesmann einzusteigen.
Auch zahlreiche US-Telefongiganten wie
MCI-Worldcom, AT&T, SBC oder europäische Ex-Monopolisten wie die spanische Telefónica und die englische BT stehen bereit, um durch gezielte Zukäufe ihr
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Frank Dohmen, Klaus-Peter Kerbusk
Echter
Weltbürger
Seit Wochen wirbt Bundesfinanzminister Eichel bei seinen
Kollegen für die Wahl eines
Deutschen an die Spitze
des IWF – mit Aussicht auf Erfolg.
A
F. OSSENBRINK
M. SIMON / SABA
m Montag dieser Woche führt
Bundesfinanzminister Hans Eichel
(SPD) im hessischen Städtchen
Hattersheim ein Bewerbungsgespräch in
fremder Sache. Beim 25. Deutsch-Französischen Finanz- und Wirtschaftsrat will Eichel seinen neuen französischen Amtskollegen Christian Sautter davon überzeugen,
dass es für den Chefsessel des Internationalen Währungsfonds (IWF) nur einen
überzeugenden Kandidaten gibt: Eichels
Staatssekretär Caio Koch-Weser.
Die angeschlagene Berliner Koalition,
der zu Hause nichts so recht gelingen will,
braucht einen Erfolg auf internationalem
Parkett. Unterstützung erhält sie dabei von
der Bundesbank: „Koch-Weser hat eine
hervorragende internationale Reputation,
hat hervorragende internationale Erfahrung“, macht Bundesbank-Vize Jürgen
Stark Reklame für den Spitzenbeamten.
Nach dem keineswegs überraschenden
Rücktritt des bisherigen IWF-Direktors Michel Camdessus stehen die Chancen tatsächlich so gut wie nie, dass zum ersten
Mal ein Deutscher an die Spitze der wichtigsten internationalen Finanzinstitution
rückt. Traditionsgemäß steht der Chefposten einem Europäer zu. Bislang kamen
schon Belgier, Schweden, Niederländer
und dreimal die Franzosen zum Zuge, die
Deutschen gingen immer leer aus.
Das soll nicht wieder passieren. Seit Wochen antichambriert Eichel bei den europäischen Kollegen für seinen Staatsse-
Kandidat Koch-Weser
Sechs Sprachen und zwei Pässe
plantage auf. Koch-Wesers Großvater Erich
war einer der führenden liberalen Politiker
in der Weimarer Republik, vor den Nazis
floh er 1933 mit der ganzen Familie nach
Brasilien.
Abitur und Studium der Volkswirtschaft
absolvierte Caio Koch-Weser, der einen
deutschen und einen brasilianischen Pass
besitzt, in Deutschland. Karriere machte
er in Washington bei der Weltbank. Dort
fing er 1973 als Trainee an und stieg bis
zum Mitglied des Vorstands auf. Im Frühjahr berief ihn Eichel zu seinem Staatssekretär für Internationales.
Seine in 25 Jahren bei
einer internationalen Institution erworbene diplomatische Unverbindlichkeit
wurde Koch-Weser im Finanzministerium zuweilen
als Entscheidungsschwäche
ausgelegt. „Deutschland bezieht in vielen Fragen nicht
mehr eindeutige Positionen“, klagten Ministeriale
mehrmals. Immerhin gelang
es Koch-Weser aber unspektakulär, das durch das
Wirken seines Vorgängers
Heiner Flassbeck angeschlagene Image Deutschlands in der internationalen Finanzwelt wieder herzustellen.
Koch-Wesers Vergangenheit als Entwicklungspolitiker dürfte dem angestrebten Job nicht im Wege
stehen, im Gegenteil. Früher galt eine klare Rollenverteilung zwischen Weltbank und IWF. Die Weltbank war für die Wohltaten
zuständig, sie verteilte Entwicklungshilfe in den armen Ländern. Der IWF dagegen gab Geld nur gegen
Wirtschaftsreformen, und
die fielen meist schmerzhaft aus.
Seit dem Sommer gilt
diese Linie nicht mehr. Der
IWF-Zentrale in Washington: Korrektur am Image
ungeliebte IWF will sich,
Zudem wollen die Franzosen Koch- vor allem auf Betreiben des britischen
Weser unterstützen, um den Engländer Schatzkanzlers Gordon Brown, eine ImageAndrew Crockett, Chef der Bank für In- korrektur verpassen und sich künftig auch
ternationalen Zahlungsausgleich, zu ver- stärker auf die Entwicklungshilfe konzenhindern. Der erfahrene Technokrat gilt den trieren. Diesen Politikwechsel könnte KochFranzosen als zu amerikafreundlich. „Wir Weser gut verkörpern.
Deshalb dürfte seine Nominierung, so
wollen einen Europäer an der Spitze des
IWF“, signalisierten sie Eichels Beamten. hofft Eichel, auch nicht an den Briten
Dabei lässt sich die Biografie Koch-We- scheitern. Die Amerikaner, denen als
sers nicht auf einen einzigen Erdteil be- größter Anteilseigner des IWF eine Art
grenzen. Der Staatssekretär ist ein echter Veto-Recht zusteht, haben ebenfalls nichts
Weltbürger, in sechs Sprachen, darunter gegen den Deutschen einzuwenden. Die
Chinesisch, kann er sich verständlich ma- Beamten im amerikanischen Finanzmichen. Geboren wurde der Spross einer nisterium kennen den Finanzfachmann
deutschen Emigrantenfamilie 1944 in Bra- seit 25 Jahren – und halten ihn für einen
silien und wuchs dort auf einer Kaffee- Brasilianer.
Christian Reiermann
kretär. Die Italiener haben Unterstützung
zugesagt. Sie versprachen, auf einen eigenen Kandidaten zu verzichten, wenn die
Deutschen den wichtigen Posten wollten.
Auch Sautters Vorgänger Dominique
Strauss-Kahn hatte der deutsche Finanzminister schon auf seine Seite gezogen.
Vom Neuling erwarten Eichels Gehilfen
nun ebenfalls keinen ernsten Widerstand.
Die in Personalfragen traditionell zum Egoismus neigenden Franzosen haben erkannt,
dass sie den IWF-Chefposten nach jahrzehntelanger Vorherrschaft nicht noch einmal für sich beanspruchen können.
WÄ H R U N G S F O N D S
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121
Wirtschaft
Unternehmen, beim E-Commerce ähnlich
rabiat vorzugehen wie in der VergangenS O F T WA R E
heit etwa gegen den Newcomer Netscape.
Unter den strengen Augen des Gerichts
löste Microsoft viele der so genannten Exklusiv-Verträge mit PC-Herstellern. Die
Idee eines freien E-Mail-Zugangs starb still
leise, Zugang zu Audiosoftware wurNach dem Richterspruch gegen Microsoft schien eine Einigung und
de nicht mehr an Bedingungen geknüpft.
im Kartellverfahren gegen den Konzern greifbar nahe.
Der überraschend scharfe Richterspruch
Doch Bill Gates setzt auf Zeit, er hofft auf die Hilfe der Politik. erschütterte Gates allerdings nur kurz.
Zwar bekundete er in einer ersten Stelit dem Verlieren tat sich Bill Gates Leute veränderten eigenmächtig die vom lungnahme hastig den Willen zur schnellen
als Kind schon schwer. Wenn die Konkurrenten Sun entwickelte Internet- Einigung. Doch als in den Tagen darauf der
Kurs der Microsoft-Aktie gegen alle ErFamilie ein Spiel spielte, kämpfte Programmiersprache Java.
Wird Gates nun gezwungen, den gehei- wartungen nicht abstürzte, war Gates
er immer am verbissensten. „Er nahm das
sehr ernst“, erinnert sich sein Vater. „Ge- men „Windows“-Code offen zu legen? schnell wieder der Alte.
Hartleibig wie eh und je präsentierte
winnen war ihm wichtig.“ Wenn es ums Oder wird der Software-Monopolist gar –
Siegen ging, kannte Bill keine Verwandten. wie in der Vergangenheit Standard Oil und sich der Software-Zar am Mittwoch auf
Dieser Charakterzug hat aus Bill Gates AT&T – zerschlagen? Alles ist möglich, der Microsoft-Hauptversammlung. Zwar
den erfolgreichsten Unternehmer des Jahr- wenn Richter Jackson wahrscheinlich im betonte er seine Bereitschaft, der Regierung ein Stück entgegenzukommen – doch
hunderts gemacht, den reichsten Mann der März sein endgültiges Urteil verkündet.
Der Rechtsstreit hat die Macht von nur, wenn er die Richtung bestimmen darf.
Welt. Und, wie nun richterlich festgestellt
So lehnte er praktisch alle möglichen Forwurde, einen rücksichtslosen und erpres- Microsoft bereits gehörig eingeschränkt.
Die ständige Beobachtung verbot es dem derungen der Regierung ab: Weder würde
serischen Monopolisten.
Microsoft eine Einschränkung in der Gestaltung
Computerbranche fest im Griff
der Software hinnehmen
noch ein Verbot, InternetMicrosoft-Produkte
Ausstattungen einzufügen.
mit dominanter
„Wenn wir die Präsentation
Marktstellung
MarktUmsatz
von ‚Windows‘ auf dem
anteil
in Millionen
Dollar
Schirm nicht definieren
PC-Betriebssysteme
können, wenn nicht alle
‚Windows‘-Maschinen gleich
Windows
90 % 3605
95/98
19747 funktionieren, dann wird
die Marke ‚Windows‘ absolut bedeutungslos.“
Server-Betriebssysteme
Gates spielt offenbar auf
Zeit. Jahre können vergeWindows NT
55 % 2080
hen, bis die Klage in letzMicrosoft-Chef Gates
ter Instanz beim Obersten
Öffentliche Meinung unterschätzt
Gerichtshof entschieden
wird. Bis dahin ist längst
Gates’ Firma Microsoft, so befand der Büro-Software
ein Nachfolger zum inkriWashingtoner Richter Thomas Penfield
Microsoftminierten „Windows 98“
Jackson, besitze über ihr Betriebssystem
Office-Paket
93 % 4785
beinhaltet u. a.
auf dem Markt.
„Windows“ ein Monopol, das sie nutze,
Textverarbeitung,
Zudem hofft Gates auf
um Konkurrenten zu verdrängen und deTabellenkalkulation
einen Regierungswechsel.
ren Innovationen zu stoppen. 90 Prozent
Jahrzehntelang hatte der
aller PC laufen weltweit auf „Windows“.
Internet-Browser
brillante Stratege den EinJackson schloss sich damit der Meinung
Internet
fluss Washingtons und auch
an, die vom US-Justizministerium und von
64 %
Explorer
der öffentlichen Meinung
19 Staaten vertreten wird, die im Mai 1998
unterschätzt. Mehr Comden Konzern wegen wettbewerbswidrigen
für Windows7785 puterfreak als Konzernchef,
Käufer kostenlos
Verhaltens verklagt hatten – bislang die
glaubte er, ein gutes Proschwerste Niederlage in Gates’ beispiel6075
dukt und Kontrolle über
loser Karriere.
Umsatz
die Mitspieler würden reiMicrosoft hat laut Jackson den selbst
chen, um das große Wirtentwickelten Internet-Browser „Explorer“ und
schaftsspiel zu gewinnen.
einzig aus dem Grund an das Betriebs- Gewinn
Erst als das Justizmisystem „Windows“ gekoppelt, um den ab 1990
nisterium seine Firma atKonkurrenten Netscape – erfolgreich – aus in
Millionen
tackierte und niemand ihm
dem Markt zu drängen. PC-Hersteller wie Dollar
1453
zu Hilfe eilte, wurde Gates
IBM, Apple und Compaq wurden genötigt,
aktiv. Hastig korrigierte
Microsoft-Programme als Startseite auf
1186
der publikumsscheue Mann
ihre Computer zu laden. Der Prozessorsein Image, lachte vor TVHersteller Intel sah sich von der Firma aus
279
Kameras und spendete
Redmond drangsaliert, sich aus dem Soft1991
1993
1995
1997
1999
kurz vor Weihnachten verware-Markt rauszuhalten. Und Microsoft-
Das Ende eines Monopols?
FOTOS: AP
M
122
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gangenen Jahres 100 Millionen Mark für
ein Kinderimpfprojekt.
Und er organisierte den Widerstand. So
schaltete etwa das konservative Independent Institute Anzeigen, in denen sich akademische Experten für Microsofts Auffassung im Kartellverfahren aussprachen.
Kürzlich enthüllte die „New York Times“,
dass Microsoft der größte Sponsor des angeblich unabhängigen Instituts war.
Schon 1998 hatte Gates die Ausgaben für
Lobbyarbeit auf 3,7 Millionen Dollar verdoppelt. In den ersten neun Monaten 1999
flossen weitere 800 000 Dollar aus der Software-Firma in die Politik – fast sechsmal so
viel wie im gleichen Zeitraum vor der letzten Wahl, meldet das unabhängige Center
for Responsive Politics. Allein 331 000
Dollar gingen an die Parteien, vorwiegend
an die Republikaner.
Schließlich sandte der 44-jährige Software-Magnat ein Heer von Lobbyisten
nach Washington, um Stimmen zu sammeln für eine Kürzung des KartellamtsEtats. Ein großer Fauxpas: Racheakte
Richter Jackson (r.)
Überraschend scharfes Urteil
während eines laufenden Verfahrens sind
verpönt. Gates’ Vorstoß wurde als Attacke
auf die Unabhängigkeit der Justiz gewertet.
Jack Krumholtz, verantwortlicher Microsoft-Mann für Regierungsangelegenheiten,
hält es dennoch für schlau, wie seine Firma „mit diesem Washington“ umspringt.
Sein Indiz: Kaum hatte Richter Jackson
seine Beurteilung abgegeben, meldeten
sich etwa 30 wütende Abgeordnete zu
Wort und traten für Microsoft ein. Solcher
Gegenwind soll die Regierungsanwälte entmutigen, allzu aggressive Sanktionen gegen
das Software-Haus zu verlangen.
Die Staatsanwälte reagierten empfindlich auf Gates’ Lobbyaktivitäten. „Wenn
Microsoft denkt, dass sie im Kongress gewinnen, was sie vor Gericht nicht gewinnen können, liegen sie bemitleidenswert
falsch“, sagt der Justizminister von Iowa,
Tom Miller. Selbst wenn eine neue Regierung den Fall begraben wollte, würden die
Staaten weiter klagen. „Wir werden nicht
aufgeben“, kündigte Miller an.
Noch ist offen, wer das Spiel am Ende
gewinnt.
Michaela Schießl
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Wirtschaft
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Wir sind mitten in einem Sturm“
Philips-Chef Cor Boonstra über die Probleme beim Umbau des
niederländischen Traditionskonzerns und die Zukunft der Unterhaltungselektronik
SPIEGEL: Vielleicht liegt es ja auch am
Image. Insbesondere unter jüngeren Leuten gilt Philips, im Gegensatz etwa zu Sony,
als ziemlich langweilige Firma. Empfinden
Sie das als ein Handicap?
Boonstra: Ja, aber dieses Handicap schwindet. In Amerika zum Beispiel machen wir
gewaltige Fortschritte durch eine sehr aggressive Werbestrategie, durch bessere Produkte und moderneres Design. Ein Imagewandel ist jedoch eine langfristige Aufgabe. Deshalb sage ich: Wir marschieren in
die richtige Richtung, aber unser Ziel werden wir wohl erst in fünf Jahren erreichen.
SPIEGEL: Viele Investoren haben offensichtlich ebenfalls Vorbehalte. Obwohl
zahlreiche Analysten die Philips-Aktie zum
Kauf empfehlen, ist die Kursentwicklung
längst nicht so gut wie bei anderen Hightech-Firmen. Was ist der Grund dafür?
Boonstra: Das liegt daran, dass wir von den
Börsianern nicht als reine Hightech-Fir-
Boonstra, 61, leitet seit Oktober 1996 als
erster branchenfremder Vorstandschef den
niederländischen Philips-Konzern.
re residierte Philips in Eindhoven. Nun haben Sie kurzerhand die Konzernzentrale
nach Amsterdam verlegt. Ist es so schwierig geworden, gute Manager in die verschlafene Provinzstadt zu locken?
Boonstra: Alles, was ich sage, bringt mindestens 20 000 Menschen in Eindhoven,
darunter unsere besten Forscher und Entwickler, gegen mich auf. Also muss ich mit
meiner Antwort sehr vorsichtig sein. Aber
es ist kein Geheimnis, dass vor allem gute
Marketingexperten lieber in Amsterdam
arbeiten als in Eindhoven. Außerdem haben wir über 200 000 Mitarbeiter außerhalb Hollands, und für die ist es nun mal
einfacher, nach Amsterdam zu reisen.
SPIEGEL: An der Philips-Spitze ist von dieser globalen Ausrichtung nichts zu sehen.
Unter den 13 Mitgliedern der beiden obersten Philips-Gremien befindet sich nur ein
Ausländer.
Boonstra: Das ist kein spezifisches PhilipsProblem, Siemens oder Veba stehen auch
nicht besser da. Selbst US-Firmen haben
große Schwierigkeiten, ihre Vorstände international zu besetzen. Ich bedauere es
aber sehr, dass nicht mehr Ausländer im
Philips-Vorstand sind. Nicht weil Ausländer unbedingt kompetenter sind, sondern weil sie den kulturellen Horizont
erweitern.
G. DUBBELMAN / HOLLANDSE HOOGTE
Das Gespräch führten die Redakteure Frank Dohmen und Klaus-Peter Kerbusk.
Philips-Turm in Amsterdam, Chef Boonstra
„Gemischtwarenladen aufgeräumt“
124
WOWE / AGENTUR FOCUS
SPIEGEL: Herr Boonstra, mehr als 100 Jah-
ma, sondern als ein Konglomerat angesehen werden. Weltweit gibt es außer dem
US-Konzern General Electric keine Firma
mit diesem Zuschnitt, bei der die Börse
dafür keinen Abschlag berechnet. Und im
Vergleich mit unseren direkten Konkurrenten aus Japan ist unsere Kursentwicklung der letzten fünf Jahre meist sogar
deutlich besser.
SPIEGEL: Der Hinweis auf das Konglomerat
reicht wohl kaum aus als Erklärung für die
relativ mäßige Kursentwicklung.
Boonstra: Sicher haben wir in der Vergangenheit die Anleger auch verwirrt durch
sehr unterschiedliche Finanzergebnisse
und einen Mangel an Transparenz über unsere Zukunftsstrategie. Aber das ist jetzt
vorbei. Unser Börsenwert hat sich in den
vergangenen drei Jahren verdreifacht. Wir
haben den früheren Gemischtwarenladen
gründlich aufgeräumt und unsere Kernbereiche von zwölf auf sieben reduziert, bei
Geknickte Bilanz
68,0
61,6
UMSATZ
49,6 50,7
59,7*
57,4
in Milliarden Mark
52,1 52,4
54,3
*Verkauf der Tochtergesellschaft
Polygram im Sommer 1998
GEWINN in Milliarden Mark
4,4
3,3 3,6
2,7
2,3
1,6
1,1
1,3
–2,1
MITARBEITER in Tausend
277 244 257 244 253 265 263 268 234
1990
91
92
93
94
95
96
97
98
denen wir weltweit zu den führenden Herstellern gehören.
SPIEGEL: Es hat mehr als zehn Jahre gedauert, bis Philips die heutige Form gefunden hat. Warum war es so schwierig, alte
Traditionen über Bord zu werfen und einen
neuen klaren Kurs zu finden?
Boonstra: Jede Firma mit einer mehr als
hundertjährigen Geschichte hat dieses
Problem. Denn ihre Infrastruktur basiert
auf dem ökonomischen System der fünfziger und sechziger Jahre. Philips zum Beispiel hatte Fabriken in 80 Ländern. Die
Voraussetzungen, unter denen einst die
Standorte für diese Fabriken gewählt wurden, haben sich aber in den letzten 20 oder
30 Jahren dramatisch verändert.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Boonstra: Österreich, wo wir unter anderem Videorecorder produzieren, war bis
vor wenigen Jahren ein Land mit niedrigen
Lohnkosten. Heute ist es teuer, und der
Vergleich mit einem Werk im Nachbarland
Ungarn ist wie der Unterschied zwischen
Tag und Nacht. Und solche Beispiele gibt
es dutzende. Wir waren deshalb gezwungen, den Konzern von Grund auf umzubauen, und das hat uns eine Menge Zeit
und viele Milliarden Mark an Investitionen gekostet.
SPIEGEL: Ist der Umbau nun beendet?
Boonstra: Keineswegs. Die ökonomische
Weltordnung ist ja weiterhin in Bewegung.
Wir werden auf die Herausforderungen dynamisch reagieren und zum Beispiel einfache Arbeiten aus Belgien, Deutschland,
Frankreich und Holland weiter abziehen.
Dort sind nur Produktionen mit hohen
technischen Anforderungen und gut ausgebildeten Mitarbeitern sinnvoll.
SPIEGEL: Andere europäische Unternehmen mit starken Traditionen wie Nokia
oder Mannesmann haben den Wandel viel
gend. Wir brauchen uns damit nicht einmal
hinter den Firmen aus der Computerbranche, die bis gestern als die Helden der Industrie angesehen wurden, zu verstecken.
SPIEGEL: Mit dem Verkauf des Film- und
Schallplattenkonzerns Polygram haben Sie
für großes Aufsehen gesorgt. Viele Analysten halten nach dieser überraschenden
Entscheidung sogar eine Aufteilung des
Konzerns in drei oder vier selbständige
Unternehmen für möglich. Was ist dran an
diesen Gerüchten?
Boonstra: Solche Überlegungen muss ein
Konzern mit einem so breiten Produktspektrum natürlich immer wieder anstellen. Aber konkrete Pläne gibt es im
Moment nicht, und ich persönlich bin ein
Gegner von solchen Ideen.
SPIEGEL: Durch den Verkauf von Polygram
verfügt Philips nun sogar über eine Kriegskasse von einigen Milliarden Mark. Was
werden Sie mit dem Geld machen?
Boonstra: Völlig neue Märkte wollen wir
nicht erschließen. Wir versuchen allerdings,
noch einige Firmen dazuzukaufen, um unser PortFirmenwert
600
folio, etwa in der Unter(Panasonic, Technics)
verdreifacht
haltungselektronik, abzurunden. Gleichzeitig den500
Aktienkurse der Unterhaltungselektronik;
ken wir aber auch daran,
Veränderungen seit
weitere Firmen zu verkau1.
Januar
1995
400
fen, denn wir wollen in
in Prozent
keinem Bereich tätig sein,
300
in dem wir nur eine Nebenrolle spielen.
SPIEGEL: Gehört dazu auch
200
der Mobilfunkbereich?
Boonstra: Nein. In dieser
100
Branche zählen wir zwar
noch nicht zu den führen0
den Anbietern. Aber wir
werden diesen Wachstumsmarkt, anders etwa als
– 100
Quelle: Datastream
Bosch in Deutschland, nicht
1995
1996
1997
1998
1999
aufgeben – mit oder ohne
Partner.
SPIEGEL: Als eines der Hauptprobleme von SPIEGEL: Im Mobilfunk ist Philips zwar als
Philips galt die Beamtenmentalität vieler Chiphersteller und einer der HauptliefeMitarbeiter.
ranten von Nokia und Ericsson erfolgreich.
Boonstra: Philips ist heute ein anderes Un- Der Versuch, mit eigenen Handys im booternehmen als vor zehn Jahren. Die meis- menden Mobilfunkmarkt Fuß zu fassen,
ten Manager haben erkannt, wie drama- hat Ihnen aber bislang nur herbe Verluste
tisch sich die Welt verändert hat. Sie wis- eingebracht. Wie ist diese Diskrepanz zu
sen nun: Draußen tobt ein Sturm, und wir erklären?
stehen genau in dessen Mittelpunkt.
Boonstra: Wir hatten einen ganz schlechten
SPIEGEL: Eine große Umfrage unter den Be- Start, weil wir uns zu sehr auf die Allianz
schäftigten, die Sie jetzt zum dritten Mal mit der amerikanischen Firma Lucent kondurchgeführt haben, zeigt ein anderes Bild. zentriert haben. Diese GemeinschaftsaktiIn vielen Bereichen sehen die Philips-Mit- vität war ein Fiasko, und deshalb haben
arbeiter nur wenig Fortschritte, und bei wir sie im vergangenen Jahr beendet. SeitAspekten wie „Kundenorientierung“ oder dem geht es bergauf, unser Marktanteil bei
„unternehmerisches Verhalten“ gab es GSM-Handys in Europa hat sich 1999 fast
überhaupt keine Verbesserung seit 1996. verdoppelt.
Boonstra: Es kommt immer auf den Maß- SPIEGEL: Wann wird die Handysparte endstab an. Bei einem Vergleich mit neuen Fir- lich Gewinne einbringen?
men aus der Internet-Szene stehen wir Boonstra: Ich bin optimistisch, denn die
schlechter da. Gemessen an Konzernen wie Fortschritte sind klar zu sehen. In dieSony und Matsushita, sind die Ergebnisse sem Jahr haben wir den Verlust schon
unserer Mitarbeiterbefragung hervorra- um mehr als 300 Millionen Gulden verrin-
schneller geschafft und wurden Lieblinge
der Börsianer. Warum nicht Philips?
Boonstra: Der Vergleich hinkt. Diese Firmen haben sicher eine großartige Leistung
vollbracht. Aber ihre Schwierigkeiten waren auch viel kleiner als unsere. Nehmen
Sie nur die internationale Produktionsbasis, die bei diesen Firmen viel geringer ausgeprägt war als bei uns. Aber vielleicht war
bei diesen Firmen auch der Zwang zur Veränderung stärker als bei uns.
SPIEGEL: Der aktuelle Philips-Slogan lautet: „Let’s make things better“. Was haben Sie denn besser gemacht als Ihre
Vorgänger?
Boonstra: Zunächst einmal haben sich die
finanzielle Situation und die Kostenstruktur extrem verbessert. Die Zeit zwischen
Forschung und einem marktfähigen Produkt ist kürzer geworden. Wir haben eine
Reihe erfolgreicher Produkte herausgebracht, und wir haben unsere Marktanteile im Gegensatz zu unseren japanischen
Konkurrenten ausgeweitet.
d e r
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A. TEICHMANN / PHILIPS
Wirtschaft
Bildröhrenproduktion bei Philips (in Aachen): „Renaissance der Unterhaltungselektronik“
gert. Nächstes Jahr werden wir mit Sicherheit schwarze Zahlen schreiben.
SPIEGEL: Vor zehn Jahren sah es so aus,
als würden die Riesen der japanischen
Unterhaltungselektronik die europäische
Konkurrenz überrollen. Inzwischen ist es
wieder ziemlich still geworden. Ist die
japanische Gefahr vorbei?
Boonstra: Unterschätze niemals deine Konkurrenten, wenn sie still sind. Das gilt ganz
besonders für die Japaner, die immer noch
sehr wettbewerbsfähig sind. Viele europäische Konzerne sind vor ihnen in die Knie
gegangen, und nur die besten haben den
ersten Angriff überstanden. Wir haben
überlebt und werden weiterhin in diesem
hart umkämpften Markt mitmischen.
SPIEGEL: Was ist für Sie so attraktiv an diesem Markt, in dem die Firmen seit Jahren
erfolglos nach einem Megaseller suchen,
wie es in den achtziger Jahren die CD war?
Boonstra: Es gab sicher einige harte Jahre,
und die Branche hat auch Irrwege gemacht.
Aber durch die Digitalisierung bekommt
die Unterhaltungselektronik in den kommenden Jahren enormen Schub. Dieser
Branche steht eine Renaissance bevor.
SPIEGEL: Auf welche Geräte setzen Sie Ihre
Hoffnungen?
Boonstra: Die DVD zum Beispiel ist ein unglaublicher Erfolg. Zwei Jahre nach ihrem
Start liegen die Verkaufszahlen schon fünfmal höher als die Zahlen im zweiten Jahr
der CD-Geschichte. Auch unsere CD-Recorder, mit denen man eigene CDs bespielen kann, laufen blendend. Wir sind
total ausverkauft. Und dann steht das Digitalfernsehen vor dem Durchbruch. Dadurch wird zunächst das Geschäft mit Settop-Boxen angekurbelt. Schließlich kommt
der Übergang von der traditionellen Bildröhre zum Matrix-Bildschirm, wie Sie ihn
vom Laptop her kennen. Auf diesem Gebiet sind wir durch unsere Beteiligung an
der koreanischen LG-Electronics weltweit
führend. Viele dieser neuen Produkte werfen noch nicht genug Profit ab, aber das
126
d e r
wird sich jetzt mit den wachsenden Stückzahlen schnell ändern.
SPIEGEL: Die jüngste Herausforderung für
Sie ist das Internet. Welche Rolle wird Philips im elektronischen Handel spielen?
Boonstra: Das Internet hat für uns vor allem
im Verkehr mit Geschäftspartnern und Lieferanten große Bedeutung. An Endkunden
werden wir vorerst nicht verkaufen, denn
dann würden wir unsere traditionellen
Handelspartner gegen uns aufbringen.
SPIEGEL: In den vergangenen drei Jahren
hat eine beachtliche Anzahl von Führungskräften das Haus verlassen, darunter auch
Ihr so genannter Kronprinz Roel Pieper.
Sind Sie ein so unbequemer Chef, oder ist
der Exodus ein Zeichen dafür, dass der interne Streit um die richtige Zukunftsstrategie noch immer nicht entschieden ist?
Boonstra: Gehen Sie mal davon aus, dass
ich ein unausstehlicher Chef bin. Doch im
Ernst: Der so genannte Kronprinz war nie
ein Kronprinz. Ich finde es zwar schade,
dass er uns verlassen hat, aber ich denke,
wir können den Verlust verschmerzen.
SPIEGEL: Wenn Sie sich selbst ein Arbeitszeugnis ausstellen müssten, wie würden
Sie Ihre Leistung der vergangenen drei
Jahre bewerten?
Boonstra: Diese Frage trifft mich nicht ganz
so überraschend, wie Sie vielleicht vermuten, denn ich habe so etwas schon mal bei
einem Manager-Treffen im Juli gemacht.
SPIEGEL: Wie lautete das Ergebnis?
Boonstra: Ich hatte damals meine Leistung
in vier Kategorien auf einer Skala von
eins bis zehn eingeschätzt. In der Rubrik
Shareholder-Value habe ich mir eine Acht
plus gegeben, für die Kundenorientierung
etwas weniger. Für die Verbesserung der
firmeninternen Abläufe stehen mir wohl
nur sechs Punkte zu. Und für die Führungsqualität habe ich aus meiner Sicht die Bewertung Sechs plus verdient. Das ist ganz
gut, aber es könnte noch besser sein.
SPIEGEL: Herr Boonstra, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
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Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
STEUERN
Montis neue Waffen
EU-Zinssteuer werde internationale Investoren auf die Bahamas treiben, ließ
Brown seine Kollegen lakonisch wissen.
Solange die EU den britischen Bankern
diese Sorge nicht nehmen könne, werde
die Regierung Ihrer Majestät sich quer legen. Die Londoner Regierung sehe zudem
keine Möglichkeit, die beiden Kanalinseln
Jersey und Guernsey, bei Steuerflüchtlingen begehrte Anlaufplätze, zur Einhaltung
von noch zu beschließenden EU-Steuerregeln zu zwingen. Jersey und Guernsey
sind politisch und in ihrer Währung Großbritannien verbunden, gehören aber nicht
der EU an.
Das war dem luxemburgischen Zwergstaaten-Premier Jean-Claude Juncker gerade recht. Er könne es nicht verantworten,
sagte er, seinen Wählern Schaden zuzufügen, indem er einer EU-Zinssteuer zustimme und die Anleger damit geradezu
auf die Kanalinseln dränge. Seine Zusage
stünde nur für den Fall, dass sämtliche
Schlupflöcher in Europa gestopft würden.
Subventionsgegner Monti
Das Übel an der Wurzel packen
machen. Belgische Steuerkonstruktionen,
Leimruten für steuerscheues Kapital,
tauchten auf dem von der Expertengruppe
erstellten Pranger unerwünschter Verhaltensweisen besonders häufig auf.
Nachdem das Königreich Belgien die
schmutzige Arbeit getan hatte, brauchten
die anderen Sünder – vor allem Niederländer und Iren, in deren Hauptstadt Dublin viele EU-Konzerne ihren steuerlichen
Sitz genommen haben – sich gar nicht
mehr als Gegner des viel gepriesenen Verhaltenskodex zu outen.
Aber Monti gibt nicht auf. Er will die
neuen Waffen, die ihm als Wettbewerbs-
DPA
THE SLIDE FILE
J
ahrelang verfolgte Mario Monti nur
ein Ziel: Spätestens auf dem Dezember-Gipfel in Helsinki sollten die
Staats- und Regierungschefs der EU europäische Mindeststeuern auf Zinsen beschließen und unfaires Steuerdumping
ächten.
Inzwischen hat der vormalige Steuerkommissar den Job gewechselt, er ist in
Brüssel jetzt für Wettbewerbsfragen zuständig. Sein Ziel aber ist dasselbe geblieben.
Montis ursprüngliches Konzept hat allerdings kaum eine Chance mehr, auch
wenn noch einige Beratungen bevorstehen.
Die zahlreichen Sünder in der Runde, keineswegs Briten und Luxemburger allein,
sind nicht bereit, nationalen Profit einem
weit weniger handfesten Gemeinschaftsnutzen zu opfern.
Dabei hatten sich die Staats- und Regierungschefs beim Gipfel in Luxemburg vor
knapp zwei Jahren grundsätzlich verschworen, mit unfairen Steuerpraktiken
REUTERS
In unfairem Steuerdumping von EU-Mitgliedern sieht
der Brüsseler Kommissar Mario Monti eine
Wettbewerbsverzerrung – nun will er es bekämpfen.
Finanzparadiese Jersey, Dublin, Luxemburg: Die Sünder sind nicht bereit, nationalen Profit dem Gemeinschaftsnutzen zu opfern
zum Nutzen aller endlich Schluss zu machen. Eine allgemeine Mindest-Quellensteuer auf Zinseinkommen solle den Drang
wohlhabender, privater Anleger in Steuerparadiese mit fiskusfestem Bankgeheimnis
stoppen. Auch der grenzüberschreitende
Fluss von Zinsen und Lizenzgebühren innerhalb eines Konzerns sollte nicht länger
durch nationalstaatliche Abschöpfungen
behindert werden.
Doch Großbritanniens Schatzkanzler
Gordon Brown scherte bereits vor Wochen
aus – und setzte damit eine Kettenreaktion
in Gang. Die Londoner City fürchte, eine
128
Junckers Intervention gab dem nächsten
Dominostein den Kick. Wenn eine europäische Zinssteuer in weite Fernen rückt,
wollen Spanier und Portugiesen den informell bereits abgehakten steuerfreien Fluss
von Zinsen und Lizenzaufwendungen zwischen europaweit operierenden Mutterund Tochterunternehmen wieder zurücknehmen.
Und schließlich ließ auch noch der belgische Finanzminister Didier Reynders
die Brüsseler Experten wissen, sein Land
werde bei dem bis dahin am wenigsten
umstrittenen Reformwerk nicht mehr mitd e r
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kommissar zur Verfügung stehen, nutzen,
um die Staats- und Regierungschefs doch
noch zu Wohlverhalten zu zwingen.
Montis Trick: Die EU-Kommission soll
Steuervergünstigungen als staatliche Beihilfen einstufen, die nach EU-Regeln
nicht erlaubt sind – sei es, weil sie wettbewerbsverzerrend wirken, sei es, weil sie
in Brüssel nicht angemeldet wurden. Dann
kann, ja muss der Kommissar diese Praktiken von Gesetzes wegen unterbinden.
Den Regierungschefs bliebe dann nichts
anderes, als zum Europäischen Gerichtshof zu laufen.
VARIO-PRESS
Doch dort sind ihre Chancen gering,
denn Montis Vorgänger Karel Van Miert
hat bereits Fakten geschaffen: Der Flame
hinterließ seinem Nachfolger eine von der
Kommission gebilligte amtliche „Mitteilung“ über die Anwendung der geltenden
Beihilfe-Vorschriften „im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung“. Darin
definieren die EU-Funktionäre, in welchen
Fällen Steuervorschriften zu unerlaubten
Beihilfen werden, ohne die Steuerhoheit
der Mitgliedstaaten zu berühren. Das ist
etwa dann der Fall, wenn eine Steuervorschrift „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige selektiv“ begünstigt.
Van Miert hat bereits für – noch nicht
rechtskräftige – Präzedenzfälle gesorgt. Im
Februar dieses Jahres untersagte die Kommission der Stadt Vitoria im Baskenland,
dem koreanischen Multi Daewoo den Bau
einer Kühlschrankfabrik mit kräftigen
Steuervorteilen zu erleichtern. Wesentliche Begründung Brüssels: Die Steuerparagrafen könnten zum Teil nur von neu gegründeten, zum Teil nur von besonders
großen Unternehmen genutzt werden. Sie
seien damit „selektiv“, verzerrten den
Wettbewerb und dürften ab sofort nicht
mehr angewendet werden.
Ende März eröffnete Van Miert das Verfahren in einem zweiten baskischen Fall.
Die Regierung der Provinz Alava hatte die
Firma Ramondín S. A. – Weltmarktführer
bei Zinnkapseln, zum Beispiel für Bierflaschen – mit Niedrigsteuerangeboten dazu
verlockt, ihren Sitz um fünf Kilometer zu
verlagern, von der Provinz Rioja in
die Nachbarregion Alava. Die Zahlung der in ein steuerliches Gewand
gekleideten Beihilfen setzte Van
Miert bis zur Entscheidung über deren Rechtmäßigkeit aus.
Warum, fragt sich nun Monti, sollte im Verhältnis etwa zwischen Belgien und Deutschland das steuerliche Abwerben von Firmen erlaubt
bleiben, wenn es spanischen Provinzen untereinander untersagt ist?
Die Beneluxstaaten hoffen, dass
ihre vielen Finanz- und Koordinationszentren, die mit Niedrigsteuern
ausländische Firmen anlocken sollen, auch dem neuen Angriff des
Kommissars standhalten werden.
Schließlich haben die EU-Wettbewerbshüter vor Jahren bereits einmal diese Konstruktion akzeptiert. Montis Leute betrachten ihre Entscheidung von damals
heute als „unrühmlichen Sündenfall“. Für
den möchten sie in einer neuen Entscheidung nur zu gern Buße tun.
Van Mierts Nachfolger Monti muss dem
Steuerdumping nicht mühevoll durch Prüfen jedes Einzelfalls zu Leibe zu rücken.
Die Beihilferegeln der Gemeinschaft geben es auch her, das Übel an der Wurzel zu
packen, den Mitgliedstaaten beihilfeverdächtige Steuerparagrafen zu verbieten.
Das war bislang nicht geschehen, weil nied e r
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mand in der Kommission genau wusste,
was in dem nationalen Paragrafengeflecht
so alles an Beihilfen verborgen war.
Auf diese Sumpfblüten hat die so genannte Primarolo-Gruppe nun die Scheinwerfer gerichtet – Monti braucht sich nur
zu bedienen.
In zweijähriger Arbeit haben Experten
aus allen Hauptstädten der Union unter
Vorsitz der britischen Staatssekretärin
Dawn Primarolo, immer wieder angetrieben von dem damaligen Steuerkommissar
Monti, untersucht, auf welch phantasievolle Weise die EU-Mitglieder versuchen,
steuerscheues Kapital anzulocken.
In vielen Ländern fanden sich zum Beispiel raffiniert geschnittene Gesetze, die
alle eines gemeinsam haben: Sie erlauben
Deutschland würde vom neuen
Monti-Kurs profitieren,
andere müssten mehr opfern
es ausländischen Firmen, ihre Finanzgeschäfte zu verlagern und dabei Steuern zu
sparen, ohne ihre tatsächlichen Aktivitäten
kostspielig vom eigentlichen Produktionsstandort verlagern zu müssen.
Auf der Basis der Primarolo-Erkenntnisse hat die Wettbewerbsbehörde inzwischen Fragebögen an die Mitgliedstaaten
verschickt. Die Prozedur soll schon bald in
Verbotsverfahren einmünden, wo immer
es die Beihilfevorschriften hergeben.
Ganz unbemerkt blieb das Manöver
nicht. In Großbritannien, wo Ex-Finanzminister Oskar Lafontaine wegen seiner
Steuerharmonisierungsideen gleich als „gefährlichster Mann Europas“ zu Ruhm kam,
beschäftigte sich bereits im Sommer ein
Unterkomitee des Oberhauses mit dem
Treiben der Primarolo-Gruppe. Den Lords
kam bereits im Juli der Gedanke, die Arbeit könne in einem den Staats- und Regierungschefs nicht genehmen Sinne
schließlich doch noch Früchte tragen.
Misstrauisch fragten die Briten deshalb
in ihrem Bericht, ob die „Verhaltens-Kodex-Gruppe“ am Ende unfaire Steuerpraktiken nur zu dem Zweck identifiziere,
„damit die Kommission diese unter Nutzung der Beihilfevorschriften angreifen“
könne.
Im Bonner Finanzministerium erkundigte sich Minister Hans Eichel bereits bei
seinen Fachleuten, ob der neue Monti-Kurs
Gefahren für die Berliner Steuerpolitik
berge. Frohgemut versicherten die Beamten, selbst wenn auch in Deutschland einige Spezialvorschriften fallen müssten, sei
das Land unterm Strich Profiteur, weil andere viel mehr opfern müssten.
Die Zuversicht ist vielleicht voreilig.
Monti hat bereits angekündigt, in engem
Kontext mit seinem Kampf gegen das Steuerdumping auch die Steuerhilfen für den
Osten der Berliner Republik noch einmal
streng zu prüfen.
Winfried Didzoleit
129
G. SCHLÄGER
Wirtschaft
Kaffee-Bar (in Hamburg): Hauch der großen, weiten Welt
MARKETING
Schwarz,
kalt und kultig
A
bgestanden, übrig geblieben, Bodensatz: Lange Zeit war kalter Kaffee das Synonym für Langeweile
und Lustlosigkeit.
Nun soll alles anders werden. Kalter Kaffee ist cool, glaubt die Industrie, der die
jungen Konsumenten abhanden kamen.
Produkte wie „K-fee“, „Mr. Brown“ oder
„Nescafé Xpress“ werden als trendy vermarktet, aus Omas Kaffee soll ein Lifestyleprodukt werden: schwarz, kalt, kultig.
Denn in Deutschland hat der gute alte
Filterkaffee ein Generationsproblem: Zwar
trinken die Deutschen im Schnitt 160 Liter
pro Jahr – mehr als Cola oder Bier. Doch
Jugendliche lassen sich kaum noch zu einem Kaffeekränzchen locken.
Bereits vor fünf Jahren gab schon fast ein
Viertel der Befragten in der Altersgruppe
von 16 bis 24 Jahren an, „nie“ oder „seltener als einmal im Monat“ Bohnenkaffee zu
trinken. Inzwischen, so das Münchner
Marktforschungsinstitut IconKids & Youth,
ist diese Zahl um über 27 Prozent auf
2,42 Millionen Abstinenzler gestiegen. Der
Grund: Jungen Leuten ist Kaffee schlicht
zu bitter. Schlimmer noch: Er steht für
130
C. SCHROTH
Die Kaffeeindustrie im
Jugendwahn: Schrill verpackt und
eiskalt serviert, soll aus dem
Traditions- ein Kultgetränk werden.
K-fee-Importeure Radtke, Sprungala
Den kalten Kaffee lieb gewonnen
„Spießertum, Konventionalität, Konformismus und Langeweile“.
So viel Konsumverweigerung ist für die
erfolgsgewohnte Kaffeeindustrie natürlich
unakzeptabel. Sie hält dagegen – mit neuen Produkten, Sponsoring-Aktionen und
Coffee-Bars. Mit Millionenaufwand soll das
Image des braunen Koffeingetränks aufpoliert werden.
Bei Nestlé heißt das Ergebnis jahrelanger Feldforschung „Nescafé Xpress“: Kalter Kaffee trinkfertig in Dosen, black wie
schwarz und white mit Milch. Eine Dose
mache so wach wie zwei Tassen starker
Kaffee, sagt der Hersteller.
Für die Markteinführung drang Nestlé
tief in die Diaspora vor und pirschte sich an
Rudel jugendlicher Kaffeeverweigerer heran. Spezielle Kühlschränke sollten zunächst in Clubs, Kinos und Plattenläden
und dann in Tankstellen die junge Szene
d e r
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erobern. Und mit dem Slogan „Kipp die
Tradition“ räumt Nestlé auch in der Werbung mit dem Tante-Frieda-Image auf.
In diesem Jahr rechnet der Konzern mit
Verkaufszahlen im zweistelligen Millionenbereich. „Im Oktober haben wir bereits dreimal so viel verkauft wie zur
gleichen Zeit im Vorjahr“, sagt Kajetan
Gressler, Xpress-Manager. Frieder Rotzoll,
Hauptgeschäftsführer des Deutschen Kaffee-Verbands, pflichtet bei: „Die Doseninvasion ist längst überfällig.“
Der coole Fertig-Kaffee ist eigentlich
eine Erfindung aus Japan. Schon seit 1972
verkauft die Firma Pokka dort kalten Kaffee in Dosen. Alle paar Meter wartet in japanischen Metropolen ein Automat und
spuckt auf Anforderung Produkte wie
„Wonda Coffee“ oder „Santa Maria“ aus.
Bei einer zweijährigen Weltumseglung
haben auch der Investmentbanker Richard
Radtke, 34, und der Unternehmensberater
Hubertus Sprungala, 35, den kalten Kaffee
lieb gewonnen und daraus eine Geschäftsidee entwickelt. Unter dem Namen „Kfee“ begannen sie im August, Kaltkaffee
der Firma Pokka nach Deutschland zu importieren. K-fee sei „frisch“ gebrüht und
„das Original“, protzt das K-fee-Etikett.
Daran störte sich Nestlé und funkte dazwischen. Mit einer einstweiligen Verfügung ist der Vertrieb der Newcomer ab
Ende Januar 2000 lahm gelegt: Das Versprechen, K-fee sei „frisch“ gebrüht, führe den Verbraucher in die Irre. Außerdem
sei K-fee nicht „das Original“, sagt Nestlé.
Wie der Kaffee-Kosmos für junge Menschen im Idealfall aussehen soll, hat eine
Studie von IconKids & Youth definiert: Für
einen Bohnen-Boom bei Jugendlichen sollte „eine eigene, junge Kaffeewelt mit jungen Produkten geschaffen werden“.
Die Kaffeeindustrie gibt ihr Bestes: Tchibo veranstaltet für das Produkt „Gran
Cafe“ Kino-Partys mit Filmstar Hugh
Grant in neun deutschen Großstädten.
Nescafé lässt das „Café Mobil“ touren: Mit
dreirädrigen Kaffee-Bars, auf Basis einer
italienischen Piaggio Vespa konstruiert,
kommt Kaffee zu Partys und Konzerten.
Auch stationär soll Kaffee vermehrt
unters Jungvolk gebracht werden. CoffeeShops gelten als urban, schnell und weltoffen. Sie bringen einen Hauch der großen, weiten Welt – auch nach Münster und
Bad Oldesloe. Tchibo hat sein „Aroma
House“, Nestlé das „Café Nescafé“, hinzu
kommen Ketten wie die „World CoffeeShops“, von denen es in Deutschland bereits 16 Filialen gibt. Wenn es nach dem
Gründer Roman Koidl geht, sind es in vier
Jahren 235 Läden.
Die Coffee-Shops werden der deutschen
Kaffeekultur nicht helfen, meint dagegen
der Frankfurter Doktorand Peter de Vries,
24, ein gebürtiger Niederländer – zu viel
Milch, zu wenig Kaffee: „Deutsche sind
Weicheier. Sie tun alles, um den Kaffeegeschmack loszuwerden.“ Karen Naundorf
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Medien
Trends
S
SPRINGER
J. DIETRICH / NETZHAUT
Larass kommt
Fischer, Larass
TV-Journalistin Anne Will, 33, über
ihren Job als erste Moderatorin der
ARD-„Sportschau“
SPIEGEL: Sie schleifen die letzte Män-
nerbastion im deutschen Fernsehen –
Glückwunsch.
Will: Mir schwant erst allmählich, dass
das womöglich etwas Besonderes
ist. Jedenfalls fühle ich mich sehr geehrt.
SPIEGEL: Warum entdeckt die ARD erst
jetzt die Frauenquote?
Will: Weil es zu oft hieß, das hat der
Kollege XY schon seit hundert Jahren
gemacht. Da werden nun alte
Pfründen aufgebrochen.
SPIEGEL: Sportchef Heribert Faßbender sagte, Sie seien begabt,
hübsch und intelligent. Hätte begabt und intelligent nicht gereicht?
Will: Wahrscheinlich nicht. Da
habe ich aber kein Problem mit –
solange es nicht wie bei den Privaten zugeht, bei denen jedem,
der gut aussieht, ein prima Text
auf den Teleprompter geschrieben wird. Wir arbeiten ohne –
und deswegen ist es gut, wenn
man nicht nur hübsch ist.
SPIEGEL: Was reizt Sie an der
„Sportschau“?
Will
G A M E S H OW S
tungsrechte für die Bundesliga hat sie
nach wie vor starke Beiträge. Wenn
man als Reporter aufgefordert ist, für
die „Sportschau“ einen Beitrag zu machen, gibt man sich besonders viel
Mühe. Das sieht man der Sendung an.
SPIEGEL: Die Journalistin Carmen Thomas ging in die Fernseh-Geschichte ein,
weil sie als Moderatorin des „Aktuellen
Sportstudios“ Schalke o5 sagte.
Will: Dafür moderiere ich schon zu lange
den „Sportpalast“ beim SFB. Da musste
ich schon sehr oft Schalke o4 sagen.
SPIEGEL: Wie wollen Sie denn Faßbenders „Gutenabendallerseits“ vergessen
machen?
Will: Ich sag meistens: „Hallo und willkommen.“
Die Kandidaten zahlen
I
d e r
s p i e g e l
4 6 / 1 9 9 9
m nächsten Jahr sollen in Deutschland erstmals Fernsehproduktionen
über Telefongebühren der Zuschauer
finanziert werden. Dieses Konzept
(„Call TV“) fährt der Unterhaltungskonzern Endemol bereits mit „Veronica
live“ im niederländischen Fernsehen;
nun soll der größere deutsche
Markt dem Endemol-Chef John
de Mol rasch
steigende Umsätze bringen. Geplant ist eine
tägliche GameShow am VorLinda und John de Mol
mittag, bei der
TV-Zuschauer per Anruf über eine
0190er-Nummer Spielkandidaten werden können. Die Telefoneinnahmen,
die pro Teilnehmer bei maximal einer
Mark liegen sollen, fließen bis zur
Deckung aller Kosten an die Produktionsfirma Hurricane, an der Endemol
und die Deutsche Telekom (mittelbar
über den neuen Konzernableger Digame) beteiligt sind. Nach Finanzierung
der Grundkosten teilt Hurricane die
Telefongelder mit dem ausstrahlenden
Sender – hierfür sind RTL oder RTL 2
vorgesehen.
F. KRUG / ACTION PRESS
„Hallo und willkommen“
Will: Trotz des Fehlens der Erstverwer-
T & T
M O D E R AT O R E N
pätestens zum 1. Januar 2001 soll Ex-„Bild“-Chef Claus
Larass, 55, die Führung beim Springer-Verlag übernehmen. Der bisherige Zeitungsvorstand wird den Schweizer
August („Gus“) Fischer, 60, ablösen, dessen Vertrag Ende
nächsten Jahres ausläuft und nicht verlängert wird. Nachdem sich die beiden Großaktionäre Friede Springer (50 Prozent plus eine Aktie) und der Münchner Filmhändler Leo
Kirch (40 Prozent) bereits im Sommer in aller Stille auf
den Wechsel verständigt hatten (SPIEGEL 38/1999), hat sich
jetzt auch der Arbeitsausschuss des Springer-Aufsichtsrates
entsprechend geeinigt. An der entscheidenden Sitzung am
28. Oktober in Berlin nahmen die drei ständigen Mitglieder
des Gremiums teil: Springer-Aufsichtsratschef Bernhard
Servatius, Friede Springer und der Kirch-Vertraute Joachim
Theye. Als Gast war außerdem Kirch selbst anwesend. Anschließend informierte Servatius die übrigen Mitglieder des
Aufsichtsrates über die Einigung, die das Kontrollgremium
auf seiner nächsten Sitzung am 14. Dezember offiziell beschließen wird. Vorstandschef Fischer, der noch vor kurzem
signalisiert hatte, an einer Vertragsverlängerung interessiert zu
sein, hatte auf einen entsprechenden Antrag dann doch verzichtet. Im Konzern rechnet man nun damit, dass er bereits
vorzeitig seinen Stuhl räumen wird. „Wir haben ihm kein
Abfindungsangebot unterbreitet“, heißt es dazu im Eigentümerkreis, aber: „Traditionell war das Haus bei Abfindungen
immer sehr großzügig.“
133
Medien
JOURNALISMUS
Domino vobiscum
134
Riccardo Ehrmann, 69, italienischer
Journalist der Nachrichtenagentur
Ansa, über seine Rolle auf der Pressekonferenz vom 9. November 1989,
die den Anstoß zum Mauerfall gab
SPIEGEL: Sie haben mit Ihrer Frage
an Günter Schabowski zum Reisegesetzentwurf den Mauerfall ausgelöst?
Ehrmann: So scheint es, ja.
SPIEGEL: Sind Sie darauf nicht stolz?
쒆
DPA
on diesem Sturz träumt die TVBranche. Vorvergangenen Freitag purzelten auf RTL 2 472 480 Dominosteine um, und 14,02 Millionen
Zuschauer, mehr als die Hälfte aller
14- bis 49-Jährigen, waren dabei. Das
schafft kein gewöhnliches Champions-League-Spiel, das bringt kein
Krimi zu Wege, da muss selbst die
Volksmusi passen. Domino vobiscum, der Quotengott war mit euch,
ihr Planer in Köln.
Was 70 Helfer in sieben Wochen auf
einer Fläche von 4000 Quadratmetern in einer Halle aufgebaut hatten,
stürzte um, weil Newtons Gravitationsgesetz es so will. Und die 27 500
Steine, die stehen blieben, ändern
an den Grundfesten der Physik
nichts, da hatte der Mensch
versagt.
Die Natur beim Vollzug ihrer
Gesetze zu beobachten ist ja
längst Gegenstand des Mediums Fernsehen, und nach
dem Riesenerfolg des „Domino Day“ wird die Phantasie der Macher in dieser Richtung weitergehen: Reality zu
zeigen, einfach so.
In der Kultsendung des Bayerischen Rundfunks, der
„Space-Night“, sind Weltraum und Erde vom Satelliten aus bereits in ihrer schlichten Erhabenheit zu bewundern. Kriege
kommen, Sensationen gehen, aber
das Tote Meer bleibt aus großer Höhe
immer ein großer Anblick. So was
schätzt der TV-Zuschauer wie die
täglichen Schwenks auf 3Sat über die
Gipfel der Alpen.
Die TV-Vermarktung der physikalischen Gesetze und der Naturschauspiele findet nicht nur Freunde. Der
Osnabrücker Baumforscher HansDieter Warda verurteilte letzte Woche TV-Pläne, ein Waldstück mit Kameras zu überziehen und das Wachsen der Pflanzen über die Jahreszeiten hinweg zu übertragen. Dadurch,
schimpfte der Professor, ginge bald
gar kein Mensch mehr in die Natur.
Das wäre zwar schade, aber ein schöner Sonntagsspaziergang, bei dem
man im Bett bleiben kann, was
spricht dagegen? Und wenn ein Titel
„Das Schweigen der Lämmer“ verspricht, könnte es sich demnächst
um eine Live-Außenübertragung
handeln. Die würde die Nerven
schonen.
Journalist Ehrmann, Schabowski (r., 1989)
Ehrmann: Doch. Oscar Wilde sagte
einmal: Das Leben ist eine schlechte
Viertelstunde mit ein paar guten Momenten. Diese Pressekonferenz war
einer der besten Momente meines
Lebens.
SPIEGEL: Hatten Sie sich auf diese Frage
vorbereitet?
Ehrmann: Ich hatte keine Ahnung vorher. Ich wollte an einer Pressekonferenz
teilnehmen – wie an vielen anderen –
und Fragen stellen. Aber so eine Wirkung war nicht beabsichtigt.
SPIEGEL: Ihre berühmte Frage an Schabowski enthielt den Satz, das geplante
Reisegesetz sei „ein großer Fehler“.
Das war ziemlich meinungsstark.
QUOTEN
7,4
Kerner vorn
E
in Monat ist es her, da musste Johannes B. Kerner mit
seiner Prominenten-Show
„JBK“ zu Gunsten von Maybrit
Illners neuer Polit-Talkrunde
„Berlin Mitte“ auf einen 23-UhrTermin weichen. Der Umzug in
die Nacht hat Kerner nicht geschadet – er erreicht einen höheren Marktanteil als die Ex-Frühstücks-TV-Frau Illner.
d e r
s p i e g e l
7,3
7,3
6,9
Johannes
B. Kerner
6,2
Maybrit Illners
„Berlin Mitte“
5,6
5,1
4,6
SVEN SIMON/ TEUTO
V
„Kurze Frage,
enorme Wirkung“
Ehrmann: Ich war sehr verärgert über die
SED-Mitglieder, weil sie versucht haben,
mit Bürokratie Reisen zu verhindern.
SPIEGEL: War Ihnen damals bewusst, wie
folgenreich Ihre Frage sein konnte?
Ehrmann: Für die Frage war mir das nicht
klar, aber für die Antwort. Schabowski
sprach von Reisefreiheit – und die Mauer war weg. Nach der Konferenz traf ich
Willy Brandt. Er gratulierte mir und
sagte: kurze Frage, enorme Wirkung.
SPIEGEL: Ein Italiener, der die deutsche
Geschichte vorangetrieben hat – haben
Ihre deutschen Kollegen geschlafen?
Ehrmann: Vielleicht. Ein deutscher Kollege von der dpa sagte mir, dass er im
Konferenzraum geblieben war, um das
Chinesisch der Kommunisten besser zu verstehen.
SPIEGEL: Wie hat die Ansa-Zentrale
in Rom auf Ihre Meldung, die Mauer sei gefallen, reagiert?
Ehrmann: Für ein oder zwei Minuten haben die geglaubt, ich sei verrückt geworden. Irgendwie verständlich. Es gab ja keine Ankündigung vorher. Aber der Chefredakteur ließ es drucken.
SPIEGEL: Und danach?
Ehrmann: Habe ich die ganze Nacht
gearbeitet. Ich bin später an den
Bahnhof Friedrichstraße gegangen,
wurde dort erkannt und gefeiert. Ich
wusste nicht, dass die Pressekonferenz im
Fernsehen live übertragen worden war.
SPIEGEL: Hätten Sie die Frage trotzdem
gestellt?
Ehrmann: Selbstverständlich, das ist meine Arbeit. Herr Schabowski sagte mir
vor wenigen Tagen, ich hätte ihm das
Stichwort gegeben. Allerdings hoffe ich
sehr, dass die Menschen, die mich damals gefeiert haben, jetzt nicht zuschlagen werden.
SPIEGEL: Hat man Sie zur Feier des
Mauerfalls nach Berlin eingeladen?
Ehrmann: Leider nein. Ich war schon
etwas enttäuscht. Ich liebe Berlin, ich
wäre gern hingefahren.
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Marktanteile
in Prozent
bei den 14bis 49-Jährigen
14. Okt.
4,4
3,4
21. Okt.
28. Okt.
4. Nov.
11. Nov.
Fernsehen
Vorschau
Einschalten
Urlaub im Orient –
Und niemand hört dein Schreien
Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL
Sicherlich setzt dieser Film (Buch:
Oliver Simon, Regie: Michael Wenning) keine neuen Maßstäbe im Genre Abenteuerfilm. Aber die Geschichte von dem geheimnisvollen Hotel in
Marokko, wo nichts ahnenden deutschen Touristinnen die Embryos aus
dem Leib operiert werden, um Todkranken zu helfen, liefert soliden
Nervenkitzel. Besonders gelungen ist
die Einbeziehung der marokkanischen Umgebung: Ein deutscher Arzt
(Felix Eitner) hetzt mit Hilfe seines
einheimischen Freundes (Said
Taghmaoui) durch enge Stadtquartiere auf der Suche nach seiner verschwundenen Freundin (Floriane Daniel), die derweil durch die Wüste irrt
und in einem Nomadenzelt malerische Zuflucht findet.
Gründgens, Flickenschildt im Film „Faust“
Faust
Dienstag, 21.40 Uhr, Arte
Aus den guten alten Tagen, da die Berserker des Regietheaters ihr Hinrichtungswerk an den Klassikern noch nicht
begonnen hatten: Arte zeigt in deutscher und französischer Erstausstrahlung die Verfilmung einer „Faust“-Aufführung des Deutschen Schauspielhauses von 1960 mit Gustaf Gründgens in
der Rolle des Mephisto, mit Will
Quadflieg als Faust, Ella Büchi als
Gretchen und Elisabeth Flickenschildt als Marthe Schwerdtlein.
Im Anschluss um 23.50 Uhr gibt
es ein Gründgens-Porträt von Petra Haffter.
Polizeiruf 110: Kopfgeldjäger
Sonntag, 20.15 Uhr, ARD
Daniel (l.) in „Urlaub im Orient“
Der Wortwitz funkelt, und der
Verstand hat Arbeit. Was will
man mehr? Wolfgang Limmer
(Buch) und Ulrich Stark (Regie) haben eine spannende Geschichte zusammengebracht über den Irrsinn von
Trainingsprogrammen für Manager.
Im Psychospiel werden ständig Sein
und Schein verwechselt, für ein armes
Würstchen mit tödlichem Ausgang.
Den einarmigen Kommissar (Edgar
Selge) bei der Arbeit zu sehen ist
eine Lust. Er mischt die schlamperte
Bayernpolizei mit preußischer Frechheit auf. Und muss sich im Gegenzug
Behindertenwitze anhören: „Wie soll
man mit dem Arm des Gesetzes reden, wenn keiner dran ist?“ Nur einer
dieser unkorrekten Kalauer hat ein
Richtungsproblem: „Gehen Sie nach
rechts, wo der Daumen links war“,
wird dem Polizisten ohne linken Arm
der Weg zur Toilette gewiesen. Wer
geschmunzelt hat, sollte mal nachdenken: Der Witz klingt schön, leidet
aber an Links-Rechts-Verwechslung.
Ausschalten
Ricky!
Montag, 14.00 Uhr, Sat 1
Sanften Talk und manierliches Auftreten versprach der Moderator Ricky
Harris. Doch das war, wie in der
Branche üblich, die Lüge zum Beginn
der Sendung. Denn wenn einer die
deutsche Sprache so perfekt wie
Ricky misshandelt, warum sollte der
sich dem Grundgesetz des Genres
verweigern, die Schamgrenzen immer
neu zu überschreiten? Mit der Selbstverstümmlung, im Flottsprech „Branding“ geheißen, einer Kandidatin, die
während einer Aufzeichnung vor
Schmerz zusammenbrach, hat die
quotenschwache Sendung endlich
auch ein heißes Eisen in der Talkhölle: „Bild“ kann sich entrüsten, der
Sender große Zerknirschung zeigen und
beide können hoffen, dass Auflage und
Quote steigen.
… die man liebt
Samstag, 20.15 Uhr, Südwest III
Es war einmal eine berühmte HipHopSängerin, die in den Streik trat, als ihre
böse Managerin sie vor den grölenden
Massen in einem Fußballstadion singen
lassen wollte. Die Sängerin stieg aus
dem Tourneebus aus und landete in einer kleinen Pizzeria voll schrulliger
Menschen. Der „Cheffe“, strenger Vertreter italienischer Lebensart, glaubte
auf Grund fingierter Postkarten an die
Zuwendung seines verlorenen Sohnes.
Der Neffe träumte von der Gründung
eines Schnellimbisses, und die Kellnerin
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hatte ein ungezogenes Kind, das gern
mit Bellen die Umgebung nervte. Der
Rapstar liebte auf Zeit den Neffen
und kehrte, ein Kind unterm Herzen,
in die Glitzerwelt zurück, derweil Onkel am Infarkt hinschied und dem
Neffen Geld und Lokal vermachte.
Solche Märchen gibt man an der
Filmakademie Baden-Württemberg
offenbar als Geschichten aus, die das
Leben schreibt. Warum die renommierte Redaktion der renommierten
Reihe „Debüt im Dritten“ dieses
obendrein noch vollkommen humorlose Drehbuch für den Abschlussfilm
nicht zur Überarbeitung zurückgereicht hat, bleibt schleierhaft. Schade
um die Schauspieler, schade um die
teilweise wunderschönen Bilder.
135
Medien
JOURNALISTEN
Die Clip-Schule vom Lerchenberg
Mit Geschichtsfernsehen für ein Massenpublikum stieg Guido Knopp zum
TV-Quotenstar und Bestsellerautor auf – trotz harscher Kritik von Historikern. Nun plant der
ZDF-Journalist weitere Produktionen rund um sein Hauptthema Adolf Hitler.
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T. WEGNER / LAIF
P
rominenz schüchtert ein. Erst nach
einigem Zögern fasst der Rentner aus
der ZDF-Besuchergruppe den Mut,
geht vor dem Studio des Mainzer Senders
entschlossen auf den Hünen im schwarzen
Anzug zu, den er seit vielen Jahren vom
Bildschirm kennt.
„Sie sind ja noch schöner als in der
Glotze“, umschmeichelt der Mann sein
Idol und hakt nach: „Warum sieht man Sie
in letzter Zeit so selten?“
Der promovierte Historiker lächelt, als
seien ihm gerade geheime Tagebücher aus
der Nazi-Zeit anvertraut worden. „Ach,
wissen Sie“, sagt er, „Dokumentationen
erfordern viel Zeit, da komme ich kaum
noch vor die Kamera.“ Der Bewunderer
nickt und trottet zurück zu seiner Kaffeefahrt-Runde.
Guido Knopp, 51, ist mit heiklen Themen
rund um die braune deutsche Vergangenheit zum TV-Star geworden. Er steht heute im Zentrum eines quoten- und umsatzträchtigen Imperiums, das den Deutschen
jene Vergangenheit näher bringt, die nicht
vergehen will.
Hauptsächlich der Faszination des Bösen
verdankt der Redaktionsleiter Zeitgeschichte des öffentlich-rechtlichen Senders Zuschauerzahlen zwischen fünf und
sieben Millionen zur besten Sendezeit.
Mittlerweile laufen Knopps TV-Spiele in
50 Ländern, allein sein Video „Hitler – Eine
Bilanz“ verkaufte sich knapp 160 000-mal.
Er sei „ein Flaggschiff für ein bestimmtes Genre“ geworden, „jeder weiß, was
Knopp ist“, sagt Alexander Coridaß, Chef
der Sendertochter ZDF Enterprises, über
den Exportknüller. In TV-Schlüsselmärkten wie den USA, Großbritannien, Frankreich oder Australien habe sich der Historiker „großes Renommee“ erworben.
So stiegen Knopp und sein Heer von
Helfern zum Markenzeichen auf. Im Gedenkjahr 1999 stehen seiner Redaktion so
viele Sendeplätze wie noch nie zur Verfügung, etwa zu Jahrhundertereignissen wie
den Weltkriegen sowie dem Bau und Fall
der Mauer. Parallel zu seinen TV-Serien
publizierte der Historiker Jahr für Jahr
Buch-Bestseller am Fließband, im vergangenen Jahr gleich drei. Damit war der ZDFAngestellte (Gesamtverkauf aller Druckwerke: über eine Million Exemplare) der
erfolgreichste deutsche Sachbuchautor.
Medienstar Knopp: „Wir arbeiten auch für den Arbeiter von der Werkbank“
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Keiner hat beim Massenpublikum mehr
Deutungsmacht in Sachen Drittes Reich.
Der Ex-Wissenschaftler, der seine Doktorarbeit über Debatten zwischen SPD und
USPD nach dem Ersten Weltkrieg abgeliefert hatte, stieg über Kurzgastspiele bei
„Bunte“, „Welt am Sonntag“ und „Frankfurter Allgemeine“ in den Journalismus
ein. Doch es drängte ihn zum Fernsehen.
1978 landete er beim ZDF und überzeugte sechs Jahre später Senderchef Dieter
Stolte, eine eigene Redaktion Zeitgeschichte zu gründen.
Nun sitzt Knopp bei Presseterminen im
lichtdurchfluteten Clubraum des Intendanten, streckt vor einem Kolossalgemälde über die Vertreibung der Juden aus
Ägypten pathetisch die Arme aus und doziert über die Aufgabe, „ein großes Publikum für Geschichte zu gewinnen“. In der
Vergangenheit habe die britische BBC eine
Vorrangstellung bei historischen Produktionen gehabt, „jetzt aber spielen wir mit,
haben vielfach sogar Standortvorteile –
durch größere Nähe zum Material und zu
den Zeitzeugen“.
Dem egostarken Geschichte-Erzähler
vom Mainzer Lerchenberg schwebt eine
regelrechte „Pyramide“ zur NS-Deutung
vor: Erst versendete er 1995 in einem
Sechsteiler den Diktator selbst („Hitler –
eine Bilanz“), dann den inneren FührerKreis („Hitlers Helfer“), schließlich die Generäle und Soldaten („Hitlers Krieger“).
Als Nächstes sind im Frühjahr 2000 die
Jugendlichen der NS-Zeit („Hitlers Kinder“) dran und im Herbst die Opfer: In der
Serie, auf dem Weltmarkt verkaufsträchtig
als „Hitlers Holocaust“ annonciert, sollen
neue Archivfunde zur Judenverfolgung
präsentiert werden, etwa Bilder von Pogromen im Baltikum. Diesmal will Knopp
streng chronologisch erzählen und Bilder
penibel den Ereignissen zuordnen. Das
Werk werfe, wirbt das ZDF, „ein neues
Licht auf die dunkelste Seite des 20. Jahrhunderts“. Für 2001 plant Knopp dann eine
Serie über Magda Goebbels, Eva Braun,
Zarah Leander und andere Frauen aus der
NS-Zeit, eine Reihe über die Vertreibung
Kanzler 1999
3,2
10,6%
Serien im ZDF *
Top-Spione 1994
2,2
12,3 %
■ Zuschauer
in Millionen
■ Marktanteil
Unser Jahrhundert 1999
2,2
12,9 %
Quoten-Hit Hitler
Knopps Zeitgeschichte
im Fernsehen und in Büchern
Vatikan 1997
4,2
13,5 %
Verkaufte Bücher in Deutschland
Der dritte Weltkrieg 1998; *Einzelsendung
4,4
13,7%
Hitlers Helfer II 1998
4,4
15,0 %
Hitlers Krieger 1999
5,2
16,2 %
Der verdammte Krieg 1995
3,8
18,3 %
Hitlers Helfer I 1997
6,9
Der verdammte Krieg
Unser Jahrhundert
Kanzler
Top-Spione
Hitlers Krieger
Hitler – Eine Bilanz
Vatikan
21,1 %
Hitlers Helfer
50000
75000
80000
90000
110000
160000
180000
200000
Hitler – Eine Bilanz 1995
5,0
22,1 %
am Kriegsende sowie, zum Finale, eine Gesamtschau über die Verstrickung der Deutschen („Hitlers Volk“).
Wer sich derart intensiv mit der deutschen Düsternis zwischen 1933 und 1945
befasst, braucht sich um Kritik nicht zu
sorgen. So viel Aufmerksamkeit für die
Nazi-Zeit empfindet „FAZ“-Herausgeber
Frank Schirrmacher längst als Exzess. Er
entdeckte bei Knopps NS-Arbeiten „einen
fast rauschhaften Steigerungs- und Überbietungswillen“, der einen „Zug ins Irrwitzige“ bekommen habe.
Der Grund der ausführlichen und scheinbar nie enden wollenden TV-Aufarbeitung
ist dabei simpel: Hitler sorgt für Quote.
Zwar hat sich Knopp an vielen Stoffen versucht, etwa über die Kanzler der Republik
und die Päpste des Vatikan, doch jedes Mal
lagen die Zuschauerzahlen deutlich unter
den NS-Stücken. Auch sein bizarres Waswäre-wenn-Dokumentarspiel „Der Dritte
Weltkrieg“ fiel spürbar ab.
Nur wenn das Hakenkreuz auftaucht,
ist Knopp seinem Ziel ganz nah, um 20.15
Uhr gegen Hollywood-Filme, Arztschnulzen, Actionreihen und Fußballübertragun-
Quellen: ZDF; Bertelsmann
ZDF
FOTOS: CH. POPKES (M.); ZDF ( re.)
gen bestehen zu können. Dagegen setzt er
ein Potpourri aus kurz geschnittenen
Schwarzweißsequenzen alter Filme, nachgestellten Szenen in Farbe (das Prinzip
übernahm Knopp von der BBC) und Kurzbefragungen von grell ausgeleuchteten
Zeitzeugen vor dunklem Hintergrund. Als
Untermalung dienen dramatische Musik
und eine raue Kommentarstimme, bevorzugt vom Synchronsprecher des MafiosoDarstellers Robert De Niro.
Das schöne Styling und die meist in osteuropäischen Archiven akquirierten teuren Senderechte für Alt-Filme treiben die
Kosten gewaltig nach oben. Während die
ARD im Frühjahr für eine Folge von „20
Tage im 20. Jahrhundert“ zwischen 90 000
und 140 000 Mark ausgab, kostet einmal
Knopp bis zu einer Million Mark. Davon
trägt das ZDF knapp die Hälfte, den Rest
steuern internationale Koproduzenten bei,
etwa Arte aus Straßburg, RAI aus Italien
und History Channel aus den USA.
„Bewegte Bilder und bewegende Zeitzeugen sind die Pfunde, mit denen wir wuchern können“, sagt Knopp über seine Populärfilme: „Wir arbeiten nicht nur für den
Knopp-Produkte: „Bewegte Bilder und bewegende Zeitzeugen sind die Pfunde, mit denen wir wuchern können“
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Medien
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Unentwegt sammeln Knopps Mitarbeiter
Erinnerungen älterer Deutscher. So interviewten sie in einem „Jahrhundert-Bus“
überall in Deutschland 6000 Leute zur
Nazi- und Nachkriegszeit – eine „Katharsis-Box“ (Knopp), die an Steven Spielbergs
Shoah-Stiftung erinnern und künftig in einem „Jahrhundertstudio“ auf dem Mainzer ZDF-Gelände zur Dauereinrichtung
werden soll.
Auch für die Bücher zu den Fernsehhits
sind die vielen fleißigen Mainzelmännchen
im ZDF-Trakt FR Ost 2 stark eingespannt.
Ein großer Teil der Werke stammt von je einem halben Dutzend von Koautoren. Für
die Forschung hatten die Bände keinen Effekt – wohl aber für die Bilanzen von Verlagen, Buchhändlern und für Knopp selbst.
So brachte allein der Spitzentitel „Hitlers Helfer“ (Verkaufsauflage: 200000) dem
Autorenteam schätzungsweise eine Dreiviertel Million Mark Erlöse. Das Geld werde, so Knopp, „nach einem festen Schlüssel“ zwischen ZDF, ZDF Enterprises und
der Redaktion aufgeteilt. Der Löwenanteil
dürfte bei Knopp bleiben,
Koautoren werden schon
mal pauschal mit 5000
Mark abgegolten. Er sei
„teils als Autor aktiv, teils
als Herausgeber“, sagt die
Hauptfigur über seine Rolle, „dann machen meine
Mitarbeiter Vorlagen, die
ich redigiere, umschreibe
oder auch nicht“.
Sein Stammverlag Bertelsmann hat mit dem umtriebigen TV-Promi bereits
acht Bücher publiziert. Nur
für das aktuelle Werk „100
Jahre – Die Bilder des Jahrhunderts“ ließ das Medienhaus seinen Top-Autor zur
Konkurrenz ziehen, es erschien den Buchmanagern zu verwechselbar mit dem zuvor
veröffentlichten „Unser Jahrhundert“.
Nun erscheint das Bilderbuch zur täglichen ZDF-Abendsendung bei Econ und
hat reichlich redaktionelle Schützenhilfe
vom Boulevardblatt „Bild“, das ebenso wie
der Econ Verlag zum Axel-Springer-Konzern gehört. Zu Silvester soll die Reihe sogar nonstop 16 Stunden auf dem Spartenkanal Phoenix laufen – der totale Knopp.
Längst ist der Mann aus Aschaffenburg
ein Star geworden, so sieht er sich, und so
sollen ihn andere sehen. Seinen 50. Geburtstag feierte der Historiker 1998 denn
auch standesgemäß mit einer Riesenparty
auf einem alten Studiogelände in Wiesbaden, unter den vielen prominenten Gästen
war auch der israelische Botschafter.
ZDF-Chefredakteur Klaus Bresser hielt
vor über 200 Leuten eine launige Rede, in
der er beziehungsreich über die Allüren
seines Mitarbeiters scherzte: „Als kleiner
Angestellter kann ich mir eine solche Feier nicht leisten.“
Hans-Jürgen Jakobs
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REUTERS
Universitätsprofessor, sondern auch für
den Arbeiter von der Werkbank, der
abends müde nach Hause kommt und sich
unterhalten will.“
Volksfernsehen statt Volkshochschule –
unter Historikern und Dokumentarfilmern
ist dieser Quotenjournalismus höchst umstritten. Knopp erkläre wenig, verzichte
auf Zusammenhänge und setze vor allem
„auf Tempo sowie die Suggestivkraft von
Bildern und Musik“, kritisiert Wissenschaftler Hans Woller vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, alles zerfließe „in einem großen Brei“. Das Niveau für Geschichts-TV werde so systematisch gesenkt.
Der ZDF-Mann gelte „unter Historikern
so viel wie Jürgen Fliege unter Bibelforschern“, spottet das Satireblatt „Titanic“.
Besonders umstritten ist das Inszenieren, im Fachjargon „Nachdreh“ genannt,
von historischen Szenen, für die es keine Bilder gibt, etwa vom erzwungenen
Selbstmord des Generalfeldmarschalls Erwin Rommel oder von frühen Treffen
Winston Churchills mit NS-Größen. Zu
sehen sind schwarze Limousinen, blank geputzte
Schaftstiefel, Häuserfronten mit dunklen Figuren
oder eine Hand, die mit
der Schreibmaschine etwas tippt („gez. Adolf Hitler“).
Bei vielen Wissenschaftlern ist auch die Art der
Präsentation von Zeitzeugen verpönt, die Knopps
Filmen Authentizität verleihen sollen. „Da werden
laufend irgendwelche Leute aus der Nähe Hitlers interviewt, die relativ wenig
Einblick hatten und lauter ZDF-Chef Stolte
Belanglosigkeiten erzählen“, wettert Historiker Woller: „Ein apologetisches Geraune.“
Über die Masche wird selbst im KnoppKreis gelästert. „Bei uns gilt das Prinzip:
Kein Zeitzeuge über 20 Sekunden, nur der
Heilige Vater bekommt 30“, erzählt ein
Mitarbeiter. „Ein Satz und dann die
Schwarzblende“, kommentiert WDR-Chefhistoriker Klaus Liebe die Arbeit der ClipSchule vom Lerchenberg.
Die Kritik perlt an dem Chefhistoriker
des ZDF freilich ab. „Da schwingt auch
manchmal Neid mit“, sagt Knopp. „Wir recherchieren sehr penibel und lassen uns
umfassend wissenschaftlich beraten.“
Dann schiebt er nach, dass er im Übrigen
„Journalist für Zeitgeschichte“ sei und kein
Dokumentarfilmer.
Seinen Erfolg verdankt der „Experte für
Geschichte und Gefühl“ („Stuttgarter Zeitung“), der derzeit über einen ZDF-Kanal
für Historisches im Internet nachdenkt, einer 30-Personen-Truppe aus fest angestellten Redakteuren, Zuträgern, Rechercheuren, Dokumentaristen und Praktikanten.
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Medien
REGISSEURE
Bald wieder Gott
Nach dem Sat-1-Film „Der König von St. Pauli“ arbeitet
Dieter Wedel jetzt fürs ZDF – an einem Mehrteiler
über unbarmherzige Steuerfahnder und getriebene Politiker.
S
Talkshow-Sessel, und jetzt ist er für den
Rest der Woche in München, um die letzten Rollen für das neue Projekt zu besetzen. Viel Zeit bleibt nicht mehr. Im Februar soll es schon losgehen: 165 Drehtage für
die fünf bis sechs Teile, die das ZDF Ende
2001 zeigen will. Und wie immer ist es sein
teuerster Film: Bis zu 25 Millionen Mark
zahlt der Mainzer Sender.
Den Mädchen im Besetzungsstudio wird
er erst einmal erzählen müssen, worum es
überhaupt geht. Das macht sie lockerer.
Alle wollen sie zu ihm, aber alle haben sie
Angst. Vor ihm, dem großen Wedel, der
sich gern mit seinem Doktortitel anreden
lässt. „Doc“, hat ihm sein Kameramann
gesagt, „bald sind Sie wieder Gott.“
Da sitzen die Kandidatinnen mit weit
aufgerissenen Augen und frösteln. Sind
blass, obwohl die Maskenbildnerin sie gerade frisch geschminkt hat.
„Sicher haben Sie gelesen, dass ich ein
Feuer speiendes Monster bin“, säuselt Wedel, dessen Tobsuchtsattacken bei Dreharbeiten legendär sind. „Glauben Sie es bloß
SAT 1
o, das war’s für heute. Das Finanzamt
sieht keinen Pfennig mehr. Nicht von
ihm. Sechseinhalb Stunden hat er bis
jetzt gearbeitet – nur für die Steuer. Es ist
nachmittags um halb drei, und erst von
jetzt an verdient er Geld, das er in die eigene Tasche stecken kann. Seit etlichen Legislaturperioden versprechen die Regierenden eine Steuerreform. Und was passiert? Eine Erhöhung nach der anderen!
Dieter Wedel löffelt Kokosmilchsuppe
mit Shrimps und frischem Koriander. Seine Lieblingssuppe. So viel Zeit muss sein.
Manchmal lässt er sich eine ganze Terrine
auf seine Suite im Münchner Hotel Vier
Jahreszeiten bringen. Doch jetzt drängt der
Fahrer – wenn auch sanft. Im Studio warten sie und heulen. Irgendjemand hat die
Termine durcheinander gebracht. Wedel
kichert. Die Armen. Aber wo bleibt nur
das Carpaccio?
Was für eine Woche! Gerade noch hat er
in Mallorca am Drehbuch geschrieben,
dann am vergangenen Montagabend Auftritt in Hamburg bei „Beckmann“ auf dem
nicht“, könnte er noch sagen. Sagt er aber
nicht.
Lieber erzählt der nette Doktor, wie es
draußen zugeht in der Welt, die bald in seinem neuen Film zu sehen sein wird. Krieg
herrscht da, ein erbarmungsloser Stellungskrieg zwischen hoch bezahlten Wirtschaftsprüfern und erbarmungslosen Finanzbeamten. Die einen verdienen eine
halbe Million, die anderen vielleicht 80 000
im Jahr. Aber man hat Respekt voreinander. „Oooh“, sagt die blonde Jungschauspielerin, die gerade beim Detmolder Stadttheater abgelehnt worden ist. „Oooh!“
Wedel lehnt sich zurück. Wippt mit seinen schwarzen Stiefeletten. Nein, im Finanzamt gebe es noch nicht den „Beamtenschlaf“, da herrsche Korpsgeist, obwohl
die Beamten im Durchschnitt jeden Tag
ein neues Gesetz auf den Tisch bekämen –
also 360 neue Steuerregeln pro Jahr.
Er war beim Leiter einer großen Steuerfahndungsabteilung. „Die sind schwer
gesichert“, sagt der Regisseur und lässt die
Bedeutung seiner Worte sacken. „Ooh“,
seufzt die blonde Jungschaupielerin. In
Wilhelmshaven hat sie es auch schon versucht. „Der oberste Steuerfahnder sieht
runter auf die Straße und sagt: ‚Alle sind
schuldig: 98 Prozent, zu 100 tendierend.‘“
Bei Beckmann hat er die Geschichte am
Abend vorher auch erzählt. Das Publikum
war beeindruckt.
Er wird die Semmelings in seinem neuen Film auferstehen lassen. Anfang der
siebziger Jahre hatte er die Geschichte von
Bruno und Trude Semmeling erzählt, deren Eigenheimbau im
Kampf gegen die Handwerker zum Alptraum
wurde. „Manche Theaterregisseure waren damals stolz, wenn sie ihr
Publikum so verärgert
hatten, dass der Zuschauerraum am Ende
leer war“, sagt er, „und
ich hatte Einschaltquoten von 63 Prozent.“
Der Dreiteiler machte
Wedel zum Shootingstar
des NDR. Schnell gehörte er zu den erfolgreichsten TV-Regisseuren der
Nation. Er wechselte
zum ZDF, drehte für Sat
1. Seine Mehrteiler „Der
große Bellheim“, „Der
Schattenmann“
und
„Der König von St. Pauli“ wurden von Millionen gesehen – und kosteten viele Millionen.
„Aber erst mit dem
Bellheim bin ich aus
Regisseur Wedel*: „Sicher haben Sie gelesen, dass ich ein Feuer speiendes Monster bin“
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* Mit Julia Stemberger bei den
Dreharbeiten für „Der König
von St. Pauli“.
Werbeseite
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Medien
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CORONA
Politikern, Steuerfahndern, Unternehmern,
Anwälten. „Versuchen Sie nie, mit gewagten Firmenkonstruktionen Ihr Geld ins
Ausland zu bringen“, hat ihm ein bekannter Steueranwalt geraten, „der Steuerfahnder darf am Freitagnachmittag, kurz
vor Dienstschluss, keinen Gedanken mehr
auf Sie verschwenden.“ Sonst erwacht der
Jagdinstinkt.
Selbst Helmut Kohl hat er auf die „beispiellose“ Machtfülle der Steuerfahnder
angesprochen. Da könne er nichts machen,
habe ihm der damalige Regierungschef geantwortet. Er
sei schließlich nur Kanzler.
Manchmal hat er Mitleid mit
den Politikern, die „im Ansehen nur kurz vor den Kinderschändern rangieren“.
Sein Hauptinformant für
den „Schattenmann“, der
bei der Frankfurter Kripo
gegen das organisierte Verbrechen ermittelte, ist inzwischen Landrat in Hessen.
Der habe auf einmal gemerkt, wie schwer es sei,
auch nur den Anschein von
Korruption zu vermeiden.
Er, der früher immer der Unbestechliche gewesen sei.
Gut, dass er nur Regisseur
ist. Mit vielen Millionen
kann er seine Visionen verwirklichen. „Keiner quatscht
mir rein, wenn ich meine
elektrische Eisenbahn aufbaue.“ Und keiner nimmt
ihm übel, wenn Mercedes
ihm während der Dreharbeiten einen Wagen kostenlos zur Verfügung stellt.
Neulich hat er auf Anraten
seines Freundes Mario Adorf
bei Armani angerufen und
gefragt, ob man vielleicht ins
Geschäft kommen könne.
Wo doch allgemein bekannt
ist, dass er nur Armani-Anzüge trägt. Leider ist er mit
seinem Vorschlag ins Leere
gelaufen. Kein Interesse.
Wäre auch zu schön gewesen.
Aber auch er hat seinen Ärger. Das ZDF
will ihn auf 90 Minuten pro Folge festnageln. Will, dass er lieber eine Folge mehr
dreht, als das Sendeschema zu sprengen.
Sendeschema.
Er muss das Wort nur hören, um schon
die Wut zu bekommen. „Ich mache doch
keine Würstchen“, hat er den Leuten vom
ZDF gesagt. Ein Gärtner, der einen Baum
pflanzt, weiß doch auch nicht, wie groß
der wird. Er hat getobt wie sonst nur bei
seinen Dreharbeiten. Wedel denkt nach.
„Na ja“, sagt er dann, „es kann natürlich
auch sein, dass ich mich irre.“
D. SCHMIDT / BILDERBERG
dem Schatten der Semmelings herausge- Machtfülle, diese Steuerfahnder. „Manchtreten“, sagt er, „jetzt bin ich so weit, sie mal eine Schnüffelinquisitionsbehörde, fast
wieder auftreten zu lassen.“ Mit Fritz Lich- so wie die Stasi. Ein Großteil ihrer Hintenhahn und Antje Hagen hat er die Schau- weise stammt von Denunzianten.“
spieler von damals engagiert.
Die Steuerfahnder können einen fertig
Sie werden das alternde Ehepaar spie- machen. Da ist er sich sicher. Einmal hätlen, das von einem Onkel, der während ten sie beinahe gegen den eigenen Finanzder Steuerprüfung vor Aufregung gestor- minister ermittelt. Nur wegen eines Kontos
ben ist, ein Haus geerbt hat. Bald darauf in Luxemburg. Doch dann sei ihnen noch
haben die Semmelings selbst Ärger mit den in letzter Minute aufgegangen, dass der
Finanzbehörden. Systematisch werden sie Minister seine Einkünfte ordnungsgemäß
in den Ruin getrieben. Die Steuerfahnder versteuert habe.
kompensieren mit dieser
Aktion ihren Frust, weil sie
im Falle einer dubiosen Firmenfusion nicht tätig werden dürfen. Es gibt kein politisches Interesse daran.
Sohn Sigi, den es als Referent ins Vorzimmer des
Hamburger Bürgermeisters
verschlagen hat, hilft den
Eltern – muss dafür aber
den Beistand eines reichen
Unternehmers in Anspruch
nehmen. Das wird ihm und
der ganzen Regierung später zum Verhängnis, als er es
schließlich bis zum Wirtschaftssenator gebracht hat.
„Haben Sie die Western
über Doc Holliday und
Wyatt Earp gesehen?“ Die Mario Adorf und Stefan Kurt in „Der Schattenmann“
blonde Jungschauspielerin
sieht betreten auf den blauen
Teppichboden. Muss man gesehen haben. Western sind
wie Shakespeares Königsdramen. Doch inzwischen
spielen sich die Western nicht
mehr in Dodge City, sondern
in den Vorstandsetagen der
Großkonzerne ab.
Wenn in Bayern die Banken fusionieren, dann hat
das Shakespeare-Qualität.
Oder wenn der Münchner
Filmhändler Leo Kirch steuersparende Milliarden-Deals
mit dem Schweizer MetroGründer Otto Beisheim abschließt. Das ist der Stoff, Heinz Hoenig und Julia Stemberger in „Der König von St. Pauli“
aus dem seine Geschichten Wedel-Filme: „Keiner quatscht mir rein“
sind.
„Manchmal ist es besser, gar nichts zu leOder der Fall in einer Großstadt, wo die
sen als immer nur den Kultur-Teil der Zei- Steuerfahndung einen Unternehmer auf
tung“, ermahnt Wedel seine Kandidatin- Grund eines falschen Verdachts fast in den
nen. Wirtschaft ist spannender. „Viel span- Ruin getrieben habe. Alle hätten sich nach
nender als das Feuilleton.“ Da lernt man einer unberechtigten Durchsuchung von
mehr über die Menschen. Die Geschichte ihm abgewandt: die Bank, die Kunden, die
mit Walther Leisler Kieps Steuer-Million. Lieferanten. Und? Hat man sich entschul„Haben Sie das gelesen?“ Verlegenes Kopf- digt? „Man hat nur gedroht, die Ermittschütteln.
lungen auszuweiten, sollte sich der UnterNa ja, dann erzählt er den Mädchen lie- nehmer an die Öffentlichkeit wenden.“
ber etwas von der Steuerfahndung. Als er Sein Film wird diese Fälle schildern.
in Frankfurt für den „Schattenmann“ reMonatelang hat er recherchiert. Er hat
cherchiert hat, ist er auf das Thema ge- bei Ministerpräsidenten gesessen, oft über
stoßen. Die Kripo-Leute haben ihn darauf Stunden. Allein drei Stunden hat er mit
aufmerksam gemacht. Unvorstellbare Doris Schröder-Köpf geredet, er war bei
Konstantin von Hammerstein
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FOTEX
Medien
ACTION PRESS
Mertes
Medientrainerin Amado, Kursteilnehmer: „Immer die Hand aus der Tasche nehmen“
KARRIEREN
Kleine Tricks und Strategien
Unternehmer, Manager und Lokalpolitiker lassen sich in
Schnellkursen für Medienauftritte schulen – eine
Goldgrube für ausgediente und aktive TV-Moderatoren.
P
rovokant solle er sein, hat Marijke
Amado gesagt. Also faltet Christian
Turck, promovierter Philologe aus
Bonn, folgsam seinen schlaksigen Körper in
ein rotes Plüschsofa, setzt eine ernste
Miene auf und guckt entschlossen in die
Kamera.
Nach Entrichtung einer Kursgebühr von
2500 Mark durfte der 31-Jährige fünf Tage
lang lernen, wie man flüssig Statements
abgibt und telegen schaut – eine Investition
für den Einstieg als Werbemanager bei einer Düsseldorfer Agentur, für die er multimediale Produkte vermarkten will. Den
Abschluss bildet ein Tag im Fernsehstudio
mit gestellter Talkshow und echter Fernsehprominenz. Die hat so kostbare Karrieretipps auf Lager wie: „Immer die Hand
aus der Tasche nehmen, das wirkt besser!“
Was beim Zuschauer gut ankommt,
scheinen ausgerechnet die zu wissen, die
ihre besten Zeiten vor der Kamera längst
hinter sich oder nie erlebt haben. Eine
wachsende Schar mehr oder minder begabter Moderatoren arbeitet als „Medientrainer“, „Persönlichkeitsberater“ oder
„TV-Coach“ für jene Klientel, der sie einst
journalistisch zu Leibe rückte.
Wenn überhaupt: Amado, 45, reichte die
Qualifikation als Einheizerin der Kinder148
Travestie „Mini Playback Show“, um vor
zwei Jahren gemeinsam mit der Lokalpolitikerin und Fernsehredakteurin Marlis
Robels-Fröhlich in Köln-Hürth eine Moderationsschule zu gründen.
„Step To Future“, so der Firmenname,
beschäftigt immerhin renommierte Trainer
wie den ehemaligen „Zak“-Interviewer
Wolfgang Korruhn. Der überfällt anreisende Seminarteilnehmer schon beim Aussteigen aus dem Taxi mit einem Kamerateam und der Frage: „Was hat zu Ihrem
Misserfolg geführt?“
Chefin Amado, laut Lebenslauf früher
Reiseleiterin bei Neckermann, berät vorwiegend in Stil-Fragen und begleitete
eine ostdeutsche Elevin jüngst sogar zum
Friseur. Ihr unternehmerisches Geschick
beweist die Niederländerin nicht nur
mit der Vermarktung eines esoterischen
Brettspiels für das Jahr 2000. Mitte Oktober verlangte sie 18 000 Mark pro Kopf und
Woche als Gastgeberin eines Seminars am
Comer See, das ein europäischer Elektrokonzern dort für sieben seiner Mitarbeiter
spendierte.
Die Geschäfte der selbst ernannten Experten gehen gut. Schon ein bescheidenes Zwischenspiel beim Fernsehen reicht,
um möglichen Medienopfern beizusted e r
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FOTEX
CH. KURZ
Bethge
Nowottny
hen. Christoph Teuner, 36, kurzfristig
bekannt aus dem Info-Magazin „Newsmaker“ (Sat 1), brachte Beamten des
Umweltministeriums von Nordrhein-Westfalen „kleine Atemtricks und Nervositätsvermeidungsstrategien“ bei.
Teuner: „Da mussten Fortbildungsgelder verbraten werden.“ Seine Künste, mit
10 000 Mark honoriert, waren auch Teil eines Gesamtpakets, das der Siemens AG
zusammen mit neuen Bildtelefonen von
PictureTel verkauft wurde.
Die Reihe lässt sich fortsetzen: Eva Massmann, 39, deren Fernsehlaufbahn sich auf
„Kinderkram“ (Vox) und „Gut schmeckt’s“
(RTL) stützt, lehrt heute für 1500 Mark pro
Tag telegene Rede. Ebenso ihre Kollegin
Manina Ferreira-Erlenbach, 34, zuletzt in
einem Casting für eine Nachfolge-Talkshow von „Bärbel Schäfer“. Sie coacht
demnächst die Direktoren der Berliner
Landesfeuerwehr.
Werner Schulze-Erdel, bekannt als Präsentator des langjährigen Hausfrauen-Hits
„Familienduell“ bei RTL, durfte zuletzt
die Chefredakteure eines Großverlags an
den Umgang mit der Studiokamera gewöhnen – mit anfänglichen Autoritätsproblemen: „Aber spätestens wenn der erste
in meinem Kurs drangenommen wird, legt
sich das Vorurteil, ich sei nur ein Unterhaltungsfuzzi.“
So viel unerschütterliches Selbstvertrauen ärgert die Konkurrenz. „Eine
schnelle, kurze Popularität reicht nicht aus,
um solche Seminare zu machen“, behauptet Claus Hinrich Casdorff, 74, der auf
„über 1000 Live-Sendungen“ („Monitor“,
„Ich stelle mich“) verweist. Als er 1988,
noch zu WDR-Zeiten, mit dem Teletraining begann, habe er sich „im eigenen La-
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Medien
den nicht nur Freunde gemacht“. „Es hieß:
‚Du machst den Gegner stark.‘ “ Heute
gehört der Kölner mit zwei Kursen pro Monat zu den meistbeschäftigten ARD-Pensionären und erfreut sich prominenter
Kundschaft: Zuletzt machte er Beate Uhse
für den Börsengang fit.
Für Carmen Thomas, bis 1994 Galionsfigur von „Hallo Ü-Wagen“ beim WDR,
begann die Medientrainer-Karriere als
Medienopfer. Die für ihren legendären
Versprecher („Schalke 05“) verspottete Ex„Sportstudio“-Moderatorin geriet auf die
falsche Seite und fand es „schrecklich, in-
TV-Trainer Korruhn: Überfall-Taktik vor der
terviewt zu werden“. Die Konsequenz: Sie
bildete sich zur Kommunikationsfachfrau
weiter und entdeckte das Coaching. Jetzt
plant die 53-jährige Buchautorin („Ein
ganz besonderer Saft – Urin“) eine eigene
Moderationsakademie.
Gescheiterte Sat-1-Größen wie Armin
Halle, 62, oder Heinz Klaus Mertes, 57,
fühlen sich ebenfalls zum Medientrainer
berufen. Halle durfte bereits einen früheren Ministerpräsidenten von der Strumpffarbe bis zur Rhetorik beraten.
Mertes, bis 1995 Sat-1-Programmdirektor, widmet sich in „Medienklausuren“ oder
an einem „intensiven Nachmittag“ Wirtschaftsleuten aus der Energiebranche oder
der Life-Science-Industrie. Sein Ziel: „Unternehmensziele mit Kommunikationszielen
in Zusammenhang bringen, wenn sich neue
Unternehmensidentitäten erstellen“.
„Mit dem Sprachschatz von vor 20 Jahren“ agierten die einstigen Bildschirmfüller, kritisiert Medientrainer Wolf-Henning
Kriebel, 56, von „Image Consult“ in Düsseldorf. Seiner Meinung nach eignen sich
gerade Fernsehleute am wenigsten dazu,
Menschen ihr Medium zu erklären: „Moderatoren verbringen das Leben auf der
anderen Seite der Kamera als die Manager.
Zwischen den eineinhalb Metern liegen
Welten.“
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CH. KURZ
TV-Moderatoren als Trainer beanspruchten zu viel Platz für sich, „manche
sind aufgeblasen und neurotisch“, meint
Sabina Bolender-Wachtel, deren Agentur „Expert“ sprechwissenschaftlich ausgebildete Lehrer vermittelt. Auch fachlich hinken die vermeintlichen Praktiker
nach Meinung der Fachfrau hinterher:
„Denen gehen häufig Methodik und
Didaktik ab.“
Die Kritisierten setzen auf andere
Qualitäten. Vier Führungskräfte der Bundesbahn erlernten bei NDR-Plauderer
Reinhard Münchenhagen, 58 („DAS!“),
im Drei-Tage-Kurs mit Rollenspiel verbale Ausweichmanöver als Rüstzeug für die
Live-Schaltung oder den Talkshow-Auftritt bei „Sabine
Christiansen“ – für den gestandenen Journalisten kein
Widerspruch. „Letztendlich
profitieren beide Seiten davon,
wenn Leute nicht in gestanzten
Blocksätzen reden und Wortnebel verbreiten“, argumentiert der ehemalige Moderator
der Talkrunde „Je später der
Abend“.
Ideologische Probleme hatten selbst die Großen seiner
Zunft nicht. Friedrich Nowottny führte vor über 20 Jahren
nicht nur die Vogelfutterfirma
Vitakraft an die Tücken des
TV-Geschäfts heran, sondern
nahm sich auch den gesamten
Kamera
Vorstand der Deutschen Bank
zur Brust. „Alfred Herrhausen war ein
Talent vor der Kamera“, schwärmt der
ehemalige WDR-Intendant. Auch Hanns
Joachim Friedrichs stellte sich jahrelang
über die Unternehmensberatung Kienbaum der Industrie zur Verfügung.
Von 1991 bis 1996 trat Ulrich Wickert
in dessen Fußstapfen, bis die Kritik an
seiner Werbetätigkeit für die Versicherung Deutscher Herold auch unter
diesen Nebenverdienst einen Schlussstrich zog. 5500 Mark mussten Seminarteilnehmer laut Kienbaum für die Anwesenheit des vorwiegend Anekdoten
darbietenden „Tagesthemen“-Moderators
berappen.
Von solchen Preisen träumt Désirée
Bethge, 49, bislang noch. Die kühle ExFrontfrau von „Zak“, „Stern TV“ und „Focus TV“, die im Herbst vergangenen Jahres vom Bildschirm verschwand, investierte 100 000 Mark Startkapital für Beta-Kamera, Büro, edlen Designer-Prospekt und
500 Anschreiben, „immer an den Vorstand“. Zehn Prozent der Unternehmen
von Audi bis Bertelsmann reagierten und
werden wochenendweise in Tagungshotels
trainiert.
Jetzt hat die ehemalige TV-Moderatorin
nur noch ein Ziel: „reich werden“.
Anke Richter
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FOTOS: P. M. SCHÄFER
Medien
Schäfer-Bilder aus Bosnien (1992)*: „Vielleicht ist Zivilisation nur eine dünne Lackschicht über latenter Zerstörungsbereitschaft“
Angriffswut
und Mordlust
Ein Student der Fotografie reiste
auf den Balkan, um den Alltag
des Krieges zu dokumentieren.
Das Ergebnis: ein monumentales
Archiv des Schreckens.
D
er Mitarbeiter der internationalen
Bilderagentur Corbis kündigte höflich seinen Besuch an. „Ich habe
von Ihnen gehört“, sagte er, „vielleicht
kommen wir ins Geschäft.“
Der Essener Fotograf und Kommunikationsdesigner Peter Maria Schäfer, 38, empfing den Agenten in einem Hinterhof, wo
er sein Institut für Kultur und Medien hat.
Hier befinden sich auf zwei Etagen Fotostudio, Labor und ein Computer- sowie ein
Archivraum. Der Corbis-Mann zeigte sich
beeindruckt von dem, was Schäfer ihm präsentierte, machte deutlich, dass Corbis zum
Imperium des Bill Gates gehöre, und fragte schließlich, ob Schäfer verkaufen wolle.
„Ich glaube, die Gates-Leute gehen auf
Reisen und kaufen sämtliche Archive, die
sie kriegen können“, sagt Schäfer. Er entschied sich, vorläufig nichts wegzugeben,
„denn mein Herz hängt doch sehr an diesem Projekt“.
Das begehrte Projekt, an dem Schäfer
hängt, besteht aus einer eindrucksvollen
Fotodatenbank: 5000 Bilder dokumentie* Kroatischer Soldat in Grude; Brotausgabe in einem
zentralbosnischen Flüchtlingslager; bosnischer Soldat
mit Sohn in Mostar.
154
ren den Schrecken des Balkan-Krieges seit
1991. Es sind aufrüttelnde, eindringliche
und auch ganz stille Bilder, sie erzählen
von Demütigung, Vernichtung und Hoffnungslosigkeit, von Hunger, Not und verzweifelten Überlebensversuchen, aber auch
von Momenten der Würde und des Stolzes
– ein ungewöhnliches Kompendium, traurig, bewegend, ganz ohne Pathos.
Die Hälfte der Aufnahmen ist bereits in
eine CD-Rom-Fotodatenbank aufgenommen, dazu kommen Filmdokumente, Interviews, Texte über einzelne Menschen,
deren Schicksale Schäfer über einen längeren Zeitraum verfolgte.
Eine Auswahl der Bilder ist übers Internet abrufbar (www.ifkm.de), die vollständige Sammlung übergäbe Schäfer gern einem Museum, „nicht um zu schockieren
und anzuklagen, eher um aufzuklären und
zu informieren“ – ein Multimediaprojekt,
zur Ansicht für Schulklassen etwa und andere Interessentengruppen.
„In den letzten Jahren ist dieser Krieg zu
meinem Lebensthema geworden“, sagt
Schäfer. Er geriet Anfang der neunziger
Jahre in den Balkan-Krieg, zusammen mit
W. BELLWINKEL
FOTOGRAFEN
Fotograf Schäfer
„Sehr viel Schwein gehabt“
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seinem Kollegen Wolfgang Bellwinkel. Beide waren damals noch Studenten der Fotografie, und ihr Anliegen war, andere Aufnahmen des Krieges zu machen als die professionellen Berichterstatter.
„Wir wollten den Alltag des Krieges dokumentieren und hatten dabei keinerlei
kommerzielles Interesse“, sagt Schäfer. Die
beiden Studenten besorgten sich schusssichere Westen und einen alten Jeep, in
den sie sich eine Panzerglasscheibe einsetzen ließen. Dann fuhren sie los. Sie landeten zusammen mit Journalisten aus
aller Welt auch vor Mostar, als die Stadt
gerade eingekesselt war – die angespannte, ja explosive Stimmung machte die Situation für unerfahrene Fotografen gefährlich.
„Wir haben uns vollkommen naiv in diese Situation begeben und sehr viel Schwein
gehabt“, sagt Schäfer leise, noch im Nachhinein sichtlich erschrocken. Bellwinkel
und er kamen unverletzt von ihren ersten
Reisen zurück, und von da an fuhr Schäfer
immer wieder ins Kriegsgebiet.
Er fotografierte Soldaten an der Front
und Heckenschützen in beiden Lagern, serbische Gefangene im Knast von Sarajevo,
Frauen, die mit starrem Blick unter dem
Weihnachtsbaum sitzen, Kinder, die, von
Granatsplittern getroffen, mit zerfetzten
Leibern im Krankenhaus liegen, zerstörte
Häuser und Moscheen. „Mich interessiert,
was während eines Krieges auf den verschiedenen Ebenen passiert“, sagt Schäfer. Folgerichtig fuhr er auch nach Genf,
machte Bilder der Jugoslawien-Verhandlungen und fotografierte den damaligen
Uno-Generalsekretär Butros Butros Ghali
in Bonn.
Was, so fragte Schäfer sich und andere,
treibt Männer, die vor nicht langer Zeit
friedlich und zivilisiert lebten, ein Dorf zu
stürmen, die Männer dort zu erschlagen,
die Frauen zu vergewaltigen, die
Häuser zu plündern und schließlich abzubrennen? Woher kommt
diese immense Angriffswut, die rasende Tötungsbereitschaft?
Häufigste Antworten: Achselzucken, verdrossenes Schweigen,
hämisches Grinsen. Ein deutscher
Söldner, der für 350 Mark im Monat mordete, erklärte, dass ihm die
Kinder des Krieges Leid täten – geschossen hat er dennoch unterschiedslos auf alles, was sich bewegte, Frauen und Kinder waren
auch dabei.
„Ich hatte den Befehl, zu vergewaltigen und zu töten, wie die
anderen auch. Wenn ich es nicht
getan hätte, wäre ich selbst dran
gewesen“, erklärte ein junger Serbe. „Mein Vorgesetzter hätte mich
kaltgemacht.“ Morden und Vernichten auf Befehl, morden
schließlich im Kollektiv, weil es alle
machen, weil man sich daran gewöhnt hat,
weil es schließlich sogar Spaß macht? Schäfers Menschenbild änderte sich dramatisch.
„Vielleicht laufen wir in Wirklichkeit alle
als Tiere durch die Welt, und die Zivilisation ist nichts weiter als eine dünne
Lackschicht über latenter Zerstörungsbereitschaft.“
Rund 30-mal war Schäfer im Krieg. Später verkaufte er etliche seiner Bilder und
machte auch Filmbeiträge, unter anderem
für das Fernsehmagazin „Zak“. Mit Hilfe
und Geldern verschiedener Einrichtungen
organisierte er eine Ausstellung von 40 Fotos, die sehr erfolgreich in Sarajevo, Tuzla
und Oberhausen gezeigt wurde.
Dann, nach sechs Jahren, war plötzlich Schluss, Schäfer brauchte Abstand
vom Krieg, Zeit, sich psychisch zu erholen.
Es fiel ihm zunächst schwer, an sein früheres Leben anzuknüpfen, dafür hatte er
zu viel Grauen erlebt und zu viele Menschen sterben sehen und auch zu oft den
eigenen Tod vor Augen gehabt.
Schäfer spricht von einem „Bruch in seiner Psyche“, einer Art Traumatisierung.
Wer soll das nachvollziehen von denen daheim? Ist es nicht zwecklos, darüber zu reden? Er erzählt trotzdem von seinen Erlebnissen und erfährt mehr Anteilnahme
als erwartet. Er beginnt mit der Arbeit an
seiner Fotodatenbank, plant weitere Ausstellungen, sucht nach einem kompetenten Friedensmuseum. Irgendwann, da ist
er sicher, wird er ins befriedete Sarajevo
fahren, um Freunde zu besuchen. Aber bis
jetzt ist er noch nicht so weit.
Immerhin: Seine Bilder werden inzwischen vom Den Haager Kriegsverbrechertribunal zur Identifizierung von Tätern angefordert. Die Verurteilung von Verbrechern
kann, denkt er, zwar nichts ungeschehen
machen, mindert aber vielleicht die kollektive moralische Verstörung, die Krieg immer
verursacht.
Angela Gatterburg
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Gesellschaft
Szene
MODE
Berliner Maschen
M. WITT
as Rasseln der großmütterlichen Strickmaschine wurde
für Frieda von Wild, 37, zu einem
traumatischen Erlebnis: „Immer
wenn Musik schön wurde oder ein
Gespräch spannend, fuhr dieses
Ritschratsch mitten hinein.“ Später wurde aus der Hassliebe zur
„Knittax“ Freundschaft: „Stoff
selbst herzustellen macht besessen“, erzählt die Berliner Modemacherin. Wilds Pullover, Kleider
und Hosenanzüge werden in Form
gestrickt, und was man tun muss,
dass sie ihre Form auch bewahren,
lernte sie von der Strick-Designerin
Claudia Skoda. „Extrem geeignet
für die schnelllebige Großstadt“,
lobte eine Stammkundin die (an
einer leisen, modernen Strickmaschine angefertigten) Kreationen:
„Man muss bloß die Schuhe wechseln und ist nicht mehr bloß gut,
sondern elegant gekleidet.“ Seit
Friedas Mutter, die Ost-Berliner Fotografin Sibylle Bergemann, die
Mode der Tochter fotografiert, hält
die Produktion mit der Nachfrage
nicht mehr Schritt. Für Sibylle Bergemann völlig logisch: „Was sonst,
bitte, soll man denn anziehen?“
Zitti-Hopper Schenkel
VERKEHR
Chauffeur mit Mokick
er die Wahl hat, hat die Qual, besonders wenn es darum geht, ob
man nach der Party mit dem eigenen
Auto nach Haus fährt – und dabei riskiert, ohne Führerschein aufzuwachen –
oder ob man ein Taxi bestellt und dann
allerdings ohne sein Auto aufwacht. Das
eine ist fatal, das andere lästig. In Hamburg müssen sich Feiernde mit diesem
Gewissenskonflikt nicht mehr herumschlagen: Die Zitti-Hoppers bringen
Auto und haltlosen Halter heim. Faltbare motorisierte Zweiräder – genannt
Mokick –, die sich bequem im Kofferraum verstauen lassen, machen den Service möglich. Am Ende der Dienstfahrt
brettert der Hopper auf seinem Spezialgefährt zum nächsten angetrunkenen
Kunden. Mit acht Mokicks können die
fünf Hamburger Chauffeure den Bedarf
noch nicht decken, die nächste Lieferung der italienischen Fahrzeuge wird
dringend erwartet. Hopper Randolf
Schenkel, 35, setzt auf die Zukunft des
Kundendiensts: „Die Leute haben eines
begriffen: Es tut dem dicken Kopf gut“,
am nächsten Morgen „nicht auch noch
sein Auto suchen zu müssen“.
A. HAUSCHILD / OSTKREUZ
W
S. BERGEMANN / OSTKREUZ
D
Model mit gestricktem Hosenanzug
Modeschöpferin Wild
H AU P T S TA D T
Annäherung im Schummerlicht
Z
OSTKREUZ
u ungewöhnlichen Maßnahmen treibt die Hauptstädter die
immer noch zögerliche Verständigung zwischen Ost und
West: Am vergangenen Samstag wurden rund 250 Berliner in
einen Wilmersdorfer Strahlenschutzbunker geladen, um dort
bei klammer Kälte und wässriger Suppe 25 Stunden in dreistöckigen Eisenbetten auszuharren. Ausgedacht haben sich die
Aktion die Ausstellungsmacher der Multimediaschau „Story of
Berlin“. Der dafür verantwortliche Hans Maierski, 50, hält die
„Extremsituation im Bunker absolut ideal für eine Begegnung
zwischen Ost und West“. Sollte die kühne Behauptung sich
bewahrheiten, haben Ossis und Wessis auch an den kommenden Wochenenden Gelegenheit, im blauen Schummer der Notlampen zueinander zu finden. Organisator Maierski ist guten
Mutes: „Das ist die richtige Methode, endlich die Mauer in
den Köpfen einzureißen, dabei können lebenslange Beziehungen entstehen.“
Bunkerraum mit Gasmasken
157
Gesellschaft
Marathonläufer Fischer in New York: „Bleib locker, Alter, du hast dich doch optimal vorbereitet“
A. HASSENSTEIN / BONGARTS
K Ö R P E R K U LT
Wer läuft, schwitzt
Joschka Fischer hat den New-York-Marathon hinter sich gebracht und in einem
Buch beschrieben, wie er sich darauf vorbereitete und wie es sich lebt als schreibender
Läufer und laufender Außenminister und dünner Mensch. Von Alexander Osang
Z
weiundvierzig Kilometer sind zweiundvierzig Kilometer. Auch so eine
Wahrheit. Sie segelt sanft wie ein
chinesischer Papierdrachen durch die Lobby des UN Plaza Hotels in Manhattan, wo
ein paar Sessel und Sofas zwischen moosgrünem Marmor und verwirrenden Spiegelflächen verteilt sind. In einem Sessel
sitzt der deutsche Außenminister. Er liegt
mehr, als er sitzt. So sehr liegt er, dass er
sich jetzt in einem der Deckenspiegel beobachten könnte. Er würde dort einen
schlanken, irgendwie biegsamen Mann mit
grauen Haaren und großen Ohren sehen,
der zu meditieren scheint. Die Frage war,
ob der New-York-Marathon für ihn etwas
Besonderes sei. Der Mythos, die hohen
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Häuser, die vielen Zuschauer, er wisse
schon. Seine Antwort lautet: „Zweiundvierzig Kilometer sind zweiundvierzig Kilometer.“
Das stimmt natürlich.
Es ist wohl nicht spöttisch gemeint, auch
nicht bockig oder ärgerlich, nein, Joschka
Fischer lächelt. Er lächelt, als stecke in dieser Auskunft alle Weisheit der Erde. Er
lächelt gelassen, entrückt irgendwie, aber
souverän. Ein Moment lang herrscht Ruhe.
Gelegenheit, den Zweiundvierzigkilometersatz nach seinem tieferen Sinn zu durchforsten.
Es muss doch einen Sinn geben. Der
Mann ist Außenminister, und das hier ist
das UN Plaza Hotel im Herzen der Welt.
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Es ist der Abend vor dem New-YorkMarathon. Der zweite Marathon seiner
Karriere.
Vor einer Stunde ist er durch den Central Park gelaufen. Eine Art Abschlusstraining. Wie es war? „Ganz locker“, murmelt
Fischer, der jetzt beinahe waagerecht liegt,
sein Blick ist weit weg. Vielleicht auf der
Strecke. „Locker. Keine Anstrengung mehr
jetzt. Locker.“ Die letzten Worte sind
kaum noch zu verstehen. Man muss befürchten, dass der deutsche Außenminister
gleich in seinem flauschigen, grauen Dreiteiler verschwinden wird, so entspannt
wirkt er. Der Sprecher des Auswärtigen
Amts hatte angekündigt, dass sich sein
Chef bereits in der mentalen Vorbereitung
AP
REUTERS
Außenminister Fischer, Albright in Washington: „Die Amis sind keine Läufertypen“
befinde. Womöglich kann man nur noch
schwer zu ihm vordringen. Fischer gähnt.
Was denkt er gerade?
Joschka Fischer hat ein Buch geschrieben, in dem steht, was er bei gewissen Anlässen denkt. Es heißt „Mein langer Lauf zu
mir selbst“ (erschienen bei Kiepenheuer
& Witsch), und man kann dort nachlesen,
was ihm eine Woche vor seinem ersten Marathonlauf in Hamburg durch den Kopf
ging.
„,Au weia‘, dachte ich mir, ,wenn das
bloß gut geht.‘“ Oder: „Auf was hast du
dich da nur eingelassen, Fischer?“ Aber
auch: „Bleib locker, Alter, du hast dich
doch optimal vorbereitet.“
Denkt er das? „Bleib locker, Alter?“
Am anderen Ende der Halle klumpen
sich acht gedrungene, kahlköpfige Männer
um eine Sitzgruppe. Fischer schenkt seinem Sprecher einen lässigen Buddy-Blick.
Lächeln, Schweigen, Wissen. Die beiden
sind zusammen durch die Welt gelaufen.
Sie sind in Dakar gerannt, in Jerusalem, in
Paris, am Polarkreis. In Finnland begleitete sie ein Marathonläufer durch die Tundra.
Fischer hat sich einen Pulk von Jüngern
herangezogen, der ihn auf seinen Läufen
begleitet. Sie folgen ihm, sie umspülen ihn,
sie tragen ihn voran. Auf den Fotos in seinem Buch läuft Joschka Fischer meist in
der Mitte der Gruppe, kaum sichtbar vor
ihr. Aber vor ihr. The Leader of the Pack.
„Manche sind richtig süchtig geworden“,
sagt er stolz. Beim New-York-Marathon
knobelten die Sicherheitsleute darum, wer
ihn die ganze Strecke lang begleiten darf.
Darf. So sieht er das.
„Er ist eben eine starke Persönlichkeit“,
sagt sein Sprecher. „Er entwickelt einen
Sog.“
Läufer auf der Verrazano-Narrows-Bridge
„Wurst und Wein verloren an Attraktivität“
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Joschka Fischer wird munterer. Sein
Blick klärt sich. Er erzählt, wie er Sicherheitsbeamte in aller Welt abgehängt hat.
Sein Sprecher lächelt.
„Die haben das alle unterschätzt“, sagt
Fischer. „Das war für einige sehr bitter.“
„Aber sie lernen dazu“, sagt sein Sprecher. „Die Franzosen lernen. Sie haben
jetzt einen Läufer geschickt.“
„Die Österreicher auch“, sagt Fischer
und schaut zu den bulligen Security-Leuten am anderen Ende der Lobby.
„Die Amis sind nicht dafür gebaut. Das
sind keine Läufertypen. Die können vielleicht ’ne Kneipe leer räumen. Ist ja auch
nicht schlecht“, sagt er. Konfuzius ist jetzt
John Wayne. „In der Halle ist niemand,
der nicht meinetwegen hier ist.“
Der deutsche Außenminister gibt an. Er
dreht auf wie ein Junge. Nicht zufällig ist
er auf dem Schutzumschlag seines Buches
mit kurzen Hosen zu sehen. Er spreizt die
Beine und lacht. Er ist stolz, dass er so viel
abgenommen hat, so schnell und so lange
laufen kann. Er weiß, dass die anderen neidisch sind, die Kollegen, die saufen, während er läuft. Es ist gut, einen gesunden
Außenminister zu haben, man kann stolz
auf ihn sein. Und er hat eine Position, in
der ihn niemand mehr warnt. Seine Leute
wagen nicht, ihn zu überholen. So hält er
vieles von dem, was ihm so durch den Kopf
fährt, für mitteilungswürdig. „Beim Laufen
passieren im Kopf bisweilen die erstaunlichsten Dinge“, sagt Joschka Fischer.
Fischer als schreibender Läufer ist ein
Glücksfall. Er zeigt, wie banal es da oben
zugeht. Wie eitel. Und wie unspektakulär.
„Wer läuft, schwitzt und wird ergo
nass“, schreibt Fischer. Besser kann man
es nicht sagen. Sein Buch hätte in einen
Glückskeks gepasst. Aber Fischer ist kein
Chinese, er ist deutscher Außenminister.
Also macht er weiter. Man erinnert sich an
die ziegelsteindicken Memoiren von HansDietrich Genscher.
„Der Gewichtsverlust hielt weiter an,
und ich achtete jeden Morgen sehr akkurat auf die neuesten Ergebnisse des Wiegens“, schreibt er.
„Fleisch, Wurst und Wein verloren an
Attraktivität“, schreibt er.
„Nicht das Körperfett ist unser Problem,
sondern vielmehr dessen Überfluss“,
schreibt er.
„Und meine Laune war, bedingt durch
die Anstrengungen und Entsagungen,
ebenfalls nicht immer von frühlingsduftender Heiterkeit“, schreibt er.
„Ich habe seit längerer Zeit viel zu
wenig Schlaf, denn der Tag hat für den
deutschen Außenminister einfach nicht
genügend Stunden, ich fühle mich heute
bereits seit Stunden erschöpft, den Kopf
ausgelaugt, körperlich schlapp und wie
durch eine Pfütze gezogen, müde und
zerschlagen.“
Er will loyal sein, diplomatisch, und er ist
so stolz wie ein Kind. So ist ein Buch ent159
A. HASSENSTEIN / BONGARTS
Gesellschaft
Läufer Fischer, Ehefrau Nicola*: „Der Tag hat nicht genügend Stunden“
standen, das sich liest, als hätten es der Politiker, und er hat kürzlich von einem
Nichtraucherprediger Allen Carr, Genscher Berliner Orthopäden erfahren, dass die
und Konrad Kujau gemeinsam geschrie- Füße nach einem Marathonlauf eine Numben. Der Inhalt ist schnell erzählt. Erst war mer größer sind.
Gehört das nicht alles zusammen?
ich dick, dann war ich dünn. Dünn ist besEr isst kein Fleisch mehr. Nur noch Fisch,
ser. Wer Marius Müller-Westernhagens
Song „Dicke“ kennt, braucht das Buch zweimal in der Woche.
„Als wir in Tampere waren, haben mich
nicht mehr.
„Ich habe es von der ersten bis zur letz- die Finnen nach dem französisch-britischen
ten Seite selbst geschrieben“, sagt Fischer Beefkrieg gefragt“, sagt Fischer. „Aber das
geht mich nichts mehr an.“ Er lächelt. Aber
tapfer. „Ich denke, es wird gut gehen.“
Das wird so sein, aber er weiß, dass es nicht so, als habe er gerade einen Witz
nichts bedeutet. Ratgeberbücher gehen gut, erzählt.
Die Welt ist eine Laufstrecke geworden.
Ratgeberbücher mit Prominenten vorne
drauf gehen noch besser. Und Ratgeber- Sie scheint umrundbar. Der Central Park ist
bücher mit Prominenten in kurzen Hosen anspruchsvoller, als man denkt, Bonn war
nicht schlecht, im Kosovo-Krieg ist er oft
gehen am besten.
„Ich weiß noch, wie wir nachts von nachts gelaufen, über den Berliner Tiergardeutsch-russischen Konsultationen aus ten kann er nur lachen. Da kriegt er „nicht
genug Kilometer unter die
Moskau zurückflogen“, sagt der
Hufe“, und im Kreis rennen ist
Sprecher des Auswärtigen Amts.
„Den
langweilig. Er muss wohl auf die
„Es war halb zwei. Wir waren
LafontaineStraße ausweichen. Im Augenalle hundemüde. Aber Joschka
Rücktritt
blick lebt er ja noch am StadtFischer hat seinen Laptop rausgeholt und an dem Buch ge- habe ich kurz rand, da geht es, aber bald zieht
er nach Mitte. „Sie müssen bloß
schrieben.“
vor der
die Wohnung sicher maMuss ein Buch, das unter solWendemarke noch
chen“, sagt Fischer lässig. Auch
chen Umständen entsteht, nicht
erfahren“
so ein neuer, ungewohnter Satz
bedeutend sein? Auf dem Rückauf seinem langen Lauf zu sich
flug von Moskau? Sind da nicht
auch die fast 40 Kilo, die er verlor, irgend- selbst. Die Wohnung sicher machen. Er
wie von außenpolitischer Relevanz? Ges- kostet ihn aus, er probiert ihn wie seine
tern war er bei Madeleine Albright in Wa- Anzüge und seine Gesten. Fischer läuft und
shington, morgen läuft er Marathon, und läuft zu sich selbst, aber wo ist das?
Natürlich gibt er an, aber mitunter sieht
danach gibt’s ein Essen mit Richard Holbrooke. Er ist der beliebteste deutsche es auch so aus, als suche er Rat.
Manchmal schaut er wie Mütterchen Fischer, manchmal wie ein Feldherr, manch* Am Ziel des Marathonlaufs in New York.
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mal wirkt seine Lesebrille eitel, manchmal
wirkt sie, als schütze er sich damit vor den
Intellektuellen. Wenn er seinen Erfolg beschreibt, steht das Wort Erfolg manchmal
zwischen Anführungszeichen, manchmal
verzichtet er darauf. Oft redet er von sich
in der dritten Person, nennt sich Fischer,
aber auch Außenminister, wenig später
empfiehlt er: „Brustwarzen mit Pflaster
abkleben, Achseln, Schritt und Füße mit
Vaseline eincremen.“
Fischer pendelt zwischen Nähe und Distanz, zwischen früher und heute, zwischen
dem Hammer bei Kilometer 30 und der
Krise in Tschetschenien. Er sitzt im UN
Plaza, bewacht von acht amerikanischen
Sicherheitsleuten, und beschreibt Altersplattfuß und den „starken Flüssigkeitsverlust im Schritt“. Er betrachte Jörg Haider,
der auch läuft, nicht als Konkurrenten, sagt
Fischer. „Ein Österreicher ist ein Österreicher“, sagt er. Was immer das heißen mag.
Das Laufen sei nicht so wichtig, sagt er,
und bauscht es drei Minuten später wieder
auf. Und manchmal verknüpft er es mit
der Politik.
„Der Fischer-Plan ist mir an einem Freitag beim Laufen am Rhein eingefallen“,
sagt er. „Ich hatte schwere Beine. Als ich
zurückkam, habe ich sofort meine Leute
zusammengetrommelt.“
„Den Lafontaine-Rücktritt habe ich
auch beim Laufen erfahren. Kurz vor der
Wendemarke war der Kanzler am Apparat.“ Er erzählt es wie ein Paparazzo, der
sich im Spiegel erwischt. Fischer ist von
seinem Leben beeindruckt.
„Das wirkliche Geheimnis meines Erfolges war das Auswechseln und völlige
Neuschreiben meiner persönlichen Programmdiskette“, schreibt Fischer.
Am Morgen des 7. November steht
der deutsche Außenminister unter 30 000
Läufern am Fuß der Verrazano-NarrowsBridge auf Staten Island. Es ist kalt und
windig. Bürgermeister Rudolph Giuliani
begrüßt die Läufer zum aufregendsten Marathon der Welt. Sie applaudieren halbherzig, die meisten sind bei sich. Jemand
ruft über ihre Köpfe: „Trinken Sie viel.
Trinken Sie, sonst trocknen Sie aus.“ Es
hätte aus Fischers Buch stammen können.
Vielleicht kann man nicht mehr übers
Laufen sagen.
Am Abend rollt eine Limousine zwischen zwei Autos in die Garage am Hintereingang des Waldorf-Astoria. Von allen
Seiten springen Sicherheitsleute heran.
Stiernackige Burschen, keine Läufertypen.
Sie eskortieren einen schlanken Mann in
einem grauen Anzug. Er ist 3:56:13 gelaufen. Gerade hat sein Sprecher mit der
Rennleitung telefoniert, jetzt reden sie mit
Holbrooke über den Balkan. Er sieht glücklich aus.
Es ist ein langer Lauf, und Joschka Fischer liegt noch im Rennen. Darum geht es.
Für einen Moment scheint er bei sich selbst
zu sein.
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Gesellschaft
JUSTIZ
Langer Arm
des Staates
Immer mehr Bundesländer
lassen ihre Gefängnisse
von Privatfirmen bewachen –
ein Verstoß gegen die
Verfassung, sagen Juristen.
getrennten Anstalten, Volkmar Lischka im
Vollzug und Bernd Hahndorf in der Klinik,
würden fortan quasi unter einem Dach
Kranke und kranke Straftäter therapieren.
Sachsen-Anhalt folgt mit der Ausgliederung des Psychoknastes einem „bundesweiten Trend zur Privatisierung hoheitlicher Aufgaben“, moniert Verfassungsrechtler Hans Peter Bull, ehemals Innenminister in Schleswig-Holstein. Es herrsche
allenthalben „das Gefühl: Privat geht alles
besser und billiger“. Bei der Justiz jedoch,
glauben viele Fachjuristen, verstoße die
Privatisierung gegen das Grundgesetz.
konstruktionen verleihen etwa TÜV-Prüfern oder Schornsteinfegern staatliche
Macht, wenn sie die Bürger kontrollieren.
Beim Maßregelvollzug hingegen sei dieses Konstrukt „verfassungsrechtlich nicht
hinnehmbar“, kritisiert Verfassungsjurist
Bernd Volckart, ehemaliger Richter am
Oberlandesgericht Celle – auch wenn das
Land alleiniger Besitzer der Salus-Gesellschaft sei. Schließlich, mahnt Volckart, sei
die Zwangsbehandlung psychisch Kranker
ein Eingriff in die Grundrechte, „der zu
den einschneidendsten gehört, die in unserer Rechtsordnung vorkommen“.
Vollzugschef Lischka, Klinikchef Hahndorf
Kranke und Sexualtäter unter einem Dach
164
FOTOS: B. BEHNKE
D
er Aushang im „NP“-Supermarkt
von Uchtspringe verheißt den Bewohnern des kleinen Ortes nördlich von Magdeburg einen etwas seltsamen
Start ins Jahr 2000. Mit der Salus Service
GmbH dürfen sie im Gesellschaftsraum einer Einrichtung „ins neue Jahr tanzen“,
die vor 105 Jahren als „Heilanstalt für Epileptiker und Blöde“ gegründet wurde. Der
Eintritt für den Millennium-Ball: „28 Mark,
inklusive Büfett“.
Das Ausrichten von Silvesterpartys und
Hochzeiten ist für die Salus GmbH freilich nur ein Nebenjob. Die landeseigene
Gesellschaft betreibt vor allem Fachhospitäler und Heime für psychisch Kranke in
Uchtspringe und Bernburg. Das Geschäft
läuft gut, die Patientenzahlen steigen. Derzeit betreuen etwa 520 Mitarbeiter rund
800 psychotische Patienten, Suchtkranke
oder Epileptiker.
Nach Silvester wird die Firma neue
Kundschaft hinzubekommen. Denn in
Bernburg und Uchtspringe sitzen, bislang
streng getrennt von den anderen Patienten,
auch Sexualstraftäter. Die Bewachung obliegt dem Land Sachsen-Anhalt – noch.
Ab dem 1. Januar, so will es die Landesregierung unter Reinhard Höppner (SPD),
soll der so genannte Maßregelvollzug privatisiert werden. Zuständig für die rund
280 Straftäter wird dann die gemeinnützige Salus GmbH sein, das Land fungiert
fortan nur noch als Gesellschafter und Aufsichtsbehörde des Unternehmens, das auch
die 282 Beschäftigten des Vollzugs übernimmt. Die Uchtspringer Chefs der noch
Gefängnis in Uchtspringe (bei Magdeburg): Besser und billiger?
Dem Reiz, Bürokratie und Kosten zu
sparen, indem staatliche Aufgaben in private Hände gegeben werden, erliegt nicht
nur die hochverschuldete Landesregierung
in Magdeburg. In Mecklenburg-Vorpommern etwa werden zwei forensische Kliniken (Stralsund und Ueckermünde) von privaten Gesellschaften unterhalten.
Selbst in normalen Gefängnissen engagieren die Bundesländer immer mehr Private. So werden in Hamburg und Büren
Abschiebeknäste von Spezialfirmen bewacht. Die CDU-FDP-Koalition in Hessen
will mit einer privat betriebenen Anstalt
gar den „härtesten Strafvollzug in Deutschland“ praktizieren.
Unter Juristen stößt der Trend jedoch
zunehmend auf Widerstand. Laut Grundgesetz dürfen normalerweise nur „Angehörige des Öffentlichen Dienstes“ hoheitliche Aufgaben vollziehen. Wer Menschen einschließt oder fesselt, muss also
Beamter oder staatlich Angestellter sein.
Das Sozialministerium in Magdeburg
glaubt jedoch, sich mit einem juristischen
Kniff aus der Affäre gezogen zu haben. So
tritt die Salus GmbH beim Maßregelvollzug offiziell als eine mit Staatsaufgaben
„beliehene“ Gesellschaft auf, die als langer
Arm des Staates fungiert. Ähnliche Rechtsd e r
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Auch die Aufsichtsfunktion des Ministeriums hält Volckart im Fall der Salus GmbH
für unzureichend. Denn der Aufsichtsratsvorsitzende der GmbH, Dieter Schimanke,
ist zugleich Staatssekretär im Sozialministerium. Er müsse sich also bei Abwesenheit
seiner Ministerin – und in der Praxis –
selbst beaufsichtigen.
Salus-Geschäftsführer Volker Thesing
sieht in der Doppelfunktion des Staatssekretärs dagegen die im Landesgesetz erwünschte „enge Anbindung“ seiner Firma
an das Ministerium garantiert. Nur damit
sei die umstrittene Privatisierung öffentlich zu vertreten gewesen.
Der Dreh hat funktioniert. Zwar protestierten Mitarbeiter der Forensik in Uchtspringe und Bernburg zusammen mit PDSPolitikern wiederholt gegen die Pläne der
Landesregierung, aus Angst um ihre Arbeitsplätze. Bei der Abstimmung im Landtag Anfang Oktober blieb aber zumindest
auf Seiten der Sozialisten vom Protest wenig übrig: Die meisten PDS-Abgeordneten
verließen mit Rücksicht auf den Tolerierungspartner Höppner schlicht den Saal.
Salus-Chef Thesing hofft, die Debatte
sei damit vorerst erledigt – zumindest so
lange, „bis uns hier einer über den Zaun
hüpft“.
Hans-Jörg Vehlewald
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M. LAVINE / OUTLINE
Gesellschaft
Autorin Jong: „Sein Image zu verändern ist sehr viel schwieriger, als sich ihm zu fügen“
S TA R S
Fatale Berühmtheit
Wie künstlerischer Erfolg zum Fluch werden kann.
Von Erica Jong
Ihr Roman „Angst vorm Fliegen“ (1973,
deutsche Ausgabe 1976) machte sie weltbekannt: Erica Jong, 57, lebt in New York
und veröffentlichte zuletzt die biografische
Studie „Der Teufel in Person. Henry Miller
und ich“ (Hoffmann und Campe Verlag).
D
er Schriftsteller Vladimir Nabokov
soll einmal gesagt haben: „Lolita
ist berühmt, nicht ich.“ In meinem
Fall ist die Heldin, die mich fast völlig in
den Schatten gestellt hat, Isadora Wing, die
1973 den „Spontanfick“ definierte. Irgendwann in grauer Vorzeit, ich glaube, es war
1971, habe ich einen halbfertigen Roman
mit dem Titel „Der Mann, der Dichter ermordete“ (der Nabokov viel zu viel zu verdanken hatte) aufgegeben und den Roman
begonnen, der für mein Mündigwerden
steht und der später einmal als „Angst
vorm Fliegen“ bekannt werden sollte.
Dem Öffnen der einen Tür ging das Zuknallen einer anderen voraus. Ich hatte
168
gerade einen ersten Gedichtband an einen klugen Verlagslektor bei Holt, Rinehart
and Winston verkauft, und er hatte darum
gebeten, meinen ersten Roman zu sehen,
an dem ich gerade arbeitete. Er las ihn
schnell, und sein Urteil lautete so: „Das
ließe sich veröffentlichen, aber ich werde es
nicht veröffentlichen, und eines Tages werden Sie mir dafür danken.“ Stattdessen
schlug er vor: „Warum gehen Sie nicht
nach Hause und schreiben einen Roman
mit der furchtlosen Frauenstimme Ihrer
Gedichte?“
Bis dahin hatte ich mich nicht einmal
gefragt, warum ich Belletristik mit der
Stimme eines männlichen Verrückten
schrieb, eines literarischen Wahnsinnigen,
der loszieht, um seinen Doppelgänger umzubringen. Aber auf einmal wusste ich die
Antwort. Ich hatte Angst, die forsche weibliche Stimme, die ich in meinen Gedichten
entdeckt hatte, könnte unannehmbar sein.
Ich hatte Angst, sie laut erklingen zu lassen.
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Gedichte, das war eine Sache; aber ein Roman könnte vielleicht sogar gelesen werden. Ich hatte schreckliche Angst, mich auf
diese Weise zu entblößen.
Natürlich war genau dies der Grund für
den Erfolg des Buches. Es sagte offen heraus, was viele Frauen leise vor sich hin
dachten, und das führte dazu, dass es angestrichen wurde und von Hand zu Hand
weitergereicht wurde, mehr wie ein Amulett als ein Buch behandelt wurde. Es wurde geliebt, gehasst und von vielen Reaktionären für den Verfall der westlichen Kultur verantwortlich gemacht.
Als das Buch anfing, „ziemliches Aufsehen“ zu erregen, wie die Fernsehjournalisten immer zu sagen pflegen („Sie erinnern sich bestimmt an Erica Jong – ihr
erster Roman ,Angst vorm Fliegen‘ erregte ziemliches Aufsehen in den Siebzigern“), war mein erster Gedanke, dass ich
lieber mit der Arbeit an meinem zweiten
Roman beginnen sollte, bevor ich von dem
„Aufsehen“ abgelenkt wurde. Aber die
sackweise anfallende Post, die Einladungen zu Interviews, die Fotografen, die im
Gebüsch lauerten – sie haben es buchstäblich getan –, all das machte es mir unmöglich, irgendetwas anderes zu tun, als
mich auf dieses erste Buch zu konzentrieren. Ich hatte diese kuriose, altmodische
Vorstellung, ein Debütroman wäre genau
das, ein Debüt, nicht eine ganze Karriere.
Aber wohin ich auch ging, „Angst vorm
Fliegen“ verfolgte mich. Und das tut es
heute noch.
Das hat eine gewisse Ironie, denn mein
Ideal vom Leben einer Schriftstellerin ist
das von Colette: alle Lebensabschnitte einer Frau aufzeichnen; Risiken eingehen,
unterschiedliche Ausdrucksformen ausprobieren – vom Roman über Bühnenstücke bis hin zum Journalismus – und sich
standhaft weigern, sich in einer einzelnen
Persona einfangen zu lassen.
Ich habe bislang 19 Bücher geschrieben
– Gedichte, Sachbücher und Belletristik –,
aber wohin ich auch gehe, ich werde unweigerlich als die Autorin von „Angst vorm
Fliegen“ vorgestellt. Auch Menschen, die
das Buch nicht gelesen haben, wissen davon und identifizieren mich als die Erfinderin (und Verfechterin) eines gewissen
„Spontanficks“ – einer Phantasie von hemmungslosem Sex, die Isadora auf den
ersten Seiten des Romans beschreibt. Dieser Ausdruck wird auf meinem Grabstein
stehen.
Sicher, ich bin für die Liebe und die
Wertschätzung, die meinem ersten Roman
entgegengebracht werden, dankbar. Es
berührt mich immer noch, wenn sich Menschen genau daran erinnern können, wo
sie waren, als sie ihn gelesen haben, und
wenn sie sagen, „er hat mein Leben verändert“, und mich bitten, Neuauflagen für
ihre Töchter und sogar ihre Enkeltöchter
zu signieren. Aber wir leben im Zeitalter
der 30-Sekunden-Soundclips; so wie ihre
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Erkennungsmelodie anfängt, so bleiben
sie auch.
Ich habe überlegt, meinen Namen zu ändern, Romane unter einem Pseudonym zu
veröffentlichen. Ich habe überlegt, den Beruf zu wechseln. Aber die Wahrheit ist: Der
Fluch, ich selber zu sein, ist gleichzeitig
auch der Segen, ich selber zu sein. Mein
Name ist berühmt, und ein berühmter
Name ist wertvoll, auch wenn er aus den
falschen Gründen berühmt ist. Man hat
mir verlockende Geldbeträge dafür angeboten, für Computer, Vaginalsprays, Vitamine und Atemerfrischer zu werben. Ich
habe sie, ohne zu zögern, abgelehnt. (Da
Schriftsteller die einzigen Menschen auf
der Welt sind, deren Hauptaufgabe es ist,
die Wahrheit zu sagen, finde ich, dass
Schriftsteller niemals für irgendein Produkt werben sollten, außer für ihre eigenen
Worte. Schriftstellerei ist eine Berufung
und kein Gewerbe, und alles, was daraus
ein Geschäft macht, sollte streng gemieden werden.)
Sein Image zu verändern ist unendlich
viel schwieriger, als sich ihm zu ergeben.
Diese Art von Verrücktheit, die mit Bekanntheit dieser Größenordnung einhergeht, ist wie das Einschlagen eines Blitzes.
Es ist unwahrscheinlich, dass er zweimal
dieselbe Person trifft. Diane von Fürstenberg könnte für das Wickelkleid gleich
zweimal berühmt werden, aber die von ihr
entworfenen Halstücher und Gepäckstücke
haben sich nie so richtig durchgesetzt.
Ruhm ist äußerst vorsichtig. Er ist
zwanghaft besessen von Wiederholungen.
Schauen Sie nur, was passiert, wenn sich
Schauspieler weigern, sich auf eine bestimmte Rolle festlegen zu lassen. Oft bekommen sie keine Arbeit. Es ist schwierig für den Bösewicht, ein romantischer
Held zu werden. Tom Berenger wird
niemals mit Tom Cruise die Plätze tauschen. Goldie Hawn wird man niemals die
Rollen anbieten, die Meryl Streep bekommt.
Dieser tiefsitzende Konservatismus des
zeitgenössischen Ruhms kommt aus unseren visuell orientierten Medien.Wir dürfen
TIME LIFE PICTURE
Gesellschaft
Autoren Jong, Miller (1976)
Ruhm öffnet die Tür zur Prominenz
unsere Prominenten immer nur für so kurze Zeit sehen, dass allenfalls Karikaturen
bei uns hängen bleiben. Alles, was das Bild
komplizierter macht, verwirrt uns unweigerlich. Deshalb ist Greta Garbo „I want to
be alone“, Marie Antoinette ist „Lasst sie
Kuchen essen“. Und ich bin Erica „Spontanfick“ Jong.
Sind Menschen, die vor ihrem Bild in
der Öffentlichkeit kapitulieren, glücklicher als diejenigen, die dagegen ankämpfen? Tom Wolfe scheint seinen weißen
Anzug mit Gelassenheit zu tragen – und
vergisst dabei immer zu erwähnen, dass
ihn Mark Twain schon vor ihm getragen
hat. Sowohl Wolfe als auch Twain waren
schlau genug zu wissen, dass Kleider zwar
keine Leute machen, aber sie machen es
einem leichter, jemanden wiederzuerkennen. Wolfe lässt zu, dass man ihm ein
Markenzeichen verpasst. Er scheint sich
sogar darüber zu amüsieren. Ich bewundere die Art, wie er sich mit seinem Ruhm
abgefunden hat.
In einer Kultur, in der jeder danach giert,
berühmt zu sein, ist es seltsam, dass
berühmte Menschen ihrem Status als Star
keine dauerhafte Sicherheit abgewinnen
können. Die Menge mag toben, aber die innere Leere kann sie nicht füllen.
Jetzt muss ich aber aufhören, aus Angst
davor, den schlimmsten Fehler zu begehen, der den Berühmten widerfahren kann
– über den Ruhm zu klagen. Lieber missverstanden werden als missachtet werden.
Ruhm hat natürlich auch etwas Gutes,
nämlich die Türen, die er einem öffnet.
Berühmte Menschen haben es leicht, andere berühmte Menschen kennen zu lernen – und wenn sie es tun, stellen sie fest,
dass sie zumindest eines gemeinsam haben: dass sie berühmt sind. Diese Kollegialität ist für einen Romanschriftsteller
von unschätzbarem Wert.
Wenn ich über die Studioaufnahmen eines Rockstars schreiben möchte, dann rufe
ich den Rockstar an, der mich am meisten
interessiert, und bitte darum, einer Session
beiwohnen zu können. Anstatt zurückgewiesen zu werden, werde ich als Mitglied
des Berühmtheitsclubs willkommen geheißen. Und auch zu anderen berühmten
Schriftstellern habe ich leichteren Zugang.
Wenn ich mich mit Gore Vidal über den
Krieg in Jugoslawien unterhalten möchte,
rufe ich ihn an. Wenn ich die Cinecittà in
Rom besuchen möchte, kann ich Roberto
Benigni anrufen und weiß, dass sein italienischer Prominentenclub mich willkommen heißen wird, weil meine Bücher in
Italien beliebt sind.
Ein Ergebnis meiner langen Bekanntschaft mit dem Ruhm ist, dass ich inzwischen diejenigen bewundere, die es vorziehen, anonym zu bleiben. Während meiner
Amtszeit als Vorsitzende des Schriftstellerverbands Author’s Guild hat ein sehr berühmter Schriftsteller Millionen gespendet.
Für ihn hatte Wohltätigkeit nur dann
eine Bedeutung, wenn sie anonym stattfand. Er würde nie wollen, dass sein Name
ein Krankenhaus oder eine Schule ziert. Es
reichte ihm, dass er und Gott wussten, dass
er großzügig war.
nennen wir ihn einmal Humbert
– hatte mir wiederholt geschrieben und mich gebeten, bei einer
Versammlung seines Vereins für
„gut ausgestattete“ Männer als
Herrin der Messlatte anzutreten.
Ich habe ihm nie geantwortet.
Aber eines Tages bat mich Regis
Philbin in seiner Morgenshow in
Los Angeles, von meiner witzigsten Fanpost zu erzählen. Ich erwähnte die wiederholten Einladungen der „Latten-Jury“. Die
Leute fanden es amüsant, aber
ich vermute, viele dachten, ich
hätte das Ganze nur erfunden.
Als ich das Studio verließ,
stand ich plötzlich Humbert persönlich gegenüber, der in der
Nähe meiner Limousine lauerte.
Er kam auf mich zugestürzt und
dankte mir dafür, dass ich seinen
„Verein“ bekannt gemacht hatte. Und dann verfolgte er mich
für den Rest des Tages, von einer
Veranstaltung zur nächsten – und lungerte in meinem Schatten herum. Er glaubte
anscheinend, jede Reklame sei gute Reklame. Ich glaube das nicht mehr.
Ich habe gelernt, dass Sex für so viele
Menschen ein solch vertracktes und sie
verkrampfendes Thema ist, dass jeder, der
mit diesem Thema identifiziert wird, damit
rechnen muss, ihre seltsamsten Phantasien
zu schüren. Ich bin so weit, dass ich mich
anderen Dingen zuwenden möchte.
Ich gebe meine Fackel gern an Nicole
Kidman in ihrem „Blue Room“ weiter (und
nun wieder hüllenlos in „Eyes Wide Shut“)
oder an Natasha Richardson in „Closer“.
Die Leinwand sein, auf die die Phantasien
der Welt projiziert werden, ist eine harte
Aufgabe. Unschuldige Nacktheit ist den
übel riechenden Hirngespinsten dieser
Welt nicht gewachsen. Lolita hat dieselbe
Lektion gelernt. Vielleicht ist das der
Grund, weshalb sie nie erwachsen wurde.
G. COHEN / NETWORK / AGENTUR FOCUS
Die Selbstachtung, die eine solche Einstellung erkennen lässt, ist
bedauerlicherweise rar. In einer
beständigen Welt, in der sich die
Werte nicht von einem Jahrzehnt
zum nächsten drastisch veränderten, wäre es möglich, Einzelne
zu finden, die selbstbewusst genug sind, um anonym zu schenken und sich dadurch selber gestärkt zu fühlen. Die Welt des
Ruhms, in der wir heute leben,
ist eine Welt der Flüchtigkeit, in
der sich jeder fragt, wer „in“ ist
und wer nicht, und keiner weiß,
wann sich die Regeln vielleicht
plötzlich ändern werden. Die
Jagd hat alle anderen Metaphern
für das Leben ersetzt. Erschöpft
von dieser Hatz, wenden wir uns
nach innen und suchen unsere
Seelen. Und wir stellen fest, dass
wir sie verschenkt haben, an die
flimmernden Bilder auf unseren Erica Jong, Tochter Molly: „Wir suchen unsere Seelen“
Mattscheiben und Leinwänden.
Woody Allens Film „Celebrity“ (Ruhm)
Anfangs protestierte ich. Dann, als ich
handelt von der Verzweiflung, die un- erkannte, dass es sinnlos war, versuchte
sere Anbetung des Berühmten erzeugt. ich, selber meine Heldin zu werden. Die
Der glücklose, Woody-ähnliche Journalist Maske passte mir nicht. Jeder BildredakKenneth Branagh verbringt den ganzen teur, der vor der Wahl stand, ein Bild zu
Film damit, nach verschiedenen Arten nehmen, auf dem ich mir den Reißvervon Ruhm zu streben, und am Ende sei- schluss der Jeans zuzog, oder eines, auf
ner Abenteuer findet er sich noch ver- dem ich an meinem Schreibtisch saß und
wirrter und verängstigter denn je wie- schrieb, entschied sich für den Reißverder. Er blickt hinauf, als suchte er Gott, schluss. Und das Bild triumphierte über
und entdeckt in den Fetzen der Him- die Wahrheit; eine Romanfigur ist lanmelsschrift das Wort „Help“. Das Bild ge nicht so vielschichtig wie ein echter
ist so doppeldeutig wie gehaltvoll: Der Mensch. Ich bereute es, an meinem eigeMensch blickt Hilfe suchend zum Him- nen Verrat selber mitgewirkt zu haben.
mel und findet Gott, der ebenfalls um
Erlebnisse wie dieses machten mich vorHilfe ruft.
sichtig. Ich hörte auf, Briefe zu beantworten.
Als ich in meinen Zwanzigern die Idee Ich ließ mir eine geheime Telefonnummer
zu Isadora Wing hatte, war sie nicht ein geben. Aber wie hartnäckig Menschen sein
Ich, sondern ein Gegen-Ich. Sie war eben- können, die darauf hoffen, durch den Konso dreist und unverschämt, wie ich selbst takt zu einem selbst bekannt zu werden,
Angst hatte zu sein. Sie tat all die Dinge, lernte ich erst, als ich einem meiner gerisvon denen ich meist nur träumte. Als die- sensten Fans persönlich in die Falle ging –
ses Gegen-Ich zum ersten Mal mit mir sel- einem Mann, der behauptete, der Vorber verwechselt wurde, war niemand so standsvorsitzende eines „Vereins“ namens
überrascht wie ich selber.
„Die Latten-Jury“ zu sein. Dieser Herr –
© Erica Mann Jong 1999. Aus dem Amerikanischen von
Daniel Bullinger.
Werbeseite
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SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (8)
Die Woche vom 12. 11. 1989 bis zum 18. 11. 1989
»Ich liebe doch alle«
P. GLASER
„Die Mauer hat ein Loch, aber weg muss sie doch!“, ruft
das Volk. Unterdessen versucht Hans Modrow,
den SED-Staat zu retten – mit einer Koalitionsregierung,
die zur Hälfte aus alten Stasi-Mitarbeitern besteht.
Erich Mielke am 13. November 1989 vor der Volkskammer in Ost-Berlin
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100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE«
CHRONIK
»Stasi in die Produktion«
Sonntag, 12. November 1989
Wandlitz
Gerhard Schürer, 68, ist ratlos. 24 Jahre
lang hat der gelernte Maschinenschlosser
aus Zwickau als Chefplaner der DDR die
Wirtschaft der Republik gesteuert, und selten hat ihn der Glaube an die Überlebensfähigkeit des Sozialismus verlassen.
Doch seit zwei Tagen ist dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission klar,
Schürer, werde schon bald der Internationale Währungsfonds bestimmen, „was in
der DDR zu geschehen hat“; dann drohe
der Zwang zur „Reprivatisierung von Unternehmen“ und der „Verzicht des Staates,
in die Wirtschaft einzugreifen“.
Schürers Fazit: „Es ist notwendig, alles
zu tun, damit dieser Weg vermieden wird.“
Von Moskau ist kaum Hilfe zu erwarten.
Der Planungschef und seine Mitautoren,
darunter Devisenbeschaffer Alexander
Schalck-Golodkowski, schlugen daher vor,
wegs verzichten; die bis 1999 zu erwartenden Transit-Einnahmen gedachten sie
dem Kreditgeber als Sicherheit anzubieten.
Schürer drängte die Politbüro-Genossen
noch unmittelbar vor der unfreiwilligen
Maueröffnung zur Eile. „Jetzt vielleicht“
könne die DDR „für solche Ideen noch ökonomisches Entgegenkommen der BRD erreichen“. Doch „wenn die Forderungen erst
von der Straße oder gar aus Betrieben gestellt werden, wäre uns die Möglichkeit einer
Initiative wieder aus der Hand genommen“.
Der Mauerfall jedoch hat die letzte
Chance zur Sanierung der DDR-Wirtschaft
zerschlagen. Schürer muss erkennen, dass
sein Plan nur noch Makulatur ist: „Die politischen Ergebnisse haben die Aussagen der
ökonomischen Analyse und ihre Schlussfolgerungen in wenigen Tagen überholt.“
P. GLASER
Montag, 13. November 1989
West-Berlin
DDR-Chefplaner Schürer, Entwurf für Hightech-„Mauer 2000“: Über Nacht Makulatur
dass seine Republik unweigerlich am Ende
ist. Unter strengster Geheimhaltung hatte
Schürer in den letzten Wochen einen Plan
entwickelt, der vorsah, die Berliner Mauer gleichsam an Bonn zu verkaufen, für
teures Geld; das sollte dazu dienen, die
marode DDR-Wirtschaft zu sanieren und
die Auslandsverschuldung abzubauen.
Nun ist die Mauer, durch Schabowskis
Ungeschick, über Nacht gefallen – und die
Verhandlungsmasse perdu. Klar wie kaum
jemand sieht Schürer die Konsequenzen:
Die Maueröffnung, so, wie sie vorgenommen worden ist, ohne jede Gegenleistung,
hat es der DDR unmöglich gemacht, als
Staat weiter zu existieren.
Ende Oktober hatte der Planungschef
das Politbüro in einer 24-seitigen Vorlage
auf die „unmittelbar bevorstehende Zahlungsunfähigkeit“ der DDR hingewiesen –
und ein abscheuliches Schreckgespenst beschworen: Erzkapitalistische Kontrolleure
könnten das Kommando über die kommunistische Wirtschaft übernehmen. Wenn es
nicht gelinge, die Pleite abzuwenden, so
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der Bundesrepublik zu offerieren, „noch in
diesem Jahrhundert ... die heute existierende Form der Grenze zwischen beiden
deutschen Staaten überflüssig zu machen“.
Durch das bisherige Grenzregime, das
seit 1949 weit über 900 Todesopfer gefordert hat, ist die DDR seit langem international in Verruf geraten. Daher hatte OstBerlin in aller Stille Pläne für eine Art
Hightech-„Mauer 2000“ entwickelt – mit
Infrarotmeldern und Schallsensoren statt
Minen und Stacheldraht; Blaupausen lagen bereits in der Schublade.
Als Gegenleistung für eine Entschärfung
der Grenze erhofften sich die Planer Bonner Milliardenkredite. Bei der Bemessung
der Höhe müsse die Bundesregierung
berücksichtigen, „dass unserem Land in
der Zeit der offenen Staatsgrenze laut Einschätzung eines Wirtschaftsinstitutes der
BRD ein Schaden von ca. 100 Milliarden
Mark entstanden ist“.
An einen völligen Verzicht auf die Grenze oder gar an eine Wiedervereinigung haben Schürer und seine Mitautoren freilich
nicht gedacht. Auch auf die von Bonn gezahlte Transitpauschale wollten sie keinesd e r
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Die Aids-Hilfe rückt zum Sondereinsatz
vor West-Berliner Schwulenkneipen aus.
Ehrenamtliche verteilen rosa Flugblätter,
um die DDR-Bürger in Bleichjeans und
Billigturnschuhen über die Gefahren ungeregelten Grenzverkehrs zu informieren:
„Ihr werdet hier viel Positives erleben, aber
auch vielen Positiven begegnen.“
Überall in West-Berlin – wie auch in
Hamburg und Hof, in Kassel und Bayreuth
– belegen Trabis Parkplätze und Gehwege,
drängen Tagesbesucher in Kaufhäuser und
Supermärkte. Für Ostdeutsche gibt’s Freibier; Wurst-Maxe und Kebab-Schnitzler gewähren Nachlass. Und mancher großzügige Geschäftsmann nimmt die AluminiumMark der DDR zum Kurs 1:1 herein.
Die alte Hauptstadt hat sich, wenige Tage
nach der Maueröffnung, mit atemraubendem Tempo auf die neue Ära eingestellt.
Stadtplaner projektieren neue Verkehrswege, BVG-Busse steuern Ziele jenseits der
Grenze an. West- und Ost-Uniformierte
schirmen Arm in Arm neu geöffnete Grenzübergänge gegen die herandrängenden
Massen feierwütiger Menschen ab.
Nach 41 Jahren nehmen die Polizeichefs
der beiden Stadthälften wieder Kontakt
miteinander auf – über zwei schwarze
Bakelit-Feldtelefone aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Westpräsident Georg
Schertz frohlockt, jetzt gebe es „polizeilich
wieder ein Berlin, eine gesamte Stadt“.
ORBAN / CORBIS SYGMA
Montagsdemonstranten in Leipzig
„Die Berliner haben’s gut“
Die Wut der Leipziger auf die privilegierten Hauptstädter ist durch die Maueröffnung noch angefacht worden. An einen Baum hat jemand Handgeschriebenes
gepinnt: „Die Berliner haben’s gut – die
haben erreicht, was sie wollten. Aber unser
Leipzig ist immer noch kaputt!“
Die Heldenstadt wird so schnell keine
Ruhe geben.
A. NOGUES / CORBIS SYGMA
Ost-Berlin
Mauerabriss für neuen Grenzübergang: „Ihr werdet hier viel Positives erleben“
Hier und da macht sich aber auch schon
Unmut breit. Wessis rümpfen die Nase
über stinkende Trabis. Viele schimpfen
über Besucher aus dem Osten, die sich
doppeltes Begrüßungsgeld erschleichen,
indem sie – erst der Vater, dann die Mutter – ihre Kinder in den Auszahlungsstellen
gleich zweimal präsentieren.
Während sich der erste Jubel über die
Maueröffnung allmählich legt, bekommt
West-Berlins Bürgermeister Walter Momper einen Vorgeschmack von den „sozialen
Spannungen“, die über Deutschland heraufziehen werden.
Die „gängige“ Reaktion im Westen zum
Thema Ost-Hilfe, sagt der Sozialdemokrat, sei die Frage: „Wer gibt mir denn
was?“
Leipzig
Der schwarze Sarg, den vier Männer über
den Leipziger Ring schleppen, trägt die
Aufschrift „Machtanspruch der SED“.
Trotz bitterer Kälte und beißendem
Smog sind eine viertel Million Menschen
zur Montagsdemonstration gekommen, um
zu zeigen: Sie erwarten von den Regierenden mehr als nur offene Grenzen und
öffentliche Selbstkritik.
„Deutschland, einig Vaterland“ – die
Zeile, derentwegen die DDR-Hymne seit
1974 nicht mehr gesungen werden darf,
prangt nun in schwarz-rot-goldenen Lettern auf einem weißen Transparent. Auf einem anderen Tuch ist zu lesen: „Die Mauer hat ein Loch, aber weg muss sie doch!“
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Erich Mielke, 81, ist ein kranker Mann. Der
Geheimdienstchef leidet – wie in den kommenden Monaten diverse ärztliche Gutachten bestätigen werden – unter „Verwirrtheitszuständen“, „allgemeiner Gefäßverkalkung“ und „seniler Demenz (Altersschwachsinn)“.
Dennoch drängt es ihn an diesem Tag,
vor der Volkskammer die erste Rede seiner
31-jährigen Parlamentskarriere zu halten.
Als er die Abgeordneten „liebe Genossen“
tituliert, protestieren Mitglieder der Blockparteien: „Wir sind keine Genossen.“
Weil die Debatte live übertragen wird,
verfolgen Millionen von Fernsehzuschauern, wie der einst gefürchtete Stasi-Chef ein
sonderbares Geständnis in die Mikrofone
stottert: „Ich liebe, ich liebe doch alle. Ich
liebe doch, ich setze mich doch dafür ein...“
Grotesk auch die Abschiedsrede des Parlamentspräsidenten Horst Sindermann, 74,
der wochenlang eine Sondersitzung der
Volkskammer hinausgezögert hat, um seinen Kopf zu retten. Nun stammelt er, ihm
sei zumute, „als rutschten 40 Jahre Sozialismus plötzlich unter unseren Füßen weg“.
Peinlich schließlich der Rücktritt von
Willi Stoph, 75, der 22 Jahre lang Ministerpräsident war. Jetzt leugnet er jede Mitverantwortung für die ökonomische Misere: „Bekanntlich“ seien seine Kompetenzen „wesentlich eingeschränkt“ gewesen.
Erich Honecker und dessen Wirtschaftslenker Günter Mittag, verteidigt sich
Stoph, hätten nicht nur Volkskammer und
Ministerrat regelmäßig hintergangen, sondern auch alle Parteigremien. Eigenmäch179
tig habe das Duo Investitionen beschlossen, „die wir nachträglich erfahren haben
und nachträglich in den Plan hineinbringen mussten“.
Im Plenum kommt Unruhe auf. Auf Lug
und Trug aufgebaut, so erfahren die Abgeordneten, waren auch die angeblich stets
ausgeglichenen Etats: Finanzminister Ernst
Höfner bekennt, er habe „nicht deutlich gemacht, dass dieser Ausgleich zum Teil
auf der Aufnahme von Krediten beruht“.
Die Inlandsverschuldung belaufe sich,
erklärt Höfner, mittlerweile auf 130 Milliarden Mark (siehe Analyse Seite 198). Die
Höhe der horrenden Auslandsschulden behandelt die Regierung noch immer als Geheimsache.
In den Betrieben und Produktionsgenossenschaften der DDR verfolgen ganze
Belegschaften die Übertragung der Debatte. Mit jeder Minute wachsen „Bestürzung
und Fassungslosigkeit über das Ausmaß der
Lügen und des Volksbetruges“, wie die ZKAbteilung „Parteiorgane“ in einem internen Bericht über die „Stimmung in der
Bevölkerung“ festhält: „In den Parteikollektiven herrschen maßlose Enttäuschung
und Verbitterung.“
Der Zorn überlagert die wichtigste
Nachricht des Tages: Gegen Ende der Sitzung beauftragt die Volkskammer, bei einer einzigen Gegenstimme, den Dresdner
SED-Bezirkschef Hans Modrow, 61, mit der
Bildung einer neuen Regierung (siehe Porträt Seite 194).
Der Mann mit dem Reformer-Image und
dem guten Draht nach Moskau ist das letzte Aufgebot der Einheitspartei. Doch der
promovierte Wirtschaftswissenschaftler
und gelernte Maschinenschlosser steht vor
einer dreifachen Quadratur des Kreises:
Er soll freie Wahlen zulassen – jedoch
die in weiten Teilen des Volks verhasste
SED an der Macht halten.
Er soll die marode Wirtschaft ankurbeln
– aber gleichzeitig die Parteiherrschaft
über die Produktionsmittel bewahren.
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE«
Neuer Regierungschef Modrow
Dreifache Quadratur des Kreises
Und vor allem: Modrow soll das staatliche Bespitzeln beenden – obwohl sein Kabinett, wie Historiker in den neunziger Jahren herausfinden werden, mit MfS-Agenten durchsetzt und damit in hohem Maße
durch die Stasi erpressbar ist.
Dienstag, 14. November 1989
Ost-Berlin
Nach Mielkes jämmerlichem Auftritt vor
der Volkskammer setzt auf den Fluren der
Stasi-Zentrale das große Jammern ein.
Mitarbeiter der Hauptabteilung IX (Untersuchung) formulieren einen Protestbrief,
in dem sie ihrer „Bestürzung, inneren Verzweiflung und Betroffenheit“ über Mielkes
Rede Ausdruck geben.
Die SED-Grundorganisation der Hauptabteilung III (Funkaufklärung) setzt einen
„Offenen Brief“ auf, in dem die Genossen
über das „Trauerspiel“ in der Volkskammer Klage führen: „Unserem Ministerium
wurde durch den eigenen Minister ein le-
bensgefährlicher Stoß, hoffentlich nicht der
Todesstoß, versetzt!“
Die Herren der Finsternis, deren mächtigste Waffe die Furcht ist, die sie ihren Untertanen einflößen, sehen sich durch das
„makabre Schauspiel“ gleichsam entwaffnet – „der Lächerlichkeit preisgegeben“,
wie sich auch die Erfurter Bezirksstelle
schriftlich bei Modrow beschwert.
Die Geheimen sind schon seit Wochen
demoralisiert. In einem Papier („Persönlich!“) vom 13. November über die Bewachung der Bonzensiedlung in Wandlitz und
diverser Regierungsgebäude beklagt der Leiter der Stasi-Hauptabteilung Personenschutz, „dass die Einsatzbereitschaft der eingesetzten Sicherungskräfte in psychologischer Hinsicht eingeschränkt ist“: Die Tschekisten zeigten „Anzeichen von Angst“.
Zunehmend aggressiv sind die Beschimpfungen, denen sich Stasi-Leute etwa
in Leipzig Tag für Tag ausgesetzt sehen: „Parasiten, faules Pack, Volksverräter, ihr seid
das Letzte.“ Doch auch in Kleinstädten
schallen ihnen, wie die Berliner Auswerter
penibel auflisten, Drohungen entgegen:
„Stasi in die Produktion“ (Zeulenroda),
„Wir verdienen euer Geld“ (Schmalkalden),
„Eure Tage sind gezählt“ (Bad Salzungen).
Die Desorientierung der Elitetruppe
reicht bis in die Parteikontrollkommission
hinein, die über die Linientreue im MfS
wachen soll. Die Genossen beklagen „einen echten Vertrauensschwund nach hinten und auch nach vorn“.
Einer, der auf katholische Pfarrer angesetzt war, verliert die Contenance. Protokollauszug:
Wir werden angeschwindelt und schwindeln selber ... Die Regierung und
Parteiführung hat über viele Jahre das
Volk und uns als Genossen angeschwindelt ... Wir haben die jungen Genossen
schizophren erzogen ... Das neue Parlament wird kein MfS mehr haben wollen.
Mielke lässt sich zwar wenig später
während einer Dienstbesprechung bei seinem Stellvertreter Rudi Mittig für „das Geschehen“ in der Volkskammer entschuldigen. Doch das trägt kaum dazu bei, im MfS
Zorn und Zukunftsängste abzubauen. Ein
Major notiert, was über das Gespräch nach
außen dringt:
DER SPIEGEL
Minister gesprochen / bedauert / konnte
sich nicht mehr steuern / psych. / physisch
am Ende.
Jagdfreund Mielke (r.)*: Im Waffenschrank 32 Büchsen, Flinten und Maschinenpistolen
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Zum 18. November soll Mielke in den
Altersruhestand versetzt werden. Ein von
seinem Vize Schwanitz unterzeichneter
„Vermerk“ legt fest, dass Mielke alle
„Dienstwaffen sowie Jagdwaffen, die Eigentum des MfS sind“, zurückzugeben
hat. Eine Anlage zählt das persönliche Waf* Mit Erich Honecker (2. v. r.).
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100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE«
Hinter verschlossenen Türen übt die größte Bonner Regierungspartei Kritik an
ihrem Kanzler, den die Maueröffnung vor
sechs Tagen kalt erwischt hat.
Die CDU, warnt Bremens Landesvorsitzender Bernd Neumann im Parteivorstand,
dürfe „die historischen Stunden nicht vorbeigehen lassen“. Wirtschaftsexperte Matthias Wissmann rügt: „Wir haben die Situation nicht genügend mit einem politischen Konzept in den Griff bekommen.“
Die Vorstandsherren fürchten, die CDU
könnte nach dem Fall der Mauer in den Augen der Wähler als unfähig dastehen – ebenso wie einst, 1961, nach dem Bau der Mauer.
Im Bundestag reibt Sozialdemokrat Willy Brandt anderntags Salz in die Wunde:
„Es ist unvergessen“, sagt der Ex-Kanzler
und ehemalige West-Berliner Bürgermeister, „wie es einen bedeutenden, auf seine
Weise großen Bundeskanzler dieser Republik, nämlich Konrad Adenauer, die Mehrheit gekostet hat, dass er nicht zur angemessenen Reaktion auf die Vorgänge in
der DDR fand.“
Erkennbar in Richtung Kohl lässt Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der heimliche FDP-Vorsitzende, den Satz los: „Die
gewaltlose Revolution der Freiheit lässt keinen Raum mehr für Überheblichkeit, für
Selbstgerechtigkeit und Trägheit derjenigen, die politische Verantwortung tragen.“
Die geballte Kritik aus Union, Koalition
und Opposition trifft auf einen Kanzler,
der im Sommer „in nahezu aussichtsloser
Position und auf dem persönlichen Tiefpunkt seiner Karriere angelangt“ war, wie
der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte später die politische Szene beschreiben
wird. Attackiert von innerparteilichen Gegnern wie Heiner Geißler, Ernst Albrecht
und Lothar Späth, spielte Kohl, so Korte,
zeitweise gar „ernsthaft mit dem Gedanken, seine Kanzlerschaft zu beenden“.
Weder für Kohl-Freunde noch für KohlFeinde ist absehbar, dass die Wende in der
DDR binnen weniger Wochen auch die
Karriere des bislang glücklosen Kanzlers
wenden wird.
D. KONNERTH
Mittwoch, 15. November 1989
Bonn
treff, Diplomaten-Residenz und AgentenResidentur.
Inkognito sind in der Edelherberge schon
Berühmtheiten wie der venezolanische TopTerrorist Carlos oder der Kieler CDU-Ministerpräsident Uwe Barschel abgestiegen.
Und immer wieder gastieren auch westliche
Geschäftsleute in dem 540-Zimmer-Etablissement – nicht zuletzt wegen der Damen
am „Sinus“-Tresen im Tiefgeschoss, über
deren besondere Qualität ein Barkeeper
sagt: „Hier haben die Huren keine Uhren.“
Dafür haben hier die Wände Ohren und
die Spiegel Augen. Mit elektronischen
Wanzen und versteckten Kameras ist die
Stasi-Tapetenkamera
AUS DEM BUCH: VEB BORDELL; LINKS VERLAG, BERLIN
fenarsenal des Jagdnarren auf: insgesamt 32
Posten, darunter 23 „Repetierbüchsen“ und
„Bockbüchsflinten“, „Bockdoppelflinten“
und „Bockdoppelbüchsen“, dazu, für alle
Fälle, 7 Pistolen und 2 „Mpi 61“.
Behalten darf der Armeegeneral a. D.
laut Protokoll lediglich seine „Dienstpistole Sauer und Sohn, Nr. 14382, Kal 635“
und eine letzte „Ehrengabe“ seines Staates – einen „Generalsdolch mit Gravur“.
Stasi-Observationsfoto*
Hotel-Überwachung in der DDR
„Hier haben die Huren keine Uhren“
Ost-Berlin
Stasi immer dabei – ob der Ständige Vertreter Bonns in einer Suite im achten Stock
Gäste empfängt oder ob libysche Diplomaten in ihrem Zimmer Bombenattentate
im Westen planen.
In Appartement 8126 gelang Ost-Berlins
Dunkelmännern Ende Januar 1989 einer
Das Palasthotel gegenüber dem Berliner
Dom ist alles andere als ein normales Hotel. Es ist zugleich Bordell und Schieber-
* Aus dem Bestand des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU).
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ihrer größten Coups. DDR-Außenhändler
Siegfried Schürer verständigte sich mit
zwei Vertretern des Hanauer TechnologieUnternehmens Leybold heimlich über ein
illegales Embargogeschäft: Für drei Millionen Mark offerierten die Westler Konstruktionspläne für den „Plasma-Ätzer
MBE 3002/3003“, ein Gerät zur MikrochipFertigung; die Unterlagen hatten sie in ihrer Firma „zur Seite gebracht“ (SchürerNotiz).
Der größte aller denkbaren deutschdeutschen Deals steht knapp zehn Monate später im Palasthotel an: Am 15. November ist der CDU-Politiker Walther Leisler Kiep zu Gast – als persönlicher Sendbote von Bundeskanzler Helmut Kohl.
Kieps Auftrag: die DDR für westliches
Kapital zu öffnen.
Diskrete Kontakte mit der SED-Spitze
pflegt Kohls Mann fürs Spezielle bereits
seit mehr als zehn Jahren. Schon 1975, lange bevor der Pfälzer Kanzler wurde, reiste
der CDU-Bundesschatzmeister heimlich
nach Ost-Berlin, um im Gespräch mit dem
SED-Funktionär Herbert Häber den DDRRegenten die Sorgen vor einer möglichen
Abwahl der sozialliberalen Koalition und
einem Ende der von Willy Brandt eingeleiteten Ostpolitik zu nehmen.
Häber, Leiter der Westabteilung des
Zentralkomitees, meldete seinem Generalsekretär Honecker damals, im Vorfeld
von Kohls erster Kanzlerkandidatur: „Kiep
sagt, die DDR würde angenehm überrascht
sein, wie vernünftig eine CDU-Regierung
Politik machen würde.“
Wohlwollen lässt Kohl durch seinen
bewährten Abgesandten jetzt auch der
neuen SED-Führung signalisieren. Bei
einem konspirativen Hotel-Treff mit Gunter Rettner, dem Leiter der ZK-Abteilung Internationale Politik und Wirtschaft,
soll der Christdemokrat das Terrain ebnen für den am folgenden Montag anstehenden Besuch des Kanzleramtsministers Rudolf Seiters bei DDR-Premier
Modrow.
Die Begegnung zwischen Kiep, dem
smarten Bilderbuchkapitalisten, und Rettner, dem doktrinären Leninisten, verläuft
außerordentlich harmonisch. Kiep, so das
DDR-Protokoll, schwärmt über die „Revolution von oben und unten“ und rühmt
den „radikalen Reformwillen in der politischen Führung“ unter Krenz.
An einer Wiedervereinigung, versichert
Kiep, sei der Kohl-Regierung nicht gelegen – im Gegenteil. Der Protokollant
notiert:
Die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hält Leisler Kiep für unrealistisch; diese würde weder von der Mehrheit der BRD-Bürger und schon gar nicht
in der DDR gewünscht.
Vier Stunden dauert das Gespräch im
Palasthotel. Im vertraulichen Plausch son-
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B. KOBER / PUNCTUM
100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE«
Marode DDR-Industrieanlagen in Espenhain: „Für die Dreher Gage statt Lohn“
K. MEHNER
könnten mit den antiquierten
dieren Kiep und Rettner diApparaturen noch produzieren.
verse neue Formen ökonomiNun soll West-Geld alles
scher Kooperation – ein gerawenden. Kiep und Rettner
dezu revolutionärer Wandel in
sprechen über „Joint Ventuder deutsch-deutschen Zures“, Gemeinschaftsunternehsammenarbeit.
men, wie sie in Ungarn und in
Denn bisher hat sich Ostder Sowjetunion schon mögBerlin strikt gewehrt, profitlich sind, und über „Wirtgierige Kapitalisten ins Land
schaftssonderzonen“. Das sind
zu lassen. Die DDR, fürchtet
Gebiete mit speziellen Bedie SED, würde anderenfalls
günstigungen für „ausländivon der westdeutschen Wirt- SED-Mann Rettner
sche“ Firmen.
schaft verschlungen – und das
Dazu zählen für Rettner, natürlich, auch
Ende der Zweistaatlichkeit wäre abzusedie Unternehmen aus dem Westen
hen.
Nun lockt Kiep mit Vorschlägen, wie das Deutschlands.
längst moribunde System zu stabilisieren
sei. Helmut Kohl, notiert die DDR-Seite,
wolle „den politischen Rahmen für die Un- Donnerstag, 16. November 1989
ternehmen und Institutionen der BRD absichern und ihnen die Sorge für ein politi- Dortmund
sches Risiko abnehmen“.
Detlev Karsten Rohwedder, 57, der Chef
In einem Punkt sind sich Ost- und West- des Stahlkonzerns Hoesch, lässt den BesuVertreter ohnehin einig: Von der Idee, cher aus Dresden anderthalb Stunden lang
DDR-Firmen in Formen der „Selbstorga- warten.
nisation“ zu überführen, wie es neuerdings
Um 16 Uhr ist der ostdeutsche Professor
in der Bürgerbewegung gefordert wird, hal- Albert Jugel, 40, mit dem West-Manager
ten beide nichts. Die Übergabe an die Be- verabredet. Als Rohwedder ihn schließlich
legschaften würde westdeutsche Unter- um 17.30 Uhr empfängt, sagt er gleich, er
nehmen abschrecken, jenes Kapital zu in- habe nur zehn Minuten Zeit. Worum es
vestieren, das gebraucht wird, um die ver- denn eigentlich gehe?
alteten Anlagen zu modernisieren.
Unter diesen Umständen brauche er gar
Viele Maschinen sind mindestens 40 Jah- nicht erst anzufangen, erwidert Jugel: So
re alt und praktisch schrottreif. Neue aber zwischen Tür und Angel lasse sich das Prokönnen sich die Betriebe nicht leisten, weil blem nicht erörtern. Da grinst Rohwedder
es an Devisen fehlt.
verschmitzt und bittet Jugel zu einem runSeine Dreher müssten eigentlich Gage den Tisch in seinem Büro.
statt Lohn bekommen, lästerte schon der
Vier Stunden lang reden der Ossi und
Meister Hans-Jürgen Mielke vom VEB der Wessi miteinander. Zum ersten Mal
Schwermaschinenbau „Georgij Dimitroff“ lässt sich Rohwedder – später Präsident der
im „Neuen Deutschland“: Nur „Künstler“ im Februar 1990 gegründeten Treuhandan186
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stalt zur Privatisierung der Volkseigenen Betriebe – von einem Insider umfassend über die ökonomische Lage der DDR aufklären.
Westdeutsche Unternehmer haben bislang keinen Schimmer, wie
desolat die ostdeutsche Wirtschaft
wirklich ist. „Sie wissen nicht, worauf sie sich da einlassen“, resümiert der Autor Michael Jürgs, der
in seinem Buch „Die Treuhändler“
die Schlüsselszene zwischen Rohwedder und Jugel schildert.
Der Professor ist im Auftrag
des Dresdner Oberbürgermeisters
Wolfgang Berghofer und des Ministerpräsidenten Modrow nach Dortmund gereist. In der Hoesch-Zentrale verspricht der Stahlboss dem
Wissenschaftler, beim Aufbau eines
Technologieparks in Dresden zu
helfen. Nach weiteren Gesprächen
in westdeutschen Staatskanzleien
fertigt Jugel für Modrow ein Protokoll seiner Westreise:
Es wurden erörtert Möglichkeiten
der Lohnarbeit von DDR-Betrieben für Hoesch sowie der Kapitalbeteiligung von Hoesch in der DDR. Dr. Rohwedder sagte hier jede erdenkliche Unterstützung zu, falls der demokratische Prozess in der DDR in Richtung einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft
läuft ... Hoesch bietet an: Die Produktion
von 100 000 t Stahlrohrmaterial pro Jahr in
der DDR für Hoesch als Ausgang für die
Produktion von Blattfedern und Schraubenfedern für die BRD-Autoindustrie...
Eine „Verlagerung in die DDR“, referiert Jugel, sei für die westdeutsche Industrie „einfacher und billiger als Aufbau von
Kapazitäten in Portugal“.
Ost-Berlin
Seit Tagen bereitet sich Generalleutnant
Wolfgang Schwanitz, 59, auf ein neues Amt
vor: Modrow hat dem Mielke-Stellvertreter – und nicht dem bis dahin favorisierten,
fünf Jahre älteren Rudi Mittig – die Aufgabe angetragen, die Staatssicherheit in neuem Gewande zu reorganisieren.
Schwanitz, seit 1951 bei der Stasi und
selbst mitverantwortlich für die Übergriffe am 40. Jahrestag der DDR, hat die Offerte akzeptiert – obwohl er „die Angehörigen unseres Organs in der schwierigsten Situation“ weiß, „die jemals vor ihnen stand“.
Die Strategie der Spitzenkader in SED
und Stasi ist klar: Aus taktischen Gründen
sind sie bereit, das Etikett des Amtes zu erneuern. Ansonsten soll sich an der Arbeit
so viel wie nötig und so wenig wie möglich
ändern.
Nicht in der Volkskammer, sondern in
der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS wird ein vermeint-
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100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE«
T. SANDBERG / OSTKREUZ
lich unverfänglicher Name für die Nachfolgebehörde erdacht: „Amt für nationale
Sicherheit“, ein Titel, den der Volksmund
freilich bald schon zu „Nasi“ verkürzt. Auf
Stasi reimt sich auch der erste Geheimbefehl, den Schwanitz entwirft:
Die dienstlichen Bestimmungen und Weisungen des bisherigen Ministeriums für
Staatssicherheit behalten im Sinne einer
Übergangsregelung vorerst ihre Gültigkeit.
Von der neuen Regierung glauben die Mielke-Nachfolger Schwanitz
Geheimen noch nicht allzu viel befürchten Nasi reimt sich auf Stasi
zu müssen. Denn die Hälfte der Minister,
die Modrow morgen vorstellen wird, ist in
Möbis selbst wird sich zehn Jahre später
den Stasi-Akten als IM erfasst.
unwissend geben: „Auch heute noch bin
Außerdem ist der künftige Regierungs- ich nicht in der Lage, die Triebfedern zu erapparat von einem dichten Netz von klären, die den Wettlauf um personellen
„Offizieren im besonderen Einsatz“ (OibE) Einfluss in der Modrow-Regierung ausdurchwoben: Geheimdienstler mit einer gelöst hatten.“
zweiten, zivilen Identität, die dem MfS
unterstellt sind (und die, ohne es zu
wissen, ihrerseits mit IM-Hilfe überwacht Freitag, 17. November 1989
werden).
In der Schaltzentrale der alten wie der Ost-Berlin
neuen Regierung sitzt, einer Spinne gleich, Es ist einer jener Tage in diesem Herbst, an
der Chef eines geheimen Netzwerkes: denen in Betrieben und Haushalten der
Staatssekretär Dr. Harry Möbis, 59, Öko- DDR von morgens bis abends die Rundnom aus Hackpfüffel am Kyffhäuser und funkgeräte laufen. Mit Spannung erwartet
Leiter des Sekretariats des Ministerrates.
die Republik die Vorstellung der Regierung
Der einstige MfS-Mann dirigiert seit 20 Modrow.
Jahren eine republikweite „Arbeitsgruppe
„Es ist eine Koalitionsregierung, die in
Organisation und Inspektion“, die der gemeinsamer Diskussion entstanden ist“,
Wirtschaftskontrolle dient; als OibE ist er erklärt der neue Premier vor der Volksder Stasi-Hauptabteilung XVIII (Wirt- kammer. Modrow plädiert für eine Verschaft) unterstellt. Der Dresdner Modrow, tragsgemeinschaft der beiden deutschen
Neuling im Berliner Regierungsgeschäft, Staaten und bittet um „einen Vertrauensist angewiesen auf guten Rat
vorschuss“ für sein Kabinett –
und guten Draht zu Kennern
obwohl er, ungerührt von der
des Apparates. Da bietet ein
Stimmung im Lande, weiterhin
Mann wie Möbis sich geradezu
für seine SED die „führende
an, der sich noch zehn Jahre
Rolle“ beansprucht.
später wundert: „Modrow
Zwar stellt die Einheitspartei
selbst kümmerte sich kaum um
im neuen, verkleinerten KabiPersonen.“
nett nur noch 16 von 27 MitAls Staatssekretär für die Regliedern (vorher 40 von 44).
gierungszentrale ist bereits in
Aber alle wichtigen Ressorts
der ersten Novemberhälfte der
sind unter kommunistischer Kuvielseitige „Genosse Dr. Möbis
ratel: die Ministerien für Inneres
vorgesehen“ – so ein vertrauli- Stasi-Offizier Möbis
und Äußeres, für Verteidigung,
ches Stasi-Dossier mit dem sperKultur, Finanzen und Jugend,
rigen Titel „Information über Vorstellun- die Plankommission und die Stasi-Nachgen zur Struktur und ersten personellen folgebehörde, deren Chef Schwanitz MinisBesetzungen der durch die Volkskammer terrang bekleidet.
der DDR zu berufenden Regierung der
Insgesamt elf der neuen KabinettsmitDDR“.
glieder entstammen den so genannten
Hat die Stasi ihren OibE Möbis genutzt, Blockparteien (vier der LDPD, drei der
um das Modrow-Kabinett mit Einfluss- CDU, zwei der NDPD und der Bauernagenten zu durchsetzen?
partei). Doch das besagt nicht viel: Sieben
„Über Möbis wurde die Kommunikation dieser „Blockflöten“ sind dem SED-Staat
zwischen dem Ministerratsvorsitzenden ungleich enger verbunden, als es den Anund den Ministern organisiert“, schreibt schein hat – sie sind oder waren Inoffizielder Historiker Walter Süß in seinem Stan- le Mitarbeiter der Stasi.
dardwerk „Staatssicherheit am Ende“. Süß
Diese Häufung mache es „sehr unwahrist sicher: Möbis war „auf der richtigen Po- scheinlich“, so Süß, „dass es sich um einen
sition, um die Regierungsbildung zu beein- zufälligen Begleitumstand handelte“. Die
flussen und Auswahlkriterien der Staats- Berufung bewährter Agenten habe der Stasicherheit einfließen zu lassen“.
si ein „Mittel zur Diskreditierung und Er188
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AFP / DPA
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Staatsratsvorsitzender Krenz (r.) bei der Vereidigung des Modrow-Kabinetts: „Mittel zur Diskreditierung und Erpressung“
Ost-Berlin
Kaum ist Egon Krenz am Abend aus der
Volkskammersitzung in sein Büro zurückgekehrt, da ruft, hochgradig erregt, sein
Vorgänger Erich Honecker an: „Welches
Spiel treibst du eigentlich mit mir?“
Krenz: „Ich verstehe nicht, was du
meinst.“
Honecker: „Ihr wollt mich vor Gericht
stellen.“
Krenz: „Wer sagt das?“
Honecker: „Markus Wolf.“
Der SED-Chef lässt sich die Agenturmeldungen des Tages reichen. Eine ist
tatsächlich überschrieben: „Wolf fordert:
Honecker vor Gericht!“
Honeckers Ziehsohn ist empört: „Was ist
in Wolf gefahren?“ Er findet, wie er später
in seinen Memoiren („Herbst ’89“) schreiben wird, dass „Weggefährten zusammen190
halten sollten“, und beschließt, Wolf zur sprächen geführt, bei denen „Herr Wolf
Rede zu stellen.
die Schlüsselfigur war“:
Der pensionierte Spionagechef, der jetzt
als Schriftsteller firmiert, aber weiterhin Herr Wolf kam und ging regelmäßig, Herr
mit seinen alten KGB-Kontaktleuten kon- Krenz wurde einmal gerufen, und Herr
spiriert, verfügt noch immer über einen Modrow wurde mehrmals gerufen ... Falin
Regierungsanschluss. Krenz wählt die Ge- handelte ganz offensichtlich in Gorbaheimnummer 2816 und lässt Wolf wissen, tschows Auftrag, als er darauf hinwirkte,
was er einen Tag später auch Honecker dass Krenz aus der Schusslinie ging. Die somitteilen wird: „Man kann altes Unrecht wjetische Führung hatte begriffen, dass die
nicht mit neuem beantworten.“ Da geht Trumpfkarte Krenz nicht zieht, dass man
Wolf in die Offensive. Er hat die „neu-alte jetzt voll auf die Trumpfkarte Modrow setFührung“ um Krenz bereits öfzen musste und darauf, dass die
fentlich als „provisorisch“ bereformierte SED überlebt ... In
zeichnet, nun legt er nach: Das
jedem Fall hat Herr Falin im StiVerhalten der SED-Spitze sei
le der früheren sowjetischen
„ein einziges Jammerspiel“, ein
Einflusspolitik auf die DDR dort
„ständiges Zurückweichen unentscheidende Weichen für den
ter Druck“. Überfällig sei eine
Abgang von Krenz gestellt und
„vollständige Erneuerung“ des
für den Versuch, nun mit
ZK, der Basis dürften „jetzt
Modrow ... so viel von der DDR
endgültig keine alten Gesichter
zu retten, dass die Sowjets für
mehr präsentiert werden“.
ihre Deutschlandpolitik die KarIm Laufe des Telefonates wird Kreml-Bote Falin
ten in der Hand hatten.
Krenz’ „Stimme immer belegter“, wie Wolf registriert: Der Mann, der
Eine Woche nach dem abendlichen Tevor kurzem erst Honecker stürzte, beginnt lefonat über Honeckers Zukunft wird es,
offenbar zu ahnen, dass seine eigene Amts- am 22. November, zu einem Vieraugengezeit bald abgelaufen sein wird – und dass spräch zwischen Krenz und Wolf kommen,
der KGB-Meisterschüler Wolf „mit bei dem der Exekutor dem StaatsratsvorRückendeckung Moskaus“ und im Zusam- sitzenden „die Abschaffung des Staatsrates
menspiel mit Modrow einen „,Aufruhr‘ in- und damit auch des Vorsitzenden“ vornerhalb der SED gegen Krenz inszeniert“, schlagen wird.
wie Mitstreiter Schabowski später schreiAm 4. Dezember schließlich wird Krenz
ben wird.
(„Ich habe keine Chance mehr“) dem von
Krenz, der gegen Honecker putschte, Wolf mitorganisierten Druck weichen und
Wolf, der gegen Krenz intrigierte – all die- sein Rücktrittsgesuch einreichen.
se Figuren sind, so Schabowski im RückDass der in Stasi-Kreisen noch immer
blick, nur „Würstchen in einem größeren populäre Ex-Spionagechef Wolf die ParSpiel“.
teireform unterstützt, hat nach Ansicht von
Was sich in diesen Tagen hinter den Ku- Zeitgeschichtlern 1989/90 dazu beigetralissen der offiziellen Politik abspielt, sprach gen, die Gefahr eines Geheimdienst-Put1992 ein hoher MfS-Offizier dem Historiker sches zu verringern. Revolutionsforscher
und ZDF-Redakteur Ekkehard Kuhn auf haben für Leute wie Wolf einen speziellen
Band.
Terminus parat: „Swingman“.
Der Zeitzeuge, zuständig für die AbsiDeren Funktion definieren sie so: „In
cherung der Sowjetbotschaft, berichtet, der demokratischen Umbrüchen, bei denen
Gorbatschow-Vertraute Valentin Falin sei viel davon abhängt, dass Militär und PoliMitte November unter konspirativen Um- zei ruhig bleiben, tauchen manchmal hohe
ständen nach Ost-Berlin geflogen und habe Offiziere auf, die scheinbar oder tatsächim Botschaftsgebäude eine Serie von Ge- lich, vor allem aber öffentlich sichtbar auf
ACTION PRESS
pressung“ in die Hand gegeben. Damit
habe sie insbesondere solche Minister im
Griff gehabt, „die nicht der SED-Parteidisziplin unterworfen waren“.
Zu denen zählt Agrarminister Hans Watzek (Bauernpartei), der als IM „Klaus Sommer“ der Bezirksverwaltung Neubrandenburg zuarbeitete, oder Justizminister HansJoachim Heusinger (LDPD), der als „Geheimer Informator“ mit dem Decknamen
„Knebel“ wirkte.
Als Inoffizielle Mitarbeiter registriert
sind auch beide Modrow-Stellvertreter: der
CDU-Kirchenpolitiker Lothar de Maiziere
(IM „Czerny“) und die SED-Wirtschaftsexpertin Christa Luft (IM „Gisela“). Politische Schwergewichte wie die Minister für
Verteidigung und Inneres blicken ebenso
auf IM-Karrieren zurück wie diverse
Leichtgewichte, die im Kabinett für Umweltschutz, Gesundheitswesen oder Tourismus zuständig sind.
Seine Regierung, verkündet die
weißhaarige Galionsfigur gleichwohl unverdrossen, werde dafür kämpfen, dass die
„eben begonnene demokratische Erneuerung des gesamten öffentlichen Lebens tiefe Wurzeln bekommt und behält“.
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Seiten der Reformer wechseln ... Ihre Bedeutung besteht vor allem darin, dass ihr
Auftreten unbelehrbaren Hardlinern ein
erhöhtes Risiko für den Versuch eines repressiven Rollback signalisiert.“
Sonnabend, 18. November 1989
Ost-Berlin
GAMMA / STUDIO X
Wochenlang hat die SED versucht, hochgradig brisantes Material zu unterdrücken:
Partei-Promi Schabowski persönlich intervenierte im Oktober bei der evangelischen Kirchenleitung, um eine Pressekonferenz zu verhindern, bei der „Gedächtnisprotokolle“ der Stasi-Übergriffe am
40. DDR-Jahrestag veröffentlicht werden
sollen.
Nun, am zweiten Sitzungstag der Volkskammer, lässt sich nicht mehr vermeiden,
dass die Prügelnacht landesweit zum Thema wird. Denn Generalstaatsanwalt Günter Wendland, 58, Parteisoldat seit 1951, ist
vom Parlament beauftragt worden, über
die Misshandlungen zu berichten.
Zunächst übt der SED-Jurist Selbstkritik: Er habe „nicht rechtzeitig genug erkannt“, dass „politische Konflikte nicht mit
dem Strafrecht gelöst werden können“.
Dann schildert er die Schikanen, denen
in jener Nacht viele der 3456 Festgenommenen ausgesetzt waren. Wendland:
Widersacher Kohl, Thatcher (r.) beim EG-Gipfel in Paris: „Seht ihr! Seht ihr!“
Schwanitz gehört schließlich als Nasi-Chef
dem neuen Kabinett an.
Anderntags formuliert Schwanitz eine
„persönliche Erklärung“, die in allen
Amtsstuben „am 20. 11. 1989 mit Dienstbeginn zu verlesen“ ist. In dem Appell
fordert Mielkes Nachfolger, den Spitzelapparat sorgfältig abzuschotten („Die Sicherheit unserer Patrioten ist ohne Einschränkungen zu wahren“) und dafür zu
sorgen, dass „unsere Partei wieder in die
Offensive kommt“: „Alle Kommunisten“,
so Schwanitz, „müssen im Erneuerungsprozess eine kämpferische Position einnehmen.“
Für den starken Mann im Kabinett
Modrow scheint – Koalitionsregierung hin,
Koalitionsregierung her – die Nasi nichts
anderes als zuvor die Stasi: Schild und
Schwert einer, seiner Partei.
Im Gewahrsam befindlich, wurden Personen geschlagen, über lange Zeit zum Stehen, zum Teil in körperlich schmerzhaften
Stellungen, gezwungen, auch beleidigt und
auf andere Weise erniedrigend behandelt.
Die Regierung übergeht den Bericht mit
Schweigen: Der damalige Einsatzleiter
P. GLASER
Paris
Margaret Thatcher kriegt einen Wutanfall.
Beim Bankett im Elysée-Palast sind die
EG-Staats- und Regierungschefs beim Dessert angelangt, als eine Bemerkung des
Bonner Kanzlers die britische Premierministerin aus der Fassung bringt.
Kohl zitiert eine Deklaration aus dem
Jahre 1970, mit der sich ein Nato-Gipfel
für die Einheit ausgesprochen hat. Thatcher wirft ein: „Aber diese Deklaration
datiert aus einer Zeit, als wir glaubten, sie
würde niemals stattfinden!“ Kohl: „Aber
wir haben die Deklaration damals beschlossen, und sie gilt noch immer. Sie können das deutsche Volk nicht daran hindern,
seine Bestimmung zu finden.“ Da zetert
die Lady: „Seht ihr! Seht ihr!“
Aversionen hat der französische Präsidentenberater Jacques Attali – der diesen
Auftritt in seinen Memoiren schildert –
auch bei seinem Chef registriert. Auf dem
Pro-DDR-Demonstration in Ost-Berlin
„Tiefenreinigung statt Wiedervereinigung“
d e r
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Weg zu einem Golfspiel vertraute François
Mitterrand ihm Anfang Oktober an: „Wer
von der Wiedervereinigung Deutschlands
spricht, versteht nichts von der Sache.
Die Sowjetunion wird sie niemals akzeptieren. Das wäre das Ende des Warschauer
Pakts.“
Und weil auch die Amerikaner nach Mitterrands Meinung „niemals zulassen, dass
die Bundesrepublik die Nato verlässt“,
könne Frankreich ganz „beruhigt sein“.
Auch Mitterrands Bonner Freunde,
die Sozialdemokraten, lehnen jedes
„Wiedervereinigungsgeschrei“ ab. SPDWahlkämpfer Günter Grass findet in einem SPIEGEL-Gespräch (47/1989) eine
Erklärung für die Sprachlosigkeit der
Genossen: „Ich glaube, dass sich die Sozialdemokraten von ihrer erfolgreichen
,Politik der kleinen Schritte‘ den Blick
haben verstellen lassen auf Entwicklungen, die sprunghafter sind und schneller
gehen.“
Grass selbst zählt zu jenen, die auf die
Fortexistenz eines reformierten Arbeiterund-Bauern-Staates setzen: Er mache sich
„Sorgen“, bekennt der Schriftsteller, „ob
dieser kleinere deutsche Staat in dem Zustand, in dem er sich befindet, die offene
Grenze aushalten wird“.
Damit liegt Grass im Mainstream der
ost- wie der westdeutschen Linken. In OstBerlin demonstrieren am späten Nachmittag 10 000 ostdeutsche Studenten für „Tiefenreinigung statt Wiedervereinigung“.
Jenseits der Mauer, auf dem Ku’damm,
warnen Autonome seit Tagen einkaufende
Ostler: „Die Freiheit, die Sie meinen, ist die
Freiheit der Deutschen Bank.“
„Geht doch rüber“, schallt es den WestLinken aus berufenem Munde entgegen:
„Ihr wisst ja gar nicht, wie schön der Kapitalismus ist.“
Jochen Bölsche;
Christian Habbe, Georg Mascolo,
Norbert F. Pötzl
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100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE«
PORTRÄT
»Der Kram nahm
seinen Lauf«
Hans Modrow: Der 150-Tage-Premier wurde von dem
Einheitswillen der Ostdeutschen überrollt
I
194
valen vier Tage nach dem Fall der Mauer
die Regierungsgeschäfte überlassen. Dank
Modrow nimmt die so genannte Partei der
Arbeiterklasse schließlich von ihrem in der
Verfassung verankerten absoluten Machtanspruch Abstand.
Um den Zerfall seines Landes zu stoppen, stellt der Duzfreund Gorbatschows
den Ostdeutschen eine allmähliche Konföderation mit dem Bonner Staat in Aussicht – doch dann kommt der Tag in Dresden. Der überforderte Krisenmanager, der
seine politische Sozialisation in russischer
Kriegsgefangenschaft erfuhr, beugt sich
zähneknirschend dem „Zwang der Verhältnisse“.
GAMMA / STUDIO X
n den letzten Tagen des Jahres 1989 gibt
es bei ihm diesen Augenblick eines
jähen Bewusstseinsschubs. „Reales Begreifen“ nennt der zur Bedächtigkeit neigende ehemalige DDR-Premier Hans
Modrow im Nachhinein jene Klarheit, mit
der er das Ende seiner Träume in einen
knappen Satz zusammenfasst: „Du kannst
einen Staat nicht gegen den Willen seiner
Bürger aufrechterhalten.“
Und er weiß, dass nun auch für ihn der
Abschied naht. Erst wenige Wochen steht
der Schlosser und promovierte Wirtschaftswissenschaftler im Zentrum der
schwindenden Macht – eine Blitzkarriere
in den Wirren der Wende, die der einzig
verbliebene Hoffnungsträger unter den regierenden Einheitssozialisten von Stund an
als Episode betrachtet.
Die Erkenntnis, dass sich sein Arbeiterund-Bauern-Staat nicht mehr retten lässt,
sondern die Mehrheit der in ihm lebenden
Menschen die „großdeutsche Kurve“ zu
nehmen beabsichtigt, gewinnt er auf einer
Kundgebung in Dresden. Das Fahnenmeer
in Schwarzrotgold, von dem sich sein Gesprächspartner – der aus Bonn hierher gekommene Kanzler Helmut Kohl – umspült
sieht, raubt ihm alle Illusionen.
Was ihm da vorgeführt wird, muss den
ehrgeizigen Hans Modrow schmerzen. Die
sächsische Metropole ist der Ort seines
langjährigen Wirkens, wo er als 1. Bezirkssekretär der SED seit 1973 eine in Maßen
eigenständige und nach dem Aufstieg von
Michail Gorbatschow an Glasnost und Perestroika orientierte Politik verfolgt hat.
Dass die Betonriege in Ost-Berlin seinem Treiben in dieser Zeit misstraut und
ihm konsequent den Einzug in den „roten
Olymp“ verweigert, bestimmt sein Image
im Westen. Fast schon mit leiser Bewunderung wird der 1928 im vorpommerschen
Dorf Jasenitz geborene Sohn eines Seefahrers, der in Dresden in einer schlichten
Mietwohnung lebt, von den Medien der
Bundesrepublik zum bemerkenswerten Erneuerer hoch gelobt.
Unter Führung des konzilianten, aber
zähen Asketen hält Bonn eine peu à peu
sich wandelnde DDR offenbar für möglich,
und zunächst scheinen sich solche Erwartungen ja auch zu bestätigen. Egon Krenz,
der schlingernde Erbfolger des gestürzten
Erich Honecker, muss dem heimlichen Ri-
merwahlen am 18. März 199o endet seine
gerade mal vier Monate währende Amtszeit, deren Erfolglosigkeit ihn noch heute
erkennbar bitter macht.
Die Parole vom „einig Vaterland“ – eine
aus der Frühphase der DDR stammende
Zeile der Hymne des Dichters und Kulturministers Johannes R. Becher – sei ein
Fehler gewesen, hadert Modrow in der Retrospektive heftig mit sich selbst. „Das war
nicht meine Bitte an Helmut Kohl, uns seinen Bonner Staat überzustülpen“; er habe
nur einen längeren Prozess des Zusammenwachsens der beiden Republiken zu
initiieren versucht.
Der letzte von der SED getragene Ministerpräsident verschätzt sich in den entscheidenden Wochen in vielfacher Hinsicht. Mit den Einheitsbekundungen geht
auch sein Renommee dahin. Als der OstBerliner Regierungschef in Bonn um eine
Soforthilfe von 15 Milliarden Mark nachsucht, zeigt ihm der Bundeskanzler die kalte Schulter.
Der Bittsteller fühlt sich gedemütigt, und
je stärker in seinem entfesselten Land die
Informationen sprudeln, desto mehr gerät
er selbst ins Zwielicht. Der vermeintliche
Retter sieht sich als Wahlfälscher angeklagt. Noch immer nicht restlos geklärt ist
Regierungschefs Modrow, Kohl in Bonn (1990)*: „Bonner Staat übergestülpt“
Statt weiter auf Autarkie zu beharren,
kreiert er nun seltsam feierlich die mit
einem Vierstufenplan verbundene Losung
„Deutschland, einig Vaterland“. Für Modrow
ist das ein erstaunlicher, freilich vergeblicher Schritt, die unvermeidlich gewordene
Wiedervereinigung wenigstens halbwegs im
Sinne eigener Vorstellungen zu gestalten.
Mit Ausnahme seines Einsatzes zu Gunsten der anhaltend umstrittenen Bodenreform, welche die Enteignungen zwischen
1945 und 1949 festschreibt, bleibt ihm nicht
viel. Nach den ersten freien Volkskamd e r
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die Rolle, die er anlässlich einer von der
Stasi niedergeknüppelten Demonstration
auf dem Dresdner Hauptbahnhof spielte.
Sich als mächtiger Bezirkssekretär an
Gewaltakten beteiligt zu haben weist
Modrow zurück – und was die Gesamtheit
seiner politischen Tätigkeit anbelangt, darf
er sich wohl zu Recht auf eine vergleichsweise saubere Vergangenheit berufen. Unter den Großkopferten der SED ist er die
am wenigsten problematische Figur.
* Links: DDR-Minister Walter Romberg (SPD).
Der letzte von der SED
getragene Ministerpräsident
verschätzt sich in den
entscheidenden Wochen
in vielfacher Hinsicht.
Doch der weißhaarige Mann mit den angenehmen Umgangsformen entpuppt sich
zugleich auch als „pommerscher Dickschädel“. Dass er in öffentlichen Bekundungen „Unfähigkeit im Erkennen“ und
vor allem gegenüber den Spitzengenossen
mangelnden Mut einräumt, ändert nichts
an seinen grundsätzlichen Sichtweisen.
Seit den Jahren, da Modrow in sowjetischen Umerziehungslagern zum zuverlässigen antifaschistischen Widerstandskämpfer mutierte, gehört sein Herz einer sozialistisch geführten deutschen Nation. Nach
dem Desaster der DDR stellt sich allenfalls eine gewisse Ernüchterung ein.
Er habe „ein neues Deutschland“ gewollt, aber keineswegs jenen „Kram, der
dann seinen Lauf nahm“, schreibt der Ehrenvorsitzende der SED-Erbfolge-Partei
PDS in seiner weitschweifigen Biografie.
Neben klar formulierten Selbstbezichtigungen schlägt da in vielen Kapiteln der
Frust über die von Kohl angeblich betriebene Unterwerfung des Ostens durch.
Den abgewählten Bonner Kanzler mag
er ebenso wenig wie die von ihm im Westen auf Schritt und Tritt beobachtete „beleidigende Überheblichkeit“. Für den drahtigen Langstreckenläufer Modrow ist das
Grund genug, auch noch im 72. Lebensjahr Flagge zu zeigen. Er möchte das ehemalige „Volk der DDR“ vor dem „vollständigen Identitätsverlust“ bewahren.
In seiner PDS sieht er sich deshalb als
„Scharnier“ zwischen den Generationen
– nach Auffassung innerparteilicher Gegner
eine ziemlich geschönte Rolle. Der gekränkte DDR-Nostalgiker, heißt es in diesen Kreisen, setze sich in Wahrheit mehr
für die notorischen Altkommunisten ein.
Dass der „Bundesbürger Modrow“ (wie
er sich mit leicht pikiertem Gesichtsausdruck selbst nennt) noch den Sprung in
das Europaparlament schaffte, kommt den
flotten Youngstern in der Parteizentrale im
Berliner Karl-Liebknecht-Haus gelegen:
Der Gang nach Straßburg schwäche seinen hinhaltenden Widerstand gegen die
notwendige Modernisierung der PDS.
Denn immer noch steht er im Verdacht,
sich zu lange an untaugliche Strukturen zu
klammern – wie seinerzeit, als er zunächst
die Stasi-Auflösung vor sich herschob.
Hans Modrow kennt diese Kritik und
scheint sie nicht rundweg für ungerechtfertigt zu halten. Im Falle des MfS aber, einer bewaffneten Organisation, fühlt er sich
leichtfertig attackiert: „Ich hatte Angst vor
Kurzschlüssen.“
Hans-Joachim Noack
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100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE«
ANALYSE
»Wir hatten eine blühende Wirtschaft«
Selbstbetrug und Konkursverschleppung: Warum die DDR-Ökonomie
nach dem Wendeherbst 1989 plötzlich zusammenbrach
E
ines war den Herrschenden in Bonn
und Ost-Berlin in den achtziger Jahren gemeinsam: Auf geradezu groteske Weise verkannten Helmut Kohl und
Erich Honecker noch wenige Monate vor
dem DDR-Kollaps die Schwächen der ostdeutschen Wirtschaft.
„Die DDR ist von uns ökonomisch überschätzt worden“, räumte fünf Jahre nach
der Wiedervereinigung der einstige Bundesbank-Präsident Karl-Otto Pöhl ein. Die
Schuld für die Fehleinschätzung schoben
Bonner Insider bald nach der Wende auf
den Bundesnachrichtendienst.
Der BND hatte, wie er sich rühmte, einen Spitzeninformanten in der zentralen
Staatlichen Plankommission in Ost-Berlin
1989 seinen Antrittsbesuch im Kreml machte, notierte der Protokollführer:
Genosse Gorbatschow sagte, er habe einmal versucht, mit Genosse Honecker über
die Verschuldung der DDR zu sprechen.
Dies sei von ihm schroff zurückgewiesen
worden, da es solche Probleme nicht gebe.
Weder zunehmende Krisensignale noch
düstere Prognosen von Wirtschaftsexperten wie dem Planungschef Gerhard Schürer konnten Erich Honecker von seinem
unfinanzierbaren Kurs der „Einheit von
Wirtschafts- und Sozialpolitik“ abbringen.
Um sich beim Volk beliebt zu machen,
verteilte er Wohltaten auf Pump – finanziert zum großen Teil mit Hilfe von westlichen Krediten, deren Umfang Staatsgeheimnis war.
Aus Angst vor politischen Unruhen wagte die DDR-Führung nicht, die subventionierten Preise für Mieten und Grundnahrungsmittel, Dienstleistungen und Verkehrsmittel anzuheben – was verheerende
Folgen hatte: Weil die Billigmieten nur ein
Drittel der Kosten deckten, waren in Pri-
FOTOS: JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
* Erich Honecker (3. v. l.), Günter Schabowski (5. v. l.),
Ost-Berlins Oberbürgermeister Erhard Krack (6. v. l.) und
Günter Mittag (r.) mit Mieterfamilie 1988 in Ost-Berlin.
platziert. Weil jedoch alle Statistiken von
Amts wegen gefälscht wurden, konnte dieser Agent auch nur die geschönten offiziellen Zahlen übermitteln. „Es war sehr
schwer“, erinnert sich Kohl, „zu realistischen Daten zu kommen.“
Täuschen ließ sich von dem Blendwerk
aus dem SED-Apparat auch der altersstarrsinnig gewordene Honecker. Er blieb
bis zu seinem Tod dabei, dass der Untergang der DDR auf den Verrat Gorbatschows
und nicht auf ökonomische Ursachen
zurückzuführen sei. „Wir hatten schließlich
eine aufblühende Volkswirtschaft“, behauptete er noch 1991, „das ist auch von den
größten Miesepetern nicht zu bestreiten.“
Nur allzu gern, so scheint es, fiel
Honecker auf die frisierten Zahlen herein.
Als er 1988 vor TV-Kameras einem verdienten Werktätigen die angeblich dreimillionste Neubauwohnung seit Kriegsende
übergab, waren in Wahrheit noch nicht einmal zwei Millionen fertig gestellt worden.
Dass die DDR hoch verschuldet war, hat
Honecker stets in Abrede gestellt – selbst
gegenüber Gorbatschow. Als HoneckerNachfolger Egon Krenz Anfang November
Gedenktafel, Politikerbesuch in der angeblich dreimillionsten DDR-Neubauwohnung*: Auf frisierte Zahlen hereingefallen
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100 TAGE IM HERBST: »ICH LIEBE DOCH ALLE«
JÜRG
ENS
OST
+ EU
R
O PA
PH.
vateigentum stehende Häuser dem Verfall
Die Sowjetunion – laut DDR-Wirtpreisgegeben. Und weil das subventionier- schaftslenker Günter Mittag „bereits 1980
te Brot billiger war als Weizen, wurden bankrott“ – reduzierte 1981 ihre ErdöllieHühner in der DDR mit Brot statt mit Ge- ferungen an den Bruderstaat von jährlich
treide gefüttert.
19 auf 17 Millionen Tonnen; Moskau wollFür die Absurditäten der Kommando- te den Rohstoff lieber gegen Devisen an
wirtschaft nennt Schürer heute das folgen- den Westen verkaufen, als ihn gegen Nade Beispiel: „Lieferte ein Züchter ein Ka- turalien der DDR zu überlassen.
ninchen an den Staat, erhielt er dafür 60
Vergebens bat Honecker den damaligen
Mark. Kaufte er es danach geschlachtet und Kremlherrn Leonid Iljitsch Breschnew,
ausgenommen bei der Staatlichen Handels- den Beschluss zu revidieren, doch der blieb
organisation HO zurück, kostete es trotz hart. Breschnew an Honecker: „Ich habe
der aufgewendeten Arbeit nur 15 Mark.“
geweint, als ich unterschrieb.“ Honecker,
Am Ende ging mehr als ein Viertel des fassungslos, fragte zurück, „ob es zwei MilStaatshaushalts für Preissubventionen lionen Tonnen Erdöl wert sind, die DDR zu
drauf – die DDR lebte über ihre Verhält- destabilisieren“. Ein Jahr später stand die
nisse. Schürer: „Wir haben zu viel impor- DDR vor der Zahlungsunfähigkeit; nur ein
tiert fürs Essen, für die Ernährung, für die Milliardenkredit westdeutscher Banken,
sozialen Maßnahmen.“
eingefädelt vom CSU-Chef Franz Josef
Als Hauptursache des Niedergangs er- Strauß, sorgte 1983 für Aufschub.
wies sich Artikel 9 der Verfassung: „Die
Damals schon war dem DDR-WirtVolkswirtschaft der Deutschen Demokra- schaftspapst Günter Mittag klar, dass das
tischen Republik ist sozialistische Plan- System in den Ruin steuerte. „Der ökonowirtschaft.“ Nicht der Markt, sondern der mische Kollaps der DDR deutete sich 1981
Plan bestimmte die Preise. Die Produktion an und wurde 1983 offensichtlich“, offenwurde nicht von der Nachfrage gesteuert, barte Mittag zwei Jahre nach der Wende in
sondern durch Willkür und Wunschdenken einem SPIEGEL-Gespräch.
der Regierenden.
Kontinuierlich nahm in den achtziger
Wenn Volkskammer-Präsident Horst Sin- Jahren die Produktivität der Wirtschaft
dermanns Enkel echte Levis-Jeans verlang- weiter ab, zugleich sank die Qualität der
ten, kam das Thema auf die Tagesordnung Waren, die in den verrottenden, umweltdes Politbüros. Wenn
verseuchenden BetrieHonecker mit einem 256ben erzeugt wurden.
Kilobit-Mikrochip made
„Die DDR-Industrie“, so
in GDR renommieren
Mittag im Nachhinein,
wollte, musste der gebaut
„wäre niemals aus eigewerden – koste es, was es
ner Kraft wieder auf die
wolle. „Die Selbstkosten
Beine gekommen.“
für einen Chip“, so SchüAus Angst vor Arbeirer, „betrugen 536 Mark.
teraufständen zeigte sich
Der Verkaufspreis war in
die SED in den folgender DDR auf 16 Mark
den Jahren nicht nur
festgelegt.“
außer Stande, die enormen Ausgaben für MiUnter planungsbedinglitär, Polizei und Geten Versorgungsengpäsheimpolizei zu reduziesen – vom Dosenöffner
ren; allein der Sold für
bis zur Badekappe, vom
die fast 100 000 StasiDübel bis zum FertigDDR-Mikrochip
Hauptamtlichen belief
mörtel – litten Privathaushalte wie Betriebe. Gedrückt wurde sich alljährlich auf 1,7 Milliarden Ost-Mark.
die Produktivität der DDR-Wirtschaft aber Auch das „idiotisch entwickelte Subvenauch durch die Gleichmacherei bei den Löh- tionssystem“ (Schürer) durfte nicht angenen und durch die Schwäche der Ost-Mark: tastet werden. Im Zentralkomitee wurden
Die Werktätigen verdienten während der die wachsenden Schwierigkeiten verÄra Honecker zwar mehr Geld als zuvor, drängt. „Je größer die Probleme wurden,
umso weniger wurde über sie diskutiert“,
konnten damit aber nur wenig anfangen.
Auf eine Wohnung mussten DDR-Fami- erinnert sich Wolfgang Rauchfuß, einst Milien 5 Jahre lang warten, auf ein Telefon 10 nister für Materialwirtschaft.
Bis zuletzt glaubten die Greise an der
Jahre, auf einen Wartburg 15 Jahre. Genussmittel wie Schokolade oder Südfrüchte wa- Spitze, sich irgendwie durchwurschteln zu
ren entweder überteuert oder gar nicht zu können. „Die haben alle gedacht, für uns
haben. Höherwertige Konsumgüter wie individuell reicht es noch, biologisch“, verMZ-Motorräder oder „Praktika“-Spiegel- mutet der ehemalige Zeiss-Manager Wolfreflexkameras gingen gleich in den Westen. gang Biermann.
Ende der achtziger Jahre kam die DDR
Bereits Anfang der achtziger Jahre hatten die Auslandsschulden der DDR 24 Mil- nur noch dank übler Machenschaften und
liarden West-Mark erreicht. In dieser Si- Manipulationen halbwegs über die Runtuation traf die DDR ein Schlag, von dem den – durch Konkursverschleppung und
Devisenschinderei in großem Stil.
sie sich nie mehr erholen sollte.
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Für Valuta-Mark verkaufte die SED
(teils zu diesem Zweck eigens verhaftete)
politische Gefangene, geraubte Antiquitäten, historisches Kopfsteinpflaster und die
Erlaubnis, auf ihrem Staatsgebiet bundesdeutschen Müll zu deponieren. Westgeldpflichtig war jede Genehmigung, die DDR
zu betreten, dort Auto zu fahren oder auch
nur einen Hund mitzuführen.
Es half nichts: Am Ende hätte die DDR,
wie Schürer dem Politbüro eröffnete, jährlich
Weil das subventionierte
Brot billiger war als
Weizen, wurden Hühner in
der DDR mit Brot statt mit
Getreide gefüttert.
Kredite in Höhe von „8 bis 10 Milliarden
Valutamark“ gebraucht. „Das ist“, so Schürer in einem Geheimpapier, „für ein Land
wie die DDR eine außerordentlich hohe
Summe, die bei zirka 400 Banken jeweils
mobilisiert werden muss… Im Interesse der
Notwendigkeit der Erhaltung der Kreditwürdigkeit ist eine absolute Geheimhaltung
dieser Fakten erforderlich.“
Spätestens 1988, sagt Schürer, habe er
erkannt, „dass wir mit den Schulden nicht
mehr zurechtkommen“: Bonn werde sich
zu weiteren Finanzspritzen auf Dauer nur
bereit finden, wenn die Ost-Berliner Regierenden „einen Teil unserer Souveränität,
ich will es mal brutal sagen, verkaufen“.
Wirtschaftlich wäre die DDR am Ende
allenfalls durch einen radikalen Sparkurs
zu retten gewesen. „Wenn wir aus dieser
Situation herauskommen wollen, müssen
wir mindestens 15 Jahre hart arbeiten und
weniger verbrauchen, als wir produzieren“, eröffnete ZK-Planungsexperte Günter Ehrensperger am 9. November 1989 den
verblüfften Spitzengenossen.
Politisch war die Ehrensperger-Empfehlung zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr
durchsetzbar: Am Abend desselben Tages
öffnete sich die Mauer.
Woran ist die DDR gescheitert? Am Altersstarrsinn Honeckers und an der Feigheit seiner Paladine, die ihm nicht zu widersprechen wagten?
Auf die Frage nach den Hauptfehlern
der DDR-Wirtschaftspolitik gab Wirtschaftsexperte Mittag schon 1991 eine bündige Antwort: „Das sozialistische System
insgesamt war falsch.“
Jochen Bölsche, Norbert F. Pötzl
Im nächsten Heft
DDR-Bürger A 000 000 1 wird gefeuert – „Wir
sind ein Volk“ – Schalck bangt um sein Leben
– Kurswechsel in Moskau
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Ausland
Panorama
Mit gefälschten belgischen Veterinärzeugnissen verwandelten
die Händler dabei das Beef in unverdächtiges „Fleisch aus Belgien“ und schleusten es mühelos durch den Zoll. Britische Bauern und Viehhändler sollen überdies versucht haben, illegal
Rindfleisch in den Handel zu bringen, das von Tieren stammt,
die älter als 30 Monate sind. Wegen erhöhter BSE-Gefahr dürfen diese britischen Alt-Rinder nirgendwo in die menschliche
Nahrungskette gelangen. EU-Inspekteure und Kontrolleure aus
dem Vereinigten Königreich stellten jedoch fest, dass etliche
Händler die Tiere auf dem Papier verjüngen wollten, um die
höheren Preise für konsumierbares Rindfleisch zu kassieren.
E U R O PA
Ermittlungen gegen
Fleisch-Mafia
I
USA
„Erhebliche Mängel“
FOTOS: AP
William Roth, 78, republikanischer Senator, ist Vorsitzender des KongressBeirats für Nato-Fragen. Seine Resolution zur Sicherheitspolitik, vorige
Woche vom Senat einstimmig angenommen, warnt vor einer Konfrontation zwischen Europa und den USA.
SPIEGEL: Beeinträchtigt eine größere europäische Eigenständigkeit in Außenpolitik und Verteidigung das Bündnis zwischen den USA und ihren europäischen
Alliierten?
Roth: Es geht uns zunächst einmal um
grundlegende Regeln: Die Vorreiterrolle
der Nato in transatlantischen Sicherheitsfragen darf nicht mit der neuen Rolle der EU kollidieren.
SPIEGEL: Wird es eine Kraftprobe geben?
Nato-Kampfflugzeug CF-18 während des Kosovo-Krieges
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Senator Roth
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ACTION PRESS
n der EU greifen die Fleischkontrollen nicht: Belgische Fahnder sind einem groß angelegten Schmuggel auf der Spur, bei
dem britisches Rindfleisch, das bis zum 1. August wegen der
BSE-Seuche unter weltweitem
Exportbann stand, über ein Netzwerk britischer und belgischer
Firmen auf den Kontinent geschleust worden sein soll. Zwei
britische Unternehmen aus dem
Küstenort Eastbourne und eine
belgische Firma aus Izegem werden verdächtigt, das Fleisch mit
gefälschten Gesundheitszeugnissen illegal exportiert zu haben.
Nach ersten Untersuchungsergebnissen der Staatsanwaltschaft
von Kortrijk gelangte zunächst
mit Hormonen behandeltes
Fleisch, das in Belgien aus dem
Verkehr gezogen worden war,
nach Großbritannien. Von dort
wurde es in Länder der Dritten
Welt weiterverkauft, die entladenen Lkw wurden daraufhin mit
britischem Fleisch beladen und
nach Belgien zurückverschifft. Verbrennung von BSE-verseuchten Rindern in Wales
Roth: Ein Konflikt steht wohl nicht unmittelbar bevor. Doch wenn das Verhältnis zwischen den Partnern nicht besser
abgestimmt und koordiniert wird, könnte unsere transatlantische Allianz auseinander driften.
SPIEGEL: Sind die Europäer überhaupt zu
einem eigenständigen militärischen Einsatz in der Lage?
Roth: Der Krieg im Kosovo hat erhebliche
Mängel bei den europäischen Alliierten
aufgezeigt. Statt überwältigende Macht
zu demonstrieren, geriet die Operation
„Allied Force“ vielmehr zum Symbol für
das militärische Ungleichgewicht zwischen den Vereinigten Staaten und unseren Verbündeten. Für ein reibungsloses
Vorgehen im Ernstfall müssen die Europäer in Zukunft noch eine Menge nachbessern.
SPIEGEL: Also – keine Alleingänge der Europäer?
Roth: Die Nato muss das erste und wichtigste Mittel jeder kollektiven militärischen Antwort bleiben. Die EU sollte
autonome Einsätze nur dann übernehmen, wenn die Nato diese Aufgaben zuvor delegiert hat.
203
INDIEN
Pa
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Vormarsch der Tiger
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SRI LANKA
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Panorama
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Jaffna
Halbinsel
Jaffna
Hauptsiedlungsgebiete
der Tamilen
Mullaittivu
REUTERS
Mankulam
uf Sri Lanka ist der 1983 ausgebrochene blutiOddusuddan
ge Bürgerkrieg erneut entflammt, in dem radiVavuniya
kale Tamilen für einen unabhängigen Staat im NorTrincomalee
den und Nordosten der Insel kämpfen. Wie „Unaufhaltsame Wellen“, so auch der Name ihrer
Golf von
Anuradhapura
Mannar
jüngsten militärischen Offensive, greifen die „Befreiungstiger von Tamil Eelam“ seit Anfang
November Stellungen der Regierungstruppen an.
Ermordeter Tamile in Colombo
Batticaloa
China
Sie eroberten zehn Garnisonsstädte und eine
wies sich als politischer
30 Kilometer lange Straßenverbindung, die den singhalesiKandy
Indien
Fehler, und ein Erfolg
schen Süden mit der Tamilen-Stadt Jaffna im Norden verbinColombo
ihrer bisher populären
det. Allein auf Regierungsseite soll es hunderte von Toten geS R I L A N K A
Volksallianz bei den auf
geben haben. In der Hauptstadt Colombo hat die Regierung
den 21. Dezember vorinzwischen Armeeverluste und eine Massenflucht von ZivilisSri
Lanka
gezogenen Präsidentten zugegeben, ein Militärsprecher bezeichnete die Lage soschaftswahlen scheint
gar als „sehr ernst“. Jetzt wollen die Tamilenrebellen die stra50 km
Kampfgebiet
ungewiss. Damit sinken
tegisch wichtige Stadt Vavuniya einnehmen. Gelingt das, hätte
auch die Chancen, den
die Armee fast alle Gebietsgewinne der letzten 19-monatigen
Bürgerkrieg im gebeutelten Tourismusparadies, der bisher
Offensive wieder eingebüßt. Die Niederlagen ihrer Militärs
58 000 Menschenleben forderte, in absehbarer Zeit zu beensind für Präsidentin Chandrika Kumaratunga, 54, ein schwerer
den. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnt bereits,
Rückschlag. Ihre umstrittene Taktik, Verhandlungen mit den
dass im Kampfgebiet die Medikamente zur Neige gehen.
Rebellen erst nach einem militärischen Sieg zu beginnen, er-
NIGERIA
N
achdem sie in der Vergangenheit
wiederholt Versorgungsschiffe aufgebracht hatten, kapern rebellierende
Gruppen im Ölfördergebiet von Nigeria
jetzt mit Vorliebe Hubschrauber. Die
Firma Bristow Helicopters, die unter anderem Bohranlagen und Camps von
Shell anfliegt, war in diesem Jahr schon
neunmal Ziel von Kidnappern. Die letzte Entführung endete vorigen Mittwoch
mit der Freilassung des deutschen Piloten Günter Burmeister. Dessen Bell-212Hubschrauber war am 28. Oktober beim
Landepunkt Opuama im Gebiet des
Ijaw-Stammes attackiert und am Weiterflug gehindert worden. Schwer bewaffnete Jugendliche entführten zwei Besatzungsmitglieder und vier Passagiere.
Nach Verhandlungen mit den Arbeitgebern der Gekidnappten entließen sie
ihre Geiseln, zuletzt den aus dem Rheinland stammenden Piloten. Die Freilassungen werden üblicherweise durch Lösegeldzahlungen erkauft. Sie gelten den
Rebellen als Entschädigung für Umweltzerstörungen und die mangelnde Beteiligung der Region an Nigerias Öleinnahmen. Doch auch gewöhnliche Kriminelle
mischen beim Entführungsgeschäft mit.
Wegen der Anarchie im Fördergebiet ist
Nigerias Erdölproduktion auf einen
Tiefststand gefallen.
204
SYRIEN
Gesellenstück für den Nachfolger
D
er kranke syrische
Staatschef Hafis alAssad, 69, will offenbar
schneller als erwartet seinen Sohn Baschar, 34, zum
Nachfolger aufbauen. Vergangene Woche schickte
er ihn zum ersten Mal
auf diplomatische Mission
nach Frankreich. In seinem
Auftrag sprach al-Assad
junior mit Frankreichs
Präsident Jacques Chirac,
der die seit 1996 abgebrochenen Friedensgespräche
zwischen Syrien und Israel
wieder beleben möchte.
Noch fordert Syrien von
Israel den Truppenabzug
von den 1967 besetzten
Golanhöhen, den Israel als
Vorbedingung für Friedensgespräche jedoch ablehnt. Vor seinem Paris-Besuch hatte Baschar Assad
zudem mehrere Reisen
nach Saudi-Arabien und
Jordanien unternommen.
Seitdem duzt er sich mit
dem fast gleichaltrigen jungen jordanischen König Präsident Assad in Damaskus
d e r
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REUTERS
Rebellen kapern
Helikopter
Ausland
FRANKREICH
Zweite Chance
N
SCHWEDEN
Schwieriger Ausstieg
S
FACELLY / SIPA PRESS
H. IVES / AGENTUR FOCUS
ach dem Rücktritt seines Freundes
Dominique Strauss-Kahn will Premierminister Lionel Jospin jetzt ExKulturminister Jack Lang in den Kampf
um das Bürgermeisteramt von Paris entsenden. Die Eroberung des Rathauses,
in dem die Gaullisten seit 1977 regieren,
aber durch viele Skandale angeschlagen
sind, ist für den Sozialisten Jospin Chefsache: Fällt die Pariser „Mairie“ an die
Linke, steigen automatisch seine eigenen Chancen, bei den Präsidentschaftswahlen ein Jahr später den Amtsinhaber Jacques Chirac zu schlagen. Aber
die Sozialisten plagen Zweifel, ob der
durchaus populäre Lang den eher konservativen Parisern nicht zu radikal ist.
Langs Verantwortung für die Bauprojekte des damaligen Präsidenten
François Mitterrand bietet viele Angriffsflächen: Der bröckelnde Neubau
der Bastille-Oper und die pannengeplagte Mitterrand-Bibliothek schaffen
Ärger und Spott.
Pariser Rathaus, Lang
tockholms Regierung will den vor 19
Jahren per Volksabstimmung beschlossenen Atomausstieg nun zum
1. Dezember mit der Schließung des
Reaktors Barsebäck I in Südschweden
umsetzen. Dagegen wehrt sich mit allen
Mitteln der Energiekonzern Sydkraft,
dessen größter Einzelaktionär die
PreussenElektra ist. Das oberste Verwaltungsgericht Schwedens hatte bereits im Juni die Rechtmäßigkeit des Regierungsbeschlusses bestätigt. Doch
noch steht eine Entscheidung der EUKommission aus, ob Sydkraft durch die
Schließung Wettbewerbsnachteile erleidet. Gleichwohl will die Regierung
nicht länger warten. „Was die EU-Kommission entscheidet, hat keine direkte
Atomkraftwerksblock
Oslo
Forsmark
NORWEGEN
Assad-Sohn Baschar, Chirac
KO S OVO
Nato manipulierte
Todeszahlen
C
arla Del Ponte, die Chefanklägerin
des Uno-Kriegsverbrechertribunals
in Den Haag, legte dem Weltsicherheitsrat in New York einen Bericht mit neuen Opferzahlen über den serbischen
Terror gegen die albanische Bevölkerung im Kosovo vor. Experten des Tribunals haben 529 Massengräber entdeckt und aus 195 Gräbern 2108 Tote
exhumiert. Del Ponte erklärte dem Rat,
nach Ansicht von Kosovo-Albanern seien mehr als 11 000 Menschen ums Leben
gekommen, sie könne die Angaben allerdings nicht bestätigen. Diese Zahlen
liegen bedeutend niedriger als jene, die
Nato-Vertreter während des Luftkriegs
verbreitet hatten. Zeitweilig sprachen
sie von bis zu 44 000 Toten und 100 000
Vermissten, um das militärische Eingreifen vor der internationalen Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Westliche Mediziner vor Ort, die im Auftrag des UnoTribunals in den vergangenen drei Monaten Obduktionen vornahmen, stießen
auf zahlreiche Ungereimtheiten in der
Nato-Darstellung. So habe sich das
schlimmste Massaker des KosovoKonflikts im Bergwerk Trep‡a ereignet,
bei dem über 700 Albaner getötet worden seien. Ermittler fanden jedoch vor
Ort keinen Ermordeten und keinerlei
Anzeichen eines vertuschten Blutbads.
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SCHWEDEN
Stockholm
Göteborg
DÄNEMARK
Ringhals
Oskarshamn
Barsebäck
Kopenhagen
Malmö
DEUTSCHLAND
Anteil der Kernenergie
an der gesamten
Stromerzeugung 1998
Frankreich
Schweden
Deutschland
Großbritannien
76%
46%
30%
29%
Folge für unseren Schließungsbeschluss“, erklärt der im Wirtschaftsministerium für Energiefragen zuständige Ministerialdirigent Håkan Karlström.
Doch Sydkraft gibt nicht auf: Zwar verhandelt der Konzern bereits mit der Regierung über eine angemessene staatliche Entschädigung, dennoch versucht
er weiterhin, eine einstweilige Verfügung gegen die Schließung zu erwirken.
Rechtsexperten vermuten nun, dass das
Verfahren vor den Europäischen Gerichtshof gelangen wird – mit ungewissem Ausgang.
AP
AP
Abdullah, der seit dem Tod seines
Vaters im Februar im Amt ist. Im eigenen Land genießt der in Großbritannien ausgebildete Augenarzt Assad verbreitetes Ansehen, nachdem er sich in
einem Korruptionsskandal gegen die
mächtige Armee und den Geheimdienst durchsetzen konnte. Doch dem
jungen Kronprinzen fehlen einstweilen
noch die institutionellen Voraussetzungen zur Machtübernahme: Weder bekleidet er ein hohes Amt in der Einheitspartei Baath, noch ist er 40 Jahre
alt, das Mindestalter, um nach der Verfassung den Präsidentensessel einzunehmen. Dennoch trat er in Paris mit
forschem Selbstbewusstsein auf: Er ermunterte die Europäer, sich endlich gleichberechtigt neben den USA
im nahöstlichen Friedensprozess zu
engagieren.
100 km
Atomkraftwerk Barsebäck
205
Ausland
TÜRKEI
Musterknabe und Machtstaat
Auf dem OSZE-Gipfel von Istanbul will die türkische Regierung neues
Selbstbewusstsein demonstrieren. Unterstützt von den USA, hofft Ankara, das Treffen könne
den Weg für eine Aufnahme in den Kreis der Beitrittskandidaten zur EU frei machen.
D
CA M E R A P R E S S
AP
ie Worte aus Washington waren die Türkei als vollwertigen Partner mit ge- verluste, die ihr aus dem Wirtschaftsemsüß wie türkischer Honig. Die Ge- stärktem Selbstbewusstsein erleben. Da- bargo gegen den Nachbarn Saddam Husschichte des ganzen Jahrhunderts, bei hat die Regierung bereits den nächsten sein erwachsen, trägt die Türkei murrend –
schmeichelte US-Präsident Bill Clinton Gipfel fest im Blick – das EU-Treffen in doch sie trägt sie.
Mit seinem ägyptischen Kollegen Husni
vergangene Woche in einer außen- Helsinki, wo im Dezember über die nächspolitischen Grundsatzrede an der Univer- te Erweiterungsrunde abgestimmt wird. Mubarak ist der türkische Staatspräsident
sität Georgetown, sei geprägt von der Und diesmal will die Türkei endlich in den Demirel gut befreundet. Vor einem Jahr
politischen Hinterlassenschaft des Osma- engsten Kreis der Beitrittskandidaten auf- ließ er sich von Mubarak überreden, auf einen Einmarsch in Syrien zu verzichten.
nischen Reiches. Und auch in Zukunft genommen werden.
Aus amerikanischer Sicht ist das türki- Ankara hatte mit einer militärischen Inwerde am Bosporus Weltgeschichte geschrieben: „Das kommende Jahrhundert sche Selbstwertgefühl durchaus berechtigt: tervention gedroht, um Kurdenführer Abwird zu einem guten Teil dadurch bestimmt Für Washington läuft ohne den hochgerüs- dullah Öcalan aus seinem damaligen Verwerden, wie die Türkei ihre Rolle heute teten Partner gar nichts im eurasischen Kri- steck in Damaskus zu vertreiben.
Israel, das gegenüber Atatürks moderner
sendreieck zwischen Balkan, Kaukasus und
und morgen definiert.“
Türkei stets ein wenig skeptisch blieb, teilt
Die europäischen Partner seien gut be- Nahost.
Seit 1952 ist die Türkei nicht nur im gleichwohl mit dem Nato-Land eine beraten, mahnte der Chef der einzig verbliebenen Supermacht, die Bedeutung der Nordatlantischen Bündnis verankert, des- eindruckende Liste gemeinsamer Gegner:
modernen Türkei zu erkennen – und zu sen Südostflanke sie während des Kalten Syrien, Irak und Iran. Seit 1996 verbinden
honorieren. Das Land am Scheideweg nach Krieges gesichert hat. Auch in den aktuelNahost und Zentralasien müsse zur Re- len Konflikten von Sarajevo bis Grosny F-16 Kampfflugzeuge auf dem US-Luftwaffenstützgion werden, „in der sich Europa und die steht sie fast immer auf der Seite der „good punkt im türkischen Incirlik
islamische Welt in Frieden und Harmonie guys“ aus Übersee.
Im Nahen Osten duldet Ankara die Stabegegnen können“.
Auf den großen Verbündeten Amerika tionierung von amerikanischen und britikönnen sich die Türken stets verlassen. Der schen Kampfjets zur Überwachung des
Ritterschlag aus Washington ermöglicht es nordirakischen Luftraums. Die Milliardender Regierung in Ankara, sich diese Woche
an der Seite der USA einigermaßen glaubwürdig als „global player“ auf dem Istanbuler Gipfel der Organisation für SicherRUMÄNIEN
KROATIEN
heit und Zusammenarbeit in Europa
Belgrad
(OSZE) zu präsentieren.
BOSNIENWährend die Delegationen über RüsHERZEGOWINA JUGOtungskontrolle, Menschenrechte und die
Schwarzes Meer
Sicherheitsarchitektur des nächsten MilSLAWIEN
lenniums reden, will Staatspräsident SüleyKosovo
man Demirel milliardenschwere EnerBULGARIEN
gieverträge mit den USA, Aserbaidschan
Istanbul
MAZEund Georgien unterzeichnen. MinisterpräALBANIEN
DONIEN
Ankara
sident Bülent Ecevit wird von Treffen zu
Treffen mit den Staats- und RegierungsT Ü R K E
chefs der 54 OSZE-Staaten eilen und sich
GRIECHENanschließend, wiederum von
LAND
Freund Clinton begleitet, mit
seinem griechischen KolleIncirlik
Athen
gen Kostas Simitis zusammensetzen, um gemeinsam
über den Zypern-Konflikt zu
reden.
Auf dem Groß-Treffen in
der von neuen Erdbeben erZypern
schütterten Bosporus-ReMittelmeer
gion, so das Kalkül Ankaras,
Türkische
Soldaten
nach
sollen die noch immer auf
Distanz bedachten Europäer Besetzung Nordzyperns 1974
206
I
S. McCURRY / MAGNUM / AGENTUR FOCUS
OSZE-Tagungsort Istanbul: Europas Hinhaltetaktik als maßlose Kränkung empfunden
überdies mehrere Militärabkommen Jerusalem und Ankara: Die Türkei lässt israelische Kampfpiloten im anatolischen Luftraum trainieren, Israel sagte Hilfe bei der
Terrorismusbekämpfung zu und berät die
GEORGIEN
Türkei bei der Sicherung ihrer Grenze zu
ASERBAIDSCHAN
Syrien.
Zwar protestieren die nahöstlichen
ARMENIEN
Nachbarn regelmäßig gegen die türkischisraelische Kooperation, doch die USA
unterstützen das Bündnis. Im Dezember,
IRAN
so gab das türkische Außenministerium voHauptsiedlungsrige Woche bekannt, werden sich Soldaten
gebiete der
der U. S. Navy mit türkischen und israeKurden
lischen Marineeinheiten vor der südtürkischen Küste zu einem
weiteren gemeinsamen
Manöver treffen. Der
Name des Unternehmens: „Hoffnungsfrohe
SYRIEN
IRAK
Meerjungfrau II“.
Auch während des Kosovo-Krieges war auf den
Bündnisgenossen Verlass.
Aus Ankara kam kein kritisches Wort über die umTürkische Sicherheitkräfte mit ge- strittene Luftkriegsstratetöteten kurdischen Rebellen; 1995
gie der Nato – im GegenTschetschenien
Kaspisches
Meer
D PA
RUSSLAND
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teil, türkische Militärs ließen durchblicken,
sie würden notfalls auch für einen Bodeneinsatz Truppen stellen. Als es dazu
nicht kam, nahm die Türkei 16 000 Flüchtlinge auf und schickte ein umjubeltes
Kfor-Kontingent in die ehemalige Osmanenprovinz Kosovo.
Selbst am Kaspischen Meer ziehen Amerikaner und Türken am selben Strang. Seit
Jahren arbeiten sie gemeinsam auf eine
Pipeline-Verbindung zwischen der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku und dem
türkischen Mittelmeer-Hafen Ceyhan hin.
Das Projekt ist teurer als alle anderen Varianten, kaspisches Öl in den Westen zu
bringen, doch es umginge sowohl die rebellischen Kaukasusrepubliken im Norden
als auch den USA-Feind und Türkei-Gegner Iran im Süden.
Ankara also ein außenpolitischer Musterknabe? Ein ruhender, hochgerüsteter
Pol in einer rauen Nachbarschaft und eine
„stabile, demokratische, säkulare, islamische Nation“, die, so US-Präsident Clinton,
schnellstmöglich „volles Mitglied Europas“
werden soll?
Das wird dauern, denn während sich die
Türkei im Wohlwollen der Nato-Vormacht
sonnen kann, ist das Verhältnis zu den europäischen Partnern schwierig.
Noch immer weigert sich die EU, den
Türken ernsthaft entgegenzukommen.
Das liegt – trotz Ankaras sturer Unterstützung für einen eigenständigen türkischen Teilstaat auf Zypern – nicht so
sehr an der Außenpolitik, sondern an der
anhaltenden Unterdrückung im Innern.
Der türkische Machtstaat regiert bis heute so unangefochten in den Alltag seiner
zivilen Untertanen hinein, wie es sich
seit Ende des Zweiten Weltkriegs keine
europäische Demokratie mehr leisten
kann.
Einen türkischen Polizisten um Namen
oder Dienstnummer fragen? Sinnlos. Von
einem Gendarmen erwarten, wie von
Staatsbürger zu Staatsbürger behandelt zu
werden? Vergebens. Wer am Glaubensbekenntnis der modernen Türkei – „eine
Nation, eine Heimat, eine Sprache und eine
Fahne“ – Zweifel äußert, dem drohen
Festnahme, Haft und nicht selten Folter in
einem Obrigkeitsstaat, dessen Organe
rechtlich fast überhaupt nicht belangt werden können.
Dass bei den Menschenrechten „Verbesserungen“ notwendig seien, räumen inzwischen selbst Ultranationalisten wie der
türkische Verteidigungsminister Sabahattin Çakmakoglu ein (siehe Seite 210). Doch
die bisher vorgenommenen Korrekturen
sind – wie die Entfernung des Militärrichters aus den berüchtigten Staatssicherheitstribunalen während des ÖcalanProzesses – entweder kosmetisch, oder sie
stehen auf dem Papier, das vor allem in
Menschenrechts- und Minderheitsfragen
sehr geduldig ist. Die Forderung, Kurdisch
als Unterrichtsfach einzuführen oder
207
Ausland
Farce am Bosporus?
Kosovo-Konflikt und Tschetschenien-Krieg erschweren konkrete
Ergebnisse auf dem Gipfel von Istanbul.
D
AP
ass sich in dieser Woche die
Staats- und Regierungschefs der
54 Mitgliedsstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ausgerechnet
in der Türkei treffen werden, ist der
deutschen Delegation eher unangenehm: Seit dem Berliner Hauskrach um
die Lieferung von Leopard-Panzern
und Kampfhubschraubern gilt „Türkei“
für die rot-grüne Koalition als Unwort
schlechthin.
In Istanbul werden der Kanzler und
sein grüner Außenminister wohl den
Zorn der Türken zu spüren bekommen.
Die zweifeln allmählich an den Beteuerungen von Joschka Fischer, die
Türkei gehöre zu Europa und sei ein
verlässlicher Nato-Partner. Sie verstehen den rot-grünen Panzer-Streit nicht.
Selbst die Bundesregierung versi- Premier Ecevit, Außenminister Fischer
chert, es gebe keine Belege dafür, Mit Schelte zurückgehalten
dass die türkischen Militärs deutsches
Kriegsgerät vertragswidrig zum Kampf rung an Russland“ nach dem Kosovogegen die Kurden missbrauchten. Und Krieg der Nato. Denn die westliche
außerdem stehen türkische Truppen Allianz unter Führung der USA hat
neben Kameraden der Bundeswehr im ebenfalls massiv gegen OSZE-Regeln
zur Vertrauensbildung verstoßen.
deutschen Sektor des Kosovo.
Auch die mit viel Getöse angeEin anderer Konflikt, eine halbe Flugstunde von der türkischen Schwarz- kündigte „Sicherheitscharta“ für das
meerküste entfernt, könnte den seit drei OSZE-Gebiet zwischen Vancouver und
Jahren geplanten Bosporus-Gipfel leicht Wladiwostock bleibt ein rechtlich unzur Farce machen. Russland verstößt verbindliches Papier – und enthält
bei seinem Feldzug in Tschetschenien kaum mehr als eine Zusammenstellung
gegen sämtliche Grundsätze der OSZE: der Grundsätze, die seit dem HelsinkiGewaltverzicht, Schutz von Minderhei- Gipfel von 1975 immer wieder bekräften, Verhältnismäßigkeit der eingesetz- tigt wurden. Eine Einigung auf neue
vertrauensbildende Maßnahmen – etwa
ten Mittel.
Trotzdem beschwor Fischer vorletz- häufigere Inspektionen und detaillierte Woche die kämpferische US-Kollegin tere Auskünfte zu Truppenbewegungen
Madeleine Albright, den Gipfel nur ja – konnten die nach Istanbul vorausgenicht platzen zu lassen. Sonst seien alle eilten Unterhändler nicht erzielen.
Chancen dahin, den „Grundkonsens“ „Seit Kosovo und Tschetschenien ist da
(Fischer) zwischen Atlantik und Ural nichts mehr zu machen“, klagt ein
festzuschreiben. Nur so könne die seit deutsches Delegationsmitglied.
Gleichwohl werden die Russen nicht
1997 so mühsam ausgehandelte Anpassung des Vertrages über konventionel- fürchten müssen, dass die Kritik am
le Abrüstung (KSE) besiegelt werden. Kaukasuskrieg in der „Istanbuler ErNach dem Zerfall des Warschauer klärung“, dem Abschlussdokument der
Paktes und nach Beitritt von Ungarn, Tagung, allzu harsch ausfällt. Die deutTschechien und Polen zur Nato, sollen sche Regierung, allen voran der vorfür jeden der 30 KSE-Staaten Ober- sichtige Fischer, hatte sich aus Furcht
grenzen für schweres Kriegsgerät wie um den Gipfel ohnehin mit öffentlicher
Panzer und Kampfflugzeuge vereinbart Schelte zurückgehalten. Überdies kann
die feierliche Erklärung der 54 Staawerden.
Ziel des Gipfels am Bosporus sei dar- tenlenker gemäß eherner OSZE-Regel
über hinaus, so Fischer-Mitarbeiter ver- nur einstimmig verabschiedet werden.
gangene Woche, die „WiederannäheJürgen Hogrefe, Alexander Szandar
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kurdischsprachige Radio- und Fernsehsender zuzulassen, gilt immer noch als völlig
indiskutabel.
Während Westeuropäer und Kritiker eines schnellen EU-Beitritts wegen Ankaras
Unbeweglichkeit auf eine möglichst jahrzehntelange Wartezeit der Türkei im Kandidatenstand hoffen, haben es Oppositionelle und ehemalige Staatsfeinde
inzwischen eilig.
Die Türkei müsse schleunigst in
die EU aufgenommen werden, forderte kürzlich der PKK-Kommandeur Osman Öcalan, Bruder des
zum Tode verurteilten Kurdenführers. Nur über eine Angleichung an
europäische Rechtsstandards sei
eine nachhaltige Demokratisierung
der Türkei zu erreichen.
Auch Hasip Kaplan, Sprecher
des gemäßigteren „Vereins zur Demokratischen Einigung und Lösung
des Kurdenproblems“, zählt auf
Europa. Kaplans kurdischem Intellektuellen-Club gelang es vergangene Woche, als Teilnehmer des
„kleinen“ OSZE-Gipfels der regierungsunabhängigen Organisationen
zugelassen zu werden. Er ist überzeugt, dass nur die Aussicht auf
einen baldigen EU-Beitritt in der Türkei
einen „schnellen und schmerzhaften Änderungsprozess“ bewirken und das Land
zwingen werde, „sich neu zu gestalten“.
Zum ersten Mal treffen sich die Interessen der jahrzehntelang Verfolgten mit
denen der westlich orientierten Elite des
Landes, welche die Hinhaltetaktik Europas gegenüber der Türkei spätestens seit
dem EU-Gipfel von Luxemburg als maßlose Kränkung empfindet.
Aber auch der Helsinki-Gipfel im nächsten Monat hält voraussichtlich neue
Schmach bereit: Aus Sorge um die künftige Funktionsfähigkeit der Union soll die
Türkei vom neuen Kommissionspräsidenten Romano Prodi ebenfalls mit hehren
Versprechungen abgespeist werden. Europa behandle sein Land wie ein Meister den
Lehrling, beschwerte sich beim Istanbuler
„Deutsch-Türkischen Dialog“ Anfang November ein türkischer Diskutant.
Wolfgang Ischinger, der aus Berlin angereiste Staatssekretär des deutschen
Außenministeriums, antwortete auf den
Vorwurf mit diplomatischer Raffinesse: Die
Türkei unterschätze womöglich ihre eigene Bedeutung. „Nichts gegen die Balten,
doch der Beitritt Estlands wird an der
Grundarchitektur der Europäischen Union
nichts verändern.“
Die Türkei hingegen, die Brücke nach
Asien und ein Land mit bald 70 Millionen Einwohnern, sei ein „Brocken“, der
bis zu seinem Beitritt unter Umständen
selbst Deutschlands Gewicht übertreffen
könnte. Da sei Geduld nicht nur eine
Tugend, sondern – leider, leider – unerlässlich.
Bernhard Zand
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
Çakmakoglu: Das ist uns ganz wichtig, denn
„Wir brauchen starke
Streitkräfte“
Verteidigungsminister Sabahattin Çakmakoglu über das
Panzergeschäft mit Deutschland, Ankaras
Aufrüstung und den Konflikt mit Nato-Partner Griechenland
M. GÜLBIZ / AGENTUR FOCUS
Çakmakoglu: Wir haben eine ganz norma-
Çakmakoglu, 69, amtiert seit Juni als Verteidigungsminister. Der Jurist und langjährige Staatsbeamte gehört der rechtskonservativen Partei der Nationalistischen
Bewegung an, deren Anhänger in Deutschland auch unter dem Namen Graue Wölfe
aktiv geworden sind.
AP
SPIEGEL: Herr Minister, warum wollen Sie
unbedingt den deutschen Kampfpanzer
„Leopard 2“ testen, den die Berliner Regierung womöglich gar nicht zum Export in
die Türkei freigeben wird?
le Ausschreibung organisiert. Wer immer
sich daran beteiligen will, muss sein Produkt zunächst vorführen.
SPIEGEL: Ist es Ihnen vielleicht sogar gleichgültig, ob die Deutschen ihren „Leopard“
vorzeigen oder nicht, weil Sie genügend
weitere Mitbewerber um den lukrativen
Auftrag haben?
Çakmakoglu: Richtig. Wer unsere Ausschreibungsbedingungen nicht erfüllt, gerät
ins Hintertreffen. Sie würden doch auch
kein Mädchen heiraten, das Sie noch nie
gesehen haben.
SPIEGEL: Wollen Sie denn, um im Bild zu
bleiben, das martialische Mädchen im Leopardenfell gern heiraten?
Çakmakoglu: Das kann ich noch nicht sagen. Ich habe die Dame nie gesehen. Meine Militärs berichten mir allerdings, dass
sie ganz proper sein soll.
SPIEGEL: Sie wollen ja nicht bloß kaufen,
sondern die 1000 Panzer im eigenen Land
in Lizenz produzieren. Warum wollen Sie
nach dem Ende des Kalten Krieges solch
gewaltige Anstrengungen im Rüstungssektor unternehmen?
Kampfpanzer sind das Herzstück moderner Landstreitkräfte. Schauen Sie sich einmal die geostrategische Lage der Türkei
an, eingekeilt zwischen dem Balkan, dem
Nahen Osten und der kaukasischen Krisenregion. Wenn Sie sich die Geschichte
dieser Unruhezonen vergegenwärtigen,
werden Sie unsere Forderung nach starken
Streitkräften verstehen.
SPIEGEL: Was uns viel mehr beunruhigt, ist
die Möglichkeit, dass Sie diese Panzer gar
nicht gegen mögliche äußere, sondern gegen Gegner im Inneren Ihres Landes, etwa
gegen Kurden, einsetzen könnten. Haben
Sie angesichts der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei Verständnis dafür, dass viele Deutsche das
Panzergeschäft ablehnen?
Çakmakoglu: Bei den Menschenrechten
streben wir Verbesserungen an. Doch diejenigen, die uns diese Frage immer stellen,
sollten nicht vergessen, dass sie in Menschenrechtsfragen auch nicht immer eine
strahlend weiße Weste haben.
SPIEGEL: Trotzdem: warum diese riesigen
Investitionen in eine eigene Rüstungsindustrie?
Çakmakoglu: Gerade wegen der Schwierigkeiten, die wir bei Waffengeschäften
wiederholt mit der deutschen Regierung
hatten, ist es doch einleuchtend, dass wir
autark werden wollen.
SPIEGEL: Vielleicht möchten Sie aber auch
den deutschen Herstellern mit Ihren
eigenen Lizenzprodukten Konkurrenz
machen?
Çakmakoglu: Warum nicht? Zu unseren
Ausschreibungsbedingungen gehört der
Technologietransfer – und zwar ohne jede
Einschränkung.
SPIEGEL: Wo und gegen wen wollen Sie tausende Panzerfahrzeuge ins Feld führen?
Çakmakoglu: Seit 76 Jahren hat die türkische Republik ihre Friedensliebe
bewiesen. Wie die Beispiele des Golfkriegs und
des Kosovo-Konflikts zeigen, kann ein Land allein
gar keinen Krieg mehr erfolgreich führen. Gleichwohl braucht ein Staat
starke Streitkräfte, um
Frieden und Sicherheit zu
bewahren. Im Übrigen
scheinen Sie zu viel Gewicht auf die Landstreitkräfte zu legen. Für echte
Abschreckung muss eine
Armee nicht nur am Boden, sondern auch in der
Luft und zu Wasser stark
sein.
SPIEGEL: Da haben Sie sich
ja auch schon kräftig bedient: Ihre Fregatten aus
deutschen Werften sind
moderner als die der Bun-
Panzerparade mit „Leopard 1“ in Ankara: „Technologietransfer ohne jede Einschränkung“
210
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Werbeseite
Werbeseite
Ausland
REUTERS
desmarine. Sie besitzen U-Boote aus SPIEGEL: Gerade erst hat der deutsche
Deutschland und bald auch Minenjagd- Außenminister Joschka Fischer die Türkei
schiffe. Sie wollen Kampfhubschrauber aufgefordert, Geld in die zivile Infrastrukkaufen und mit Bundeswehrhilfe ein tur des Landes statt in die Aufrüstung
C-Waffen-Labor einrichten. Warum kau- zu stecken. Werden Sie seiner Anregung
fen Sie eigentlich nicht woanders ein?
folgen?
Çakmakoglu: Wir stellen in allen Bereichen Çakmakoglu: Bei unserem Rüstungsprohöchste technologische Ansprüche.
gramm handelt es sich in Wahrheit um
SPIEGEL: Wenn Sie die alle befriedigen, mehr als 50 einzelne Projekte, die – je nach
droht ein Wettrüsten in einer der un- Kassenlage – eins nach dem anderen über
einen langen Zeitraum verwirklicht werden
sichersten Weltregionen.
Çakmakoglu: Nicht notwendigerweise. Wir reagieren nur auf die beträchtlichen Rüstungsanstrengungen unserer
Nachbarn.
SPIEGEL: Im schwierigen
Verhältnis zu Griechenland hat es gerade erste
Entspannungssignale gegeben. Bedroht Ankaras
Aufrüstung nicht diesen
Fortschritt?
Çakmakoglu: Vor allem
seit dem schweren Erdbeben im August und der
anschließenden Hilfe aus Türkische Patrouille in der Ägäis (1996)
Athen sehen wir in der „Anzeichen für eine gewisse Entspannung“
Tat Anzeichen für eine
gewisse Entspannung. Doch für eine wirk- sollen. Dafür wird kein Pfennig von zivilen
liche politische Aussöhnung ist es wohl Aufgaben abgezweigt. Die werden immer
noch zu früh. Fortschritte in der Zusam- Priorität haben. Wenn für unsere Vorhaben
menarbeit beim Tourismus, bei den Wirt- kein Geld da ist, werden wir sie aufschieschaftsbeziehungen und Umweltfragen ben müssen.
können nicht verdecken, dass es bei den SPIEGEL: Ist der Militäretat auch nur um
politischen Streitpunkten bislang keine eine Lira gekürzt worden, um die gewaltiAnnäherung gibt. Gerade erst hat das grie- gen Schäden des Erdbebens schneller zu
chische Militär auf Zypern Manöver ab- beheben?
gehalten.
Çakmakoglu: Nein. Aber wir haben geleSPIEGEL: Zehn Jahre nach Ende des Kalten gentlich von uns aus Abstriche an unseren
Krieges hat Ankara seinen Wehretat mehr Plänen gemacht.
als verdoppelt. In den nächsten 25 Jahren SPIEGEL: In dieser Woche treffen sich in
wollen Sie für mindestens 150 Milliarden Istanbul die Staats- und Regierungschefs der Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa. Ihr promi„Von Nachbarn eingekreist, die
nentester Gipfelgast, der amerikanische
früher Kolonien des
Präsident Bill Clinton, hat vorab die wichOsmanischen Reichs waren“
tige Aufgabe der Türkei herausgestellt, zugleich aber auch Fortschritte in der AusDollar aufrüsten. Wie kann die nicht eben einandersetzung um Zypern angemahnt.
wohlhabende Türkei das finanzieren?
Werden Sie dem Wunsch des großen BruÇakmakoglu: Unsere Rüstungsausgaben lie- ders folgen?
gen noch immer unter dem Nato-Durch- Çakmakoglu: Es ist ermutigend, dass die
schnitt …
Führungsmacht im Bündnis die SchlüsselSPIEGEL: Wieso? Die Türkei zweigt mehr rolle anerkennt, die wir in diesem Teil
als vier Prozent ihres Bruttoinlandspro- der Welt, an der Schnittstelle von Europa,
dukts für das Militär ab, mehr als jedes an- Asien und Afrika, zu übernehmen haben.
dere Nato-Land außer Griechenland.
In der Zypern-Frage können wir voranÇakmakoglu: Wir sind von zehn Nachbarn kommen, wenn endlich die Existenz zweieingekreist, die früher fast alle Kolonien er souveräner Staaten auf Zypern anerdes Osmanischen Reichs waren. Daraus kannt wird. Es kann nicht angehen, dass
entstehen noch immer Animositäten. Die- der Südteil der Insel …
ser Feindseligkeit müssen wir mit Stär- SPIEGEL: … also der griechische …
ke begegnen. Kein anderes Nato-Land hat Çakmakoglu: … noch immer als der Reso bedrohliche Nachbarn. Deutschland präsentant der ganzen Insel angesehen
gibt ohne jeden Gegner an seinen Gren- wird.
zen dreimal so viel für das Militär aus
Interview: Siegesmund von Ilsemann,
Bernhard Zand
wie wir.
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Werbeseite
Werbeseite
Ausland
RUSSLAND
Jelzins Militärs wollen sich in Tschetschenien bis zum
siegreichen Ende schlagen – ohne
Rücksicht auf Verluste für Moskaus internationales Ansehen.
S
schung in Russlands innere Angelegenheiten. Eine „menschliche Katastrophe“? Das
sei ein „Trugbild“, welches der Westen
künstlich erzeuge, lautete Iwanows Salto in
den Sowjet-Stil. Sein Vize Jewgenij Gussarow beschied die OSZE-Kollegen, welche
ihren Bericht auf dem Gipfel der EuropaOrganisation am Donnerstag in Istanbul
vorlegen wollen, Russland werde „mit der
Situation allein fertig“.
Moskauer EU-Botschaften wurden über
die Schlussfolgerungen der Inspektoren
vorab informiert, wobei sich die Überzeugung festigte, dass Russlands Wüten in
Tschetschenien durchaus nicht mehr allein
dessen innere Angelegenheit sei. Erzürnt
warnte der Sprecher des Moskauer Außenministeriums die anderen 53 OSZE-Mitgliedstaaten davor, den Kaukasuskrieg
beim Treffen in der Türkei etwa zum
Hauptthema zu machen.
Französische Diplomaten hatten gewagt,
mit Tschetscheniens Außenminister Iljas
Achmadow zu reden. Anders als im ersten
Feldzug 1994/96, so bestätigte Achmadow
in Paris, hätten die Russen bereits 200 Boden-Boden-Raketen gezündet, 4000 Zivilisten seien ums Leben gekommen. Empört
bestellte das russische Außenministerium
Militärminister Sergejew, Chef Jelzin
Auf Durchmarsch programmiert
Frankreichs Botschafter am vorigen Donnerstag in den Stalin-Wolkenkratzer am
Smolensker Platz in Moskau: Die Franzosen hätten einen „unfreundlichen Akt“ begangen, wurde er verwarnt, und Russlands
territoriale Integrität verletzt.
Jelzins Vize-Kanzleichef Igor Schabdurassulow räumte rasch „einige“ Ziviltote
ein, infolge von „Fehlern, für die wir die
moralische Verantwortung tragen“. Dennoch sei der „Kurs richtig“ und „die
Führung sich einig“.
Intern klang es ganz anders. Der Einbruch an der Propagandafront ließ einen
hohen Kreml-Beamten bei seinem abermals urlaubenden Präsidenten Alarm
schlagen, per Kurierpost: „Die Gefahr
wächst, dass unsere gerechte Position in
ausländischen Medien nicht mehr durchdringt und Russland den Informationskrieg
um Tschetschenien wieder verliert.“
Trotz Gleichschaltung der Medien und
der Abriegelung des Tatorts wagten westliche Journalisten und Diplomaten zu zweifeln, ob für die angebliche Banditenjagd
eine fast 100 000-köpfige Armee ein Land
planieren muss. Dabei ist der Beweis, dass
die blutige Bombenserie in Russland (293
Tote) tschetschenische Urheber hatte, bis
heute nicht geführt. Der Geheimdienst FSB benannte
nun den Ägypter Saïd alMaban als Finanzier des
Terrors – der Geschäftsmann hatte vor einem Jahr
auf einem Kongress 200 000
Dollar für hungernde Muslime gestiftet.
Russlands Präsident muss
jetzt auf dem letzten großen
Gipfel seiner Amtszeit in
Istanbul mit Vorwürfen
rechnen. Doch seine Generäle sind auf Durchmarsch programmiert. Sie
werben dafür mit dem
simplen Argument, nur derjenige werde im nächsten
Sommer die Präsidentenwahlen gewinnen, der die
Kaukasus-Kampagne siegreich beende.
Volkes Stimme scheint
diese Kalkulation zu stützen: Jeder dritte Moskowiter
ist mit dem Vormarsch der
Armee in Tschetschenien
A. SEL / SIPA PRESS
chnee deckt Panzer, Trümmer, Leichen und die Zelte zu, Kälte bis zu 30
Grad minus lähmt die blutjungen russischen Rekruten und tötet die Hilflosesten
der 200 000 geflüchteten Tschetschenen:
Jetzt führt im Nordkaukasus General Winter das Kommando – eigentlich die Gelegenheit zu einer Feuerpause.
Am Kontrollposten Kawkas 1 an der
Grenze zwischen Inguschien und Tschetschenien, wo noch immer Geschützdonner
hallt, prüfte vorige Woche ein Inspektionstrupp der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
die Kriegsfolgen: Sieben Experten unter
Leitung des norwegischen Diplomaten Kim
Traavik besuchten notdürftig eingerichtete Flüchtlingslager in Schulen und Schuppen, Erdhütten und eiskalten Eisenbahnwaggons.
Weiter, ins eigentliche Kampfgebiet,
ließen russische Befehlshaber die fremde
Kommission nicht vor. Doch der reichten bereits die Eindrücke aus der Elendsetappe, um „schwere humanitäre Probleme“ zu protokollieren.
Russlands feinsinnigem Außenminister
Igor Iwanow gelten solche vorsichtigen
Mahnungen längst als verbotene Einmi-
DPA
„In einer Woche platt“
Raketentrümmer in Grosny: 4000 getötete Zivilisten
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aber wirbt allein Verteidigungsminister Igor
Sergejew noch für eine rasche Beendigung
des Krieges, spätestens bis zum Ende dieses Jahres. Doch er donnerte auch, der
Westen trachte nur danach, Russland aus
der Kaspi-Region, dem Kaukasus und Mittelasien herauszudrängen. Zunehmend gerät er unter Druck seines Generalstabschefs Anatolij Kwaschnin, der sich von der
Schmach des verlorenen ersten Tschetschenien-Krieges reinwaschen und außer-
AP
zufrieden, ein weiteres Drittel plädiert sogar für noch härteres Draufschlagen: Auch
eine Bürgermehrheit fällt zurück in den
Sowjet-Stil.
Premier Wladimir Putin, dem eine Moskauer Tageszeitung die Ausstrahlung eines
„getrockneten Haifischs“ attestierte, setzt
längst ungeniert auf diesen Kriegspopulismus – und auf die alten Kameraden.
Publikumswirksam überreichte er Tatjana
Teperik den postum verliehenen Orden
„Held Russlands“ für ihren gefallenen Ehemann, einen Polizeioffizer. Ein ehemaliger
Putin-Gehilfe behauptet, der Geheimdienst-Oberst a. D. habe den Wechsel vom
willigen Jelzin-Instrument zum potenziellen Soldatenkaiser längst vollzogen.
Das Risiko kennt er: „Irgendwann werden wir alle gefeuert“, meditierte der Premier. Der Moskauer Politologe Andrej
Piontkowski befürchtet dagegen einen
„schleichenden Militärputsch“: Putin sei
„der zivile Sprecher des Militärs“, Boris
Jelzin könne ihn nun „nicht mehr entlassen
und umgekehrt Putin nicht die Generäle“.
Darauf stellen sich die Kader ein, die in
ihrer Karriereplanung auf Putin setzen.
Anatolij Tschubais beispielsweise, ehemals
Privatisierer der Staatswirtschaft und Darling aller Neoliberalen, ist heute Chef des
staatlichen Stromkonzerns und „mit allen
Handlungen der Regierung in Tschetschenien vollständig einverstanden“.
Mehr noch: Russland sei in der glücklichen
Lage, dass „Putin die Armee kontrolliert
und die Armee ihm vertraut“.
Einzelne Generäle gebärden sich schon,
als habe ihr oberster Kriegsherr Jelzin, der
Putin zu seinem Nachfolger erkoren hatte,
bereits abgedankt. General Wladimir Schamanow, Kommandeur der Armeegruppe
West in Tschetschenien, droht öffentlich
mit seinem Abschied, falls eine Feuerpause befohlen wird: „Ich werde meine Schulterstücke sofort abreißen und gehen.“
Sein Vorgesetzter Wiktor Kasanzew
prahlt, er könne die Region „in einer Woche mit Bomben platt machen“, wenn Jelzin die Rebellen-Republik unter Kriegsrecht stelle. Wenn nicht, solle sich das Volk
auf weitere drei Jahre Krieg einrichten.
Oder noch länger: Trotz aller Siegesfanfaren der Militärpropaganda ist seit Beginn
der so genannten Anti-Terror-Aktion vor
sieben Wochen nicht einer der 157 Tschetschenen-Anführer gefangen, getötet oder
verwundet worden. Jetzt lässt der Winter
für Monate die Angriffslust gefrieren.
Doch auch Generaloberst Walerij Manilow, Vize-Chef des Generalstabs, bestärkt
Zweifel, ob die Militärführung sich noch
einem Politiker-Befehl zu Friedensverhandlungen fügen werde. Befürchtungen, in
diesem Fall komme es zu „Unzufriedenheit, Unruhen oder Ultimaten“, nannte er
„hypothetisch“ – jedoch nicht grundlos.
Außenminister Iwanow rät vorsichtig zu
einer „politischen Regelung“ des Tschetschenien-Problems. Unter den Militärs
Kriegerwitwe Teperik, Premier Putin
Orden für den toten Helden
dem auf den Sessel des Ministers setzen
möchte.
Dem Sog zu einer Gesellschaft, die sich
von der Außenwelt isoliert und auf einen
Sonderweg zwischen Kaserne, Kirche und
Kapitalismus begibt, kann sich kaum noch
eine politische Kraft in Russland entziehen. Tschetschenien wirkt als Stimulanz.
Selbst die jüngste Friedensinitiative des
liberalen Jabloko-Parteiführers Grigorij
Jawlinski bedeutet eine verdeckte Kapitulation vor der neuen Sehnsucht nach einer
starken Hand: Liefert Grosny nicht alle von
Russland gesuchten Leute und alle Waffen
aus, sollen 30 Tage für die Flucht bleiben,
danach hat die Armee freie Hand.
Nur Menschenrechtler Sergej Kowaljow
klagt noch, dass Moskau „die Mittel der
Nato nutzt, um Milo∆eviƒs Ziele zu erreichen“. Der Wehretat des kommenden
Jahres steigt um 800 Millionen auf 5,4 Milliarden Dollar. Eine Delegation des Weltwährungsfonds verhandelt in Moskau über
die nächste Tranche des im Juli zugesagten
Kredits von 4,5 Milliarden Dollar. Schon im
Dezember sollen zunächst weitere 640 Millionen fließen.
Für die Flüchtlinge aus Tschetschenien
wendet die russische Regierung je Kopf
kaum 20 Rubel am Tag auf, vier Millionen
Dollar im Monat – ein 160stel der nächsten
Subvention aus dem Westen.
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Jörg R. Mettke
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J U G O S L AW I E N
Die Belgrad Party
Die Menschen in Belgrad richten sich auf einen langen Winter
mit Diktator Milo∆eviƒ ein. Der Lebensstandard sinkt dramatisch.
Doch eine mit Schwarzmarkt-Geschäften reich gewordene
neue Elite probt den Tanz auf dem Vulkan. Von Erich Follath
D
Jelena Djukiƒ, 26, hat Archäologie studiert, bevor sie sich professionell der Mode
verschrieb. „Die jüngsten Ereignisse“ umschreibt sie die Nato-Angriffe. Diese jüngsten Ereignisse hätten die Belgrader dazu
verdammt, „geduckt und primitiv wie Vorzeitmenschen zu leben“. Deshalb hat sie
Kleider mit Motiven von Höhlenmalern
versehen. Ihre Kollegin Verica Rako‡eviƒ
verordnet den Models Nonnenkluft und
lässt sie gegen das Dunkel der Nächte mit
Kerzen über den Laufsteg schreiten.
Nata∆a Krstiƒ reduziert die Kleider auf Fetzen – die Jugoslawin als in den Urwald
zurückgeworfene Tarzan-Jane.
Der Beifall ist riesig. Modewochen-Organisator Radujeviƒ, 33, ein Beau mit sanftem Blick,verneigt sich glücklich. Er kennt
tout Belgrad. Durch seinen Vater, den Direktor der größten Kaufhauskette des Landes, verfügt er über beste Beziehungen zur
Führungsclique um Präsident Slobodan
Milo∆eviƒ. Das gilt auch für weite Kreise
des Publikums: Auf dem Parkplatz vor der
Festung stehen dutzende Porsche, BMWSportwagen und Mercedes der S-Klasse.
Die bevorzugten Couturiers der Belgrader
Modenschau-Gäste stammen nicht vom
Balkan: Versace rauscht, Armani raschelt,
als man sich anschließend
zum Krimsekt trifft.
Die meist sehr jungen Damen aus dem Publikum werden von ihren Begleitern wie
Trophäen präsentiert. Sie tragen Schmuck von italienischen Goldschmieden; die
Herren tragen eher Gold-Berettas vom italienischen Waffenhersteller. Hier auf der
Burg dürfen sie Macho spielen. Im traditionellen Belgrader Elite-Treff, dem Hotel Hyatt auf der anderen
Seite der Save, warnt ein
Schild die „verehrte Kundschaft“: „Es ist Politik des
Hauses, dass alle Pistolen am
Eingang abgegeben werden
müssen.“
Mit Belgrad geht es rapide
abwärts. Die Inflation hat 15
Prozent monatlich erreicht,
der Dinar ist auf ein Drittel
REUTERS
urch die alten türkischen Folterverliese auf der Festung Kalemegdan über Belgrad dröhnt der Beat
– Musik aus dem Arsenal der Nato-Sieger,
mit provozierenden Namen.
„B-52’s“ und „Rammstein“ heißen die
bevorzugten Bands bei dem Treff der neuen jugoslawischen Elite. Wenn die Ironie
beabsichtigt sein sollte, so hat sie für die
Veranstalter der Belgrader Modewoche
doch keine Bedeutung. Natürlich kennen
sie die Namen der amerikanischen Bomber
und ihrer US-Basen, aber hier geht es nicht
um Politik. „Die Musik ist gut, sie passt zu
unseren Kleidern, sie macht Spaß. Und das
vor allem zählt nach diesen Wochen der
Leiden“, sagt Nenad Radujeviƒ.
Er streicht die Falten seines Fracks zurecht und macht vor geladenem Publikum
die Honneurs. „Voilà, unsere erste Nachkriegskollektion, ausschließlich entworfen von einheimischen Designern.“ Dann
tänzeln zum hämmernden Rap serbische Schönheiten über den Laufsteg – in
abenteuerlichen Kreationen, die oft Bezug nehmen auf das, worüber man in
Belgrad wenig spricht, aber woran man
immer denkt: die Bomben, die Angst, die
Zerstörung.
Präsident Milo∆eviƒ, Anhänger
Jede Nacht in einem anderen Bunker
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Modeaufnahmen im von Nato-Bomben zerstörten
AP
Belgrader Außenministerium: „Was nach diesen Wochen der Leiden zählt, ist Spaß“
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seines offiziellen Kurswerts gegenüber der
D-Mark gesunken. Weite Teile der Industrieproduktion sind lahm gelegt, europäischen und US-Firmen ist der Handel mit
Jugoslawien verboten, Direktflüge in den
Westen gibt es nicht mehr. Serbien, das einzige Land der Welt, das von einem international angeklagten Kriegsverbrecher regiert wird, ist isoliert.Wie kommen die neuen Reichen von Belgrad zu ihrem Geld?
Dejan Zdravkoviƒ, Besitzer des vornehmen Tennisclubs „Max“ im Nobelviertel
Dedinje und Nachbar der Milo∆eviƒs, hat
keine Scheu, es zu erklären – das Prinzip,
nicht die Details. „Die
internationalen Sanktio„Milo∆eviƒ
nen sind für Geschäftsleute paradiesisch. Wer handelt wie ein
die richtigen Leute kennt, Wahnsinniger,
zahlt heutzutage keine und die andeZölle und keine Steuern. ren wollen aus
Die Gewinnspannen sind
Selbstsucht
enorm, und sie zementiean
die Macht“
ren Milo∆eviƒs Macht.“
Zdravkoviƒ, 49, macht
den Präsidenten für vier verlorene Kriege
verantwortlich, wird aber keinen Finger
rühren zu seinem Sturz. Der Mann, der
lange Zeit in Italien gelebt und an Regierungen in alle Welt zur Waffenherstellung
taugliche Werkzeugmaschinen verkauft
hat, ist zuallererst Pragmatiker. Er gehört
zum inneren Kreis der Kleptokratie, der
die Serbien GmbH beherrscht. „Wer gibt
schon freiwillig seine Macht auf, seine
Geldquellen?“
Der Spezialist für Im- und Export fährt
einen Porsche und hat ihn „selbstverständlich“ legal erworben. Einen Monat
lang durften sich auf Milo∆eviƒs Anweisung jetzt alle Autobesitzer in Belgrad offizielle Nummernschilder für ihre Wagen
abholen, ohne deren Herkunft nachweisen
zu müssen – ein Freifahrschein für Schieber und Schwarzhändler. Wenn Interpol
kommt, wird sie anhand von Seriennummern am Motorblock leicht feststellen können, dass praktisch alle Luxusautos in der jugoslawischen Hauptstadt
Diebesgut sind. Doch Interpol kommt erst,
wenn Milo∆eviƒ gestürzt, das Land nicht
mehr international geächtet, die Sanktionen aufgehoben sind.
Die Belgrader Nomenkleptura schmerzt
zwar, dass sie keine Visa mehr für den Westen erhält, aber sie tröstet sich damit, die
billigsten Porsches der Welt zu fahren.
Viele junge Leute mit Uni-Abschluss und
Hang zur ehrlichen Arbeit sind längst abgehauen: mehr als 300 000 Republikflüchtlinge, ein ungeheurer intellektueller Aderlass. Die meisten der Zurückgebliebenen
zwischen 18 und 30 Jahren sehen wenig
Sinn darin, einem geregelten Job nachzugehen oder ihn auch nur anzustreben. Ein
Universitätsassistent verdient 200 Mark
monatlich, eine Lehrerin 250 Mark. Das
reicht kaum für mehr als eine Packung
Müller-Milchreis oder ein Heineken-Bier
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E. FOLLATH / DER SPIEGEL
Ausland
Flohmarkt im Armenviertel von Belgrad
„Gesetz und Ordnung, was heißt das“
AP
pro Tag (beides am Kiosk oder im Supermarkt vorhanden). Entbehrung und Bombentrauma machen die jungen Leute
selbstsüchtig – und zynisch.
Viele haben ihre Ausbildung abgebrochen, sie denken nicht an Familiengründung, sie verabscheuen jede Form der
Verantwortung. Eine ganze Generation, so
scheint es, will das Erwachsenwerden einstellen. Die Welt hat sich von ihnen verabschiedet, also nehmen sie von der Welt eine
Auszeit: Was zählt, ist der Augenblick, ist
Fun, Fun, Fun. Belgrads Jugend inhaliert
das Leben, Glück im Hier und Jetzt – ob
am Rande oder gar jenseits der Legalität interessiert da kaum mehr.
„Gesetz und Ordnung, was heißt das
schon in Belgrad“, sagt Milena, die Ex-Ju-
rastudentin, die ihr Studium aufgegeben
hat und die Frage nach dem Warum nicht
versteht: „Sollte ich Rechtsanwältin werden in einem Land, in dem das Recht nichts
zählt?“ Wie so viele in der Szene legt auch
sie keinen Wert mehr auf ihren Familiennamen, hat den Kontakt zum Elternhaus
abgebrochen. „Meine alte Identität ist abgelegt, es existiert kein Relikt mehr aus
meinem letzten Leben.“
Mit 17 hat sie an Demonstrationen teilgenommen, 1996 noch an einen demokratischen Machtwechsel geglaubt. Doch damit ist es für Milena vorbei: „Politik ist bei
uns eine Krankheit. Milo∆eviƒ handelt wie
ein Wahnsinniger. Der Westen bombardiert
die Menschen, die ihn stürzen wollen und
nimmt uns die Lebensgrundlagen. Und
Belgrads so genannte Oppositionelle hassen einander mehr als Milo∆eviƒ, wollen
nur aus Selbstsucht an die Macht.“
Also steht Milena jeden Tag erst am späten Nachmittag auf. Guckt dann MusikVideos. Schlingt irgendwelches Fast Food
hinunter. Macht sich schön für die Nacht –
und die Männer, von denen sie sich aushalten lässt. Politik ist „uncool“, aber Luxus ist „cool, egal aus welchen Quellen er
stammt“. Die Konkurrenz williger junger
Partygängerinnen ist groß, mit ihren 20,
meint sie, zähle sie bald schon zum alten
Eisen.
Sie liest ihre Verehrer in Bars auf, deren
Namen von der Sehnsucht nach der großen
weiten Welt zeugen: im „Ipanema“, im
„Acapulco“, im „Passport“. Milenas Nächte enden dann meist im „Nana“ oder im
„Rose“, den beiden sündhaft teuren Nachtclubs in Dedinje, wo es erst weit nach Mitternacht richtig losgeht. Wo es im Hinterzimmer für alle, die die Nase voll haben,
eine Nase voll gibt: Kokain macht die Musik heißer, die Männer sympathischer, die
Zukunft unwichtiger, den Sex erträglicher.
Auch Präsident Milo∆eviƒ, 58, schläft
jede Nacht in einem anderen Bett – aus an-
Discothek in Belgrad: „Luxus ist cool, egal aus welchen Quellen er stammt“
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deren Gründen. Er hat Angst vor einem
überraschenden Nato-Schlag. Doch tagsüber ist er sehr präsent: Milo∆eviƒ, so sagen
Belgrader Insider, weiß alles. Er ist ein
merkwürdiger Diktator in einer merkwürdigen Diktatur. Zwar kontrolliert Milo∆eviƒ
die elektronischen Medien fast zu hundert
Prozent, und er lässt dort Lügen über die
Zustände in seinem Land verbreiten, dass
sich der Balkan biegt. Zwar ordnet er in
unregelmäßigen Abständen brutale Polizeieinsätze gegen Demonstranten an. Aber
er lässt auch Kritik zu – und öffnet so geschickt Ventile.
Die größte Belgrader Boulevardzeitung
„Bliƒ“ erscheint mit einem Bild einer
Wandmauer auf Seite eins, deren Aufschrift lautet: „Sloba ne hvala – Slobo nein
danke“. Und im Theater kann der Komiker
Mi‡ko den Präsidenten, der ihm verblüffend ähnlich sieht, öffentlich nachäffen und
der Lächerlichkeit preisgeben. Zu der Melodie von Frank Sinatras „Strangers in the
Night“ singt ein Chor: „Und jetzt auch
noch das Kosovo, nehmt Abschied vom
verlorenen Kosovo.“
Dragoljub Ljubi‡iƒ, wie Mi‡kos richtiger
Name lautet, glaubt, dass man in diesen
Tagen in Belgrad ziemlich alles sagen und
tun kann, was man will. Milo∆eviƒ erlaube
das so lange, wie er sich durch die Kritik
ungefährdet fühle, meint der Satiriker. Dieser Zustand könne noch lange sein. Nach
Ansicht des Theatermanns sind die Belgrader schizophren: „An manchen Tagen
halten wir uns für die Juden dieser Welt, an
manchen für die Nazis. Unsere Situation ist
so verrückt, dass die Menschen nicht wissen, ob sie lachen oder weinen sollen.“
Von Belgrads Intellektuellen war lange
nicht mehr viel zu hören, und wenn, dann
wenig Rühmliches. Der Serbische Schriftstellerverband UKS verurteilte die Demonstranten gegen Milo∆eviƒ. Der regimetreue Verein lud kürzlich den russischen
Philosophen Alexander Sinowjew ein, der
seinen Gastgebern prompt versicherte, sie
gehörten zu einem Heldenvolk, „von der
Nato unbesiegt“.
Ein Großteil der bekannten Autoren wie
Mirko Kova‡, Bora ±osiƒ und Bogdan Bogdanoviƒ hat sich ins Ausland abgesetzt. Von
denen, die bleiben, kuschen die meisten.
Immerhin verließen jetzt einige Dichter
um die junge Dramatikerin Biljana Srbljanoviƒ den offiziellen Club und gründeten
einen „Unabhängigen Schriftstellerverband“. Milo∆eviƒ lässt sie gewähren. Die
Autoren finden mit ihren Aufrufen gegen
serbische Fremdenfeindlichkeit wenig
Gehör.
Die meisten Menschen in der jugoslawischen Hauptstadt haben andere Sorgen als
Literatur oder Theater oder Discos. Die
Herbststürme haben eingesetzt, der Winter
kommt. In den nächsten Monaten geht es
für alle diejenigen, die sich nicht an den
Sanktionen reich gestoßen haben, nur ums
Überleben. Heizöl ist knapp, und dass die
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nicht alle unsere Soldaten wie Engel benahmen, das haben wir aber auch nie behauptet“, meint Vladimir Iliƒ, der Staatssekretär im Informationsministerium. So
schwer es ist, in der Serben-Hauptstadt eine
positive Stimme über Milo∆eviƒ zu finden,
so schwer ist es auch, eine Stimme der
Sympathie für die Albaner zu vernehmen.
Belgrad, im November 1999, Szenen
vom Tanz auf dem Vulkan:
Gegen 18 Uhr sammeln sich wie jeden
Abend Demonstranten auf dem Platz vor
dem Nationalmuseum, lärmen mit ihren
Trillerpfeifen, rufen: „Milo muss weg!“ Es
ist ein Ritual mit wechselnder Teilnehmerzahl. Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei,
die am vergangenen Dienstag wieder dutzende Protestierer blutig prügelte.
Gegen 20 Uhr posieren Tanja, Irena, Marija und Andjelika leicht geschürzt in den
Trümmern des von Nato-Raketen bis auf
ein Stahlpfeiler-Skelett zerstörten Außenministeriums – Mode morbid für „Reflexionen unserer Zeit“, den Katalog der
„new yugoslav fashion designers“.
Gegen 23 Uhr macht sich Milena zur
Party auf. Die Discothek „Madona“ des
Milo∆eviƒ-Sohns Marko im eine Autostunde entfernten Po≈arevac soll wieder eröffnet sein; „Bambipark“ hat der DiktatorenSpross sein angrenzendes Freizeitzentrum
getauft. Vorher noch schnell eine Portion
Müller-Milchreis verschlungen, das Rouge
abgetupft. Und bloß nicht an die Zukunft
denken.
Alles Milo. Oder was?
™
REUTERS
Europäische Union jetzt einigen von Op- cher aus dem Westen entdeckt, kann sie
positionellen regierten Städten Brennstoff ihren Zorn nicht beherrschen: „Ihr solltet
liefern will, hilft in Belgrad (dessen Bür- euch schämen! Ihr wollt uns vernichten,
germeister nicht der Regierungspartei an- ihr Unmenschen!“
Ein Student namens Janko, der Comics
gehört) keinem. Die Menschen müssen sich
auf dem teuren Schwarzmarkt versorgen. verkauft, mischt sich ein und drängt die
Um an die dafür nötigen Devisen heran- Aufgebrachte ab. Der Renner in seinem
Angebot sind alte Asterix-Hefte,
zukommen, verkaufen sie ihr
deren erste Seiten er mit einem
letztes Hab und Gut.
Der ärmliche Flohmarkt vor „An manchen eigenen Text überklebt hat. Aus
Tagen halten den tapferen Galliern, die den
den Mietskasernen von NeuBelgrad ist nichts für Milena und wir uns für die übermächtigen Römern trotzen,
ihre Partyfreundinnen. Er beJuden dieser macht er neue Helden, aus
Milo∆eviƒ Miraculix: „Ganz Euginnt schon in den frühen MorWelt, an
ist von den Amerikanern
genstunden und endet um vier
manchen für ropa
unterjocht. Ganz Europa? Ein
Uhr nachmittags: Schlafenszeit
die Nazis“
kleines Volk auf dem Balkan hält
für die Spaßgeneration. Am
stand: die Serben …“
Jurij-Gagarin-Boulevard stehen
Den Studenten Janko, die Partygängerin
hauptsächlich ältere Frauen und Männer, mit Lampenschirmen, mit Marmela- Milena, den Modemacher Nenad, den Gedengläsern, mit Autoersatzteilen. Einige schäftsmann Dejan verbindet nichts, nur
bieten alte Kalender an, andere neue Post- das: Sie alle glauben, dass die Nato-Länder
karten. Sie zeigen von Nato-Raketen in sich gegen Belgrad verschworen und einen
Brand geschossene Ministerien. Aufge- ungerechtfertigten Angriffskrieg geführt
druckter Kommentar: „Ein Triumph für haben. Aber war da nicht noch was –
die Belgrader Feuerwehr“. Oder einen schlimmste Menschenrechtsverletzungen,
schon in Trümmern liegenden Gebäude- begangen vom serbischen Militär, ethnikomplex, auf dem kleine Jungs herumtur- sche Säuberungen, angeordnet von Sernen: „Kinderspielplatz, Designed by biens Regierung? Sicher, irgendwie hätten
sich bei dem Konflikt im Kosovo alle SeiNato“.
Die Stimmung ist eher apathisch als ag- ten schuldig gemacht, aber bestraft würgressiv. Am Vortag hat die Stadtverwaltung den wie immer in der Geschichte nur die
die Elektrizität für zwei Stunden abge- Serben, sagt Student Janko. Partygirl Miledreht: Hinweis auf schlimmere Dinge, die na denkt, dass die Kosovaren sowieso alles
in den nächsten Monaten kommen könn- Drogendealer seien und mit dem Morden
ten. Doch als eine Verkäuferin die Besu- angefangen hätten. „Kann ja sein, dass sich
Studentendemonstration durch die Innenstadt von Belgrad: „Präsident Milo∆eviƒ muss weg“
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Autonomie-Kundgebung in Banda Aceh*: „Die Leute haben zu viel Terror erlebt, ihre Geduld ist am Ende“
Acehs führt.“ Akbars Einspruch wiegt
schwer. Als Führer der früheren Regierungspartei Golkar hatte der Diplomatensohn seine Anhänger dazu gedrängt,
dem damaligen Präsidenten B. J. Habibie
die Gefolgschaft zu entziehen, weil dieser die Abspaltung Osttimors eingeleitet
Nach Osttimor will auch die Krisenprovinz Aceh unabhängig
hatte.
werden. Präsident Wahid steht vor einer
Flugs korrigierte Wahids neuer Außenminister Alwi Shihab seinen für widerschweren Bewährungsprobe. Zerfällt sein Riesenreich?
sprüchliche Aussagen bekannten Chef: „In
eine Anhänger johlten nach der Rede, strömten in der Provinzhauptstadt Banda Fragen der nationalen Einheit muss zuerst
Beobachter werteten sie als bedeu- Aceh am vorigen Montag die Bewohner die Beratende Volksversammlung konsultende Richtschnur für die Zukunft des zusammen. In einer der bisher größten De- tiert werden.“ Auch Wahid schränkte sein
Landes. Unmittelbar nach seiner Wahl vor monstrationen Indonesiens forderten etwa Zugeständnis rasch wieder ein: „Mit eiknapp vier Wochen war Indonesiens neu- eine Million Acehnesen „Freiheit“ und ei- nem Referendum wollen wir uns auf keinen Fall drängeln lassen.“
er Präsident Abdurrahman Wahid, 59, zu nen unabhängigen „islamischen Staat“.
Kaum im Amt, droht dem ersten demoDer nach zwei Schlaganfällen fast ereiner spontanen Ansprache vor das Parlakratisch gewählten Präsidenten eine schwe- blindete Wahid, ein geschickter Taktiker,
ment in Jakarta getreten.
Mit dem Erbe der Ära Suharto müsse re Regierungskrise. Reformpolitiker, die hofft auf die Überzeugungskraft seines
„friedlich“ aufgeräumt werden, forderte geholfen hatten, eine Mehrheit für ihn zu Kompromissmodells für Aceh. Die Region,
das Staatsoberhaupt. Um den wirtschaft- schmieden, revoltieren. „Wenn Aceh sich so hatte er angekündigt, dürfe fortan 75
lichen Niedergang der mit 210 Millionen abspaltet“, protestierte Amien Rais, Spre- Prozent der Erlöse aus ihren reichen Öl-,
Bewohnern viertgrößten Nation der Erde cher der Beratenden Volksversammlung, Gas- und Edelmetallvorkommen behalten. Nahe der Stadt Lhokseumawe befinzu stoppen, wolle er vor allem die „Ein- „dann bricht alles auseinander.“
Auch Parlamentssprecher Akbar Tan- den sich Indonesiens gigantische Erdgasheit des Landes sichern“. Doch schon
vergangene Woche schien das Versprechen jung machte seinen Widerstand deutlich: vorkommen und die wichtigste Produkdes sanften Muslimführers nur noch „Kein Abgeordneter würde ein Referen- tionsstätte von Flüssiggas. Hier werden gut
dum unterstützen, das zur Abspaltung zehn Prozent der Deviseneinnahmen des
Makulatur.
Archipels der 17 500 Inseln
Nachdem Wahid auf einer
I
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erwirtschaftet. In der VerPressekonferenz versichert
Banda
Aceh
gangenheit war davon so gut
hatte, auch den 4,3 MillioMALAYSIA
wie nichts in der Provinz genen Bewohnern der rebelliMolukken
Aceh
blieben.
schen Nordprovinz Aceh
Riau
Irian
Kalimantan
Wahid ordnete zudem an,
stehe ein UnabhängigkeitsJaya
Sumatra
dass
die Armee sich aus dem
referendum wie in Osttimor
Sulawesi
Jakarta Java
55392 Quadratkilometer grozu („Das ist Gerechtigkeit“),
ßen Gebiet an der strategisch
Timor
0
750
wichtigen Straße von Malak* Vor der Baiturrahman-Moschee am
Kilometer
AUSTRALIEN
ka möglichst schnell zurück8. November.
Präsident Wahid
INDONESIEN
Alptraum einer Anarchie
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zieht und die Polizei Demonstrationen gebildet worden“, behauptet der gedrunnicht mehr unterbindet. Den Sicherheits- gene Mann.
kräften wurden in der Vergangenheit
Schon heute herrschen in Aceh die strikschwere Menschenrechtsverletzungen vor- ten Regeln des Islam. Der Verkauf von
geworfen.
Alkohol oder Frauenfotos auf WerbeplaSeit die „Nationale Befreiungsfront katen sind streng verboten. „Wir wollen
Aceh-Sumatra“ 1976 einen islamischen zu unseren historischen Wurzeln zurückStaat unter Leitung des ins schwedische kehren“, sagt Sahputra.
Exil geflüchteten Prinzen Hasan di Tiro
Aceh, traditionell Schnittstelle zwischen
ausgerufen hatte, herrscht Aufruhr. 1989 arabischer und asiatischer Welt, galt über
erklärte der damalige Diktator Suharto Jahrhunderte als Tor des Islam zu den inAceh zum „militärischen Operationsge- donesischen Inseln.Weil die Aceh-Muslime
biet“. Jakartas Truppen durften morden, sich nicht den holländischen Kolonialherren
foltern und vergewaltigen, sofern sie nur ergaben, errichteten die Pfeffersäcke im
den geringsten Verdacht hegten, es mit einstigen Sultanat eine Gewaltherrschaft,
Sympathisanten der radikalen Muslim- die bis Anfang des Jahrhunderts zehntauGuerrilla zu tun zu haben.
sende Opfer forderte. Erst die Zusicherung
Der Hochschullehrer Abdul Moham- einer weitgehenden Autonomie im jungen
med, 52, geriet 1990 in die Fänge der Indonesien überzeugte die Acehnesen, sich
gefürchteten Eliteeinheit Kopassus. Um dem Staatsgründer Sukarno anzuschließen.
das Geständnis zu erpressen, er habe die Doch von ihm und seinem Nachfolger SuGuerrilla unterstützt, rissen seine Peini- harto fühlten sie sich betrogen.
ger ihm die Fußnägel aus und schlugen
„Es hat gar keinen Sinn, mit Jakarta über
ihn mit Tischbeinen. „Nach drei Mona- etwas anderes als Unabhängigkeit zu verten Haft“, sagt der schmächtige Mann, handeln“, meldete sich vorige Woche Prinz
„hat meine Familie mich nicht wieder- Hasan di Tiro, Thronfolger der letzten
erkannt.“
acehnesischen Sultan-Dynastie, aus StockMenschenrechtsgruppen schätzen die zi- holm zu Wort. „In wenigen Jahren wird
vilen Opfer der letzten zehn Jahre vor- Indonesien in mindestens fünf Länder zersichtig auf etwa 3000. Die Aufständischen fallen sein.“
sprechen von mehr als 30 000 Toten. StänAuch die südlich von Aceh gelegene Prodig werden neue Massengräber entdeckt. vinz Riau, in der rund 50 Prozent des in„Auch wenn Wahid jetzt einen noch so donesischen Erdöls gefördert werden, will
weit reichenden Autonomiestatus ver- unabhängig werden. Gleiches gilt für Suspricht“, sagt der Menschenrechtsaktivist lawesi und die unruhigen Molukken.
Wiratmadinata, „kommt das zu spät. Die
In Irian Jayas Hauptstadt Jayapura, gut
Leute haben zu viel Terror erlebt, ihre Ge- 4000 Kilometer von Aceh entfernt, gingen
duld ist am Ende.“ Obwohl vergangene am Freitag mehrere tausend Menschen für
Woche der Kommandeur der Streitkräfte die Unabhängigkeit auf die Straße. Die
in Aceh durch einen Einheimischen ersetzt Westhälfte Neuguineas, Heimat von knapp
wurde, schlägt den Soldaten Jakartas nur zwei Millionen Menschen, die einen der
noch Hass entgegen.
größten Urwälder der Erde bewohnen, war
Als sich Truppen in der Gegend von erst 1969 mit falschen Versprechungen dem
Lhokseumawe weigerten, die rot-wei- indonesischen Staat einverleibt worden.
Wahid weiß, welches schwierige Erbe er
ße indonesische Fahne einzuholen, brannten Demonstranten kurzerhand die Ka- antritt. Im September hatte ihn eine seiner
serne und das Provinzparlament nieder. letzten Wahlkampfreisen nach Aceh geIn einem Vorort wurde ein Soldat splitter- führt. Wenn er gekommen sei, um einem
nackt durch die Straße getrieben. In Ban- Referendum zuzustimmen, sei er willkomda Aceh stürmte der Mob das Gefängnis men, empfingen lokale Politiker den Gast
und befreite mehr als 100 Insassen. Die am Flughafen. „Wenn nicht, können Sie
Ordnungskräfte waren machtlos. Sie dür- gleich wieder umkehren.“ Jürgen Kremb
fen, damit die Ausschreitungen
nicht eskalieren, ihre Schusswaffen nicht mehr benutzen.
Die aufziehende Anarchie
könnte für Jakarta zum Alptraum werden. „Wenn Wahid
uns nicht bald ein Referendum gewährt“, droht Ismail
Sahputra, 34, Kommandeur der
Guerrilla im Distrikt Pase, „erklären wir ihm den Dschihad,
den heiligen Krieg.“
Die Guerrilla habe derzeit
mehr als 1000 Mann unter Waffen und könne schnell aufgestockt werden. „Mehr als 5000
Acehnesen sind in Libyen aus- Rebellen in Aceh: Nur noch Hass auf Jakarta
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SÜDTIROL
Properer Populist
P. GRÜNER / IFA
Jörg Haiders FPÖ bringt die Rückkehr der Dolomiten-Provinz
nach Österreich ins Gespräch – zum Verdruss der
Bozener Landesregierung. Auch die Bürger sind bisher dagegen.
Brauchtumspflege (in Meran): Spürbare Abneigung gegen „richtige Italiener“
228
ze im Landtag halten, fordern traditionell
ein „Los von Rom“.
Nach seinem spektakulären Wahlerfolg
in Wien allerdings wird der Chef der FPÖ
in Bozen ernster genommen. Argwöhnisch
verfolgten die SVP-Oberen, dass die Haider-Partei schon in ihrem Parteiprogramm
dafür plädierte, Südtirol „die Möglichkeit
des Beitritts zur Republik Österreich in
freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts offen zu halten“.
Nun, sorgt sich Landeshauptmann Durnwalder, sei Haider „ein bedeutender Politiker unserer Schutzmacht Österreich, und
ÖSTERREICH
SCHWEIZ
Bozen
SÜDTIROL
Mailand
Venedig
I TA L I E N
Ligurisches
Meer
d e r
AP
A
uf seinen österreichischen Kollegen
Jörg Haider ist Luis Durnwalder,
Regierungschef der autonomen italienischen Provinz Südtirol, derzeit nicht
gut zu sprechen.Wann immer der Kärntner
Landeshauptmann die Selbstbestimmung
der Südtiroler über ihren Verbleib in Italien
propagiere, sei das „unvernünftig bis gefährlich“, sagt Durnwalder.
Der Ärger des prominentesten Politikers der Südtiroler Volkspartei (SVP),
die im Bozener Landtag als Sammelpartei der Deutschsprachigen über 60 Prozent der Sitze verfügt, kommt nicht von
ungefähr. Immer wieder hat FPÖ-Chef
Haider die Frage einer Volksabstimmung
in Südtirol ins Gespräch gebracht – als lebten südlich der Grenze am Brennerpass
bedrängte Entrechtete, die unter dem
Joch der Regierung in Rom zu leiden
hätten.
Im Land der Berge, des Weins und des
Specks, das jährlich von mehr als drei Millionen deutschen Touristen besucht wird,
fanden Haiders Parolen bisher nur am
rechten Rand Gehör. Allein der politisch
bedeutungslose FPÖ-Ableger „Die Freiheitlichen“ und die patriotische Union für
Südtirol (UfS), die zusammen 3 der 35 Sit-
er hätte sogar Kanzler werden können“.
Deswegen sei es „schlimm“, wenn Haider
„Unruhe und Unsicherheit in unsere Bevölkerung trägt“.
Voreilig hat die UfS schon Pläne für eine
Volksabstimmung geschmiedet. Ein erstes
Referendum könne über die Loslösung von
Italien entscheiden, ein zweites über die
Rückkehr nach Österreich – mit der Alternative einer souveränen Republik Südtirol.
Für die Idee einer eigenständigen Alpenrepublik, fürchtet auch der in Meran und
München lebende Bergsteiger und Grünen-Europaabgeordnete Reinhold Messner, sei „mit viel Propaganda eine Mehrheit zu schaffen“.
Der propere Populist Haider und seine
Südtiroler Gefolgsleute setzen offenbar auf
das leise Grummeln, das zwischen den
Bergriesen Ortler und Marmolada zu
hören ist, wenn Deutschsprachige über die
Italiener urteilen. Das Verhältnis der Volksgruppen untereinander ist gestört; auch 80
Jahre nachdem der einst österreichische
Landstrich am Ende des Ersten Weltkriegs
Italien zugeschlagen wurde, sind die Wunden der Annexion nicht verheilt.
Deutschsprachige (65,3 Prozent der
460 000 Südtiroler) und die Minderheit der
Ladiner (4,2 Prozent) eint der Wille, mit
Italienern möglichst wenig zu tun zu haben. In 112 von 116 Kommunen haben die
Deutschen das Sagen.
Vor allem die Elterngeneration nährt
weiterhin Vorurteile gegenüber Italienern.
Immer noch gehen Mädchen und junge
Frauen Freundschaften mit „richtigen Italienern“ (so die gängige Bozener Sprachregelung) aus dem Weg, weil sie zu Hause
Sanktionen fürchten.
Kein Wunder, dass sich laut einer Jugendstudie des Landesinstituts für Statistik
41 Prozent der deutschsprachigen, aber nur
18 Prozent der italienischen Jugendlichen
mit ihrer Heimat Südtirol identifizieren;
jeder zweite Italiener fühlt sich am meisten
mit „Italia“ verbunden.
Das getrenntsprachige Schulsystem und
die alle zehn Jahre einzureichende „Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung“ helfen
mit, die Barriere zwischen den Volksgrup-
50 km
FPÖ-Vorsitzender Haider
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„Unvernünftig bis gefährlich“
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Ausland
pen aufrechtzuerhalten. Der Kulturkampf
um die Sprache nimmt bisweilen bizarre
Züge an.
Am Bozener Bahnhof kam es vor, dass
ein italienischer Beamter nur dem eine
Fahrkarte verkaufte, der den Südtiroler
Zielbahnhof auf Italienisch nennen konnte. Ein deutschsprachiger Landesbediensteter wurde wegen Amtsmissbrauchs zu
umgerechnet 700 Mark Buße verurteilt,
weil er einem Italiener Auskünfte nur auf
Deutsch erteilen wollte.
Ethnische Vorbehalte, analysierte das
Landesamt für Statistik, scheinen „bei
Deutschen und Ladinern stärker verwurzelt zu sein als bei Italienern“.
Ganz Südtirol müsse schuften, damit Italiens unterentwickelter Süden ernährt werden könne, lautet ein verbreitetes Vorurteil. Landeshauptmann Durnwalder weiß
es besser: Der römische Staatsapparat
überweist, einmalig in Italien, 90 Prozent
der Steuereinnahmen aus Südtirol wieder
in die Provinz zurück.
Ihre allerorts spürbare Abneigung gegen
die Italiener erklären die Südtiroler gern
mit der „Geschichte“. Tatsächlich haben
die „Deitschn“ unter den Italienern sehr
gelitten. Die Mussolini-Faschisten verboten den Deutschunterricht, sie entließen
deutschsprachige Lehrer und Verwaltungsbeamte. Erst tauften sie die Berge um und
dann die Menschen: Ein Josef Grüner
musste Giuseppe Verdi heißen, aus dem
Dolomitenberg Schlern, dem Wahrzeichen
Südtirols, wurde der Sciliar.
Gleich zwei Diktatoren, Mussolini und
Hitler, stürzten die Südtiroler 1939 in Verzweiflung. Die Bevölkerung wurde vor die
Wahl gestellt, nach Großdeutschland umzusiedeln oder italienisch zu werden. Hunderttausende optierten für die Ausreise
nach Hitler-Deutschland, viele kehrten Jahre später enttäuscht zurück.
Auch das demokratische Italien ließ die
Tradition jahrzehntelanger Okkupationspolitik zunächst noch fortleben. Erst das
1972 eingeführte Autonomiestatut brachte
deutliche Besserung, inzwischen sind eher
die Deutschsprachigen privilegiert.
Die Italiener wiederum registrierten
missmutig, wie ihre einstigen Privilegien
bei der Umsetzung der Autonomie dahinschwanden. Früher schanzten sie sich 90
Prozent der Stellen im Öffentlichen Dienst
zu, heute stehen ihnen nach dem Proporz
von 10 Arbeitsplätzen in der Verwaltung
statistisch nur noch 2,7 zu.
Das Zusammenleben der beiden Bevölkerungsgruppen, tröstet sich Landeshauptmann Durnwalder, „funktioniert wie
in einer Vernunftehe“. Soll heißen: Man
liebt sich nicht gerade, man löst die Alltagsprobleme – und geht sich ansonsten,
bitte sehr, aus dem Weg.
Dabei ist Südtirol, so Alpinist Messner,
„für alle Sprachgruppen ein Schlaraffenland“. Die Arbeitslosenquote liegt bei
zwei Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt
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SCHNEIDER PRESS
wächst beharrlich um fast drei Prozent,
und in der italienischen Rangliste der Ersparnisse pro Familie liegt die Provinz Südtirol mit durchschnittlich rund 32 000 Mark
auf Platz eins.
Zwischen Brenner und Salurner Klause
hat sich ein Wohlfahrtsstaat nach skandinavischem Muster längst vergangener Zeiten breit gemacht. Die Landeskasse ist so
gut gefüllt, dass neue Ämter, Schulen, Museen, Krankenhäuser und Straßen gebaut
werden können. Als einzige Provinz garantiert der „Alto Adige“ bedürftigen Einheimischen und auch Ausländern ein Lebensminimum von umgerechnet 860 Mark;
überdies gibt es eine von der Landesregierung finanzierte
staatliche Zusatzrente und eine im Süden unübliche ExtraRente für Invaliden.
Lehrer verdienen
fast doppelt so viel
wie Pädagogen im
übrigen Italien.
Eigentlich gebe es,
so Durnwalder, „keinen Grund, den Status quo zu verändern“, solange in
Rom nicht die rechte
Alleanza Nazionale
regiere und die Südtiroler Autonomie in
Frage stelle.
Der Abenteurer
Messner, der nahe
Meran die Burg JuSüdtiroler Messner
val besitzt, sieht
gleichwohl Gefahren aus Wien auf sein
Land zukommen. Wenn Haider eines Tages
Kanzler werde und „seine Propagandamaschine anwirft, ist nicht abzusehen, wie
das alles endet“.
Sieben von zehn Südtirolern votierten
nach Einschätzung ihres Landeshauptmanns für den Verbleib in Italien, wenn
ein Referendum „von einem Tag auf den
anderen“ durchgeführt würde. Hätten die
Befürworter des Anschlusses aber ein halbes Jahr Zeit, für ihre Idee zu werben, gäbe
es „eine Mehrheit für Österreich“.
Was aber dann? Die SVP-Eliten sind sich
sicher, dass „Österreich uns nehmen, Italien uns aber nicht gehen lassen würde“
(Durnwalder). Dass die Vereinten Nationen sich nach einer Volksabstimmung für
die Verschiebung der österreichischen
Grenze nach Süden aussprechen würden,
hält er für „undenkbar“.
Die Möglichkeit, den Wunsch nach
einem Anschluss an Österreich wie früher
mit Anschlägen zu untermauern, wäre
seiner Meinung nach „das Schlimmste, was
uns passieren könnte“. Deswegen, warnt
Durnwalder, trete die Landesregierung
„jedem entschieden entgegen, der von
außen versucht, das Klima hier zu vergiften“.
Carsten Holm
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Ausland
Erstmals nannte Castro, 73, auch seine
Gegner beim Namen. Besonders hart griff
KUBA
er den Erzbischof von Santiago, Pedro
Meurice, an. Priester seiner Diözese hatten
in einem Arbeitspapier die Regierung als
„totalitär“ bezeichnet. Überdies missfällt
den Gastgebern, dass einige Regierungsetwa Spaniens José María Aznar,
Die Zuckerernte fiel besser aus als im Vorjahr, Touristen bringen chefs,
Regimegegner und Verwandte politischer
begehrte Dollar: Fidel Castros Regime gibt sich
Häftlinge während ihres Aufenthalts in
selbstbewusster denn je – und geht hart gegen Dissidenten vor. Havanna empfangen möchten.
Unmittelbar vor Eintreffen der ausländischen Gäste wollten sich erstmals Vertreter von etwa 60 Dissidentengruppen
versammeln. Eine Erklärung sollte ihren
Wunsch nach einem „friedlichen Weg zur
Demokratie“ dokumentieren.
Doch sintflutartige Regenfälle machten
die Straßen schwer passierbar, und Castros
Polizei hatte in der Nacht etwa 30 Aktivisten verhaftet oder in ihrer Wohnung festgehalten. So fanden sich am Freitagmorgen
an die 20 Dissidenten in einem Haus am
Rande der Hauptstadt ein. Für den wohl
prominentesten Oppositionellen der Insel,
Elizardo Sánchez, war das Treffen dennoch
ein Erfolg: „Jetzt erfahren die Menschen
hier, dass es uns wirklich gibt.“
Sein Mitstreiter, der katholische Regimegegner Osvaldo Payá, glaubt gar, die
Zeit sei reif für größere Straßendemonstrationen. Doch da täuscht er sich wohl.
Denn 40 Jahre nachdem „los barbudos“
(die Bärtigen) den Diktator Batista stürzten und die Macht ergriffen, gibt sich das
Revolutionsregime selbstsicher wie lange
nicht mehr. „Heute ist ein Trauertag für
alle, die glaubten, wir würden fallen wie
die Mauer von Berlin vor zehn Jahren“,
Altbauten an Havannas Prachtstraße Malecón: Blockwartsystem für die Bewohner
spottete Außenminister
Felipe Pérez Roque.
rwartungsvoll betraten die zwei ReDer untersetzte Mann
gimegegner am Mittwochmorgen
mit den tiefen Schatten
den Parque Dolores in Lawton, eiunter den Augen war sienem Stadtteil von Havanna. Verabredet
ben Jahre lang Castros
war ein Treffen mit Gesinnungsgenossen.
Privatsekretär. Im Mai
Stattdessen empfing sie eine große Mensetzte der Comandante
schenmenge. Es gab Musik; hunderte Anihn überraschend an die
wohner, darunter auffallend viele kräftige
Stelle von Roberto RoMänner und uniformierte Oberschüler,
baina. „Robertico“, 43,
tanzten in der Grünanlage.
lange der potenzielle
Die „spontane“ Party war gründlich geKronprinz, hatte mit seiplant. In der Nacht zuvor waren die wichnen Gesprächspartnern
tigsten Mitglieder der Lawton-Gruppe, die
in den USA und Europa
für die Freilassung politischer Gefangener
offenbar zu nachgiebig
demonstrieren wollte, verhaftet worden.
verhandelt.
Dann hatten Beamte der Staatssicherheit
Den Verdacht, ein
Posten bezogen. Als die Dissidenten denSchwächling zu sein, lässt
noch sprechen wollten, hagelte es Schläge Staatschef Castro: „Fürs Vaterland sterben heißt leben“
der neue Star in der
– Kubas berüchtigte Brigaden zum schnellen Eingreifen verhinderten, ähnlich wie zur Iberoamerikanischen Gipfelkonferenz. Staatsführung gar nicht erst aufkommen.
Mielkes Schlägertrupps in der Unter- Und da war der Comandante en Jefe kei- Pérez Roque, 34, liebt markige Worte. „Jegangsphase der DDR, den aufkeimenden neswegs bereit, sich von „Mikrogrüpp- den Tag geht es uns besser“, sagt der einstige Elektroingenieur, „Wandel wird’s hier
Protest. Die Demonstranten wurden in chen“ die Show stehlen zu lassen.
Bei seinem jüngsten Fernsehauftritt rich- nicht geben.“
Autos gezerrt und weggefahren.
Tatsächlich zeigt die WirtschaftsentDas Vorstadt-Scharmützel offenbarte die tete der Máximo Líder heftige Attacken
angespannte Stimmung in Havanna. An- gegen die Interessenvertretung der USA wicklung nach den Jahren der Krise, die
fang dieser Woche empfängt Kubas Fidel in Havanna. Deren Diplomaten hätten ei- dem Zusammenbruch des großen ProtekCastro Staats- und Regierungschefs aus nige ihrer „Söldner“ angestachelt, einen tors Sowjetunion folgten, leichte Besserung. Im ersten Halbjahr 1999 lag die ZuLateinamerika, Spanien und Portugal Gegengipfel zu organisieren.
M. PEUCKERT / AGENTUR FOCUS
Scharmützel im Park
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AFP / DPA
FOTOS: AP
wachsquote bei 6,1 Prozent.
schuf in Castros sozialistiAber selbst bei einem jährscher Mustergesellschaft ein
lichen Wachstum von 7
Zweiklassensystem.
Prozent wäre dann erst
Nahezu jeden Abend sind
2005 wieder der Stand von
die Tische des Paladar „La
1989 erreicht.
Guarida“ im verfallenden
Immerhin: Die ZuckerZentrum von Havanna beernte stieg im Vergleich
setzt. Ausländische Diplozum vorigen Jahr um Außenminister Pérez Roque
maten reißen sich ebenso
500 000 Tonnen. Und vor alum die wenigen Plätze wie
lem: 1,7 Millionen Touriskubanische Yuppies mit
ten, darunter 220 000 DeutDollarquellen. Zu Musik der
sche, bringen in diesem Jahr
in Europa gefeierten Opas
hunderte Millionen der bevom Buena Vista Social
gehrten Dollar ins Land.
Club kann man hier gegen
Carlos Lage, 48, VizepräDollar nahezu alles speisen
sident des Staatsrats und
– außer Hummer, der nur
Castros rechte Hand, lässt
bei der staatlichen Gastrojedoch keinen Zweifel darnomie im Angebot ist.
an, dass Hoffnungen auf Vizepräsident Lage
Enrique Núñez, 31, eröffeine weitere wirtschaftliche
nete das Restaurant in der
oder gar politische Öffnung Utopie blei- Wohnung seiner Eltern, die in einem verben: „In 15 Jahren werden wir ein noch kommenen Stadtpalais aus dem 18. Jahrstärkeres sozialistisches System haben“, hundert liegt. Den prächtigen Marmorob nun die Amerikaner das Embargo auf- aufgang schmückt ein Gedicht des Máximo
heben oder nicht. In der spanischen Zei- Líder: „Fürs Vaterland sterben heißt
tung „El País“ warnte der Spitzenfunk- leben.“
tionär: „Wir fördern nicht den PrivatbeHier drehte der Regisseur Tomás Gusitz, sondern das staatliche Eigentum.“
tierrez Alea 1993 den Film „Erdbeer und
Doch der Socialismo Tropical überlebte Schokolade“. Touristen, die den Schauplatz
vor allem dank einiger kapitalistischer Re- des Kultstreifens sehen wollten, brachten
formen, die Castro unter dem Druck der Núñez auf die Idee, am Drehort Essen zu
Krise zuließ. Ausländische Investoren wur- servieren. Jetzt ist er einer der erfolgden angelockt. Sie gründeten inzwischen reichsten Selbständigen in Castros Reich.
Die Ärztin Alina Pérez Martínez, 28, war
345 Joint Ventures mit staatlichen Firmen,
noch nie bei Núñez zu Gast. Sie kann sich
vor allem im Tourismussektor.
Die einschneidendsten Veränderungen in der Mittagspause nur selten ein Erfrifür die an gleiche Löhne und Staatsver- schungsgetränk leisten. Die allein erziesorgung gewöhnten elf Millionen Kubaner hende Mutter eines zweijährigen Jungen
brachte 1993 die Legalisierung des Dollar- arbeitet in einer Familienarztpraxis im ehebesitzes sowie die Zulassung „selbständi- mals großbürgerlichen Viertel Vedado und
ger Arbeit“. Diese ideologische Abirrung betreut dort die 761 ihr zugeteilten Bewohner der Umgebung. Dafür verdient sie
* In Havanna am vergangenen Mittwoch.
400 Pesos im Monat, 20 Dollar.
Festnahme eines Regimegegners*: „Wandel wird’s hier nicht geben“
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In ihrer Freizeit arbeitet die junge Mutter noch gratis in einem Informationszentrum über Sexualkrankheiten. Für sie ist
der unentgeltliche Zugang zu Schulen und
Gesundheitsversorgung die größte Errungenschaft der Revolution. Dafür ist sie bereit, Opfer zu bringen.
Doch solches Engagement teilen nur noch
wenige der nach 1959 Geborenen, die schon
63 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Viele fragen sich, wozu sie studieren sollen,
wenn sie dann zu einem Mangelleben verurteilt sind. Ein Taxifahrer verdient an
einem Tag mehr als ein Akademiker im
Monat. Die monatlichen Marken der Libreta für die subventionierten Grundnahrungsmittel reichen gerade mal zehn Tage.
Wer zu jener Hälfte der Kubaner gehört,
die keine Verwandten in den USA hat, wer
nicht selbständig ist oder bei einem ausländischen Unternehmen arbeitet, dem
fehlt es an Alltagsgütern wie Seife oder
Milch, und er muss weitgehend auf Fleisch
verzichten.
Deshalb suchen viele junge Kubaner ihr
Glück in der Visa-Abteilung der US-Vertretung, die jährlich 20 000 Inselbewohnern
die Einreise in das gelobte Land des Kapitalismus erlaubt. Verliert Castros Revolution ihre Erben?
So weit ist es noch nicht. Schon 1960
wurden auf Kuba die Komitees zur Verteidigung der Revolution (CDR) gegründet.
Wie in einem Blockwartsystem überwachen sie die Bewohner ganzer Straßenzüge. Mit diesen Komitees gelingt es Castro,
auch heute noch Menschen für die Ideale
der Revolution zu begeistern.
Yadisney Vidal, 16, ist Kubas jüngste
CDR-Präsidentin. Sie lebt in der Gemeinde Las Lajas, eine Autostunde vom Zentrum Havannas entfernt. Die Studentin,
die Anwältin werden will, ist ihrem Idol
Fidel Castro bereits persönlich begegnet.
Das war auf dem letzten CDR-Kongress,
als Yadisney in einer Rede gefordert hatte,
die Jugend müsse mehr Verantwortung
übernehmen.
„Fidel ließ mich rufen und umarmte
mich“, sagt Yadisney Vidal. „Ich musste
weinen.“ Ohne auch nur einen Millimeter
von der Parteilinie abzuweichen, hält es
Yadisney für selbstverständlich, den Revolutionshelden nachzueifern. Denn schließlich wolle man sie eines Tages „ersetzen
können“.
Doch das dürfte noch eine Weile dauern.
In Castros Reich zeigt niemand den
Wunsch zurückzutreten, schon gar nicht
der Revolutionsführer selbst. Und auch
Kränkeln gibt es nicht.
Gleich nach dem Gipfel möchte er das
noch einmal unter Beweis stellen. Der
venezolanische Präsident Hugo Chávez
plant, mit seinen Baseball-Nationalspielern
gegen Castros Auswahl anzutreten. Da will
auch der Comandante mit zumindest
einem großen Wurf seine Fitness demonstrieren.
Helene Zuber
Ausland
AP
Politik? Sie haben in Brasilien viele Staatsunternehmen privatisiert
und den Einfluss des Staats zurückgeschraubt.
Cardoso: Wir haben privatisiert, um
die Finanzkrise zu lösen. Eine stabile Währung und ein gesunder Staatshaushalt dienen dem Interesse der ganzen Gesellschaft.
Wenn die Regierung darauf keine
Rücksicht nimmt, zahlt das Volk
den Preis in Form von Inflation.
Das haben einige rückwärts gewandte Linke nicht begriffen. Andererseits war ich nie Anhänger eines Minimal-Staats. In einem Land
wie Brasilien hat der Staat wichtige Funktionen; er muss auch für
Umverteilung bei den Einkommen
sorgen. Wir müssen den Staat
überdies zugänglicher machen für
alle gesellschaftlichen Gruppen.
SPIEGEL: Der Öffentliche Dienst,
die Parteien und die Abgeordneten
missbrauchen ihre Macht, um sich
ihre traditionellen Privilegien zu
sichern. Woher soll der Druck zu
solchen Veränderungen kommen?
Cardoso: Bei uns hat sich eine Zivilgesellschaft organisiert, die ganz neu ist. Den
meisten Wirbel hat die linksradikale Landlosen-Bewegung MST verursacht. Früher
hätte die keinen Zugang zum Staat gehabt, heute finanzieren wir sie sogar. Der
Minister für Landreform sitzt den ganzen
Tag mit ihren Vertretern zusammen, wenn
es sein muss.
SPIEGEL: Sollen regierungsunabhängige Organisationen an der Macht teilhaben?
Cardoso: Nicht nur sie, sondern die Gesellschaft insgesamt. Im Gesundheitswesen
hängt die Aufteilung des Haushalts zum
Beispiel von Gemeinderäten ab, die nichts
mit der Regierung zu tun haben. Oder
nehmen Sie die Bekämpfung der Dürre im
Nordosten: Die Region war immer ein
Hort der Oligarchien. Heute wirken Stadträte der Opposition mit, Padres, evangelische Kirchen, das Militär und der Öffentliche Dienst. Natürlich ist noch nicht
alles perfekt, aber es ist viel offener.
SPIEGEL: Privatisieren Sie nicht klassische
Staatsfunktionen?
Cardoso: Es gibt eine Neuverteilung der
Aufgaben. Der brasilianische Staat war erstarrt, wir haben ihn zu Gunsten der
ganzen Gesellschaft zurückgeschnitten.
SPIEGEL: Viele Brasilianer haben vielmehr den Eindruck, dass korrupte Volksvertreter sich nach wie vor hemmungslos
bereichern.
Cardoso: Gerade deshalb ist es so wichtig,
dass auch Gruppen, die bislang ausgeschlossen waren, Einfluss erhalten. In der
modernen Demokratie ist die direkte Repräsentation durch Abgeordnete nicht die
einzige Art, Druck auszuüben. Für die bislang Ausgeschlossenen muss es andere Formen geben.
Interview: Jens Glüsing
Staatschef Cardoso: „Wir sind gegen Kubas Isolierung“
BRASILIEN
„Relikt des Kalten Krieges“
Präsident Fernando Henrique Cardoso über
den Pinochet-Prozess, Castros Reform-Unfähigkeit
und den Kampf gegen die Korruption
Sozialdemokrat Cardoso, 68, amtiert seit
dem 1. Januar 1995 als Staatspräsident.
SPIEGEL: Herr Präsident, wegen des spanischen Justizverfahrens gegen Ex-Diktator
Pinochet bleiben die Staatschefs von Argentinien und Chile dem IberoamerikaGipfel von Havanna fern. Warum haben
Sie sich dem Boykott nicht angeschlossen?
Cardoso: Solch ein spezifisches Problem
sollte das Gipfeltreffen nicht beeinträchtigen, bei dem wir über eine Gesamtpolitik
für die Region reden. Allerdings bin ich
durchaus für die Einführung eines internationalen Strafgerichts, um universelle
Verbrechen wie etwa Menschenrechtsverletzungen und Umweltvergehen zu ahnden. Das ist ein Bruch mit unserer Tradition
der Nichteinmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten. Allerdings, bislang gibt es noch keine legitime überstaatliche Institution für diese Verfahren.
SPIEGEL: Wie ist Ihr Verhältnis zu Fidel
Castro?
Cardoso: Brasilien hatte immer eine klare
Position: Wir sind gegen die Isolierung Kubas. Wir wünschen uns, dass sich das Land
weiterhin Lateinamerika annähert, aber
wir wollen keine Vorschriften machen. Persönlich habe ich eine gute Beziehung zu
Castro. Die Kubaner liefern uns Impfstoffe und Medikamente, auch in der Gesundheitsvorsorge haben wir von ihnen gelernt.
Mit den politischen Widersprüchen im Verhältnis zu Kuba können wir leben.
SPIEGEL: Sehen Sie Anzeichen für einen
Wandel in der starren Haltung Washingtons gegenüber Castro?
Cardoso: US-Präsident Clinton sieht Kuba
nicht mehr als Gefahr. Der Kalte Krieg ist
vorbei, das sollte sich auch auf Relikte wie
die noch immer bestehende Wirtschaftsblockade auswirken.
SPIEGEL: Von Havanna fahren Sie nach Florenz, wo Sie mit Clinton und sozialdemokratischen Regierungschefs Europas über
den so genannten dritten Weg beraten.
Könnte Castro da etwas lernen?
Cardoso: Wenn er darüber reden will, bin
ich jederzeit bereit dazu. Bislang sehe ich
allerdings keine Anzeichen für eine Öffnung seines Systems. Außerdem geht es in
Florenz um etwas anderes: Historisch gesehen war die Sozialdemokratie der dritte
Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Bei unserem Treffen steht die Modernisierung sozialdemokratischen Denkens zur Debatte.
SPIEGEL: Geht es dabei im Kern nicht nur
um eine neue Verpackung für neoliberale
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M. WEISS / OSTKREUZ
Ausland
Hotelier Küster, Ehefrau Elisabeth, Partner Dzida vor dem Schlosshotel Lomnitz: „Unsere Chance war unsere Harmlosigkeit“
POLEN
„Getanzt, getrunken und geweint“
Nachkommen von vertriebenen Deutschen wollen wieder auf den alten
pommerschen und schlesischen Familiengütern leben. Die meisten sind den Anforderungen
des Wiederaufbaus nicht gewachsen. Es gibt aber auch Lichtblicke.
M
Deutsche Ostgrenze vor
dem Zweiten Weltkrieg
Hamburg
Berlin
Görlitz
die Augen des Herrn, die das Vieh fett machen“, sagt er großspurig. Aber der Umbau
kommt nur langsam vorwärts.
Gut Bruschewitz, wie es früher hieß, war
fast 200 Jahre im Familienbesitz, bevor die
Familie Strachwitz im Januar 1945 vor der
anrückenden Roten Armee flüchtete. Die
ersten russischen Panzer standen am Dorfrand, als sie die letzten Pferde aus dem
Stall holten.
Strachwitz ist nicht eben ein Vorreiter
der deutsch-polnischen Aussöhnung. 1972
SCHLES
Grunau
POLEN
(Jezów Sudecki)
Schlesien
DEUTSCHLAND
T S C HEC HI EN
50 km
TSCHECHIEN
(Pruszowice)
Breslau (Wroclaw)
IEN
Oppeln
Striegau
(Opole)
(Strzegom)
Lomnitz
Breslau
Prag
Bruschewitz
Liegnitz
(Legnica)
(Lomnica)
POLE N
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In einem der alten Ställe hat sich ein Sargtischler eine kleine Werkstatt eingerichtet.
„Damit Leben auf den Hof kommt“, sagt
Strachwitz.
Der Gutsherr führt sein Anwesen den
größten Teil des Jahres per Telefon von
Berlin aus, wo er nebenberuflich einem
Bundestagsabgeordneten als Assistent
dient. Er ist gerade dabei, sich in einem
Nebengebäude des Herrenhauses eine kleine Wohnung herzurichten, damit er nicht
mehr im Hotel übernachten muss. „Es sind
e
Od
ais aus schlesischer Erde, da fließt
dem Freiherrn Wolfram von
Strachwitz das Herz über vor
Rührung. Er schiebt genießerisch die Unterlippe über die Oberlippe, führt eine
Hand voll Körner an die Nase und inhaliert
den Duft bis tief in die Lunge. „Wissen Sie,
was ich hier will, ich will hier meine Pflicht
tun. Dies herrliche Land ist vernachlässigt
worden, ich werde etwas Gutes daraus machen.“ Er winkt seinen polnischen Tagelöhner heran. Der darf auch mal riechen.
Gut Pruszowice bei Breslau (Wroclaw)
ist ein schönes Stück Polen. 300 Hektar
Acker und Weideland, 200 Hektar prächtiger Hochwald, nur die Gebäude sind ziemlich heruntergekommen. Das Herrenhaus
aus dem 18. Jahrhundert ist von malerischer Dekadenz: die Fassaden von mäandrischen Rissen zermasert, die Fenster zum
Teil zugemauert, das Dach in Fetzen – ein
Haus, dem das halbe Jahrhundert Reparaturstau anzusehen ist.
Die Maschinen sind Schrott, Scheunen
und Schuppen sind reif für die Abrissbirne.
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FOTOS: M. WEISS / OSTKREUZ
Ausland
Boberstein
Wlen
Barcinek
Verfallene Schlösser in Niederschlesien: Dem Ausverkauf an die Deutschen zuvorkommen
* Mit seinen Mitarbeitern Aloysios Kozemba und Aneta Klonowska vor dem
Herrenhaus in Pruszowice.
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Schreibstubenoffiziere sich selten zur Leitung landwirtschaftlicher Großbetriebe
eignen. Vor allem dann nicht, wenn sie
nicht einmal mit ihren Mitarbeitern reden
können, weil sie deren Sprache nicht sprechen.
Neulich hat ihn der Verpächter aufgefordert, endlich die kaputten Dächer reparieren zu lassen, weil sonst die Verlängerung des Pachtvertrags in Frage gestellt sei.
Ja, wovon denn?
Letztes Jahr hat der Hof eine halbe Million Zloty (250 000 Mark) Verlust gemacht.
Mais und Weizen verrotteten auf den Feldern, weil es Pannen bei der Ernte gab.
Und wenn der Bürgermeister dem Gut
die Gewerbesteuer nicht gestundet hätte,
dann wäre alles schon vorbei gewesen.
Aber mit ein wenig Glück wird Strachwitz
nächstes Jahr mit plus minus null abschließen – wenn er so lange
durchhält.
Die Frage, ob er das Gut kaufen will, stellt sich vorerst nicht
mehr. Bis auf weiteres können
Immobilien nur von polnischen
Staatsangehörigen oder von Beteiligungsgesellschaften erworben werden, die in polnischem
Mehrheitsbesitz sind. Dennoch
haben die Behörden in den letzten Jahren öfter Ausnahmegenehmigungen erteilt – Folge der
guten deutsch-polnischen Beziehungen.
Nachdem sogar Herbert
Hupka, der Vorsitzende und
frühere Chefjakobiner der
Landsmannschaft Schlesien,
zum „verdienten Bürger“ seiner Heimatstadt Ratibor (Racibórz) ernannt worden war,
sah es so aus, als könnte nichts
mehr diese Beziehung gefährden. Nur, seit die Frankfurter CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach an der Spitze des Bundes der Vertriebenen
steht, sind die Umgangsformen
wieder ruppiger geworden.
Die neue Chefin will den für
2003 vorgesehenen Beitritt von
Polen und Tschechien zur
E. WIEDEMANN / DER SPIEGEL
setzte er seine Karriere als Berufsoffizier ganze Unternehmen ist katastrophal unbei der Bundeswehr auf Grund, als er Wil- terkapitalisiert. Sogar den Trecker muss
ly Brandt wegen dessen Kniefall in War- sich Strachwitz bei seinem polnischen
schau in einem Leserbrief als „vaterlands- Nachbarn leihen, weil er sich selbst keilosen Gesellen“ beschimpfte. Bereut hat nen leisten kann. Und den rostigen alten
er das nie. Heute vertritt er die „Vereini- Wartburg wird er auch nicht mehr lange
gung Katholischer Edelleute Schlesiens“ haben, wenn er ihn weiter so gnadenlos
und den „Verein Schlesischer Malteserrit- über die Feldwege prügelt.
Als er herkam, sei das hier „ein toller
ter“, die auch nicht unbedingt die VölkerSauhaufen“ gewesen, sagt Strachwitz. Polverständigung im Wappen führen.
Der Gutsherr versteht sich als eine Art nische Wirtschaft, wohin man blickte. Nun
Puntila von Bruschewitz. Er sagt, er fühle führt er hier schon über zwei Jahre die GeVerantwortung für die Menschen, die rings schäfte. Aber dem Hof geht’s deswegen
um sein Gut leben. 1985, als er zum ersten nicht besser. Er hat ein paar griffige ErMal seit Kriegsende wieder hier war, brach- klärungen für das Elend: die Schlamperei
te er eine Lkw-Ladung Lebensmittel für der Bediensteten, die notorische Kleptodie darbenden Dorfbewohner mit. „Die manie. „Hier wird Ihnen das Schwarze unLeute im Dorf haben ein gutes Gespür ter dem Fingernagel weggestohlen.“
Die Misere mag allerdings vor allem dadafür, wer ihr Freund ist und wer nicht“,
sagt er. Dass dies hier nicht mehr Deutsch- mit zu tun haben, dass pensionierte
land sei, das sei für ihn bedeutungslos. Er sei stolz darauf, Gutsherr Strachwitz*: „Gutes Gespür für Freunde“
dass seine Familie im preußischen und auch im polnischen
Adelsmatrikel eingetragen war.
Strachwitz hat das Gut von
der Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Breslau
gepachtet. Doch er hatte zunächst eine Menge Pech. Einer
von zwei Partnern, die mit
größeren Beträgen einsteigen
wollten, starb bei einem Verkehrsunfall, der andere stieg im
Streit wieder aus, bevor es richtig losgegangen war. Strachwitz
wollte den Erlös aus dem Verkauf seines Privathauses in
Bonn in das Projekt einbringen.
Aber dann wurde das Haus
beschlagnahmt, nachdem es um
die Besitzverhältnisse Streit mit
der Jewish Claims Conference
gegeben hatte.
Nach der Übernahme entwarf der neue Chef ein pompöses Wirtschaftlichkeitskonzept.
Der Betrieb wurde dadurch
aber nicht wirtschaftlicher. Das
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Ausland
Europäischen Union blockieren, wenn die
beiden Länder nicht „das an den Vertriebenen begangene Unrecht heilen, sich entschuldigen und ihnen ein Recht auf Rückkehr in Würde einräumen“. Nun verlangen tausende von Vertriebenen oder deren
Erben die Immobilien zurück, die ihnen
die Kommunisten abgenommen haben
(SPIEGEL 2/1999).
Bundesaußenminister Joschka Fischer
hält diese Ansprüche für „anachronistisch
und absurd“. Aber so eindeutig, wie er
meint, ist die Rechtslage nicht. Das Auswärtige Amt hat bis zum Regierungswechsel im vergangenen Herbst die Enteignung
und Vertreibung als rechtswidrig angesehen. Und die neuen Herren in Berlin können natürlich nicht im Namen der Regierten auf deren Ansprüche verzichten.
Die polnische Regierung ist bereit, in
Einzelfällen Abfindungen zu zahlen, aber
nur an polnische Staatsbürger. Dieser
Standpunkt wird sich kaum in der EU
durchsetzen, weil er nicht im Einklang mit
den Gleichheitsprinzipien der Union steht.
Sollte Brüssel sich überdies dem polnischen Wunsch nach einer zehnjährigen
Übergangsregelung für Grundstücksverkäufe verweigern, dann werden Ausländer
in drei bis vier Jahren ohne Einschränkungen polnische Immobilien kaufen können
– selbstverständlich auch Deutsche.
Um dem befürchteten Ausverkauf an die
Deutschen zuvorzukommen, sind die Treuhandgesellschaften der einzelnen Woiwodschaften jetzt dabei, hunderte von
Schlössern und Landgütern zu eher symbolischen Preisen an polnische Staatsbürger und Beteiligungsgesellschaften zu veräußern.
„Man muss das verstehen“, sagt Zdislaw
Kurzeja, der Konservator von Liegnitz
(Legnica). „Es gibt immer noch eine Menge Polen, die Angst vor den Deutschen haben“ – vor allem in Pommern und Schlesien. Dort sind die meisten Einwohner
selbst Vertriebene. Sie wurden 1945/46 von
den Sowjets aus der Ukraine, aus Belorussland und Litauen ausgesiedelt und in die
entleerten deutschen Ostgebiete gebracht.
Seitdem leben sie in der Furcht, sie könnten noch einmal ihre Heimat verlieren.
Von den ehemaligen ostelbischen Großgrundbesitzern hat noch niemand Besitzansprüche angemeldet. Ihre pommerschen
und schlesischen Güter sind von der kommunistischen Kolchoswirtschaft so gründlich ruiniert worden, dass das Investment
für den Wiederaufbau mittelfristig durch
keine realistische Renditeerwartung gedeckt wäre. Das gilt natürlich auch für polnische Erwerber. Es gibt eine Menge
Schlösser, die niemand geschenkt haben
will.
Viele kleine Leute haben meist vorsorglich Anträge gestellt, um eventuelle Rechtsansprüche kapitalisieren zu können. Aber
sie wollen natürlich nicht wirklich zurück,
wie Erika Steinbach behauptet. Sie kom242
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men einmal im Jahr im klimatisierten
Autobus zu Besuch und fahren mit vollen
Herzen, aber ohne Bitternis wieder
heim.
Waltraut Becker aus Grunau (Jezów Sudecki), die heute in Bendestorf bei Hamburg wohnt, hat im September anlässlich
der 700-Jahr-Feier von Grunau bei Jelenia
Góra ihr Geburtshaus besucht. Sie sagt:
„Wir haben mit den Polen gefeiert, wir haben ihnen Geschenke mitgebracht, wir haben getanzt, getrunken und geweint, und
dann sind wir glücklich wieder nach Hause gefahren.“ Zum Abschied standen die
polnischen Schulkinder am Straßenrand
und sangen deutsche Volkslieder.
„Hierher kommt man nur zurück aus
Liebe zu dem Land und den Menschen“,
sagt die Rentnerin Melitta Schalei. Sie hat
zusammen mit ihrer Schwester Therese
von Werner Gut Muhrau (Morawa) in
Striegau (Strzegom) in Niederschlesien gepachtet. Bei Kriegsende war ihre Familie
von hier vertrieben worden.
1992, nachdem das Eis zwischen Ost und
West gebrochen war, trat der Familienrat
zusammen und entschied nach kurzer Beratung: Einer von uns muss da wieder hin.
Die Wahl fiel auf Melitta, weil sie gerade
pensioniert worden war und eine neue Lebensaufgabe brauchte. Sie sollte in Muhrau
einen Kindergarten für Jungen und Mäd-
chen aus bedürftigen Familien einrichten.
Die Neu-Muhrauer waren erst furchtbar
misstrauisch. Die Kommunisten hatten
ihnen jahrzehntelang eingetrichtert, dass
die westdeutschen Revanchisten nur auf
eine Gelegenheit warteten, um über Polen
herzufallen und sich ihre Rittergüter
zurückzuholen. Dann wurde die deutsche
Gefahr von heute auf morgen abgeschafft.
Wie sollten sie das so schnell nachvollziehen?
„Erst nachdem wir Kinderklos eingebaut hatten, glaubten sie, dass wir keine
bösen Absichten hegten“, sagt Therese
von Werner. Ein Knirps hat ihr mal „Heil
Hitler“ nachgerufen. Aber das war in all
den Jahren der einzige unangenehme
Zwischenfall.
1995 zu Allerseelen haben polnische
Nachbarsfrauen sogar die deutschen Gräber auf dem Friedhof von Striegau mit Kerzen geschmückt. Für Melitta Schalei der
entscheidende Beweis dafür, dass das
deutsch-polnische Verhältnis in Striegau
wieder in Ordnung ist.
Melitta Schalei hat Polnisch gelernt und
jetzt sogar die polnische Staatsbürgerschaft
beantragt. Die Leute hier sollen sehen, dass
ihre Heimatverbundenheit nicht an die Nationalität gebunden ist. Der Rest ist Vergessen. Oder Verdrängung. „Was die Deutschen den Polen und was die Polen den
Deutschen angetan haben, darüber reden
wir nicht. Das ist besser so.“ Sie kann nur
schwer erklären, warum sie hier ist. Sie
meint, dass sie einfach hierher gehört.
Zur Finanzierung des Kindergartens und
zur Erhaltung der Gebäude haben die zwei
rührigen Schwestern eine Stiftung gegründet. Aber es reicht hinten und vorn nicht.
Die Seminare, welche die Universität Breslau hier gelegentlich ausrichtet, bringen
auch nicht viel ein. Es ist
nicht mal genug Geld vorhanden, um im Winter die „Erst nachdem
Zimmer mit den fünf Me- wir Kinderklos
eingebaut
ter hohen Decken richtig
durchzuheizen.
hatten, glaubSie würden gern ein
ten sie an
paar alte Eichen und Buunsere
guten
chen vermarkten. GeAbsichten“
schnittene Eiche bringt
1200 Mark pro Kubikmeter. Aber das Holz ist unverkäuflich, weil
es noch immer voll Granatsplitter und
Stahlmantelgeschossen von den schweren
Kämpfen im Januar 1945 steckt. Das Metall
macht die Sägen kaputt.
Wie man mit dem Erbe der Väter achtbaren Mehrwert erwirtschaftet, das haben
Elisabeth und Ulrich von Küster aus Berlin auf Schloss Lomnitz (Lomnica) am Fuße
der Schneekoppe vorgemacht.Vom Schloss
und von dem benachbarten „Witwenhaus“
standen nur noch die Grundmauern, als
die GmbH, die sie 1995 gemeinsam mit
ihrem polnischen Partner Waclaw Dzida
gegründet hatten, das Anwesen kaufte. Sie
hatten kein Wasser und keinen Strom. Aber
so viel konnte man schon sehen: „Das ausgebrannte Schloss war die schönste Ruine
im ganzen Riesengebirgsvorland.“
Heute ist Schloss Lomnitz das nobelste
und gemütlichste kleine Landhotel von
Niederschlesien. Nicht weit von hier liegt
auch ein altes Hohenzollernschloss. Herrschaften vom Berliner Hochadel verbrachten schon im letzten Jahrhundert die
Sommerferien in der Gegend.
Als Elisabeth und Ulrich von Küster mit
dem Wiederaufbau begannen, waren sie
noch Studenten. Sie konnten sich keine regulären Handwerker leisten. Aber das juristische Seminar der Freien Universität
half mit. Die jungen Leute arbeiteten vom
Morgengrauen bis Sonnenuntergang, übernachteten auf Brettergestellen im Freien
und fuhren sonntagabends wieder todmüde zurück nach Berlin.
Die Lomnitzer sahen staunend und nicht
ohne Sympathie zu. Die Nachbarschaftskontakte waren zunächst eher kärglich.
Dann brachte mal einer einen kleinen Imbiss vorbei und ein anderer was Gutes zu
trinken. Das sollte so viel heißen wie: Hallo, Nachbarn, seid willkommen! „Unsere
Chance war unsere Harmlosigkeit“, sagt
Elisabeth von Küster. „Wir waren anfassbar.“ Endlich Deutsche, vor denen niemand Angst zu haben brauchte.
Erich Wiedemann
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Ausland
ZEITGESCHICHTE
Hitlers Papst
W
Hochhuth, 68, löste 1963 mit dem
Drama „Der Stellvertreter“, das
Papst Pius XII.
als schweigenden
Komplizen des Holocaust attackierte,
einen Skandal und
eine anhaltende
Diskussion aus.
ralisches mehr überraschen, was dann im
Krieg noch kam.
Aufschlussreich für Pacellis später geradezu komplizenhaftes Wegsehen von Hitlers Endlösung – ebenso energisch wie vergeblich versuchte beispielsweise Englands
Vatikan-Botschafter Francis D’Arcy Osborne immer wieder, den Heiligen Vater zu
einem Protest zu bewegen – ist die detaillierte Schilderung seiner zwölfjährigen
Tätigkeit als Nuntius in Deutschland, beginnend 1917 in München. Schon damals
schrieb der Mann antisemitische Briefe
nach Rom.
Pacelli schlug die Bitten zweier Bischöfe aus, darauf zu bestehen, dass im Konkordat wenigstens die Kinder und Enkel
von Juden, die sich längst katholisch hatten
taufen lassen, von den antisemitischen Ge-
arum hat der deutsche Verleger den so sachlichen wie radikalen Titel der englischen Ausgabe „Hitler’s Pope“ in „Pius XII.“
verharmlost? Zwar heißt der Untertitel
der C.-H.-Beck-Ausgabe „Der Papst, der
geschwiegen hat“, während der englische
lautet: „The Secret History of
Pius XII.“
Doch widmet ja der Katholik
John Cornwell, Dozent am Jesus
College zu Cambridge, mehr als die
Hälfte seiner gründlichen Untersuchung nicht nur dem Schweigen des
Papstes zum Holocaust, sondern der
Vorgeschichte seines schlimmen
Schweigens, also dem Diplomaten
Eugenio Pacelli überhaupt. Schon
„von den ersten Schritten seiner
Karriere an“ habe der spätere Pius
XII. „eine Abneigung gegen die
Juden gehegt“. Seine Wirkung als
Nuntius in Deutschland war es,
die zum Abschluss des Konkordats
führte – zu diesem größten Geschenk, das Reichskanzler Hitler
1933 von „seinem“ Pacelli empfangen konnte.
Pacelli, so Cornwell, traf mit Hitler die Vereinbarung, die dem „Führer“ dabei half, legal zum Diktator
zu werden, während sie gleichzeitig
das politische Potenzial für Protest
und Widerstand von 22 Millionen
(vor dem Anschluss Österreichs)
deutscher Katholiken neutralisierte.
Wenn sogar der Papst mit ihm
paktierte, musste der Hitler doch ein
anständiger Mann sein, mochten
dessen Untertanen fortan glauben.
Wer so alt ist, dass er noch Zeitzeugen kannte, die wie Hannah Arendt,
wie Erwin Piscator vor Hitler hatten
fliehen müssen, erinnert sich an deren fortdauernde Erbitterung über
das Konkordat. Nach diesem Pakt
konnte sie im Grunde nichts Amo- Pius XII.: Komplizenhaftes Wegsehen
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setzen des Frühjahrs 1933 ausgenommen
würden. Er begnügte sich mit der Übergabe einer Note zu Gunsten jener deutschen
Katholiken, „die selbst vom Judentum zur
christlichen Religion übergetreten sind
oder von solchen … Juden abstammen“.
Diese bescheidene Anregung, ein Vierteljahr nach Hitlers Machtantritt wenigstens „Viertel- und Achteljuden“ zu verschonen, ist tatsächlich der einzige Satz
überhaupt, mit dem Pius XII. gegenüber
seinem Konkordats- und Glaubensbruder
Hitler bis zu dessen Ableben jemals das
Thema erwähnt hat. In der Auschwitz-Ära,
die nun begann, nahm der Heilige Vater
das Wort Jude nicht mehr öffentlich in den
Mund; fortan schwieg er auch schriftlich.
Biograf Cornwell berichtet, er habe seine Recherchen im vollen Vertrauen darauf
begonnen, am Ende werde Papst
Pius XII. in vollem Umfang von allen Vorwürfen entlastet sein. Umso
niederschmetternder habe ihn die
Erkenntnis des Gegenteils getroffen.
Dabei ist das beschämendste aller
Pius-Dokumente dem britischen
Forscher sogar entgangen. Auch ich
kannte es noch nicht, als ich den
„Stellvertreter“ schrieb; erst Rudolf
Krämer-Badoni, Katholik wie Cornwell, hat es entdeckt und publiziert
in dem Buch „Judenmord, Frauenmord, Heilige Kirche“ (KnesebeckVerlag, München).
Ein halbes Jahr, nachdem im Februar 1942 die Vergasungen begonnen hatten, die nun anstelle der
Massen-Erschießungen praktiziert
wurden, sagte Pius XII. vor dem
Kardinalskollegium über die Juden:
„Jerusalem hat seine Einladung und
seine Gnade mit jener starren Verblendung und jenem hartnäckigen
Undank beantwortet, die es auf den
Weg der Schuld bis hin zum Gottesmord geführt hat!“ Die Geschichte
der Zivilisation kennt keine niederträchtigere Verleumdung unschuldig
zum Tode Verurteilter als diesen
Satz des verächtlichsten aller Päpste
über die bedauernswertesten aller
Menschen.
So wenig sich Pius je für Juden
verwendete – obgleich auch Roosevelts Sondergesandter Myron Taylor
ihn immer wieder darum ersuchte –,
so wenig kümmerte er sich um „seine Söhne“: 3000 katholische Priester ließ Hitler – meist in KonzentraOLYMPIA / SIPA PRESS
ULLSTEIN BILDERDIENST
Die Enthüllungen des englischen Historikers John Cornwell über Pius XII. Von Rolf Hochhuth
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SCHIRNER
BILDSTELLE HANAU
Ausland
Diktator Hitler (1938), Hanauer Juden vor der Deportation (1942): Im Vatikan waren die Pläne zum Massenmord wohl bekannt
248
nie ausgesetzt waren, keinen Vorwurf ab- die Offenheit, mit der Hitler in der Reichsleiten. Was Pacelli aber zum ethisch bo- tagsrede vom 30. Januar 1939 der ganzen
denlosesten Versager auf dem Stuhl Petri Welt den Massenmord ankündigte: „Wenn
macht, ist sein Schweigen zu Auschwitz. es dem internationalen Finanzjudentum
Auch aus Rom wurden die Juden nach inner- und außerhalb Europas gelingen sollAuschwitz „abgefahren“, wie Heinrich te, die Völker noch einmal in einen WeltHimmler vergnügt notierte. Der päpstliche krieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis
Anspruch, der Stellvertreter Gottes zu nicht die Bolschewisierung der Erde und
sein, definiert das Ausmaß des moralischen damit der Sieg des Judentums sein, sonAbgrunds. Und mit diesem Anspruch mei- dern die Vernichtung der jüdischen Rasse
nen sie es in Rom noch immer ernst.
in Europa.“
Offenbar hat das auch den Katholiken
Völlig eindeutig war auch Hitlers ZwiCornwell besonders betroffen gemacht; er schenbericht drei Jahre später im Sportpaschließt sein Vorwort damit, dass noch 1998 last, „ … dass das Ergebnis des Krieges die
der jetzige Papst in einer „Reflexion über Vernichtung des Judentums sein wird …
die Schoah“ in Bezug auf die so genannte Und es wird die Stunde kommen, da der
Endlösung „von Christus als dem ,Herrn böseste Weltfeind aller Zeiten auf ein Jahrder Geschichte‘“ sprechen konnte! Wie soll tausend seine Rolle ausgespielt haben
jemand, der so denkt, sich vorstellen kön- wird“. Der römische „Messaggero“ drucknen, wie einer italienischen Familie in ei- te die Rede ab, Englands Vatikan-Botnem Waggon nach Auschwitz zu Mute ge- schafter Osborne las sie, ebenso Kardinalwesen sein muss, die im Vertrauen, der staatssekretär Luigi Maglione, dem OsPapst lasse nicht zu, dass man sie deportie- borne seine Meinung über „Hitlers neuen
re, nicht untertauchte und nicht davor ge- Ausbruch gegen die Juden“ kundtat.
warnt worden ist, was sie im
Osbornes Versuche, aus dem
Osten erwartete, obgleich der
Innern des Vatikans Pacelli zu
Vatikan ab 1942 detailliert ineiner Stellungnahme zu verformiert war? Cornwell zitiert,
anlassen, lassen Rückschlüsse
offensichtlich angeekelt, dass
auf Pacellis Kenntnis der Vorein Erzbischof schon 1870 die
gänge und seine Reaktionen
soeben erlassene Lehre von der
auf sie zu.
päpstlichen Unfehlbarkeit und
Schrecklicher zu lesen als aldem Primat des Papstes als
les Vorangegangene ist Corn„Triumph des Dogmas über die
wells Bericht über die DeporGeschichte“ gefeiert habe.
tation von 437 000 Juden aus
Nach dieser ungeheuerlichen
Ungarn nach Auschwitz – meist
Logik muss Jesus in einer für Historiker Cornwell
zu Fuß – noch zwischen dem
uns unmündige Menschen un15. Mai und dem 7. Juli 1944:
fassbaren „Sinngebung“ auch Auschwitz Denn Rom war bereits seit dem 4. Juni
oder Nagasaki gewollt haben. Warum soll- von Amerikanern besetzt, Pius XII. also abte da der Papst versuchen, einem Hitler in solut frei zu sagen, was er sagen wollte.
den Arm zu fallen?
Ich kenne die Gepflogenheiten nicht,
Nicht nach katholischer Lehre, wohl die es dem Vatikan zur Pflicht machen,
aber nach dem gemeinen Menschenver- hin und wieder Heilige zu kreieren. Nun
stand muss das päpstliche Schweigen zur soll Pius XII. in die engere Wahl gelangt
Endlösung nicht „nur“ am Anspruch, der sein. Könnte man nicht einen anständigen
Stellvertreter Gottes zu sein, gemessen Menschen wie Johannes XXIII. heilig sprewerden. Ein ebenso deutlicher Maßstab ist chen?
™
J. BAUER
tionslagern – ermorden. Für keinen Einzigen von ihnen hat Pacelli je bei seinem
Konkordatskomplizen in Deutschland ein
Wort eingelegt. Allerdings hat er unserem
Führer auch nie wie dem General Franco
(1942) den höchsten Orden des Heiligen
Stuhls – das Christuskreuz – verliehen.
Mit zahlreichen Belegen verdeutlicht
Cornwell, wie eingewurzelt Pacellis Abneigung gegen Parlamentarismus und Demokratie war: In diesen Einrichtungen sah
er nichts als Tarnformen des Sozialismus.
Der Biograf zeigt auch, dass Pacelli schon
zu einer Zeit, als die Bischöfe im Reich
noch eindeutig Anti-Nazis waren, den katholischen Kanzler Brüning veranlassen
wollte, „sich um ein Einvernehmen mit der
NSDAP zu bemühen“ – ja um eine Koalition mit Hitler.
Brüning dagegen warnte – in Rom, August 1931 – Pacelli vergebens: Er sehe „in
einer weiteren starken Identifizierung der
vatikanischen politischen Auffassungen mit
dem faschistischen System eine große Gefahr für die Kirche in einer ferneren Zukunft“. Nachdem Kanzler Brüning am 30.
Mai 1932 entlassen worden war, erfüllte
dessen Nachfolger Franz von Papen den
Wunsch des Heiligen Stuhls. Und dies, wie
Cornwell ergänzt, „zu dem Zeitpunkt, als
Entscheidungen im Vatikan über das künftige Schicksal der katholischen Kirche in
Deutschland ausschließlich in den Händen
Pacellis lagen. Nur ein Diktator konnte Pacelli die Art von Konkordat gewähren, die
er anstrebte. Nur ein Diktator von Hitlers
Verschlagenheit konnte das Konkordat als
Mittel betrachten, die katholische Kirche in
Deutschland zu schwächen“. Triumphierend schrieb Hitler am 22. Juli 1933: „Durch
diesen Vertrag wird vor der ganzen Welt
klar und unzweideutig bewiesen, dass die
Behauptung, der Nationalsozialismus sei
religionsfeindlich, eine Lüge ist.“
Freilich, nicht nur Pacelli, sondern mehr
als die halbe Welt fiel auf Hitler herein;
daraus allein sollten deshalb spätere Generationen, die ähnlichen Zerreißproben
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Christliche Prozession, Sicherheitskräfte in Jerusalem*: „Potenzial für Gewaltakte“
ISRAEL
Saat des Bösen
Angespornt vom amerikanischen
FBI, greift Israel gegen
religiöse Extremisten durch –
der Judenstaat fürchtet
Anschläge zum Jahrtausendwechsel.
W
enn das Ende der Welt naht und
der Messias zurückkehrt, so glauben christliche Apokalyptiker,
steigt er vom Himmel auf den Ölberg herab. Von dort, wo er einst seinen letzten
Gang antrat, werde er durchs Goldene Tor
in die Jerusalemer Altstadt einziehen.
Für diesen glorreichen Moment hielt sich
Bruder David, 58, seit Jahren bereit. Gleich
hinter dem Ölberg, im palästinensischen
Vorort Bethania, hatte sich der US-Bürger
und frühere Campingplatz-Betreiber aus
Syracuse, New York, ein Haus gemietet.
Dort wartete er auf den Anbruch des tausendjährigen Gottesreiches – „in der ersten
Reihe“, wie er stets sagte.
Auf den guten Platz beim Weltuntergang
muss Bruder David wohl verzichten. Ende
Oktober erschien die israelische Polizei in
seinem Refugium, nahm den frommen
Christen samt 20 seiner Anhänger fest und
schob ihn wenige Tage später ab.
250
Die nächtliche Razzia gegen den bislang
als harmlos geltenden Jesus-Freak zeigt die
wachsende Nervosität der israelischen Sicherheitskräfte angesichts des nahenden
Millenniums. In sechs Wochen bricht das
neue Jahrtausend an, ein Datum, das viele fundamentalistische Christen mit der
Rückkehr des Messias verbinden.
Dann beginnt, so steht es in der JohannesOffenbarung des Neuen Testaments, die
letzte große Schlacht zwischen den Mächten Gottes und der Saat des Bösen, und die
Endzeitjünger haben keinen Zweifel daran,
dass jeder Buchstabe davon wahr wird.
Besonders Radikale glauben sogar, sie
könnten die Ankunft des Herrn durch
einen Gewaltakt noch beschleunigen. Niemand weiß, wie viele solcher Extremisten
im nächsten Jahr unter den rund vier Millionen erwarteten Pilgern ins Heilige Land
strömen werden – oder bereits angekommen sind.
In einem Bericht des amerikanischen
FBI finden die Israelis nun ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. „Etliche religiöse Extremisten bereiten sich darauf vor,
im prophezeiten Waffengang zwischen
Gott und Satan als Märtyrer zu enden“,
heißt es in dem Millenniums-Report zu den
rund tausend religiösen und rassistischen
US-Kulten.
* Am Karfreitag 1998 auf der Via Dolorosa mit Gläubigen in den Rollen von Jesus und römischen Legionären.
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Jerusalem, so glauben die Washingtoner
Ermittler, sei besonders gefährdet. Die Heilige Stadt besitze ein außergewöhnliches
„Potenzial für Gewaltakte“. Ausdrücklich warnt das FBI, das eng mit den israelischen Sicherheitsdiensten zusammenarbeitet, vor dem Endzeitkult der „Concerned Christians“ aus Denver.
Schon im Januar hatte Israel ein Dutzend Anhänger dieser Sekte abgeschoben,
die sich in Erwartung des letzten Gefechts
in Jerusalem niedergelassen hatten. Der
Polizei zufolge plante die Gruppe eine „extreme, gewalttätige Aktion“, womöglich
sogar einen kollektiven Selbstmord in den
Straßen der Heiligen Stadt.
Ihr Anführer Monte Kim Miller, 45, hält
sich für einen jener beiden Zeugen, die
nach der Johannes-Offenbarung kurz vor
der Wiederkunft Christi bei einem großen
Blutbad auf den Straßen Jerusalems sterben und drei Tage später wieder auferstehen. Seinen Tod, so fürchten Sicherheitskräfte, könnte Miller durch eine
gewaltsame Konfrontation mit der Polizei
provozieren.
„Jesus Christus starb am Kreuz für unsere Sünden, nun haben wir die Pflicht zu
sterben“, lehrt der ehemalige MarketingManager seine Jünger. Er werde „nach Jerusalem gehen, um Zeuge zu sein“, kündigte er an und nannte auch einen Termin:
Dezember 1999.
Obwohl Miller bisher noch nicht in Israel gesehen wurde, sind sich US-Ermittler sicher, „dass er nichts unversucht lässt, dorthin zu gelangen“, so Sektenspezialist Mark
Roggeman von der Denver-Polizei. Seine
Kollegen warnen, dass Millers Anhänger
bereits ihre Häuser verkauft, ihre Berufe
aufgegeben haben und wohl in Griechenland auf eine Gelegenheit warten, erneut
nach Israel zu gelangen.
Der Millenniums-Trubel dürfte ihnen
die Einreise erleichtern. Gefälschte ausländische Pässe, musste die israelische Polizei gerade einräumen, werden bei den
D. HILL / IPOL
AP
Ausland
Anhänger von Bruder David
Warten auf die Ankunft des Herrn
Routinekontrollen am Flughafen nicht entdeckt. Die Sicherheitsdienste fürchten,
dass bereits etliche Fundamentalisten
mit Hilfe falscher Dokumente eingereist
sind.
Der soeben abgeschobene Bruder David
hatte seinen Pass sogar verbrannt. Nur
mit Mühe gelang es den Israelis, die amerikanischen Behörden von der wahren
Identität des Festgenommenen zu überzeugen. „Warum sollte ich einen Pass haben“, fragte Bruder David, „ich bin von
Gott berufen und nicht von Israels
Innenministerium.“
Die israelische Polizei tut sich auch deswegen schwer mit den apokalyptischen Bibel-Anhängern, weil sie sich besser bei
palästinensischen Gewalttätern auskennt
als im Christentum.
Religiöse Spinner gehören allerdings in
der Heiligen Stadt seit eh und je zum
Straßenbild. Psychisch labile Menschen
werden hier häufig von einem Wahn erfasst, der als „Jerusalem-Syndrom“ bekannt ist. Die Menschen sehen sich plötzlich als biblische Gestalten, setzen sich als
König David mit der Harfe auf den Zionsberg oder laufen mit einem Hotel-Betttuch
umhüllt als Johannes der Täufer durch die
Altstadt.
Reagiert die Polizei zu scharf, besteht
die Gefahr, dass sie die Apokalypse-Jünger
in dem Glauben bestärkt, die Endschlacht
habe bereits begonnen – wie in Waco. Auf
einer Farm in der Nähe der texanischen
Stadt starb Sektenführer David Koresh,
der schon Ende der achtziger Jahre am
Jerusalemer Ölberg vergebens den Weltuntergang erwartet hatte, nach wochenlanger Belagerung und einem Angriff des
FBI zusammen mit etwa 80 seiner Jünger
beim Brand ihrer Unterkunft.
„Wir dürfen die Fehler von Waco zum
Millennium nicht wiederholen“, warnt deshalb Richard Landes vom Bostoner „Zentrum für Millennium-Studien“ die Israelis.
Der Historiker plädiert dafür, „viel mehr
Krisenmanagement und psychologischreligiöse Beratung einzusetzen als Polizeikräfte“.
Wann genau der Tag des Herrn anbrechen soll, darüber sind sich allerdings auch
die Endzeitfanatiker nicht einig. Manche
setzen auf den letzten Tag des Jahres 1999,
andere auf den 20. April, Hitlers Geburtstag, der nächstes Jahr mit dem jüdischen
Pessach-Fest zusammenfällt.
Die Bewährungsprobe für die israelischen Sicherheitskräfte kann aber womöglich noch später kommen, glaubt Landes –
dann nämlich, wenn die Endzeitchristen
„sehen, dass der Messias überhaupt nicht
kommt“.
Annette Großbongardt
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Sport
SKISPRINGEN
„Boygroup im Schnee“
Vorigen Winter sprang Martin Schmitt in die Herzen deutscher Sportfans. Der untadelige
Schwarzwälder wurde Weltmeister. Künftig reicht das nicht mehr:
RTL hat die Übertragungsrechte gekauft, Skispringen soll zur „Formel 1 des Winters“ werden.
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A. HASSENSTEIN / BONGARTS
E
s gibt junge Menschen, die wissen
nicht, was sich gehört. Schreiben
einen Brief, bitten darin um eine
Autogrammkarte und legen kein Rückporto bei. Der prominente Mann, dem das
schon so oft passiert ist, schlägt sich empört
mit der flachen Hand vor die Stirn: „Wie
finde ich denn das?“
Martin Schmitt, 21, sitzt, die Hände ordentlich auf den Oberschenkeln abgelegt,
auf der grünen Wohnzimmercouch, als er
sich über seine zumeist halbwüchsigen
Fans mokiert. Mutter Waltraud richtet die
Kaffeetafel und entschuldigt sich, dass es
heute keinen Würfelzucker gibt. Da setzt
Schmitt junior seine Rede fort, wonach es
in letzter Zeit zunehmend auch Erwachsene seien, die sich ihm gegenüber seltsam
benehmen.
So, zum Beispiel, habe sich im vergangenen März eine Agentur bei ihm mit der
Anfrage gemeldet, ob er, der Skispringer
vom SC Furtwangen, mit Monica Lewinsky, der weltberühmten ehemaligen Praktikantin des Weißen Hauses, auftreten wolle. Er. Der stille Martin aus dem Schwarzwald. Natürlich hat er abgelehnt: „Denn
die ist ja höchstens negativ bekannt.“
Der Martin hingegen ist durchweg positiv, ein badischer Musterknabe: wohnt
noch bei den Eltern, zieht in der guten Stube immer brav seine Gesundheitslatschen
an und plagt sich fleißig für die nächste
Woche im finnischen Kuopio beginnende
Saison.
Wie ein Geschenk des Himmels war dieser Prachtkerl den Adlern des Deutschen
Skiverbandes (DSV) vorigen Winter ins
Nest gefallen. Zehn Weltcup-Springen
gewann „Air Martin“ („Bunte“), wurde
Doppel-Weltmeister und Weltcupsieger,
und hinterher schrieb eine Zeitung: „Gäbe
es ihn nicht schon, man müsste ihn erfinden.“
Denn endlich ist dem deutschen Sport
mal wieder ein Siegertyp erwachsen, für
den man sich nicht schämen muss. Eine
Zeit schien es so, als ob nach Steffi Graf
und Boris Becker nichts Gescheites mehr
nachkommen würde. Der Tennisprofi Nicolas Kiefer ist als arrogant verschrien, die
Schwimmerin Franziska van Almsick forciert ihre Interessen außerhalb des Bassins
und hat nun auch das Rauchen entdeckt,
der Zehnkämpfer Frank Busemann ist
Teenie-Schwarm Schmitt: Gummibärchen-Torte und Auftritte mit Miss Internet
zwar herzerwärmend freundlich, aber leider nahezu anhaltend von Verletzungen
ausgeschaltet.
Beinahe konkurrenzlos preschte der
untadelige Spund von der Schanze in die
Vorbild-Lücke und mischte ganz nebenbei auch noch die Verhältnisse im Wintersport auf.
Galt der Skisprung einst als Leibesübung, die allenfalls während der kurzen
Tage um die Jahreswende ins öffentliche
Interesse gelangte, fiebert die Nation den
Luftfahrten der mutigen Männer neuerdings mehr entgegen als den Abfahrten der
alpinen Skifahrer. Die ARD tauschte, auf
dem Höhepunkt der Schmitt-Show, an
einem Donnerstag kurzfristig die „Expeditionen ins Tierreich“ gegen ein Nachtspringen im kalten Schweden ein.
Der Boom sprach sich bis ins Rheinland
herum, wo der zuletzt auf Boxen und Formel 1 fixierte Privatsender RTL zu Hause
ist. Ähnlich wie die Kölner 1989 Tennis aus
Wimbledon kauften, weil ein rotblonder
Leimener das Land verzückte, sicherte sich
RTL nun die Übertragungsrechte fürs Skispringen, weil Schanzenkönig Schmitt
Quote verspricht.
Daheim im idyllischen Tannheim, einem
Ortsteil von Villingen-Schwenningen, hatte dessen Familie zuletzt vor allem damit
zu tun, den unverhofften Aufstieg des
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jüngsten Sprosses vom Studenten der
Volkswirtschaft zum umtosten TV-Ereignis zu verarbeiten. Mal liefen Kamerateams
durch die Wohnung und filmten Vater Hubert beim Wurfpfeilspiel. Dann wiederum
hatte Mutter Waltraud weibliche Bewunderer abzuwimmeln, die dem feschen Filius
Gummibärchen-Torten schickten oder bis
tief in die Nacht telefonisch nachstellten:
„Es war ungeheuer.“
Zwar haben die Schmitts inzwischen
eine Geheimnummer, aber ansonsten versucht die Familie dem Rummel möglichst
locker zu begegnen. Als unlängst wieder
mal ein Tourist an der Pforte klingelte,
staunte der Mann nicht schlecht, weil ihm
das Zielobjekt höchstselbst die Tür öffnete: „Hallo, ich bin der Martin.“
So sind sie eben, die Schmitts: erdverbunden und volksnah. Die enge Bindung
zu den Lieben daheim – der Vater war
selbst Ski-Langläufer, der ältere Bruder
Thorsten tut es ihm gleich – half Martin
Schmitt bislang, das Bohei um seine Person
schadlos zu überstehen. Auftritte bei Talkshows oder Fototermine an der Seite der
Miss Germany, Miss Bayern und Miss Internet absolvierte er mit der Routine eines
gereiften Stars: „Ich sehe das alles als Begleiterscheinung.“
Wenn mit dem Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen RTL die Regie über-
P. SCHATZ / BONGARTS
Skispringer Schmitt (bei der Vierschanzentournee 1998 in Oberstdorf): Luftfahrten in die Vorbild-Lücke
M. HANGEN
nimmt, wird Schmitts Charakterstärke je- sie verstehen sich weniger als Nutznießer Winters“ ein mediales Spektakel zu madoch verschärft auf die Probe gestellt. Für des Sports, sondern vor allem als des- chen, das der Vorlage aus der Vollgas-Bran48,5 Millionen Mark, verteilt auf drei Jah- sen Macher. Welchen Stellenwert hatte che in nichts nachsteht.
Beim Festakt „Skispringen 2000“ im Skire, hat der Kommerzkanal dem DSV die Deutschland in der Formel 1, bevor RTL
Rechte am telegenen Wintervergnügen ab- den Rennsport entdeckte, fragt Chefre- stadion von Garmisch-Partenkirchen bekam
gekauft. Die alpinen Skirennen reichte RTL dakteur Hans Mahr, rein rhetorisch? „Da Frontmann Schmitt Ende Oktober einen ersgleich an ARD und ZDF weiter – auf Ver- gab es nur deutsche Zündkerzen.“ Und ten Eindruck, was das heißt: Bei der großen
lierer und Platzierte sind die Privatfunker jetzt? Schumi, Frentzen und Mercedes. RTL-Party sind alle versammelt, die künftig
im Skispringen eine Rolle spielen werden.
nicht scharf. Alle Konzentration gilt der Mahr: „Das liegt auch an uns.“
„Boygroup im Schnee“, als die das DSVMit solchen Behauptungen nährt der Hartmut Engler von der Pop-Combo „Pur“
Springer-Team nun vermarktet wird.
Österreicher zwar den Verdacht, in sport- stellt eine „Skispringerhymne“ vor: „Adler
Einen „Schritt in die moderne Zeit“ lichen Belangen der Hybris anheim gefal- müssen fliegen.“ Moderator Günther Jauch,
sieht der Verband in dem Geschäft. Im len zu sein. Andererseits dokumentieren seit dem Verlust der Champions-LeagueKern heißt das: Die Kasse stimmt. Wurden sie den festen Willen, aus der „Formel 1 des Übertragungsrechte bei RTL latent unterbeschäftigt, schwebt standesdeutsche Skisprung-Sieger vor
gemäß im Hubschrauber ein.
wenigen Jahren noch mit einem
Statt mit Franz Beckenbauer
Präsentkorb entlohnt, treibt nun
über Manchester und Madrid zu
ein – dank RTL – mit drei Milliotratschen, will er demnächst harnen Mark gefüllter Prämientopf
te Infoware zu Themen wie Abden Ehrgeiz der Sportler an.
sprungimpuls und V-Stil liefern:
Kritiker indes befürchten in der
„Wir werden keine zuckersüße
Liaison nichts als das Erlöschen
Soße drüberschütten“, verspricht
des Alpenglühens. Wird aus dem
Jauch.
klassischen Männersport jetzt TutGarant dafür soll Dieter Thotifrutti in Weiß? Dass es die Fernma sein. Bei den ersten Sprechsehleute nicht dabei belassen,
proben des im Sommer zurückkünftig nach zehn Springern den
getretenen Olympiasiegers klafWettkampf für eine Werbepause
zu unterbrechen, gilt als sicher.
Die Manager von RTL sehen
* Bei der Präsentation des Senders am
sich irgendwo zwischen Entwick21. Oktober im Skistadion in Garmisch-Parlungshelfer und Kolonialherren; RTL-Team Bartels, Thoma, Jauch*: Tuttifrutti am Schanzentisch tenkirchen.
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Sport
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Die Kollegen sind das besserwisserische Gebaren mittlerweile leid.
Während eines Mannschaftsessens
kam es kürzlich zum Disput. Er solle
nicht so tun, als habe er die „Wahrheit
gepachtet“, wurde Schmitt vorgehalten: „Du trägst keinen Heiligenschein.“
Auseinandersetzungen dieser Art
registriert Coach Heß mit wachsender Sorge. Längst sieht er das Mannschaftsgefüge in Gefahr, weil die
Schere zwischen dem „Super-Adler“
(„Bild“) und dem Rest „immer weiter
auseinanderklafft“.
So hat eine Schokoladenmarke
Schmitt zum neuen Werbestar erkoren. Wie der Alpine Hermann Maier
in Österreich, lächelt er künftig hier
zu Lande 50millionenfach von den
Produkten mit der lila Kuh. Logisch,
dass der künftige Skisprung-Millionär
zu Wettkämpfen jetzt in der BusinessKlasse fliegt, während sich die Kollegen mit einem Touristen-Ticket begnügen müssen.
Derartiges Jetsettertum „hat es früher
nicht gegeben“, grollt Heß und kündigt an:
„Ich werde dafür sorgen, dass das nicht
noch weitere Blüten treibt.“ Zuversichtlich stimmt ihn bei seiner pädagogischen
Mission, dass sich der Kandidat im Kern
nicht als entrückter Promi versteht.
Von dem Manager, der ihn bereits in einem Atemzug mit Boris Becker nannte und
ihn als „James Dean 2000“ verkaufen wollte, hat sich Schmitt getrennt: „Der hat zu
sehr auf den Putz gehauen.“
Dafür begab er sich in die Obhut einer
Agentur, die von zwei ehemaligen alpinen
Ski-Weltmeistern, Hanni Wenzel und Harti
Weirather, geleitet wird – von denen erwartet er, dass sie wissen, wie man einen
Wintersportler vermarktet.
Die Öffentlichkeit hat den ManagementWechsel zunächst kritisch kommentiert:
„Herr Schmitt, sind Sie wirklich so raffgierig“, titelte „Sport Bild“, den Anschein
erweckend, der Martin wolle nur mehr
Kohle machen.
Auf dieses Echo war er nicht gefasst.
„Am besten, man macht sich keine Gedanken darüber“, sagt er leise – und lächelt.
Doch dann merkt Schmitt, dass die Welt
so einfach nicht funktioniert. Er guckt in
den mit Regenwolken verhangenen Himmel über Tannheim, als er durchspielt, was
auf ihn zukommt, wenn es nicht so läuft
wie erhofft. „Das konnte ja nicht gut gehen“, würden die Zeitungen schreiben. Der
Ärger mit dem Manager, die vielen öffentlichen Auftritte, die ihn vom Training abgehalten hätten. Fehle nur noch, unkt er,
wenn er nach 22 Uhr an der Seite irgendeiner Frau erwischt würde.
Der begehrte Single formuliert die
Schlagzeile schon mal selbst: „Martin
Schmitt – er hat leider nicht nur Sport im
Kopf.“
Gerhard Pfeil
PEOPLE PICTURE
GES
fen Vorsatz und Syntax jedoch noch
eine Skibreite auseinander: „Ich bin
keiner, der wo Probleme macht.“
Der Auslöser der RTL-Wintersportoffensive steht etwas abseits und tut,
was er immer tut, wenn er nicht recht
weiß, was er von einer Sache halten
soll: Martin Schmitt lächelt. Denn
lächeln hilft. Wirkt sympathisch und
sagt nichts darüber aus, was man
wirklich denkt.
Kaum je zuvor stand ein einzelner
Athlet derart im Zentrum eines Millionengeschäfts zwischen TV und
Sport. Acht Millionen Zuseher, so die
RTL-Rechnung, soll die SchmittSchau bringen. Damit sich der Hauptdarsteller in die Pflicht genommen
sieht, wurde er vom Sender auch mit
einem persönlichen Sponsorenvertrag
ausgestattet. Also tritt er für RTL bei
der Telemesse auf oder bedient den
Partner mit Szenen aus seinem Alltag
– die der Privatkanal als Appetit- Schwimm-Idol van Almsick
häppchen in seine Nachrichtensen- Neue Interessen abseits des Bassins
dungen streut.
Im Sommer hat Schmitt deshalb nicht
nur 300 Übungssprünge auf Mattenschanzen absolviert, sondern sich auch auf seine Rolle als Medienstar gewissenhaft vorbereitet. Er analysierte Fernsehauftritte
und Interviews von Sportlerkollegen und
Politikern. Es galt, einen Weg zu finden,
sich den Druck, der auf ihm lastet, nicht anmerken zu lassen. Jetzt pendelt er zwischen zwei Rollen.
Mal gibt er den Charming-Schmitt, der
unlängst als „Sportler mit Herz“ ausgezeichnet wurde, weil er einem verunglückten Kollegen spontan 10000 Mark zukommen ließ. Dann wieder geriert er sich als
Neutrum – etwa wenn er sich bei einem offiziellen Auftritt der DSV-Equipe in die hintere Reihe setzt, obschon die Fernsehschaffenden das gern anders gehabt hätten.
Schmitt operiert nach dem Prinzip, sich
kleiner zu machen, als er eigentlich ist. So
wälzt er die sportlichen Erwartungen auf
Sven Hannawald ab, den zweiten SiegSpringer im DSV-Team. Mit dem ist er befreundet, auf Reisen teilen sie sich das Zimmer. „Wenn Sven auch mal gewinnt“, erklärt Schmitt mit entwaffnender Logik,
„dann wird es auch für mich leichter.“
Im Gegensatz zur kleinlauten Außendarstellung geht Schmitt im Mannschaftskreis gern mal auf Konfrontation. Endlose
Diskussionen vermag der junge Beau zu Zehnkampf-Held Busemann
führen, wenn er glaubt, dass Kritik Von Verletzungen ausgeschaltet
an seinem Flugstil nicht gerechtfertigt ist:
„Da geht es dann auch schon mal zur blikum drohe ja allmählich „wie im FußSache.“
ball die Übersättigung“.
„Er trägt sein Herz eben auf der Zunge“,
Im März brachte Schmitt sogar das
sagt Bundestrainer Reinhard Heß. Den- ganze Team in Verruf. Da nörgelte er über
noch würde er sich von dem meinungs- die veraltete Absprunganlage im tradistarken Primus doch gelegentlich mehr di- tionsreichen Holmenkollenstadion in Oslo.
plomatisches Geschick wünschen. Zuletzt Das Echo war verheerend: Als die DSVforderte Schmitt, den überfrachteten Wett- Männer tags darauf in die Spur sprangen,
kampfkalender einzudampfen. Dem Pu- pfiffen 40 000 Zuschauer.
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Sport
FIRO
dem Verein natürlich mehr
Geld bringen, ist erstens die
Atmosphäre nicht mehr ganz
so gigantisch wie früher. Und
zweitens sind mehr kritische
Leute da – die wollen unterhalten werden. Die brüllen
nicht, aber sie maulen. Das
ist meistens schlimmer.
SPIEGEL: Sie haben besondere
Erfahrungen mit Schmähungen der Fans. Vor sechs Jahren, im Trikot von Schalke
04, fuhren Sie deswegen nach
Ihrer Auswechslung noch
während des Spiels mit der
S-Bahn nach Hause. Steigern
solche Gesänge Ihre Aggressivität?
Lehmann: Ich bin ja inzwischen auch in die Gruppe
derer gerutscht, die auswärts
ausgepfiffen werden. Ich
merke, dass mich das anspornt. Man muss sich aber
fragen, ob Zuschauer prinzipiell das Recht haben, Spieler
auszupfeifen.
SPIEGEL: Wie bitte?
Lehmann: Es ist doch so, dass
ich als Spieler zu Saisonbeginn von einem Verein angeheuert werde.
Ich bin auf dessen Wunsch gekommen;
eigentlich müssten die Leute also die Clubfunktionäre auspfeifen, wenn es nicht läuft.
Auch wenn jetzt einige sagen: Der Lehmann spinnt. Sicher muss ich auch registrieren, wenn applaudiert wird. Aber
die Mitglieder bestimmen den Vorstand,
der Vorstand bestimmt den Trainer, der
Trainer die Mannschaft. Manchmal muss
man also den Ursprung der Fehlerkette
woanders suchen. Letztlich sollte das Publikum honorieren, dass jeder Spieler sein
Bestes gibt.
SPIEGEL: Ihr Wechsel nach Dortmund ist es
wohl nicht allein. In den vergangenen
Wochen machten Sie den Eindruck, sämtliche Sympathien systematisch aufs Spiel
setzen zu wollen. Der Chef des HSV hat
Sie einen „arroganten Schnösel“ genannt.
Lehmann: Es ist einfach so, dass ich ein
Spielball einiger Medien bin. Da hat man
nur zwei Möglichkeiten. Entweder man
spielt mit, oder man sagt in gewissen Situationen: Schluss, Sendepause. So habe
ich reagiert, nachdem die „Bild“-Zeitung
Beleidigendes gegen meine Frau gedruckt
hat. Ich rede nicht mehr mit denen und bekomme im Gegenzug Breitseiten.
SPIEGEL: Sie waren es doch, der die Profis
des HSV als „Weicheier“ bespöttelt hat
und der nach dem peinlichen Ausscheiden
aus der Champions League maulte, auf
den Uefa-Cup habe er „keinen Bock“,
weil da meistens donnerstags gekickt
werde?
Lehmann: Manches war nur im Spaß gesagt, es waren auch ernst gemeinte Äuße-
Torwart Lehmann*: „Ich merke ja selbst, dass ich angespannter bin“
FUSSBALL
„Schluss, Sendepause“
Der Dortmunder Torhüter Jens Lehmann über die
Schmähgesänge der eigenen Fans, den Vorwurf der Arroganz
und seine Ambitionen als Nationalspieler
Lehmann, 30, verlor das Duell mit dem
Münchner Oliver Kahn um den Stammplatz im Tor der deutschen Nationalmannschaft. 1997 gewann er mit dem FC
Schalke 04 den Uefa-Pokal; im Jahr darauf
wechselte er als erster deutscher Torhüter
nach Italien. Beim AC Mailand saß er
jedoch häufig auf der Reservebank und
kehrte nach Westfalen
zurück – zu Borussia
Dortmund.
unzufrieden sind. Zuletzt haben wir ja
wirklich nicht gut gespielt.
SPIEGEL: Ist das Dortmunder Publikum besonders schwierig?
Lehmann: Man muss da zwischen den verschiedenen Tribünen unterscheiden. In der
Südkurve stehen die Treuesten, aber auch
Fanatischsten. Und durch die Logen, die
* Mit Schiedsrichter Wolfgang
Stark beim Spiel Hamburger
SV gegen Borussia Dortmund
(1:1) am 30. Oktober.
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WEREK
SPIEGEL: Herr Lehmann, wie fühlen Sie
sich, wenn Sie im Dortmunder Stadion hinter
Ihrem Tor die eigenen
Fans „Scheiß-Millionäre“ rufen hören?
Lehmann: Ach, da habe
ich schon Schlimmeres
erlebt. Natürlich ist es
schade, wenn die Fans
Fans im Westfalenstadion: „Recht, die Spieler auszupfeifen?“
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rungen dabei, anderes war
total aus dem Zusammenhang gerissen. Zum Beispiel
habe ich wirklich in dem
Moment, da ich aus der
Champions League ausscheide, keine Lust, ersatzweise im Uefa-Cup zu spielen. Obwohl ich inzwischen
gesehen habe, dass da gute
Mannschaften mitspielen
und der Wettbewerb vom
Modus sogar attraktiver ist.
Ich habe aber keine Lust
mehr, über diese hochgespielten Zitate zu reden.
Manche versuchen, ein bestimmtes Image von mir zu
produzieren. Dass ich etwa
nach dem Spiel in Hamburg Konkurrent Kahn: „Der Teamchef ist auch kein Hellseher“
als Einziger eine Mütze trug,
wird mir als arrogant ausgelegt. Ich war SPIEGEL: Fällt es dann schwer, außerhalb
erkältet.
des Platzes nicht mehr genauso selbstgeSPIEGEL: Im September galten Sie noch als wiss und arrogant zu wirken wie im Spiel?
Cleverle, das mit guter Leistung und sub- Lehmann: Natürlich. Ich halte es sowieso
tilen Nadelstichen seinen Nationalelf- nicht für richtig, dass man eine Minute
Konkurrenten Oliver Kahn unter Druck nach dem Abpfiff ernst zu nehmende Insetzt. Jetzt empfiehlt sogar Ihr Dortmun- terviews verlangt. Man ist in einer spezielder Trainer Michael Skibbe, es könne von len Situation. Kurz vorher hat man noch
Vorteil sein, weniger Angriffsfläche zu dagestanden und einen Ball erwartet, der
bieten.
einem aus fünf Metern aufs Gesicht zuLehmann: Bei mir gibt es nun mal viele An- fliegt. Oder einen Spieler, der mit gegriffsflächen. Ich versuche, die Nummer strecktem Bein angesaust kommt. Und
eins im Tor der Nationalelf zu werden. Und dann soll man innerhalb von einer Minute
ich habe eine Frau geheiratet, die vorher umschalten können? Das ist sehr schwer.
mit jemand anderem zusammen war, der SPIEGEL: DFB-Teamchef Erich Ribbeck fiel
bekannt ist …
auf, Sie kämen „manchmal zu verbissen
SPIEGEL: … dem früheren Dortmunder Pro- und sogar etwas weltfremd rüber“. Sind
Sie mit der Degradierung zum Ersatzfi Knut Reinhardt.
Lehmann: Solange ich noch zum Erfolg mei- torwart der Nation nicht klargekommen?
ner Mannschaft beitrage, sollten manche Lehmann: Nein, ich bin gern bei der Natiofroh sein, dass nicht sie die Angriffsfläche nalmannschaft und werde weiter versubieten.
chen, nach vorne zu kommen.
SPIEGEL: Wächst Ihnen die Öffentlichkeits- SPIEGEL: Halten Sie die Frage, wer im Juni
arbeit über den Kopf?
bei der Europameisterschaft im Tor steht,
Lehmann: Die Spiele selbst sind keine so schon für entschieden?
große Belastung. Nur das Drumherum, die Lehmann: Der Teamchef hat sich entschieReisen, die Interviews, das ist schon heftig. den. Nur, der Teamchef ist auch kein HellIch habe bereits 26 Pflichtspiele in dieser seher. Die Verhältnisse können sich schnell
Saison absolviert. Dass ich da zuletzt nicht ändern. Vielleicht spielt ein ganz andemehr so frisch war, so super relaxed rü- rer im Tor, mit dem jetzt noch niemand
berkam – Entschuldigung, aber das muss rechnet. Ich hoffe nach wie vor, dass sich
man auch verstehen.
noch etwas verschieben kann. Niemand
SPIEGEL: Putschen Sie sich vor Spielbeginn kann mir verübeln, dass es mein sportbewusst auf, damit Sie auf die nötige Be- liches Ziel ist, die Nummer eins zu
werden.
triebstemperatur kommen?
Lehmann: Nein, eine Aggressivität brauche SPIEGEL: Ihr Rivale Kahn hat sich augenich nicht im Spiel. Wichtig sind nur Ruhe scheinlich in jüngster Zeit eine gelasseneund Körperspannung. Die baue ich mir re Berufsauffassung antrainiert. Wollen
durch Konzentration auf und auch durch auch Sie sich ändern?
Lehmann: Natürlich, jeden Tag. Ich merke
die Atmosphäre im Stadion.
SPIEGEL: Müssen Torhüter ganz besondere ja selbst, dass ich durch die Begleiterscheinungen dieser vielen Spiele angepsychologische Qualitäten haben?
Lehmann: Natürlich muss man sich auf dem spannter bin. Durch die Reisen, diese unPlatz Respekt verschaffen. Dazu gehören zähligen Besprechungen. Aber wenn ich
auch schauspielerische Fähigkeiten. Wenn wie vergangene Woche mal drei Tage frei
ich weiß, dass ein Stürmer, der auf mich habe und mit der Familie zusammen bin,
zuläuft, Angst vor mir hat, dann habe ich werde ich gleich anders.
schon gewonnen.
Interview: Jörg Kramer
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P. SCHATZ / BONGARTS
Sport
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Wissenschaft•Technik
M. EL DAKHAKHNY / SIPA PRESS
M. EL DAKHAKHNY / SIPA PRESS
Prisma
Kairo
Gizeh
Nil
Vergoldete Mumie aus Baharija, Grabungsstätte
Oase Baharija
ARCHÄOLOGIE
Mekka der Mumien
A
m Himmel der ägyptischen Altertümer ist ein neuer Stern
aufgetaucht – die Oase Baharija. Im letzten Juni hatten
Forscher an dem abgelegenen Wüstenort 105 vergoldete Mumien entdeckt – ein Sensationsfund. Chefarchäologe Zahi Hawass schätzt, dass der gesamte Friedhof „rund 10 000 reich ver-
zierte Tote enthält“. Nun soll die
Karnak
ÄGYPTEN
Oase mit ihren wertvollen archäologischen Schätzen zügig zu einer
300 km
Touristenattraktion ausgebaut werden. In der letzten Woche öffneten
die Behörden den angrenzenden
„Alexander-Tempel“, 332 vor Christus dem großen Feldherrn
geweiht, sowie weitere Prunkgräber. Auch die Mumienfans
kommen auf ihre Kosten: Fünf der schönsten Exemplare werden erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.
MEDIZIN
Tod durch Kuscheln
M
TONY STONE
anche Eltern halten gern auch nachts engsten Körperkontakt zu ihrem Baby. Das beruhigt, endet mitunter aber
tödlich. Eine Analyse von 515 Todesfälle von Kindern unter
zwei Jahren, die im elterlichen Bett verstorben waren, hat nun
die staatliche amerikanische „US Consumer Product Safety
Commission“ vorgelegt. 121-mal waren die schwergewichtigen
Erwachsenen nächtens
über ihren Nachwuchs gerollt, 394-mal hatten sich
die Säuglinge in „verschiedenen Strukturen
des Bettes“ verheddert –
mit letalem Ausgang. Am
häufigsten waren Babys
unter zwölf Monaten von
den Unfällen betroffen. In
der trockenen Sprache
der Pathologen wiesen die
Ärzte auf eine besonders
verletzliche Stelle der
Kinder hin: Schon zwei
Kilogramm Druck am
Nacken würden reichen,
um lebenswichtige Blutgefäße abzudrücken.
Mutter mit Säugling
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Schnecken-Roboter
ROBOTER
Schrecken der Schnecken
B
ritische Wissenschaftler haben einen Roboter gebaut, der
Nacktschnecken vertilgt und seine Antriebsenergie aus den
kompostierten Opfern bezieht. Das Vehikel, mit einem GPSEmpfänger bestückt, gleicht einem Spielzeugauto und spürt die
Mollusken mit Hilfe eines optischen Sensors auf. Ein 1,8 Meter
langer Greifarm kann pro Minute zehn Tiere packen und in einen Fülltrichter heben. „Ernsthafte Forschung im Experimentalstadium“, nennt Ingenieur Chris Melhuish den Prototyp. Im
Feldversuch, der nächstes Frühjahr anläuft, soll der Robocop
von einer Basisstation aus operieren, wo die Beutetiere in einer
Fermentationskammer in Biogas und elektrische Energie zur
Ladung seiner Batterien umgewandelt werden. Praktische Anwendung könnte das autonome System in großen Salatbeeten
und Feldern für Winterweizen finden, die von bis zu 200
Schnecken pro Quadratmeter befallen sind.
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Prisma
Wissenschaft•Technik
MEDIZIN
Gesamtleistung der Windturbinen in Deutschland
Schrumpfende
Netze
in Megawatt
Zum Vergleich Die beiden Meiler
des Atomkraftwerks Biblis
leisten zusammen 2407 Megawatt.
Von Januar
bis September
dieses Jahres
wurden 1056
neue Windkraftanlagen errichtet.
D
ie Behandlung von Leistenbrüchen, mit rund 250 000 Eingriffen pro Jahr häufigster Operationstyp in deutschen Kliniken, kann
schwere Spätfolgen nach sich ziehen.
Seit etwa fünf Jahren arbeiten viele
Ärzte mit einer neuen minimalinvasiven Technik: Winzige kamerabestückte Instrumente werden unter Vollnarkose in die Bauchhöhle eingeführt; diese stopfen den Leistenriss von innen
mit einem etwa 12 mal 15 Zentimeter
großen Gitternetz aus Polypropylen.
Doch die vermeintlich elegante Methode wirkt nach Beobachtung des
4100
Prognose
2875
2082
1547
1094
1994
Quelle: Bundesverband WindEnergie e.V.
1995
1996
1997
1998
1999
WINDKRAFT
Warmer Wind
R
M. LINKE / LAIF
osige Zukunft für Deutschlands Rotor-Zunft: Referenten des Berliner Wirtschaftsministeriums wollen den Betreibern von Windkraftanlagen künftig Festpreise garantieren. Bislang sind deren Erlöse an den aktuellen Strompreis gekoppelt, der seit
Monaten rapide sinkt. Im nächsten Jahr erhalten die Windmüller deshalb nur noch
16,1 Pfennig pro Kilowattstunde, 0,4 Pfennig weniger als in diesem Jahr. Zudem brauchen die Netzbetreiber, gemessen an ihrem Gesamtabsatz, lediglich fünf Prozent an
Windenergie der lästigen Öko-Konkurrenz abzukaufen. Der neue Entwurf sieht nun
eine radikale Änderung des Stromeinspeisungsgesetzes vor: Die Fünfprozentdeckelung
wird gekippt, und ein Festpreis zwischen 12 und 17 Pfennig pro Kilowattstunde soll garantiert werden. „Über die genaue Höhe“, so ein Sprecher, „wird noch gestritten“.
TIERE
Massenwilderei für
Luxus-Schals
Chirurg Schumpelick
I
hr ultrafeines, seidenweiches Haar ist
der Tibetantilope zum Verhängnis geworden: Die Population (einst 1 Million
Tiere) ist auf nur noch rund 60 000 gesunken, weil Wilderer die Antilopen
massenhaft für die Herstellung von Lu-
WILD YAK PATROL / IFAW
Chirurgen Volker Schumpelick (Klinikum Aachen) wie eine Zeitbombe. Die
implantierten Netze – im Koreakrieg
für Bauchschuss-Wunden entwickelt –
würden im Laufe der Zeit zu „harten
Knollen“ verschrumpeln. Narben,
chronische Entzündungen und Nervenschmerzen sind nach seiner Erfahrung die Folge. „Unsere Klinik hat bereits 120 Gitter wieder ausgebaut“, sagt
Schumpelick, „bei einigen Patienten
fanden sich entartete Zellen – mögliche Vorstufen von Krebs.“ Auf dem
europäischen Hernienkongress vorletzte Woche in Madrid meldeten andere Chirurgen vollständig abgerissene Wundpflaster, die in Harnblase und
Dickdarm gewandert waren. Schumpelick fordert jetzt eine „drastische
Reduzierung“ der Pflastertechnik, um
nicht in ein „Humanexperiment unvertretbaren Ausmaßes“ zu geraten.
Allein im letzten Jahr erhielten etwa
50 000 Patienten, darunter viele Jugendliche, das Plastikpflaster.
Tibetantilopen
266
xus-Halstüchern abschlachten. Ausschließlich die Bauch- und Kinnhaare
der Antilopen dienen als Material für
die so genannten Shahtoosh-Schals,
mit denen sich schon Napoleons Joséphine schmückte. Obwohl Handel und
Besitz der leichtesten und wärmsten
Wolle nach dem Washingtoner Artenschutzabkommen bereits verboten
waren, sind die Schals, die sich durch
einen Fingerring ziehen lassen, seit
den achtziger Jahren zum Status-Stück
der Schickeria in London, Paris,
Rom und New York geworden:
Mit dem Edeltuch zeigten sich
die Models Cindy Crawford
und Christie Brinkley. Modemacher Valentino besitzt etwa
200 Shahtoosh-Schals. Um die
Massenwilderei auf den tibetischen Hochebenen einzudämmen, bei der auch mutterlos gewordene Jungtiere zu tausenden
umkommen, hat der Internationale Tierschutz-Fonds die chinesischen Wildhüter mit Nachtsichtgeräten und elektronischer
Kommunikation ausgerüstet;
zwei Wildhüter wurden schon
von Wilderern getötet.
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IMO
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Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
MEDIZIN
Ende einer Irrfahrt
Ein junger Amerikaner starb, als Forscher ihn von seinem Stoffwechselleiden heilen wollten.
Nach dem Menschenversuch mit tödlichem Ausgang sind ähnliche Experimente vorerst
gestoppt worden. Kritiker halten die Gentherapie einstweilen für wirkungslos und zu riskant.
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GELSINGER FAMILY / ARIZONA DAILY STAR
I
n seinem alten Leben war Jesse ein Fieber stieg. Leber, Nieren, Lunge versagTeenager, der im Supermarkt als Tü- ten und Gehirnzellen starben ab. Er fiel
teneinpacker jobbte und seine Schwes- ins Koma. Vier Tage später stellten die Ärztern ärgerte. Jemand, der Hot Dogs, Pom- te die Apparate ab.
Trotz seiner Krankheit hätte der Junge
mes und sein neues Motorrad liebte und
alt werden können. Zwar ist der Gen-De„fuck!“ brüllte, wenn er wütend war.
Sein neues Leben begann, kurz bevor fekt nicht heilbar, aber mit einer eiweißer starb. Es machte ihn zum Märtyrer in armen Diät und Medikamenten leben vieden Augen seines Vaters und zu einem in- le der Betroffenen einen weitgehend beteressanten Studienobjekt für viele For- schwerdefreien Alltag. Auch deswegen ist
scher. Für den Rest der Welt ist er das der tödliche Ausgang im Fall Gelsinger so
katastrophal: Zum ersten Mal in der Geerste Opfer der Gentherapie-Forschung.
Der Junge aus Tucson, Arizona, starb schichte der Gentherapie-Forschung hatten
am 17. September im Alter von 18 Jahren Wissenschaftler eine neue Methode an eian den Folgen eines medizinischen Expe- nem relativ gesunden Probanden getestet.
Schockiert durch den Todesfall, stoppte
riments. Er hatte sich freiwillig gemeldet.
„Obwohl ihm klar war, dass für ihn nichts die US-Arzneimittelbehörde FDA zunächst
dabei rumkommen würde“,
sagt Paul Gelsinger, der Vater.
„Er hat es für all die Babys getan, denen in Zukunft vielleicht
mit dieser Therapie das Leben
gerettet werden kann.“
Darauf, dass Jesse an der Studie der University of Pennsylvania in Philadelphia teilnehmen durfte, ist sein Vater noch
immer stolz. Seine Leberwerte
qualifizierten den Jungen für
das Experiment: Ein bestimmtes Gen funktionierte in seinen
Zellen nicht so, wie es sollte.
Ihm mangelte es an einem Leberenzym, das bei Gesunden
zur Entsorgung von giftigen
Stoffwechselprodukten sorgt.
Kein Geringerer als James
Wilson, Gentherapie-Papst in
den USA, hatte gemeinsam mit
einem Leberspezialisten gegen
diese seltene, aber für manche
Menschen, vor allem Neugeborene, tödliche Stoffwechselkrankheit eine Behandlung ersonnen: Mit Adenoviren, die
Atemwegserkrankungen auslösen können, sollte die korrekte
Version des Enzymgens, das bei
Jesse defekt war, in die Leber
des Jungen gespritzt werden.
Jesses Sterben begann wenige Stunden nach der Injektion
der neuen Gene. Giftiges Ammonium überflutete seinen
Körper. Sein Blut klumpte, das Gentherapie-Patient Jesse Gelsinger: Tod im Koma
alle vergleichbaren klinischen Studien.Wilson versprach, den Tod des Jungen intensiv zu untersuchen. Anfang Dezember sollen die Obduktionsergebnisse bekannt gegeben werden.
Unterdessen berichteten Reporter der
„Washington Post“ über acht weitere Patienten, die bei Gentherapie-Studien ums
Leben kamen; ihr Tod war von den jeweiligen Versuchsleitern unter Verschluss gehalten worden. Und vorletzte Woche kam
heraus, dass drei Leberkrebs-Patienten, die
in ähnlicher Weise behandelt worden waren wie Jesse, schwere Nebenwirkungen
erlitten haben.
In Deutschland trat als Reaktion auf das
Drama in Philadelphia ein Expertengremium zusammen. Doch die Gelehrten entschieden – ohne die Details des tödlichen
US-Experiments zu kennen –, dass die derzeit in der Bundesrepublik laufenden Experimente zur Gentherapie mit Adenoviren nicht unterbrochen werden müssen.
„Mit der US-Studie sind die Versuche in
Deutschland nicht direkt zu vergleichen“,
befand Klaus Cichutek, leitender BiotechSpezialist beim Paul-Ehrlich-Institut, das
für die Zulassung von Sera und Impfstoffen zuständig ist.
Auch in den USA nimmt kaum ein Wissenschaftler Jesses Tod zum Anlass, die
Gentherapie grundsätzlich in Frage zu stellen. Stattdessen bewerten die Spezialisten
das Sterben des 18-Jährigen eher als dummen Zufall, der sich mit einem Schulterzucken abhaken lässt.
Dabei gäbe es über diesen Todesfall hinaus genügend Gründe, die Gentherapie kritischer zu sehen. Schon eine oberflächliche
Betrachtung enthüllt Wahrheiten, in deren
Licht der Tod des Jungen aus Arizona nicht
mehr als Einzelereignis, als Unfall am
Wegesrand erscheint, sondern eher wie der
Crash am Ende einer Irrfahrt – mit Patienten als Dummies.
Fast auf den Tag genau zehn Jahre vor
Jesses Tod hatten US-amerikanische Krebsforscher ihren ersten geglückten Gentransfer in die Zellen eines Menschen verkündet; es handelte sich um einen Vorversuch noch ohne therapeutischen Wert, der
nur beweisen sollte, dass das Prinzip funktioniert.
Seit Anfang der sechziger Jahre hatten
die Mediziner, entzückt von den Ent-
Fähren ins Erbgut
Wichtige Methoden, Gene in den Zellkern einzuschleusen
ADENOVIREN
Patienten*
Die Gene der DNS-haltigen
Adenoviren gelangen als
frei schwimmende DNSStränge in den Zellkern.
Zellkern
437
Vorteile
•keine Störung der normalen
Zellfunktion, da es keine Integration in die Chromosomen gibt
•effektive Einschleusung
Nachteile
•Gene sind nur vorübergehend
aktiv, so dass oft nachgespritzt
werden muß
•starke Immunreaktion möglich
Virus
mit DNS
RETROVIREN
Ein RNS-haltiges Virus dockt an die Zelle an. Die RNS
wird in DNS umgeschrieben und dann in das Erbgut
der Zelle eingebaut.
Patienten* 1217
Virus
mit RNS
Vorteile
•stabiler Einbau in
die Chromosomen
•Virusgene fehlen
•effektive Einschleusung
deckungen in der sich gerade erschließenden Welt der Molekularbiologie, von der
Möglichkeit geträumt, mit Hilfe eingeschleuster Gene Menschen zu heilen. Das
Konzept schien verlockend einfach: Die
Krankheit sollte an ihrer Wurzel gepackt
werden, indem man das defekte Erbgut
repariert oder ersetzt wie eine rostige
Schraube im Motor.
Der amerikanische Forscher Stanfield
Rogers erlag der Verführungskraft dieser
Idee schon Anfang der siebziger Jahre – er
ist der inoffizielle Pionier der gentherapeutischen Experimente am Menschen.
Ebenso erfolglos wie heimlich versuchte
er, zwei deutsche Schwestern von ihrer
erblich bedingten fortschreitenden Demenz zu befreien.
Mitte der achtziger Jahre hatten die Forscher sich schon näher an ein konkretes
Konzept für die Gentherapie herangetastet. Sie fanden einen scheinbar genialen
Weg, Gene in die Zellen zu schleusen:
gleichsam als Huckepack-Ladung vermittels Viren.
Perfekt beherrschen diese Mikroben die
Kunst der Infektion. Sie verfügen über die
Fähigkeit, in Zellen einzudringen und diese sodann dazu zu bringen, auch das Virenerbgut zu vermehren. Fortan kopiert
die Zelle beim routinemäßigen Ablesen ih-
Nachteile
•zuvor intakte Gene können
ausgeschaltet werden – Gefahr
von Tumorbildung
AAV
Patienten*
36
Vorteile
•keine Immunreaktion
Nachteile
•jeweils nur geringe Mengen
DNS können mit einem
Virus eingeschleust werden
•schwer herzustellen
Adenoassoziierte
Viren
NACKTE DNS
DNS-Ringe, die in ein Gewebe
injiziert werden, dringen in die
Zelle ein – vermutlich durch feine
Risse in der Zellmembran.
Patienten*
69
Vorteile
•keine viralen Gene, daher
keine Infektion möglich
•besonders stabil im MuskelGewebe
Nachteile
•wenig effektiver Gentransfer
*weltweit bis
1. September 1999;
Quelle:
Journal of Gene Medicine
d e r
B. CRAMER
Die winzigen Adeno-assoziierten Viren gelangen in ähnlicher Weise in die Zelle wie Adenoviren, sie können jedoch keine ernsthaften
Krankheiten verursachen.
s p i e g e l
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Gentherapeut Wilson
Verlockend einfaches Konzept
rer eigenen Erbinformationen nicht mehr
nur die eigenen Gene, sondern auch die
der Mikroben. Auf diese Weise vermehren
sich die Eindringlinge und befallen weitere Zellen.
Den Bioforschern gelang es, die gefährlichen, für die Vermehrung zuständigen
Gene aus den Viren herauszuoperieren und
stattdessen neues Erbmaterial einzufügen.
Die amputierten Erreger vermögen immer
noch Zellen zu befallen, aber statt des eigenen Viren-Erbguts schleusen sie nun eine
funktionierende Version des beim Patienten defekten Gens in den Organismus –
eine Methode, die bis heute bei fast jedem
Gentransfer-Versuch angewendet wird (siehe Grafik).
Im September 1990 begannen US-amerikanische Wissenschaftler mit der Be269
Wissenschaft
handlung der vierjährigen Ashanthi DeSilva aus Cleveland; es war das erste zugelassene Gentherapie-Experiment am
Menschen. Das Kind litt – und leidet heute noch – an einer seltenen Stoffwechselschwäche, der ADA-Defizienz, die das Immunsystem zum Erliegen bringt.
Mit der anrührenden Kombination –
kleines Mädchen leidet an grausamer
Krankheit – konnte sich Experimentator
French Anderson der geballten Publikumssympathie sicher sein. Besonders,
weil damals die Erinnerung der Amerikaner an den „Bubble Boy“ noch relativ
frisch war, einen kleinen Leidensgenossen
Ashanthis, der zum Schutz seines fragilen
Immunsystems vor Bakterien- und Virenattacken in einer Plastikhaube hatte leben
müssen.
Mit dem Versuch an Ashanthi DeSilva
begann der Triumphzug der Gentherapie
durch Presse, Funk und Fernsehen. Nach
Art von Straßenpredigern beschworen
Ärzte eine neue Ära, ein Leben ohne Leid.
„Seit tausend Jahren wartet die Medizin
auf eine solche Therapie“, verkündete
Gerard McGarrity, der damals dem „Recombinant DNA Advisory Committee“
(RAC) vorsaß, dem für Genbehandlungen
zuständigen Zulassungsgremium der USGesundheitsbehörde.
Die Liste der in Zukunft per Gentransfer heilbaren Plagen der Menschheit wurde täglich länger: von Bluthochdruck zu
Erbkrankheiten wie der zystischen Fibrose, von Aids über Alzheimer und Parkinson
bis zu Krebs. Die eifrigsten Propheten sagten voraus, dass spätestens 1996 die erste
Gentherapie auf dem medizinischen Markt
verfügbar sein würde. Angesteckt von der
Euphorie, pumpten Pharmakonzerne Milliardenbeträge in entsprechende klinische
Forschungsprogramme.
In Deutschland begann die erste klinische Studie 1994, bis heute verzeichnet das
offizielle Register 67 Patienten. Weltweit
gibt es rund 400 klinische Studien, die
meisten davon laufen in den USA.
US-Mediziner French Anderson, einer
der Gentherapie-Pioniere, drückte schon
vor Jahren den Ehrgeiz der Forscher aus:
„Wir wollen diese Technologie an die Krankenbetten bringen, so schnell wir können.“
Im selben Atemzug tat er die Auffassung
„einiger Grundlagenforscher“ ab, die
„nicht an den Menschen gehen wollen, bevor wir nicht alles Mögliche in Tieren und
Gewebekulturen getan haben“.
Viel gebracht haben die experimentellen
Behandlungen jedoch nicht: Bis auf den
heutigen Tag ist nicht ein einziger der weltweit rund 3300 Probanden der Genärzte
von seiner Krankheit geheilt worden.
Noch immer kämpfen die Gentherapeuten mit den gleichen technischen
Schwierigkeiten wie vor zehn Jahren – nur,
dass eigener Ehrgeiz und oft auch der Vermarktungsdruck von Pharmafirmen die
Mediziner inzwischen dazu treibt, neue
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P. SIMON
Methoden möglichst rasch am Menschen
auszuprobieren.
Die Patienten gehen ihnen bei diesem
Parforceritt nicht aus. Welcher Schwerstkranke würde sich nicht im Angesicht des
Todes für einen Hoffnungsschimmer in die
Hände der optimistischen Hightech-Mediziner begeben? Und in den öffentlichen
Kontrollgremien, die über Ethik und saubere Wissenschaft wachen, haben sich offensichtlich die Grenzen des Erlaubbaren
zugunsten des Machbaren verschoben.
In Deutschland findet die Zulassung klinischer Gentransfer-Studien in einem verzweigten Behörden-, Gremien- und Richtlinienwirrwarr statt. Selbst Klaus Cichutek
vom Paul-Ehrlich-Institut, durchaus orientierungsfähig in diesem Labyrinth, findet
es „unglücklich“, dass die in den Experimenten eingesetzten Gentherapeutika
„nicht einmal als eigene Arzneimittelklasse gelten“. Je nachdem, ob man sie als
„Impfstoff“, „Blutzubereitung“ oder in
der Definitionsnot als „andere Arzneimittel“ einstuft, fallen sie jeweils unter die
Zuständigkeit einer anderen Bundesbehörde.
Im gelobten Gentech-Land USA werden klinische Studien zwar immer noch
öffentlich vom RAC geprüft, immerhin einem Gremium aus hochrangigen Wissenschaftlern, Patientenvertretern und Ethikern. Doch die eingereichten Anträge umfassen hunderte von Seiten, vollgepackt
mit Tabellen, Versuchsanordnungen, Vor-
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
Nervenzelle mit eingeschleustem Gen: Risiko durch Überreaktion der Immunabwehr
Mediziner Simon
Muss die Gentherapie scheitern?
studien. So komplex sind die Techniken, so
umfangreich ist das Arbeitspensum, dass
die wenigen Ethiker im Gremium naivere,
unwissenschaftliche Fragen kaum zu stellen wagen. In der Expertenkommission diskutieren vor allem Gentherapeuten über
die Gentherapie – ein wissenschaftlicher
Inzest.
Mit fatalen Folgen: „Die Studie, bei der
Jesse Gelsinger umkam, hätte das RAC nie
zulassen dürfen“, urteilt Ulrich Dettweiler
vom Kennedy Institute of Ethics in Washington D. C. Alarmiert von dem Todesfall, besorgte sich der Bioethiker sämtliche
Papiere zu James Wilsons klinischer Studie
und tat sich zusammen mit Perikles Simon, einem Mediziner von der Univer-
sität Tübingen. Die beiden Jungforscher
durchforsteten und analysierten mehr als
400 Seiten.
Was sie in den Protokollen entdeckten,
erschütterte Dettweiler und Simon. Plötzlich weitete sich ihre Nachforschung, eine
anfangs kleinliche Suche nach wissenschaftlichen Patzern in der Versuchsanordnung: Aus dem Mikrokosmos der Gelsinger-Studie schälte sich für sie das Versagen der Gentherapie im Ganzen heraus.
„Das muss man sich mal vorstellen“,
wundert sich Dettweiler, „diese Studie
wird vorgeschlagen von James Wilson, dem
mit über 490 Veröffentlichungen wohl erfolgreichsten Gentherapeuten der Welt, seine Arbeit wird beurteilt von dem erfahrensten Gremium, das man sich vorstellen
kann.“ Und trotzdem hätten die Gelehrten
eine schwerwiegende Fehlentscheidung getroffen: „Das liegt an der totalen Fehlkommunikation“, kritisiert der Ethiker.
„Die hörten einander nicht richtig zu.“
Vor allem zwei Bioforscher, Stephen
Straus und Robert Erickson, hatten
während der Sitzung des RAC Anfang Dezember 1995 heftige Besorgnis geäußert.
Beide warnten ausdrücklich davor, relativ
gesunde Patienten wie den jungen Gelsinger mit einer Gentherapie zu behandeln.
Doch niemand, am allerwenigsten James
Wilson selber, ging auf ihre Bedenken ein.
Am Ende der schier endlosen Debatte
ließ Erickson sich durch zwei lahme Zugeständnisse der Versuchsleiter dennoch zu
einer Zustimmung zum Experiment hinreißen. „Ich wünschte“, bedauert der Mediziner heute, „sie hätten mich nicht überzeugt.“
Gerade die brisanten Einzelheiten in
Wilsons Studie lesen sich wie ein Kompendium der seit zehn Jahren ungelösten
Probleme der Gentherapie, entdeckten Simon und Dettweiler. Vor allem bekommen
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die Forscher ihre Viren nicht in den Griff.
So elegant es erscheint, sie als Transportmittel für die neuen Gene in die Zellen
des Patienten zu nutzen – viele von ihnen
bleiben gefährliche Infektionserreger, deren plötzliche Anwesenheit im Körper eine
heftige Abwehrreaktion provozieren kann.
Möglicherweise starb Jesse an einer solchen Überreaktion des gereizten Immunsystems. Die Ärzte hatten ihm 38 Billionen
der genbeladenen Schnupfenviren in jene
Arterie gespritzt, die direkt zur Leber
führt. Zeitweise müssen mehr Viruspartikel
als rote Blutkörperchen in seinen Adern
gekreist haben.
Tötete ihn die hohe Dosis? Dies leiten
Wissenschaftler ab aus Tierexperimenten.
„Aber welchen Aussagewert hat es, ein Virus, das extrem spezifisch Menschenzellen
befällt, in Mäusen oder Affen zu testen?“
fragt Perikles Simon.
Mediziner Erickson gibt ihm recht: Gerade die Maus reagiere eigentlich überhaupt nicht auf Erkältungsviren. „Und besonders erschwert wird die Sache dadurch,
dass jeder Mensch für sich noch mal ein
einzigartiges Abwehrsystem besitzt.“ Vielleicht, spekuliert Erickson, habe Jesse einfach nur besonders viele natürliche KillerZellen gehabt, eine spezielle Kampftruppe
im Immunsystem, die vom Virus aktiviert
worden sei und dann durchdrehte.
Jesses Vater wusste noch weniger als die
Forscher von einer drohenden Attacke irgendwelcher Killerzellen. Er hatte keine
Ahnung, wie gefährlich die Mission seines
Sohnes wirklich war.
„Sonst hätte ich ihn doch nach Philadelphia begleitet“, sagt Paul Gelsinger. Hatte
sich denn Jesse nicht gefürchtet vor dem
Experiment?
„Nein“, sagt Gelsinger. „Sie wissen
doch, wie Teenager sind – die denken, sie
leben ewig.“
Rafaela von Bredow
271
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
THEMA
W. M. WEBER
Brotherstellung, Fermenter für das Brotrecycling: Eine halbe Million Tonnen Backwaren jährlich an das liebe Vieh verfüttert
Schusterjungs
aus zweiter Hand
Ist das Rückbrot-Problem
endlich gelöst? Ein Großbäcker in
Bayern will Brot recyceln, um
daraus neue Teigwaren zu backen.
U
do Martens steht auf harte Brötchen. Auch für ledrige Scheiben
alten Bauernbrotes, gummiartige
Brezeln und staubtrockenen Baumkuchen
begeistert sich der Ingenieur der Großbäckerei Müller-Brot im bayerischen Neufahrn.
Nicht kulinarischer Natur ist Martens’
Vorliebe für schwer Zerkauliches. Technischer Pioniergeist verbindet den Lebensmittelchemiker mit den alten Backpretiosen, auch Rückbrot genannt. Rund 30 Tonnen davon finden täglich ihren Weg aus
den Supermärkten zurück auf den Betriebshof vor Martens’ Büro und wandern
von dort fein pulverisiert in die Futtertröge von Schweinen und Rindern.
„Eine riesige Verschwendung“, findet
Martens. Zusammen mit seinem Brötchengeber hat er deshalb ökologisch Anmutendes im Sinn: Als erste Großbäckerei
Deutschlands will Müller-Brot seine Backwaren recyceln – ein Schicksal, das bislang
vorwiegend Dosen, Plastik und Papier zuteil wird.
Mit Hilfe eines an der Technischen Universität Berlin entwickelten Verfahrens
plant Müller-Brot, altes Backwerk künftig
in neue Hefe zu verwandeln. Vor allem
wirtschaftliche Gründe bewegen die Bäcker zum Umdenken. „Altes Brot als Tierfutter zu verwenden entspricht in keiner
Weise seinem Wert“, umreißt Martens die
derzeitige Zwangslage.
Das backstubenspezifische Dilemma:
Der Deutsche liebt sein täglich frisches
274
Brot. Nur knackige Brötchen, frische die Techniker in großen Fermentern leSchusterjungs und duftende Landbrote ge- bende Hefezellen zu, denen der süße Sud
hen weg wie warme Semmeln – für das zu explosivem Wachstum verhilft. Wird die
brotschaffende Gewerbe ein Riesenpro- Würze vergoren, entsteht Alkohol, der abblem. Denn kaum liegt das Gebäck im Su- destilliert und etwa als Brennstoff für die
Backöfen genutzt werden kann. Zugleich
permarkt, ist es auch schon wieder alt.
Jedes zehnte Brot müssen die Bäcker entstehendes Kohlendioxid soll als Kühlvor Ablauf der Mindesthaltbarkeit aus den mittel dienen. Übrig bleibt schließlich so
Regalen nehmen. Bundesweit gehen jähr- genannter Flüssigsauer, mit dem neuer Teig
lich rund 500 000 Tonnen Backwerk zurück angesäuert werden kann. Auch Eiweiße
an die Bäckereien – und von dort aus an und Ballaststoffe aus dem Altbrot wandern
das liebe Vieh. Der Bedarf an Tierfutter je- in neues Backgut.
Qualitätsverlust sei bei alledem ausgedoch sinkt. Zudem müsse das teuer hergestellte Brot mit billigem Futtergetreide kon- schlossen, versichert Meuser. Weil das
kurrieren, klagt Ingenieur Martens: „Wir Rückbrot allenfalls drei Tage alt ist, hält
geben unser Rückbrot quasi umsonst ab.“ der Experte Schimmelbefall für unwahrDie Neufahrner Bäcker wollen aus der scheinlich. Zudem töte der Prozess etwaiNot jetzt eine Tugend machen. Nicht nur ge Schimmelpilze oder Bakterien ohnehin
Geld soll die neue Recycling-Methode spa- ab. „Das Recycling-Brot hat die selben Beren. Das Verfahren gilt auch als umwelt- standteile wie herkömmliches Brot“, sagt
schonend und energiesparend, weil das ge- der Wissenschaftler. „Es sieht genauso aus
samte Altbrot in einem fast geschlossenen und schmeckt auch nicht anders.“
Auch Ingenieur Martens aus
Stoffkreislauf wieder verwerdem bayerischen Neufahrn
tet werden kann. „Wir machen
beschwichtigt etwaige Igittaus unverkauftem Brot wertReflexe. Von Seiten der
volle Backhefe und Alkohol“,
Kundschaft sei das Echo
preist Friedrich Meuser vom
„nur positiv“. Entsprechende
Institut für LebensmitteltechKennzeichnung des Recyclingnologie der TU Berlin die neue
Brotes im Laden (Motto: „Ich
Methode.
war ein Brot“) hält der FachMeuser ist Chefentwickler
mann für überflüssig.
des Brot-Recycling-Verfahrens.
Schon läuft bei Müller-Brot
Auf einer Russland-Reise kam
ein rund 3000 Liter fassender
der Forscher auf die Idee
Fermenter im Testbetrieb, der
zum Brot aus zweiter Hand.
etwa 250 Kilogramm Hefe pro
Während deutsche Bäcker die
Tag produziert. Eine zehnmal
Hefe meist einkaufen, stellen Brotforscher Meuser
größere Anlage soll in Kürze
russische Brotfabriken sie traditionell selbst her – allerdings „völlig un- entstehen und endgültig die neue Brot-Zeit
wirtschaftlich“, wie Meuser berichtet. Drei einläuten.
Für Brotforscher Martens kann das alles
Jahre seines Forscherlebens widmete der
Experte vertrockneter Brotrinde und nicht schnell genug gehen. Täglich muss er
Toastresten. Seit kurzem ist sein Verfah- mit ansehen, wie kaum gealterte Semmeln
ren reif für den Einsatz in Großbäckereien. und Brezeln tonnenweise in einen ConDas Prinzip ähnelt der Bierherstellung. tainer gekippt und zwecks Mästung doIn Wasser eingeweicht, werden die Brot- mestizierter Paarhufer abtransportiert
reste mit Enzymen versetzt, die dann die werden.
„Sehr schade“, knurrt der BackwerkStärke in Zucker umwandeln. Der auf diese Weise produzierte Zuckersaft wird zur Fan. „Das Brot ist doch noch super in
so genannten Würze angesäuert. Ihr geben Schuss.“
Philip Bethge
C. SCHROTH
L E B E N S M I T T E LT E C H N I K
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Werbeseite
Werbeseite
Technik
tertechnik einhellig. Durchweg legten ihre Fahrzeuge
mehrere hunderttausend Kilometer ohne Ölwechsel
und ohne Motorschaden
zurück. „Und zwar ohne
negative Begleiterscheinungen“, bestätigt PVG-Abteilungsleiter Peter Krüger.
Werden Millionen Tonnen Motoröl
Doch auch für die wununnötig gewechselt? Erstaunliche
dersame Ausdauer im
Erfolgsmeldungen eines FilterherSchmiersumpf der Aggregate bieten die Experten der
stellers setzen Auto- und
Öl- und Autoindustrie ErMineralölindustrie unter Druck.
klärungen an. Viele TraboldKunden sind Berufsfahrer,
m vergangenen Jahr verkaufte der
die enorm lange Strecken
Fuhrunternehmer Ronald Herrmann im
mit nur wenigen Kaltstarts
unterfränkischen Waldbüttelbrunn ein
zurücklegen. Und genau das
treues Arbeitsgerät. Der Fernlastwagen
seien „ideale Bedingungen
vom Typ Scania 143 hatte in seinem siefür das Öl“, sagt Rüdiger
benjährigen Einsatz eine Million Kilometer
Szengel, Leiter der Benzinzurückgelegt.
motorenentwicklung bei
Dass der Wagen diese Strecke mit nur
VW. Castrol-Chefentwickler
einem Motor absolvierte, ist in der NutzMeyer sieht auch in dem refahrzeugtechnik nicht ungewöhnlich. Weltgelmäßigen Nachfüllen von
rekordverdächtig erscheint dagegen ein
Frischöl beim Wechsel des
anderer Aspekt des Dauerlaufs: Der schweFilterelements einen Grund
dische Schwerlaster fuhr die gesamte
für die Konstanz der
Distanz ohne einen einzigen Ölwechsel.
Schmierwirkung. Zudem
Als der Wagen neu war, hatte Herrmann
stelle sich mit zunehmeneinen Spezial-Ölfilter der Wertheimer Firdem Alter der Motoren ein
ma Trabold installiert, dessen Papiereinnatürlicher Verbrauch ein,
satz weitaus feinere Schmutzpartikel aus
worauf ständig wachsende
dem Öl entfernt als die serienmäßigen MoMengen neuen Öls nachgetorfilter. Hermann Trabold, der das Zukippt werden müssen, die
behör für etwa 750 Mark einschließlich Eindas Schmiermittel wieder
bau in Pkw und Lkw anbietet, verspricht Ölwechsel beim Auto: Feinstfilter als Jungbrunnen?
auffrischen.
den Kunden auf lange Sicht einen erhebliDer Feinstfilter selbst, da sind sich fast
chen Kostenvorteil: Statt des vom Herstel- ausfall durch Kolbenfresser“. Die Umler vorgeschriebenen Ölwechsels für rund weltbehörde verweigerte daraufhin die alle Fachleute einig, habe auf den Erhalt
der Gleitfähigkeit allenfalls einen margi200 Mark soll im selben Rhythmus (meist Empfehlung für das Trabold-System.
Aus Sicht von Fachleuten der Industrie nalen Einfluss.
alle 15 000 Kilometer) nur noch das FilterEines zeigen die Praxis-Resultate der
element (Stückpreis: 16 Mark) ausgetauscht war das niederschmetternde Ergebnis keiund die Differenzmenge des im alten Filter ne Überraschung. Feinstölfilter werden Trabold-Kunden aber zweifellos: Die noch
gebundenen Öls (etwa ein halber Liter) zwar seit Jahrzehnten etwa bei Baustellen- immer bei vielen Autoherstellern üblichen
und Militärfahrzeugen in staubigen Ge- Ölwechselintervalle von 15 000 Kilometern
nachgeschüttet werden.
Auch das ökologische Potenzial der genden eingesetzt, gelten aber nicht als sind viel zu kurz. Diese Öl-Vergeudung
Erfindung ist beachtlich. Wenn die Wechsel Jungbrunnen für Motoröle. „Die chemische zeugt mehr von wirtschaftlichen Interessen
des Schmierstoffs bei allen Autos entfielen, Alterung des Motoröls kann kein Filter auf- als von technischen Zwängen.
In diesem Jahr ging Volkswagen einen
müssten weltweit Millionen Tonnen Altöl halten“, erklärt Torsten Meyer, Cheftechniker der Deutschen Castrol GmbH. Und großen Schritt nach vorn und verdoppelte
pro Jahr nicht mehr entsorgt werden.
Das Umweltbundesamt ließ das System gerade die chemischen Eigenschaften des die Ölwechselabstände für Benzinmotoaus diesem Grund auf dem Prüfstand un- Schmierstoffs seien „entscheidend für die ren auf 30 000 und für Dieselmotoren sotersuchen. Das beauftragte Testlabor APL Lebensdauer des Motors“, stimmt VW-Be- gar auf 50 000 Kilometer – nach langen
Grabenkämpfen mit den Schmiermittelin Landau (Pfalz) unterzog drei Motoren, triebsstoffexperte Manfred Bort zu.
Das Thema wäre längst er- produzenten, die vor einem klassischen
einen davon mit Trabold-Filledigt, widerspräche nicht die Qualitätsdilemma stehen: Die steigenden
ter, einem 700-Stunden Daupositive Praxiserfahrung der Anforderungen der Hersteller an das Öl
erlauf, entsprechend einer
Trabold-Kunden aller Exper- treiben den Entwicklungsaufwand hoch
Fahrstrecke von 63 500 Kilotentheorie. Über 25 000 Filter und schaden letztlich dem eigenen Gemetern. Das Ergebnis war alwurden nach Angaben des schäft, da die besseren Öle länger halten.
lerdings ernüchternd. Nach
Doch auch im Interesse ihrer eigenen
Herstellers bisher in Persodem Marathon ohne Ölnen- und Lastwagen einge- Händler zögern die meisten Autohersteller,
wechsel monierten die Prübaut. Dutzende von Refe- die Ölwechselintervalle drastisch zu verfer eine eindeutige Ermatrenzkunden, unter ihnen längern. Das Reparaturgeschäft geht seit
tung der Schmierkraft und
Flottenbetreiber wie die Jahren erheblich zurück. Etwa 40 Prozent
die Bildung von RückstänDeutsche Telekom und die ihrer Service-Einnahmen beziehen die
den. Festgeklemmte KolbenPinneberger Verkehrsgesell- Autowerkstätten inzwischen aus dem Verringe werteten sie als „letzte
schaft (PVG), loben die Fil- kauf von Schmierstoffen. Christian Wüst
Vorstufe … zum Motortotal- Filterproduzent Trabold
AU T O M O B I L E
Wunder im
Schmiersumpf
MOTOR PRESSE
I
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Technik
AT O M E N E R G I E
Strahlende Kathedrale
Sechs Milliarden Mark kostet die Demontage des stillgelegten Atomkraftwerks
Greifswald. Jetzt nähert sich das aufwendigste Abriss-Unternehmen der Republik
seiner heikelsten Phase: der Zerlegung der hochverstrahlten Reaktorkessel.
D
schlimmstenfalls zum Arzt, der dann nach
einer möglichen radioaktiven Verseuchung
fahnden muss.
Doch so etwas, beteuert EWN-Chef Dieter Rittscher, komme praktisch nicht mehr
vor. Die Strahlenbelastung seiner Leute liege regelmäßig weit unterhalb der Grenzwerte.
Atome werden in den düsteren Betonbunkern an der Ostsee schon seit 1990 nicht
mehr gespalten. Seither herrscht Endzeit
FOTOS: N. MICHALKE
ie Stimme klingt, als dulde sie keinen Widerspruch. „Füße positionieren“, knarzt es aus dem Lautsprecher über der Personenschleuse.
„Näher kommen!“ „Anlehnen!“ Optisch
unterstreichen Leuchtfelder mit kyrillischen
Schriftzeichen die rüden Anweisungen.
„Grün“ entlässt die Werktätigen der
Energiewerke Nord (EWN) in den Feierabend. „Rot“ schickt sie in die Strafrunde
– bestenfalls zum zweiten Duschen,
als Dauerzustand am Greifswalder Bodden. Im ehemaligen volkseigenen Kombinat
„Bruno Leuschner“ läuft das aufwendigste Abriss-Unternehmen der Republik. Nirgendwo sonst auf der Erde unternimmt die
Atomindustrie eine Reaktor-Demontage
vergleichbarer Dimension.
Am Mittwoch letzter Woche schwebte
per Hubschrauber Reaktorminister Jürgen
Trittin ein, um sich über den Fortgang der
AKW-Abwicklung unterrichten zu lassen,
die sich derzeit ihrer heikelsten Phase
nähert. Für den Grünen ist das MilliardenProjekt der erste ernsthafte Probelauf für
das Ende des atomaren Abenteuers.
Einst stand bei Greifswald der Vorzeigereaktor der realsozialistischen Nuklearwirtschaft. Vier Druckwasserreaktoren
vom sowjetischen Typ WWER 440 mit einer elektrischen Gesamtleistung von 1760
Megawatt versorgten den Norden der DDR
mit Elektrizität. Ein fünfter Block mit modernisierter Technik ging noch im Wendejahr 1989 in den Probebetrieb. Doch die
Sowjetmeiler genügten nicht den Sicherheitsansprüchen der alten Bundesrepublik,
nach der Wiedervereinigung erfolgte die
Abschaltung.
Für Dieter Rittscher wurde die Stilllegung zur Herausforderung seines Berufslebens.Vor vier Jahren kam der Diplom-Ingenieur vom Essener Castorhersteller GNS
nach Vorpommern. Mit seinen Männern ist
er bei der Beerdigung des Atommolochs
weit vorangeschritten.
Das verwirrende Labyrinth aus Rohrleitungen, Kesseln und Armaturen, das das
Herz des fünften Reaktorblocks einhüllte,
wurde bereits ausgeweidet. Nur das
stählerne Reaktordruckgefäß ruht noch im-
Robotersäge zum Zerlegen von verstrahlten Reaktorteilen, Schrottplatz am AKW Greifswald: Füllstoff für den Autobahnbau
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Technik
weil die Radioaktivität während des jahrzehntelangen Intermezzos erheblich nachlässt, muss auch nur noch ein Bruchteil der
Auch neun Jahre nach der Stilllegung des Kernkraftwerks Greifsstrahlenden Komponenten in einem Endwald sind die stählernen Reaktorkessel hoch radioaktiv. Sie müslager versenkt werden. Trotzdem entschied
sen deshalb ferngesteuert aus einer externen Warte zerlegt und
man sich in Greifswald für den schnellen
strahlensicher verpackt werden.
Abriss. Das fehlende Containment hätte
die versiegelte Ruine verletzlich gemacht
für Flugzeugabstürze.
Erste Konsequenz der Strategie der „sofortigen Beseitigung“ war paradoxerweise
ein gigantischer Neubau. Um die anfallenden Müllhalden unterzubringen, zogen die
Energiewerke im Nordosten des Kraftwerksgeländes das europaweit größte Zwischenlager für Atomschrott hoch – eine
einzige, nur innen unterteilte Betonhalle,
200 Meter lang, 140 Meter breit und 18 Me1. Vorzerlegen Eine Band- 2. Nachzerlegen Die Ringe 3. Verpacken Der Manipulator hebt
ter hoch. Die Kosten für den Koloss stiegen
säge zerschneidet den
aus Spezialstahl werden in die Segmente in abgeschirmte Transvon geplanten 340 Millionen Mark auf fast
kompakte Segmente geport- und Lagerbehälter. Diese werDruckbehälter in ringförmieine halbe Milliarde.
sägt. Greifarme überführen den verschlossen, auf Lkw verladen
ge Abschnitte. Der Kessel
Für EWN-Chef Rittscher, den Mitarbeidie Teile zur Verpackungsund innerhalb des Reaktorgeländes
dreht sich dabei um seine
station.
in ein Zwischenlager transportiert.
Längsachse.
ter einen „Glücksfall für den Standort“
nennen, ist das Demontageprojekt nicht
nur eine technische Herausforderung. Der
mer, 230 Tonnen schwer und von allen Le- Deutschlands berappen müssen. Gegen- West-Ingenieur muss hochspezialisierte
bensadern abgetrennt, am angestammten wärtig überweist die Bundesregierung jähr- Mitarbeiter für den Abriss-Job begeistern,
die das Kraftwerk des Kombinats „Bruno
Platz. Der kolossale Zylinder ist, einem lich rund 500 Millionen Mark.
Kaum verwunderlich, dass das kosten- Leuschner“ einst mit aufgebaut haben.
brutal gestutzten Baumriesen nicht unähnlich, übersät von verschlossenen Rohrlei- trächtige Abbruchunternehmen anfangs Nun erzeugen sie Megaschrott statt Megaheftig umstritten war. Kernenergiegegner, watt und empfinden das mehrheitlich noch
tungsstümpfen.
In den letzten Monaten wurden die aus- aber auch Fachleute aus der Atomwirt- immer als Schmach. Und so wird Rittscher
geräumten Hallen nach und nach wieder schaft plädierten nachdrücklich gegen die nicht müde, die Kreativität zu loben, die
das Abbruchunternehmen
vollgestopft – zur Vorbereitung des spekallen Beteiligten abvertakulärsten Akts: der Zerlegung der zwölf
langt.
Meter hohen Reaktorkessel. Wo früher
Zwar droht in einem abtanklastzuggroße Dampferzeuger die Hitgeschalteten leergeräumze der Kernspaltung ableiteten, haben Abten Meiler kein Supergau.
riss-Spezialisten in den letzten Monaten
Strahlenunfälle mit draSonderausstattungen vom Feinsten instalmatischen Folgen sind denliert: Kräne, Greifarme, Drehbühnen, benoch nicht ausgeschlossen:
wegliche Abschirmwände und Bandsägen
Feuer gilt als der kritischsvon enormer Spannweite.
te Störfall, auch der Ab1,8 Millionen Tonnen Stahl, Beton und
sturz schwerer Lasten
sonstige Abfälle werden am Atomstandort
kann zur Freisetzung von
an der Ostsee anfallen. Zwei Drittel des
Radioaktivität führen.
Abriss-Materials gelten als gewöhnlicher
Die „Annäherung an
Müll, der nie mit Strahlung in Berührung
ein heißes Eisen“ („Berligekommen ist. Beton beispielsweise wird
ner Zeitung“) begann in
zerkleinert und anschließend wiederverGreifswald mit dem Einwendet – etwa als Fundament-Füllstoff
reißen und Abtragen von
beim Autobahnbau.
Nebengebäuden. Einige
Rund 580 000 Tonnen sind entweder raFlächen des 345 Hektar
dioaktiv belastet oder müssen auf Strah- Personenschleuse: Bei „Rot“ zum zweiten Duschen
großen Geländes wurden
lung untersucht werden („Verdachtsmaterial“). Auch von diesen immer noch gigan- Sofort-Demontage und stattdessen für den bereits für die Neuansiedlung von Handwerks- oder Industriebetrieben geräumt.
tischen Massen hoffen die EWN-Manager „sicheren Einschluss“ der Strahlenruine.
Bei dieser Entsorgungsvariante werden
Im nächsten Schritt nahmen die Deam Ende den Löwenanteil (470 000 Tonnen) „freimessen“ und in den normalen die Meiler für eine Frist von 30, 60 oder gar monteure, ausgestattet mit Schutzanzügen
100 Jahren versiegelt, bevor schließlich die und Atemschutzgeräten, die Beseitigung
Stoffkreislauf zurückführen zu können.
Im Atomendlager, so haben Rittscher Abriss-Trupps anrücken. Nach diesem kontaminierter Bauteile in Angriff, auf deund seine Leute errechnet, sollen schließ- Prinzip wurde etwa der 1988 abgeschalte- ren Oberflächen sich während des Reaklich nur 16 500 Tonnen Strahlenmüll ihre te Hochtemperaturreaktor Hamm-Uentrop torbetriebs radioaktive Stoffe abgelagert
haben. Dazu gehören alle Komponenten
letzte Ruhestätte finden – kaum ein Pro- eingemottet.
Gegenüber dem raschen Abriss bietet des primären Kühlkreislaufs, dessen Rohrzent der Gesamttonnage.
Mindestens 6,2 Milliarden Mark wird der „sichere Einschluss“ in der Tat eine leitungssystem im Betrieb von radioaktiv
Bundesfinanzminister Hans Eichel nach Reihe von Vorteilen: Die radioaktive Belas- verseuchtem Wasser durchströmt wird.
Gegen Kontamination hilft vor allem
bisherigen Schätzungen zur Abwick- tung der Demonteure ist umso geringer, je
lung der heikelsten radioaktiven Altlast später sie mit dem Abbau beginnen. Und eins: putzen, putzen und nochmals put-
Verpackte Ungetüme
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Technik
zen. Denn je mehr Bauteile die Reinigungsbrigaden unter die radioaktiven Freigrenzen drücken, umso weniger muss zwischen- und später endgelagert werden –
das hilft, beträchtliche Kosten zu sparen.
Also wienern Wischtrupps, mit Lappen
und Eimer bewaffnet, belastete Oberflächen blank. Rohrleitungen, Pumpen und
andere Bauteile des Kühlkreislaufs werden
mit chemischen Reinigungscocktails abgelaugt, mit Hochdruckdüsen abgespritzt,
in Säurebädern gebeizt oder elektrolytisch
poliert. Was dann noch die Grenzwerte
überschreitet, wandert in die Abklinglagerung oder wird, zerlegt in handliche Portionen, zur späteren Endlagerung in die
gelben Fässer mit dem Radioaktivitätszeichen gepackt.
Die Dekontaminationsphase, die im
kaum verstrahlten Kontrollbereich des nur
wenige Wochen benutzten Blocks 5 inzwischen abgeschlossen und in den Blöcken 1
und 2 weit fortgeschritten ist, dient der
Vorbereitung der ganz großen Herausforderung: der kontrollierten Zerlegung der
hochverstrahlten Reaktordruckbehälter
und ihrer Eingeweide.
Die massiven Stahlbauteile, die während
des Reaktorbetriebs dem Dauerbombardement der Neutronen ausgesetzt waren,
sind nicht nur oberflächlich kontaminiert,
sondern durch und durch verstrahlt. Aus
stabilen Bestandteilen der metallischen
Werkstoffe entstehen unter
der Neutronendusche instabile radioaktive Elemente –
je länger ein Meiler unter
Dampf steht, desto mehr. Die
von den Aktivierungsprodukten (vorrangig instabile
Isotope der Elemente Kobalt,
Nickel, Eisen oder Technetium) ausgehende Strahlung ist
auch nach Jahrzehnten noch
so stark, dass der Reaktordruckbehälter und seine Einbauten in einem Endlager
versenkt werden müssen.
Zerlegung und Verpackung
der Großkomponenten können deshalb nur ferngesteuert und kameraüberwacht
aus externen Schaltwarten Demontage-Leiter Rittscher: Megaschrott statt Megawatt
erfolgen. Vielgelenkige Greifarme, so genannte Manipulatoren, müssen ter des nie vollendeten achten Blocks in
konstruiert, die leergeräumten Hallen des den umgerüsteten Kontrollbereich des vorvormaligen Sicherheitsbereichs für die maligen Blocks 5. Dort wird das Monstrum
Neuinstallationen umgerüstet werden.
jetzt übungshalber zerlegt.
Selbst ohne Strahlung wäre die ZerleZwei separate Demontage- und Vergung eines 230 Tonnen schweren Stahlkes- packungsbereiche stehen für die Prozedur
sels ein Kunststück. Fernbedient wird die zur Verfügung: Die Reaktorkessel selbst
Aktion zu einer der größten Herausforde- werden in einem abgeschlossenen Raum
rungen der modernen Technikgeschichte. in Ringe zersägt und anschließend in verDie Generalprobe im Maßstab 1:1 be- packungsfähige Zehn-Zentner-Segmente
gann vor wenigen Wochen. Dazu bugsier- geschnitten (siehe Grafik Seite 282). Ihre
ten die Techniker den Reaktordruckbehäl- weit stärker verstrahlten Innereien sollen,
um Staubbildung zu vermeiden, unter
Wasser in einem 270-Kubikmeter-Becken
zerlegt werden.
Verläuft die kalte Übung planmäßig,
werden die Demontage-Maschinen im
kommenden Jahr aus Block 5 in die Doppelblöcke 1/2 und später 3/4 verpflanzt. Im
Herbst 2000 soll der heiße Abriss beginnen.
Die Greifswalder Abriss-Unternehmer
verstehen sich als Vorreiter einer weltweiten Entwicklung. Ganz bei Null anfangen
müssen sie gleichwohl nicht. Erfahrungen
mit dem Abbau von Atomanlagen gibt es
besonders hierzulande. Das Bundesforschungsministerium pumpt jährlich dreistellige Millionenbeträge in die Demontage meist staatlicher Versuchs- oder Demonstrationsreaktoren aus der Frühzeit
der Kerntechnik.
Bis 1995 zerlegten Abriss-Pioniere sieben Jahre lang den 100-Megawatt-Meiler
Niederaichbach, der bis 1972 für 232 Millionen Mark errichtet worden war und
dann nach nur 18 Tagen im Volllastbetrieb
wegen schwerer technischer Mängel stillgelegt werden musste. Anschließend feierte die Atomwirtschaft das Ende der 280
Millionen Mark teuren Abriss-Arbeiten als
Nachweis dafür, „dass die friedliche Nutzung der Kernenergie kein irreversibler
Prozess ist“.
Noch vor wenigen Jahren galten die
deutschen Anstrengungen beim Abbau der
nuklearen Hardware als Zukunftsgeschäft
mit glänzenden Aussichten. Weltweit, so
verkündete die Wiener Atomenergieorganisation IAEO, müssten bis zum Jahre 2010
rund 250 Reaktoren vom Netz genommen
und abgebaut werden.
Doch aus den erhofften Geschäften in
dreistelliger Milliardenhöhe ist bislang
nichts geworden.Viele Altmeiler sollen länger am Netz bleiben als geplant. Zudem
glaubt inzwischen kaum noch ein Experte,
dass etwa die klammen Betreiber osteuropäischer Meiler der Greifswald-Linie
Milliarden für den Abbau aufwenden
können. Viel wahrscheinlicher ist, dass die
meisten Reaktorruinen, notdürftig versiegelt, als mahnende Menetekel des Atomzeitalters stehen bleiben.
Aber auch am Greifswalder Bodden, wo
die Demontagetechnik in neue Dimensionen vorstoßen soll, wird keine grüne Wiese mehr wachsen. Wenn das Gelände irgendwann nach dem Jahr 2008 aus dem
„Geltungsbereich des Atomgesetzes“ entschwindet, werden in der Lubminer Heide
immer noch vier Betonquader und das
Skelett einer Maschinenhalle an das realsozialistische Atomzeitalter erinnern. Für
die End-Demontage der „hohlen Zähne“
(Rittscher) fühlt sich weder der Bund noch
das Land, geschweige denn die Atomindustrie zuständig.
Das ist verständlich: Der Abriss der entkernten Betonkathedralen würde noch einmal 400 bis 500 Millionen Mark verschlingen.
Gerd Rosenkranz
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R. FROMMANN / LAIF
Depressionspatientin bei Mal-Therapie: Potenziell tödliches Volksleiden
P S Y C H I AT R I E
Aufs Beste hoffen
Münchner Forscher legen die weltweit größte Depressionsstudie
vor: Die Schwermut ist weiter verbreitet als bislang vermutet.
A
m 15. April 1999 gab es in 616 ausgesuchten deutschen Arztpraxen
zwischen Flensburg und Friedrichshafen, zwischen Saarbrücken und
Rostock Blumen, Wein und nette Worte.
Mit derlei Aufmerksamkeiten belohnte
eine Pharmafirma die Bereitschaft von Allgemeinmedizinern, Praktischen Ärzten
und Internisten, am „Sisi-Tag“ gezielt auf
das Gemüt ihrer Kundschaft zu achten.
Der Kosename der schwermütigen Kaiserin Elisabeth von Österreich (1837 bis
1898) war für den Test-Tag mit Bedacht gewählt worden. Es galt, in den Warte- und
Sprechzimmern der Arztpraxen zu erkunden, wie häufig und wie schwer in Deutschland eine der weltweit häufigsten Krankheiten in Erscheinung tritt, ob sie von den
Doktoren erkannt und wie sie behandelt
wird: das potenziell tödliche Volksleiden
Depression.
Mitte dieser Woche werden die ersten
Ergebnisse der Studie veröffentlicht. Ihre
Idee und Methodik stammt vom Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie
(MPI-P), das die Studie durchführte und
dabei organisatorisch von den 200 Außendienstmitarbeitern der britischen Pharmafirma SmithKline Beecham (SB) unterstützt wurde.
Der SB-Konzern, der sein Geld auch mit
Antidepressiva verdient, kann sich über
das Untersuchungsergebnis freuen. „Die
Lehrbuchmeinung, an der sich der deutsche Gesundheitsbetrieb ausrichtet, muss
umgeschrieben werden“, resümiert der Klinische Psychologe und Epidemiologe
Hans-Ulrich Wittchen vom MPI-P: „Depressionen sind weiter verbreitet als bisher
angenommen.“
Nach der gängigen Schätzung leiden
höchstens vier Prozent aller über 14-jährigen Deutschen einmal im Leben an einer
288
Vergangenheit: 75 Prozent der eindeutig
schweren Depressionen wurden als solche
diagnostiziert. Ein Drittel der Betroffenen
wurde zu einem Spezialisten überwiesen.
Zwei Drittel wurden ausführlich beraten,
jedem Dritten von ihnen wurde ein Antidepressivum verordnet, dessen Wirksamkeit hinlänglich bewiesen und das weitgehend frei von schweren Nebenwirkungen ist.
So sicher die Hausärzte inzwischen
schwere Depressionsformen erkennen (vor
zehn Jahren lag die Trefferquote bei 50
Prozent), so unsicher sind sie noch immer
bei der Diagnose der leichteren Form von
Schwermut: Bei 41 Prozent wurden die
Symptome „nicht als eindeutig erkannt“.
Dieses Ergebnis überraschte Wittchen,
da doch „die Studie auf die Ärzte maßgeschneidert ausgelegt war“. Die Mediziner
waren zum Stichtag durch einen Fragebogen sensibilisiert worden und konnten auf
Mithilfe ihrer Klientel bauen, wie sie in
dieser Form im Praxisalltag sonst nicht vorkommt.
Insgesamt 20 421 Patienten wurden am
Sisi-Tag statistisch erfasst. Bevor sie die
Sprechzimmer betraten, hatten sie jeweils
einen zweiseitigen Fragebogen ausgefüllt.
Ihre Angaben umfassten die üblichen Statistik-Daten wie Alter, Familienstand oder
Depression. Die neue Studie kommt zu
weit höheren Zahlen. „Jeder zehnte Patient, der an einem beliebigen Tag im Jahr
seinen Hausarzt aufsucht“, erläutert Wittchen, „weist mindestens vier jener Symptome auf, die nach weltweit
anerkannten Maßstäben
Haben Sie eine Depression?
eine Depression kennzeichnen.“
Dieser Fragebogen wurde vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in
Unbehandelt ist eine München für die Weltgesundheitsbehörde entwickelt. Kreuzen Sie bei
schwere Depression lebens- jeder der folgenden Aussagen an, wie Sie sich in den letzten
gefährlich. Als „bemerkens- Wochen überwiegend gefühlt haben.
wert hoch“ stuft Wittchen
Fühlen Sie sich fast durchgängig traurig, niedergeschlagen
den Befund der Studie ein,
oder hoffnungslos?
wonach fast jeder siebte depressive Mann und jede
Haben Sie so gut wie jedes Interesse an fast allen Dingen
verloren, empfinden Sie keine Freude mehr, zum Beispiel
fünfte depressive Frau in
auch an Dingen, die Ihnen gewöhnlich Freude bereiten?
den beiden Aprilwochen vor
dem Sisi-Tag nach eigenen
Haben Sie keinen Appetit mehr oder erheblich an Gewicht
Angaben beständig an Suiverloren? Schmeckt es Ihnen nicht mehr so wie früher?
zid gedacht habe. SchätzunLeiden Sie fast täglich unter Schlafstörungen (Einschlafgen zufolge bringen sich 10
störungen, Durchschlafstörungen oder frühem
bis 15 Prozent der schwer
Erwachen am Morgen)?
Depressiven tatsächlich um.
Sprechen und bewegen Sie sich langsamer als sonst?
Aber erkennt der HausOder leiden Sie im Gegenteil unter einer inneren Unruhe,
arzt überhaupt Depressioso dass Sie nicht still sitzen können, sondern auf und
nen und die Gefährlichkeit
ab gehen müssen?
dieser Krankheit? Auch die
Hat sich Ihr sexuelles Verlangen vermindert, oder ist es
Frage, ob und wie der Megar nicht mehr vorhanden?
diziner einen als depressiv
eingestuften Patienten beHaben Sie kein Selbstvertrauen mehr? Fühlen Sie sich
wertlos, oder machen Sie sich viele Selbstvorwürfe?
handelt, ihn etwa zum Spezialisten überweist oder „taHaben Sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und
tenlos aufs Beste hofft“
sich Dinge zu merken, oder fallen Ihnen sogar ganz
(Wittchen), war Bestandteil
alltägliche Entscheidungen schwer?
der Umfrage.
Denken Sie häufig über den Tod nach oder sogar daran,
Der „ersten groben Ersich das Leben zu nehmen?
gebnisübersicht“ ließe sich,
wie Wittchen befindet, eine AU SW E RT U N G
„gute Nachricht“ entneh- Haben Sie mehr als vier Aussagen angekreuzt, leiden Sie wahrscheinlich
men: Allgemeinärzte er- unter einer typischen Depression. Bitte bedenken Sie jedoch, dass die
kennen offensichtlich De- Auswertung des Fragebogens noch keine eindeutige Diagnose darstellt.
pressionen besser als in der
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Beschäftigungsverhältnis sowie die Frage
über den „Anlass des heutigen Arztbesuchs“.
Für das eigentliche Forschungsziel waren neun spezielle Fragen für die Diagnose
von Depressionen reserviert. Anhand eines international bewährten Fragenkatalogs wurden die für die Krankheit
typischen Beschwerden ermittelt (siehe
Kasten).
Den ausgefüllten Fragebogen händigten
die Test-Patienten ihrem behandelnden
Arzt aus. Zwei Drittel der Mediziner hatten zu Beginn der Studie ihre Kompetenz
hinsichtlich der Diagnose von Depressionen als „gut“ bezeichnet, 33 Prozent hielten sich für „mittelmäßig“ und ein Prozent für „schlecht“.
Aktuelle Untersuchungen der MPI-Forscher zu diesen Ärzte-Aussagen lassen jedoch erkennen, dass „die Mittelmäßigen
in Wahrheit richtig schlecht“ sind. 74 Prozent der „mittelmäßig Kompetenten“ gelingt es nicht einmal, innerhalb von 15 Minuten die vier Hauptmerkmale einer
Depression zusammenzustoppeln. Sie verlassen sich vorzugsweise auf ihren „klinischen Eindruck und ärztliche Intuition“.
Ihren Katalog der Depressionssymptome haben die Psycho-Forscher in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer weiter
verfeinert. Mit ihm lassen sich die Merkmale einer akuten oder sich abzeichnenden
Depression trennscharf erfragen. Einem
Drittel der befragten Mediziner war dies
verlässliche Werkzeug jedoch fremd. „Für
die müssen wir“, so Wittchen, „wohl neue
Wege der Aufklärung finden.“
Überraschend gut im Bewusstsein der
Allgemeinmediziner verankert zu sein
scheinen indes die Merkmale einer speziellen Form von Depression, die letztes Jahr
als „Sisi-Syndrom“ bekannt wurde.
Betroffene dieser „oft verkannten Spielart der Depression“ („Münchener Medizinische Wochenschrift“) sind nicht erkennbar schwermütig und antriebslos, sondern
oft charmant und attraktiv. Die Sisi-Depressiven neigen – wie weiland Österreichs
Kaiserin – dazu, ihre Ängste, Selbstzweifel
und Nichtigkeitsgefühle mit gesteigertem
Aktionismus zu bekämpfen: Sie stürzen
sich mit Volldampf ins Berufsleben, treiben Extremsport oder unternehmen rastlose Reisen.
Verbreitet wurde die Sisi-typische Depression durch Laien- und Fachpresse,
Talkshows und ärztliche, meist von Pharmaunternehmen, wie etwa SmithKline
Beecham gesponsorten Fortbildungsveranstaltungen.
Kein Wunder, dass auch in den Allgemeinarztpraxen das Sisi-Syndrom inzwischen bekannt ist – durchaus nicht zum
Schaden der Patienten, wie zumindest die
MPI-Forscher glauben. Die Beschäftigung
mit dem Modeleiden, so Wittchen, habe eindeutig dazu beigetragen, mehr Depressionen als früher zu erkennen.
Rainer Paul
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GALAPAGOS CONSERVATION TRUST
Riesenschildkröte „Lonesome George“ auf Galapagos: Impotent? Schwul?
TIERE
Hoffen auf den
Koitus
Muss eine RiesenschildkrötenUnterart auf Galapagos aussterben,
weil das letzte Exemplar kein
Weibchen findet? Forscher meinen:
Eine Chance gibt es noch.
A
ls Liebhaber ist „Lonesome George“
ein Totalversager. Seine Beschützer
haben ihm in seinem Gehege im
Galapagosarchipel einen regelrechten
Harem eingerichtet. Immerzu stehen mindestens zwei Weibchen zu seiner Verfügung,
regelmäßig werden sie gegen frischere
ausgetauscht.
Aber trotz seines jugendlichen Alters
von 70 bis höchstens 150 Jahren gerät
George nicht in Wallung: Hartnäckig verweigert er den Weibchen die Kopulation –
auf den Panzern der Verschmähten wuchern bereits die Flechten.
Alles haben die Forscher versucht, um
die Libido des fetten George anzustacheln.
Er wurde zusammengesperrt mit sexuell
aktiven Schildkröten-Pärchen, doch weder
der Anblick sich übereinander schiebender Panzer noch das heisere Blöken des
begattenden Männchens haben in ihm eine
triebhafte Regung ausgelöst. 10 000 Dollar
haben die Forscher auf denjenigen ausgelobt, der für Lonesome George ein passendes Weibchen ranschafft – niemand hat
je eines gefunden.
Georges Rühr-mich-nicht-an-Mentalität
bringt Naturschützer zum Verzweifeln. Sie
würden aus dem Koloss gern einen allzeit
bereiten Zuchtbullen machen, denn
George ist mehr als nur ein SchildkrötenMännchen von über hundert Kilogramm,
er ist unter seinesgleichen die vollversammelte No-Future-Generation: George ist
der letzte noch lebende Vertreter der Rie-
290
senschildkröten-Unterart „Geochelone nigra abingdoni“.
Wenn das Reptil stirbt – womöglich erst
in 100 Jahren –, dann endet ein Seitenarm
der Evolution im Nichts. Von den einst 15
Arten von Galapagos-Riesenschildkröten
gäbe es nur noch 10. Deshalb – genauer:
Um seine kostbaren Gene vor dem Untergang zu bewahren, soll George seine Verwandten von der Insel Isabela begatten.
Doch „das einsamste Tier der Welt“ (Guinness-Buch der Rekorde) lebt wie im Zölibat.
Was ist los mit „solitario Jorge“, wie dieser Anti-Casanova auf Galapagos heißt? Ist
ausgerechnet der letzte Vertreter seiner Art
impotent? Oder schwul? Oder hat er einfach
die Richtige nicht gefunden, trotz der immerhin knapp 19 Jahre, die er nun schon als
Sex-Hoffnungsträger bei den Wissenschaftlern in der Darwin-Forschungsstation auf
der Galapagosinsel Santa Cruz zubringt?
den Rücken, um ihnen Blut abzunehmen.
Das Ergebnis, veröffentlicht im Fachblatt
„Proceedings of the National Academy of
Science“: George bekam bislang ganz
falsche Weibchen vorgesetzt.
Das Angebot, Weibchen von der Insel
Isabela zu begatten, immerhin der Nachbarinsel seiner Heimat Pinta, muss auf
George etwa so gewirkt haben, als würde
einem Menschen ein Schimpanse zur
Familiengründung dargeboten. George
steht nicht auf Isabela-Weibchen, so vermuten die Forscher, weil sie ihm trotz
mancher Ähnlichkeiten genetisch zu fremd
sind.
Für die Paarung geeignete Weibchen sind
ausgerechnet jene, die physisch am weitesten von seiner Insel entfernt leben. Auf den
Inseln San Cristóbal und Española sind die
engsten Verwandten von George zu Hause
– mit ihnen, so sagen die Forscher, wird
Lonesome George sich am ehesten auf
den Koitus einlassen.
Pinta
Es wäre geradezu ein Wendepunkt in
Heimat von
Ecuador
Lonesome George
der Geschichte einer bedauernswerten
Art, die evolutionär besehen schon lanGalápagosSÜDAMERIKA ge in ausweglosem Elend gefangen ist.
Vor Millionen von Jahren gab es fast
auf allen Kontinenten Riesenschildkröten, die größten wogen eine Tonne.
Kreuzungsversuch
Mit dem Aufstieg der Säugetiere aber
San
Cristóbal
auf Santa Cruz
fielen sie der Verdammnis anheim.
Isabela mit Weibchen der
Vor wenigen Schildkröten-GeneraNachbarinseln
tionen – etwa vor 500 Jahren – weideInseln
ten die Riesenschildkröten auf Galapa100 km
gos noch zu hunderttausenden an KakEspañola
teen und Sträuchern. Dann aber kam
der Mensch, und mit ihm hielt eine ArNun scheint das Rätsel um George ge- mada der Zerstörung Einzug: Ratten, Katknackt. Italienische und amerikanische zen, Hunde, Schweine, Ziegen und Esel.
Wissenschaftler, angeführt von Adalgisa
Seeräuber und Walfänger schätzten die
Caccone von der Yale University, haben Riesenschildkröten als lebende Frischfür das lustlose Reptil so etwas wie eine ge- fleischkonserve. Zu hunderten sperrten sie
netische Partnervermittlung ausgeheckt. die Tiere unter Deck. Für die Seefahrer
Unter allen noch existenten Schildkröten- waren die Reptilien ein idealer Reiseproarten auf dem gesamten Galapagosarchipel viant: Ein Jahr können die Tiere ohne Washaben sie Genstudien betrieben zur ser und ohne Nahrung im Schiffsbauch
Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse. überleben. Kapitäne lobten den delikaten
Hunderte Riesenschildkröten von bis zu Geschmack und das feine Fleisch der Ur300 Kilogramm Gewicht drehten sie auf zeit-Riesen. Allein zwischen 1830 und 1900
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sollen die Crews der amerikanischen Walfängerflotte über 100 000 Riesenschildkröten aus Galapagos vertilgt haben.
Nach den Jägern wilderten die Forscher.
Einer, der in Georges Leben womöglich
entscheidend eingriff, war der kalifornische
Biologe Rollo Beck – ein Fiesling, der sich
in seinen Aufzeichnungen rühmte, Riesenschildkröten im Mondlicht zerlegt zu haben. Drei der sanften Monstren fand er auf
Pinta, der Heimat von Lonesome George.
Er fing sie ein, vermaß sie nach Länge und
Gewicht, tötete sie und studierte ihren Mageninhalt. Dann kam er zu dem Schluss,
dass die untersuchten Tiere „wahrscheinlich äußerst selten“ seien. Unter Becks Opfern befanden sich mit einiger Wahrscheinlichkeit auch Geschwister oder Eltern von
George. Bis zu dessen Entdeckung auf Pinta blieb der Bericht des Kaliforniers der
einzige Hinweis auf die Existenz der Subspezies „Geochelone nigra abingdoni“.
Für George wurde es bald eng auf seiner
Insel. Ende der fünfziger Jahre setzten Fischer einen Ziegenbock und zwei Ziegen
auf Pinta aus, die Georges sexuelle Enthaltsamkeit keineswegs teilten. Nach 20
Jahren Fruchtbarkeit hinterließen sie eine
40 000-köpfige Herde, die über die Insel
trampelte und den Riesenschildkröten die
Nahrung wegfraß.
Zum größten Fluch für die Reptilien
aber wurden die Ratten und anderes Getier: Verwilderte Schweine gruben die billardkugelgroßen Eier der Schildkröten aus,
die Ratten fraßen die Jungtiere. Jene, die
den Nagern entkamen, wurden von Katzen
und Hunden gerissen. Auf einigen Galapagosinseln, so nehmen die Forscher an, hat
es im gesamten Jahrhundert nicht eine
einzige Schildkröte mehr geschafft, geschlechtsreif zu werden, also ein Alter von
20 bis 30 Jahren zu erreichen.
Als George 1972 auf Pinta gefunden
wurde, war es noch nicht lange her, dass er
zum Letzten seiner Art geworden war: Forscher fanden damals auch den Panzer eines
Weibchens, das wenige Jahre zuvor den
Tod gefunden hatte. Auf welch schreckliche
Weise, war noch deutlich sichtbar: Mit Machetenhieben war der Bauchpanzer aufgeschlagen worden. Einheimische Fischer hatten Georges letztes Weibchen aufgegessen.
Wegen seines tragischen Schicksals ist
George eine internationale Berühmtheit geworden: Als Symbol der Artenvernichtung
durch den Menschen steht er, in Bronze gegossen, im Zoo von San Diego. Doch der
Ruhm bedeutete für die träge Riesenschildkröte auch Gefahr – 1995 fiel George
beinahe einem Attentat zum Opfer.
„Wir werden Lonesome George töten“,
drohten Seegurken-Fischer auf Galapagos,
als die Regierung ihnen das Abschlachten
der in Ostasien als Aphrodisiaka beliebten
Seegurken verbieten wollte.
Eine Hundertschaft Marine-Infanteristen
war nötig, um George zu schützen.
Marco Evers
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Kultur
DPA
Szene
Szene aus der Stockhausen-Oper „Freitag aus Licht“ (Leipzig 1996)
MUSIK
„Licht“ aus in Bonn
A
m Rhein tobt seit Wochen ein Notenkrieg. Im Opernhaus
der linksrheinischen Bundesstadt Bonn ließ Generalintendant Manfred Beilharz die für Mai 2000 angesetzte Musiktheaterpremiere von Karlheinz Stockhausens „Mittwoch
aus Licht“ platzen. Bei den Vorbereitungen hätten „sich immer
größere Umsetzungsschwierigkeiten herausgestellt“. Dabei
habe man schon „Möglichkeiten geschaffen“, die den Aufwand
für Wagners „Götterdämmerung“ um ein „Vielfaches“ überträfen. Doch inzwischen hätten sich die kalkulierten Aufführungskosten bereits verdoppelt, das Stück übersteige „die
L I T E R AT U R
Herz der Finsternis
G
enerationen von Biografen haben
die fürchterliche Figur des georgischen Schustersohns umkreist, der sich
Stalin nannte. Sein Aufstieg zur Macht
ist ein düsteres Drama voll Verschlagenheit und kaltblütigem Verrat. Die Idee,
sich subjektiv in das rätselhafte Charaktermonster Stalin hineinzuversetzen
und dessen Wesen gleichsam von innen
zu erfassen, schien sich eigentlich von
selbst zu verbieten. Nun aber hat Richard Lourie, 59, ein intimer Kenner
der russischen Sprache und Geschichte,
eine Roman-Expedition ins Herz der
Finsternis riskiert. Ein früherer Geheimdienstmann und Hausmeister
Stalins – so Louries Rahmen-Fiktion –
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organisatorischen und finanziellen Möglichkeiten“ des Hauses;
die Absage tue ihm „unheimlich leid“. Genau das bezweifelt
der Komponist Stockhausen. Beilharz, so schoss der metaphysische Neutöner zurück, habe „seine Schwierigkeiten selbst
hervorgerufen“, weil er den Opernchor gleichzeitig andere
Werke einstudieren ließ, für den abgesprungenen Regisseur
Paul Esterhazy keinen Ersatzmann engagiert und auch mit sieben der vorgesehenen Solisten keine Verträge abgeschlossen
habe. Stockhausen, verteidigte sich daraufhin der Bonner Prinzipal, stelle „die Chronologie auf den Kopf“, Esterhazy beispielsweise sei „nie konkret als Regisseur vorgesehen“ gewesen. Nun liegt „Licht“, Stockhausens siebenteiliges, nach den
Tagen der Woche benanntes Spektakel fürs erste im Dunkel:
Eine Verschiebung der Bonner Premiere hat der empfindsame
Schöpfer abgelehnt, eine Ersatzbühne noch nicht gefunden.
habe zufällig dessen altes Tagebuch
entdeckt.
Das erfundene Werk fesselt nicht zuletzt
dank seiner dramaturgisch famosen
Grundidee: Stalin verfasst die „geheimen Aufzeichnungen“ zur Entkräftung
der realen Stalin-Biografie seines Erzrivalen Leo Trotzki. Immer wieder zitiert
der Roman-Diktator, zwecks Widerlegung, dieses Werk, das mit kühler Sachlichkeit Stalins Aufstieg vom Priesterzögling und kleinkriminellen Provinzler
zum Kreml-Tyrannen nachzeichnet. Die einzelnen Kapitel liefern Geheimdienstleute für Stalin frisch vom Schreibtisch des
Todfeindes im mexikanischen
Exil: Als Dienstboten eingeschleust, bespitzeln sie den in
Ungnade gefallenen Revolutionär, um seine Beseitigung im
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Auftrag Stalins präzise vorzubereiten. In
den Grundzügen und vielen Einzelheiten stimmen dieses Komplott und der
historische Hintergrund des Machtkampfes um Lenins Erbe mit den verbürgten
Tatsachen überein. Aus dem Geschichtsstoff und seiner psychologischen Phantasie lässt Lourie eine suggestive Wahnwelt
entstehen. „Leo Trotzki will mich umbringen“, hebt das fiktive Tagebuch an,
und als im August 1940 der Eispickel des
gedungenen Mörders Ramón Mercader
den Schädel des Widersachers
Trotzki gespalten hat, gipfelt
der finstere Monolog im Schlusswort: „Endlich habe ich Gott
an Einsamkeit übertroffen.“
Richard Lourie: „Stalin“. Aus dem Amerikanischen von Hans J. Becker. Luchterhand Literaturverlag, München; 352 Seiten; 44 Mark.
293
CORBIS SYGMA
Szene
Latin-Star Lopez
POP
Singende Ente
A
usgerechnet in Los Angeles, wo Hispanics dabei sind, zur
zweitgrößten Bevölkerungsgruppe zu werden, weigerte
sich der musikalische Direktor des führenden Pop-Radiosenders KIIS-FM, Marc Anthonys Single „I Need to Know“ zu
spielen. „Wir wollen nicht zu viel von diesem Latino-Sound“,
sagte er, obwohl das Lied „großartig“ sei. Die Presse reagierte
empört, Anthony selbst dagegen war vor allem verwirrt. Denn
„I Need to Know“ ist weniger ein Salsa-Stück als vielmehr ein
Popsong – wenn auch mit lateinamerikanisch anmutenden
Klängen. Aber vermutlich weil der New Yorker Anthony zuvor
in Nord- und Südamerika mit drei Salsa-CDs große Erfolge gefeiert hatte, wurden die Single und das gerade auch in Deutschland erschienene, erste englischsprachige Album unter „Latin“
eingeordnet. Anthony, 31, hatte seine Karriere im Studio begonnen: Er sang gegen Schweigegeld für Jungs, die gut genug
fürs Showgeschäft aussahen, aber keine Stimme hatten. „Ich
Latin-Star Anthony
war immer das hässliche Entlein“, sagt Anthony. Dann aber
profilierte er sich als Salsa-Künstler, protegiert vom Altstar
Rubén Blades, sang in Paul Simons Musical „The Capeman“
die Hauptrolle, nahm ein Duett mit Jennifer Lopez auf
und spielt in Martin Scorseses neuem Film „Bringing out the
Dead“ mit. Doch geht es nach der Zeitschrift „Entertainment
Weekly“, ist das erst der Anfang: Sie vergleicht den zweisprachig aufgewachsenen Sänger sogar mit Frank Sinatra.
Kino in Kürze
Schwarzen und die
Frauen den Aufstand
Wer hätte gedacht,
wagten. „Verrückt in
dass Takeshi Kitano
Alabama“ erzählt von
sein Kino-Image als
einer Frau, die 1965
wortkarges Raubein
aus der Provinz des
ganz locker ins KomiSüdens auf den Weg
sche wenden könnte?
nach Hollywood über
Einen krummen Hund
die Leiche ihres Ehespielt er auch diesmal,
manns geht, und von
einen Kleinganoven
den Rassenunruhen,
und Zocker, und das Kitano-Film „Kikujiros Sommer“
Szene aus „Verrückt in Alabama“
die zur gleichen Zeit
Unglück will, dass er
sich als Ferienbetreuer eines kleinen Jun- kopf Kitano (Buch, Regie, Schnitt, Haupt- in Alabama ausbrechen. Der Kinostar
Antonio Banderas zeigt in seinem Regen durchs Land schlagen soll. Daraus rolle) als weiser Narr zu erkennen.
giedebüt die komischen Qualitäten seiner
entspringt eine mirakulöse, märchenbunte Männerfreundschaft zwischen „Verrückt in Alabama“. Die Filmversion Ehefrau Melanie Griffith; vor allem aber
Groß und Klein: Mit diesem leichtfüßig eines genialisch-turbulenten Romans von schafft er es, Childress’ Mixtur aus Groimprovisierten Sommerabenteuer gibt Mark Childress; ein wildes, wahres Mär- teske und Tragödie schön grotesk und
sich der sonst eher ungemütliche Quer- chen aus der Zeit, als in Amerika die schön tragisch auf die Leinwand zu retten.
SENATOR
COLUMBIA TRI-STAR
„Kikujiros Sommer“.
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Kultur
AU T O R E N
Einsatz an der
Schreibfront
cher. Tatsächlich gebe es „nur zwei fast
fertige Romane“, der Rest seien lediglich stichwortartige Ideen-Sammlungen.
Wer am Ende davon profitieren wird,
steht noch nicht fest: Konsaliks Testament wird Ende November eröffnet.
n einigen Verlagen fing man vermutlich bereits an zu rechnen, seine Fans
waren erfreut, literarische Feingeister
entsetzt: „45 Romane vom toten Konsalik“, meldete die „Hamburger Morgenpost“ vergangene Woche, seien im
Nachlass des Anfang Oktober verstorbenen Bestsellerautors und Vielschreibers Heinz G. Konsalik gefunden worden. Der Nachschub mit Landser-Prosa
à la „Der Arzt von Stalingrad“ und anderen Trivialitäten schien bis weit ins
nächste Jahrtausend gesichert. Indes
auch Konsaliks unermüdlicher Einsatz
an der Schreibfront – bisher ging man
von 155 Romanen in 43 Jahren aus –
kannte offenbar Grenzen: „Wenn es
doch nur 50 Manuskripte wären“,
barmt Konsaliks Agent Reinhold Ste-
KUNST
Gemusterte Tante
A
uf und Ab des Lebens: Im Fernseher lief eine Sendung zum Rücktritt des Kanzlers Adenauer, daneben
erklommen, am 11. Oktober 1963 in
Düsseldorf, zwei junge Künstler einen
Sockel. Um dem Publikum „Leben mit
Lueg-Gemälde „Kuss“ (1963)
Pop“ vorzuspielen, posierten sie auf
erhöhten Polstermöbeln mitten im Einrichtungshaus Berges; Bilder von Hirschen und Bockwürsten hatten sie in
die Verkaufsetagen gehängt. Einer von
den beiden, Gerhard Richter, ist dann
Spiel und friss!
W
ACTION PRESS
I
Am Rande
Konsalik (1995)
malend weltberühmt geworden. Der
andere, damals Konrad Lueg geheißen,
sattelte vier Jahre später um und wurde
unter seinem bürgerlichen Namen Fischer ein hoch geschätzter AvantgardeGalerist. Schon vor seinem Tod 1996
plante die Kunsthalle Bielefeld, den
kaum mehr bekannten Künstler Lueg
durch eine Rückschau zu ehren. Nun
ist es so weit: Mit etwa 50 Werken, einem Drittel seiner Produktion zwischen 1963 und
1968, demonstriert die Ausstellung den verspielt-vertrackten Bildwitz des PopArtisten (bis 16. Januar). In
heftigem kollegialen Wettstreit mit seinem Studienkollegen Richter, doch
auch mit dem Zitat-Virtuosen und Farb-Alchimisten
Sigmar Polke legte er Tapetenmuster über die Silhouetten von Tante und Onkel
oder ließ sich eine Phosphorfarben-Malerei patentieren, die ihr Aussehen ändert, sobald der Schatten
eines Betrachters darauf
fällt. Dass der Erfindungsreiche dann doch das Metier wechselte, hält Kunsthallendirektor Thomas Kellein geradezu für „zwangsläufig“; Luegs
Technik sei doch allzu „miserabel“ gewesen: Dicke Plaka-Farbe und geschluderte Keilrahmen machen den Bielefelder Restauratoren jetzt schwer zu
schaffen.
d e r
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enn wieder
einmal ein
Hollywood-Star von der
„künstlerischen Herausforderung“ schwärmt, die es für
ihn bedeutet habe, zum vierten Mal nacheinander den
gleichen depperten Krachbummhelden in irgendeiner
Blockbusterreihe zu mimen
(ein Job, der ihm ganz zufällig eine Gage von 20 Millionen Dollar
plus Gewinnbeteiligung einträgt),
dann sieht sich der durchschnittlich
korrumpierbare Hollywood-Fan in
seinem Glauben bestätigt: Geld
verhagelt den Menschen offenbar
zwangsläufig das Hirn.
Letzte Woche wurde dieser Glaube
plötzlich erschüttert. Die Schauspielerin Jodie Foster hatte der amerikanischen Zeitschrift „W“ mitgeteilt,
sie weigere sich, in der Fortsetzung
des Psycho-Thrillers „Das Schweigen
der Lämmer“ ein zweites Mal die Rolle der FBI-Agentin Clarice Starling
zu übernehmen, obwohl ihr dafür die
„höchste Gage ihrer Laufbahn“ angeboten worden sei. Sie könne es, so
gab Foster pietätvoll bekannt, mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren, dass
die tapfere Clarice in „Hannibal“
kannibalische Neigungen entwickeln
sollte.Wer hätte das gedacht: Skrupel
in Hollywood! Jodie, der charakterfeste Fels in der Kommerzbrandung!
Schon träumte der Hollywood-Fan
davon, was wohl geschähe, wenn dieses Exempel Schule machte. Nie wieder Bruce Willis in „Stirb langsam“.
Nie wieder Arnold Schwarzenegger
in irgendetwas. In spätestens vier Jahren wäre ganz Hollywood pleite, die
Stars würden Fernsehwerbung für
„Stirb langsam“-Fitnessgeräte drehen, als Terminatoren in die Politik
gehen oder, schlimmer noch, anspruchsvolle Rollen in verwackelten
„Dogma“-Filmen spielen. Daran müssen sie gehindert werden – und sei es
für eine Gage von 20 Millionen.
Zum Glück hat auch Jodie Foster das
eingesehen. Kurz nach dem Erscheinen des Interviews ließ sie bekannt
geben, sie habe noch gar nicht entschieden, ob sie auch eine menschenfressende Clarice spielen würde. Ein
paar Millionen Kannibalenzuschlag
werden ihr die Entscheidung sicher
erleichtern.
295
Ackermann-Gemälde „Evasion XVII“: Wie von der LSD-betäubten Hippiezeit inspiriert
Majerus-Objekt „It’s cool man!“: Mit verspielten
AU S S T E L L U N G E N
„Gefühl der Stärke“
Die Wolfsburger Schau „German Open“ feiert eine neue, höchst
lebendige deutsche Kunstszene. Der Nachwuchs träumt nicht mehr vom Umsturz:
Er inszeniert frech und bunt die eigene Größe.
296
Der Titel der Schau lautet „German
Open“ – und ist geschickt geklaut. In diesem Fall bei einem Tennisturnier. „German
Open“, das klingt so schön nach Spiel,
Spaß und vor allem nach Stars.
Dabei klotzt Wolfsburg eben nicht
mit bekannten Heroen, sondern mit einer
geballten Premiere, einem knalligen Aufgalopp der künstlerischen Entdeckungen:
Auf 1600 Quadratmetern stellt sich bis zum
26. März Deutschlands neue Künstlergeneration vor.
Oder zumindest ein beachtlicher Teil davon. 39 Künstler mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren. Im Tenniszirkus sind
da bereits viele Spieler im Ruhestand, für
Künstler fängt, wenn alles gut geht, die
Karriere gerade erst an.
Schließlich, so wird ihnen gern abverlangt, sollen sie schon etwas erlebt haben.
Etwas, das sich zu einem komplexen Werk
verarbeiten lässt. Die Jungstars kommen
indes ganz gut mit dem aus, was sie in
Fernsehen und Zeitung aufschnappen.
So zeigt eines der Wohnseifer-Bilder den
RAF-Terroristen Andreas Baader. Aus einem Pressefoto wurde 27 Jahre später ein
verschwommenes Szenario in Neonfarben
– ein Gemälde, so bestechend irreal wie
eine Traumsequenz. Bahnbrechend ist diese Idee aber nicht: Gerhard Richter schuf
1988 eine graue Serie verwischter Bilder
von der Baader-Meinhof-Truppe.
Wohnseifer begründet seine fluoreszierende Interpretation so: Die Horroraktionen der RAF waren das erste politische Ereignis, das er als Kind wahrgenommen hat.
Er konnte in jedem Postamt die Fahndungsfotos bestaunen, die Schreckenstaten auf der Mattscheibe verfolgen.
Möglich, dass seine comicfarbene Version des düsteren Themas vielen Besuchern
G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ
N
iki Lauda 1971, mit Poloshirt und
flottem Seitenscheitel. Eine sympathische Erscheinung. Nur sein Grinsen hat etwas leicht Diabolisches. Kein
Wunder. Der Helm, den er vor sich herträgt,
könnte einen Skandal auslösen. Unter dem
Visier prangt der Schriftzug der Jeansmarke Levi’s – oberhalb aber ein Hakenkreuz.
Jedenfalls meint der Kölner Künstler
Johannes Wohnseifer, 32, das verbotene
Symbol auf einem alten Lauda-Foto erkennen zu können – er hat das Bild sofort
zum Kunstwerk erkoren und es sogar großformatig nachgemalt. Grau in grau, nur der
Helm leuchtet – geschickt in Szene gesetzt
– in einem satten Signalrot.
Lauda, so hat Wohnseifer nachgeforscht,
habe sich damals mit ein paar Klebestreifen einen dummen Scherz erlaubt. Um politische Inhalte sei es ihm nicht gegangen.
Der Rennfahrer habe Symbol und Inhalt
getrennt. Damit, das ist Wohnseifers eigenwillige Interpretation, sei Lauda so etwas wie „ein Vorbote der Punkbewegung“.
Mit dem bizarren Porträt will der bislang
wenig bekannte Jungmaler nun ein großes
Publikum irritieren: in einer Ausstellung,
die vergangenen Samstag im Kunstmuseum
Wolfsburg eröffnet wurde – und die ebenfalls für Aufsehen sorgen dürfte.
Wohnseifer-Entwurf „This night“: Für Olympia 1972 nachentworfen
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G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ
Kultur
Meese-Installation „Erz Bankhaus Richard Wahnkind“: Abgedrehte Hommage an Richard Wagner
Künstler Wohnseifer, Bild „Lauda“
Hemmungslos herumexperimentieren
zu unpolitisch erscheint. Ihm aber geht es
um die Erinnerung an erste, TV-verzerrte
Eindrücke von Terror – fast schon mythische Eindrücke, die er wahrscheinlich mit
vielen seiner Altersklasse teilt.
Er ist nicht der einzige Künstler in Wolfsburg, der so unbekümmert autobiografisch
um sich selbst kreist und damit doch den
einen oder anderen Nerv seiner Generation treffen wird. Stefan Hoderlein stellt
15 000 Dias aus, von Partys oder von seinen
Lehrern an der Kunstakademie, allesamt
aber Dokumente seines bisherigen Lebens.
Retro-Ästhetik oder Trash-Look: Alles,
was in der Mode nach oben geschwappt ist,
findet sich in der Ausstellung wieder. Nur
viel offensiver. Drückt sich künstlerisches
Selbstbewusstsein in der Größe der Formate aus, dann laufen im Wolfsburger
Kunstmuseum etliche Egomanen herum.
Es gibt zwölf Meter hohe Wandmalereien; ein Riesenschinken von Franz Ackermann – mit einer Farben- und Formenexplosion, die von einem Plattencover der
LSD-betäubten Hippiezeit inspiriert sein
könnte und die des Künstlers Reiseerinnerungen verewigt – wurde auf einen Lkw
geschraubt. Blass wirkt daneben das pas- Braun hat sogar den Konferenztisch für die
tellige Relief im Peace- und Blümchen- Politprominenz des diesjährigen G8-GipLook von Michel Majerus. Fast immer fels entworfen.
handelt es sich aber um Mammut-Objekte,
Egal-Mentalität als Programm, um geungeniert für museale Großhallen konzi- gen die politisch hyperaktive Elterngenepiert. Merke: Wer nicht auftrumpft, geht ration der 68er zu revoltieren? Verzicht auf
unter.
Protest als besonders heimtückische ProDie Jung-Künstler trauen sich verblüf- testform? Das dürfte für einige dieser
fend viel zu. Sie experimentieren hem- Künstler schon zu viel der Reflexion sein.
mungslos herum und bedienen sich dazu
Die Generation, die Techno-Musik und
gelassen bei Vorbildern der Vergangenheit, Love-Parade erfand, will nicht mit langen
von der Pop-Art bis zu den kargen Objek- Worten die Ratio bedienen. Sie stößt lieber
ten aus Sperrholz und Alufolie von Thomas durch verspielte Überraschungswerke vor
Hirschhorn. Dieser Vorgänger der Nach- den intellektuellen Kopf, durch dreisgeborenen ist selbst erst 42 Jahre alt.
ten Kommerz-Gestus, der an literarische
Wohnseifer zum Beispiel malt nicht nur. Selbstvermarkter wie Benjamin von StuckEr hat einen Fassbinder-Film – den er zu- rad-Barre erinnert, und durch hektischen
vor nie gesehen hatte – nachStilwandel: heute so und
gedreht und einen Turnschuh
morgen schon ganz anders.
für die Olympischen Spiele
Der Unmut der altehrvon 1972 nachentworfen.
würdigen Kunstkritik ist dieJohn Bock hat Theater-Kurzsen Kreativen gewiss. Aber
stücke geschrieben und dazu
das stört keinen. Einer der
die Bühne gebaut – ein chaoNewcomer ahnt zwar die
tisch verschachtelter Guck„nervende Frage des Publikasten, inklusive Hühnerkums, ob das alles noch
stall. „Wir beherrschen nicht
Kunst sei“. Aber er wird
alles perfekt“, sagt er. Aber
nicht antworten.
heraus kommt immer ein
So viel Trotz muss dann
schräges Gesamtkunstwerk.
doch sein. Kurator Veit GörBesonders radikal ist das
ner hat darauf nur gewartet.
nicht. Auch nicht der hölzer- Künstler Meese
Vor drei Jahren stellte Görne Wehrturm von Jonathan
ner, 46, schon einmal eine
Meese, in dem er eine dämonische Hom- neue Künstlergarde vor, allerdings reiste
mage an Richard Wagner untergebracht die aus Großbritannien an: Intimbekennthat, in einer assoziativen Verbindung von nisse von Tracey Emin oder kindliche MissFamiliengruft und archaischem Altar. Naiv gestalten der Brüder Chapman. Der Speabgedreht mutet auch der Titel an: „Erz kulationssammler und Werbeguru Charles
Bankhaus Richard Wahnkind“. Auf dem Saatchi machte sie bald zu rekordbezahlDach seines Turms will Meese stinknor- ten Promi-Künstlern.
malen bayerischen Leberkäse kredenzen.
Görner nahm sich vor, nach der briVorbei ist offenbar mal wieder die Zeit tischen auch die deutsche Gegenwartssozialpathetischer Umsturzkunst. Matti kunst auszustellen. „Nur“, sagt er, „da war
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G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ
Werken vor den Kopf stoßen
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Kultur
nichts, was man hätte zeigen können.“ Erst
in den vergangenen zwei Jahren habe sich
in Deutschland eine „vitale“ Kunstszene
entwickelt, angeregt eben vom Erfolg der
frechen Briten und getragen vom kreativ
sprudelnden Berlin. Endlich sei ein „Gefühl
von Präsenz und Stärke“ vorhanden, eine
„überall spürbare Energie“, neuartige
Ideen würden nun „forsch vorgetragen“.
Hoppla, so plötzlich?
Tatsächlich sind auch auf den Kunstmessen, von der ohnehin betont jugendlichen „Art Forum“ in Berlin bis zur etablierten „Art Cologne“, neue Künstler aus
Deutschland vertreten.
Womöglich ist der Generationswechsel
aber bloß kollektiv herbeihalluziniert. Der
Verdacht liegt nahe, weil Sammler, Galeristen und auch so manche Museumsdirektoren schon wieder nach frischer Ware lechzen. Einige Künstler, die Wolfsburg als
brandneu hervorzaubert, haben bereits
Anfang dieses Jahrzehnts ausgestellt. Manche gelten gar schon als etablierte Stars
der Branche, wie Psychedelic-Künstler
Ackermann oder Ost-Maler Neo Rauch.
Das großzügige Forum, das ihnen Görner nun bietet, sei ihnen gegönnt. Immerhin hat der Ausstellungsmacher ein Jahr
lang sinniert, wen genau er einladen soll.
Eine überlegte Auswahl also, wenn sie auch
nicht in jeder Hinsicht glückte.
Erklärungsbedürftig ist vor allem die penetrante Männerdominanz. Die internationale Kunstszene mag, analog zu einem
aktuellen Slogan der Literaturszene, das
„Fräuleinwunder“ („Die Woche“) feiern,
in Wolfsburg sind dennoch unter 39 Künstlern gerade einmal 5 Frauen. Darunter
auch Silke Wagner, die ihre Plakate zum
Männer-Thema Fußball und Fanverhalten
immerhin im Foyer aufhängen darf.
Viele Künstlerinnen, sagt Görner, seien
„qualitativ nicht so weit wie ihre männlichen Kollegen“. Widersprüche und Alternativvorschläge von Mitarbeitern ließ er
angeblich nicht gelten. Auch InternetKunst, die einzig wirkliche neue Kunstgattung der vergangenen Jahre, lehnte er
ab. Lapidares Urteil: „Zu langweilig.“
So mag Wolfsburg noch so stolz eine Bestandsaufnahme deutscher Gegenwartskunst ankündigen. Repräsentativ für das
Land oder für eine ganze Generation dieses Landes ist die Schau nicht. Es hätte ihr
gut getan, ihre Spielwiese nicht nahezu
ausschließlich für große Jungen zu reservieren, die gern große Sachen bauen. So
gewitzt sie das auch tun.
Sie wissen längst, wie das Kunstgeschäft
läuft. Michel Majerus hat es auf – übergroße – Tafeln geschrieben: „Was heute gut
aussieht, muss morgen nicht mehr gut aussehen. Jetzt ist die Zeit.“ Bekennen sich so
desillusionierte Augenblicksmenschen oder
geschichtslose Eintagsfliegen? Dass sie solche Fragen provoziert, macht die Wolfsburger Kunst-Schau auch reizvoll – und
diskutabel.
Ulrike Knöfel
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Roman-Thema historisches Ägypten*: Neue Heimat fürs Leservolk
BUCHMARKT
Fluchthelfer Vergangenheit
Der historische Roman, die Zeitreise in einen entlegenen Winkel der Geschichte, ist erfolgreich
wie nie zuvor. Kurz vor der Jahrtausendwende suchen immer mehr
verstörte Leserseelen Trost und Halt in den überschaubaren Strukturen versunkener Welten.
* Buchcover (Ausschnitt) für „Der ägyptische Heinrich“
(unter Verwendung von Auguste Raynauds „La belle
Egyptienne“, um 1855).
J. MAGREAN
N
ietzsche war verstimmt. Der Blick
in die Welt verhieß ihm Schreckliches. Die Menschheit laufe Gefahr,
„an der Überschwemmung durch das
Fremde und Vergangene, an der ,Historie‘
zugrunde zu gehen“. Mit solch grimmigen
Sätzen schrieb der Philosoph gegen seine
Zeit an. Einer Zeit, die nur von einem zu
berücken war: vom Entrückten.
Das 19. Jahrhundert hat, angeführt von
Groß-Denker Hegel, die Geschichtsphilosophie etabliert, die Romantiker ergötzten
sich am Ideal einer großen nationalen Vergangenheit, und die Romanciers begannen,
sich an einer neuen Literaturgattung zu
versuchen: dem modernen historischen
Roman. Als Erfinder gilt der Schotte Walter Scott, der mit „Waverly“ (1814), einer
turbulenten Story um den erfolglosen
Staatsstreich der Stuarts 1745, eine UrGeschichts-Geschichte schrieb.
Ganz Europa tat es ihm nach: in Frankreich Victor Hugo mit „Der Glöckner von
Notre-Dame“, in Russland Leo Tolstoi mit
„Krieg und Frieden“, in Polen Henryk Sienkiewicz mit „Quo vadis“. Eine Gattung war
geboren, im folgenden Jahrhundert sollte
sie mal mehr, mal weniger begehrt sein.
Ramses-Autor Jacq
Auslöser der Ägyptomanie
Heutzutage aber ist sie so präsent wie nie zuvor – Nietzsche müsste sich wieder sorgen.
Ein Rückschau-Rausch sucht die deutsche Buchbranche heim, das gilt für Sachbücher ebenso wie für Romane. Aus nahezu jedem Verlagsprogramm springen sie einen an, oftmals prominent dargeboten als
Spitzentitel: die opulenten Geschichten aus
dem Irgendwann der Menschheit.
Der Wolfgang Krüger Verlag beginnt
eine Trilogie über die französische Kaiserin Joséphine. Der Karl Blessing Verlag versucht es mit einer weiteren mittelalterlichen „Medicus“-Schwarte vom amerikanischen Bestseller-Autor Noah Gordon. Da
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wird im „Labor des Alchemisten“ (List)
herumgepfuscht, auf halbfiktionale Weise
Stalins (Luchterhand Literaturverlag) gedacht oder das „Geheimnis des Hieronymus Bosch“ (Eichborn) ergründet.
„Historische Romane laufen glänzend“,
sagt Kirsten Laabs, Geschäftsführerin einer
großen Hamburger Buchhandlung, „besonders bei unserer Hauptkäuferschicht,
den Frauen über 30.“ Der Marketingchef
des Deutschen Taschenbuch Verlags (dtv),
Rudolf Frankl, bestätigt: „Alle diese
Bücher haben einen festen Markt und verkaufen sich durchweg gut. Ich kann mich
nicht erinnern, dass ein historischer Roman in letzter Zeit ein Misserfolg war.“
Eine honorige Gruppe zeigt sich jedoch
durch den Historien-Boom peinlich berührt
bis blamiert: die Literaturwissenschaftler.
Den professionellen Besserwissern ist der
historische Roman verhasst. Die Gattung
gilt, so die typische Beschreibung eines
Germanisten (Michael Limlei), „als illegitimer Spross einer anrüchigen Verbindung“:
der Verbindung zwischen der an Fakten
gebundenen Historiografie und der freien
dichterischen Fiktion, die ihre Geschichten
nach eigenen Baugesetzen erzählt und auf
den tatsächlichen, oft zufälligen Hergang
wenig Rücksicht nimmt.
Können andere Mode-Genres wie Fantasy, Sciencefiction oder auch die putz299
Kultur
Renate Feyl
„Das sanfte
Joch der Vortrefflichkeit“
Verlag Kiepenheuer & Witsch,
Köln; 320 Seiten;
38 Mark.
300
Noah Gordon
„Der Medicus
von Saragossa“
Deutsch von
Klaus Berr. Karl
Blessing Verlag,
München; 512
Seiten; 48 Mark.
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Graehl. Ihre Analyse: Wenn
Kitschgeschichten in früheren
Zeiten spielen, wirken sie glaubhafter – Burgfräulein wird hormonell so manches zugetraut.
Graehl: „Es ist wie bei Schlagern: Englisch gesungen, also
verfremdet, werden sie besser
angenommen.“
Das bestätigt auch der Wissenschaftler und Romanautor
Umberto Eco („Der Name der
Rose“, „Die Insel des vorigen
Tages“). Eco lästert in einem
Aufsatz zur historisch übertünchten Romanze: Geschichte
sei hier lediglich „Vorwand und
phantastische Konstruktion, um
der Einbildung freien Lauf zu
lassen“. Die Romanze brauche
gar nicht in der Vergangenheit
angesiedelt zu sein, „es genügt,
dass sie nicht vom Hier und
Jetzt redet, nicht einmal allegorisch. Die Romanze ist die Geschichte eines Woanders“. Historie als Wohlfühlort, weit weg
vom Alltag.
In diesem Herbst fällt aber
vor allem ein anderer Typus historischer Romane auf, eine literarisch bemühtere Form, die
durchaus einen Ort in der Geschichte aufzuweisen hat: Es
sind Romanbiografien echter
Erdenbürger. Romanbiografien
sollen durch fiktive Anteile
ebenfalls an Flucht- und Schmökerlust appellieren, zugleich
aber genügend Fakten liefern,
damit Leser im gelehrten Small
Talk bestehen können.
Dieses Jahr gibt es auffällig viele Lebensgeschichten von Frauen über Frauen.
„Genuss am Lesen“, begründet dtv-Lektorin Bianca Dombrowa, „läuft über Identifikation.“ Und wer liest? Frauen natürlich. Da die Historie, was faktische Macht
anbetrifft, notorisch männerlastig ist,
versuchen die Autorinnen, die indirekte
Macht der Gattinnen, Töchter, Schwägerinnen herauszuheben – der Geschichte
soll Gerechtigkeit eingeschrieben werden.
Ein ehrbares Anliegen, das den geehrten
Damen aber nicht immer zur Ehre gereicht.
Denn die Romanbiografie, das zeigen
die meisten Neuerscheinungen, ist tatsäch-
Anne Bernet
„Ich, Pontius
Pilatus“
Deutsch von
G. Krüger-Wirrer.
Knaur, München;
384 Seiten;
29,90 Mark.
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AKG
munteren Frauenromane getrost
ins Unterhaltungsfach eingeordnet und danach bewertet werden, gelingt dies beim historischen Roman nicht so leicht. Ein
und dieselbe Gattung hat wüste
Räuberromanzen, neunmalkluge Oberstudienratsprosa – und
ein hübsches Sümmchen Weltliteratur hervorgebracht: Flauberts „Salammbô“ (jetzt in neuer Übersetzung erschienen), Stifters „Witiko“, Süskinds „Das
Parfum“ und Nadolnys „Die
Entdeckung der Langsamkeit“:
allesamt historische Romane, allerdings zuweilen – wie im Fall
Süskind – mit Funden aus der
Historie wuchernd, die fast komplett erfunden sind.
In der verstörenden Qualitätsspanne zwischen Hochund Trivialliteratur liegt der
Fluch, aber auch der Reiz der
Gattung. Mit ihren unendlich
vielen Spielarten offenbart sie,
dass hinter dem aktuellen Vergangenheitstaumel sehr viel
mehr steckt als lediglich ein
kurioses oder nostalgisches Bedürfnis nach den lexikalisch
zugänglichen Fakten der Geschichte.
Die Historie, so zeigt die Gattung, kann für alles Mögliche genutzt werden: als Fluchthelferin
aus dem Heute ins Irgendwann,
als Lehrmeisterin fürs Hier und
Jetzt, als Trösterin, als Bildungsstütze. Der historische Roman
taugt zum Spiegelbild der Be- Roman-Heldin Joséphine*: „Liebes Tagebuch“
dürfnislage einer Lesernation.
Die berüchtigtsten Fluchthelfer die- rikanischen Taschenbuchangebots, das erses Herbstes sind jene Bücher, die in der gab eine Untersuchung deutscher VerlagsBranche halb belustigt, halb despektier- experten, besteht bereits aus diesen so gelich „Nackenbeißer“ genannt werden nannten Romances; die allermeisten von
und die sich auf unheimliche Weise ver- ihnen spielen in historischen Fernen, am
liebsten bei Raubrittern (weiches Herz unmehren.
Der Nager-Name geht auf die Cover- ter harter Rüstung) oder testosterongesätgestaltung zurück: Der Betrachter sieht tigten Piraten.
Weil auch deutsche Verlage wie Heyne,
eine junge Frau, wehendes Haar, umarmt
von einem Mann – hinab senkt er sein Bastei-Lübbe und Ullstein mit derlei PuHaupt gen Schulter der Begehrten. Und blikationen schon länger erfolgreich sind,
dann bleibt tatsächlich nur noch eine Fra- zogen Konkurrenten wie List und Knaur
ge offen: Küsst er, oder beißt er zu? Alles vor knapp zwei Jahren nach. „Mit Erfolg“,
andere ist gesichert: dass sich zwischen den sagt Droemer/Knaur-Lektorin Carolin
Buchdeckeln zwei lieben und gegen Ende
zueinander kommen. 50 Prozent des ame- * Porträt von Henri François Riesener (1806).
Sandra Gulland
„Joséphine“
Deutsch von Sigrid Gent. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/M.;
576 Seiten;
39,80 Mark.
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
lich eine fragwürdige Gattung. Mal machen
die Autorinnen aus den Objekten ihrer
Buch-Begierde auf Grund historiografischer Bedenken zu wenig, mal aus Fabulierlust zu viel.
Die Erfolgsautorin Renate Feyl etwa
geht in ihrem Buch über Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen zu zaghaft
vor („Das sanfte Joch der Vortrefflichkeit“). Feyl gilt als anspruchsvolle, quellentreue Verfasserin von Roman-Biografien und wird hier Opfer dieser Tugenden:
Sie klebt geradezu an dem, was Weimarer
Überlieferungen über Frau von Wolzogen
wissen, hält sich bei Ausschmückungen und
Dialogszenen stark zurück. Dadurch wirkt
das Buch hölzern – ziemlich leblos, diese
Lebensbeschreibung.
Für einen Roman reicht es nicht, sich
einen spektakulären Ort der Geschichte auszusuchen und sich darauf zu verlassen, dass die anwesenden Großkopferten
(in diesem Fall Goethe, Charlotte von Stein
und andere) die Story schon wuppen. Inszenierlust muss schon sein, auch wenn die
Gefahr groß ist, es zu bunt zu treiben.
Die in Kanada lebende Sandra Gulland, Verfasserin der vielbeworbenen Joséphine-Trilogie, treibt es zu bunt. Sie wählt
wie Feyl die Ich-Form, verfährt aber im
Ganzen gegenteilig. Sie schildert frohgemut lauter Vorgänge, von denen sie nichts
wissen kann: Joséphines erste Monatsblutung etwa.
Die Autorin beginnt neue Passagen ihres
als Diarium abgefassten Werks hochnaiv
mit „Liebes Tagebuch, es ist etwas Schreckliches geschehen“ und lässt ihre Hauptfigur wenig hellsichtig auf die Nachricht reagieren, dass ein Vertrauter versucht hat,
den gefangenen französischen König zu
befreien: „,Mon Dieu.‘ Ich sank auf einen
Stuhl. ,Den König zu befreien? Aus dem
Temple?‘ Ich formte die Worte mit den
Lippen.“ Womit sonst?, fragt sich der verwirrte Leser.
Es muss wohl der schier unglaubliche
Erfolg des französischen Autors Christian
Jacq sein, der Kollegen dazu ermutigt, unerschrocken in den Topf der Vergangenheit
hineinzugreifen, jemanden herauszuziehen
und drauflos zu phantasieren.
Immer wieder schafft es Jacq mit den
einzelnen Folgen seiner Romanbiografie
über den ägyptischen Pharao Ramses II.
auf die Bestsellerlisten. Egal, ob er etwa
den antiken Dichter Homer unvermittelt
im ägyptischen Memphis aufkreuzen lässt,
ein Vorfall, der jeder Logik wie Quelle entbehrt – das Zeug geht weg.
Und nicht nur das: Mit Jacq wetteifern
inzwischen etliche Trittbrettfahrer, die sich
ähnlich ägyptomanisch gebärden, ob in
Guy Rachets „Traum aus Stein“ (Heyne)
Cheops’ Kampf um die Doppelkrone beschrieben wird oder Kleopatra als „Die
Königin vom Nil“ (Heyne) aufersteht.
Ägypten scheint zu einem Schlagwort
geworden zu sein, mit dem Leser diffu302
d e r
se Vertrautheit assoziieren: Mit jedem
neuen Buch kehren sie an einen wohlbekannten Ort zurück. Also noch eine neue
Funktion von Geschichte: Diesmal ist sie
Heimat.
Längst versunkene Orte, verblichene
Menschen, die bloße Idee von Vergangen-
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Bestseller
Belletristik
1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter
Suhrkamp; 49,80 Mark
2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert
Steidl; 48 Mark
3 (4) Elizabeth George Undank ist der
Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark
4 (3) Noah Gordon Der Medicus
von Saragossa Blessing; 48 Mark
5 (–) Thomas Harris
Hannibal
Hoffmann und Campe;
49,90 Mark
Schlaflose Nächte
garantiert: FBI-Jagd
auf Serienmörder
Lecter geht weiter
6 (5) Donna Leon Nobiltà
Diogenes; 39,90 Mark
7 (9) Ken Follett Die Kinder von Eden
Lübbe; 46 Mark
8 (7) John Irving Witwe für ein Jahr
Diogenes; 49,90 Mark
9 (8) Marianne Fredriksson
Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark
10 (6) Henning Mankell
Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark
11 (12) Nicholas Sparks Zeit im Wind
Heyne; 32 Mark
12 (11) Frank McCourt Ein rundherum
tolles Land Luchterhand; 48 Mark
13 (10) Henning Mankell
Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark
14 (13) Siegfried Lenz Arnes Nachlass
Hoffmann und Campe; 29,90 Mark
15 (–) Martha Grimes Die Frau im
Pelzmantel Goldmann; 44 Mark
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heit, all das weckt unendliche Wünsche. Bleibt die Frage: Warum?
Mit einem anderen Boom
historischer Romane in diesem Jahrhundert lässt sich
die heutige Situation kaum
vergleichen. Es war in der
finsteren Zeit vor und während des Nationalsozialismus: Den einen Autoren ging es
darum, dem Germanentum durch allerlei
Heldengetue Bedeutung einzupusten, den
anderen – Exilliteraten wie etwa Lion
Feuchtwanger – ums Gegenteil: Sie wollten
durch allegorische Geschichten aus der
Vergangenheit auf die Abgründe des Faschismus hinweisen.
Mit dem Ende des Nationalsozialismus
hatte der Großteil der Autoren erst mal
genug vom historischen Erzählen. Heldentümelei war verdächtig geworden, Figuren der Geschichte als „bedeutend“, gar
„groß“ darzustellen – Schlagworte, die
heute durchaus wieder gängig sind –, damit
war man vorsichtig.
Über Jahrzehnte konzentrierten sich
Autoren aufs Hier und Jetzt, und als Anfang der achtziger Jahre ein gewisser Umberto Eco aus Italien seinen intellektuellen
Mittelalter-Roman „Der Name der Rose“
veröffentlichte, sagten ihm die Auguren
keine große Zukunft voraus. Eco-Übersetzer Burkhart Kroeber erinnert sich
noch, wie er an einer Sitzung des Münchner Hanser Verlags teilnahm, auf der über
die erste Auflage verhandelt wurde: 10 000
Stück, so lautete der Beschluss. Alle Anregungen Kroebers, es mit einer größeren
Menge zu versuchen, trafen auf Unverständnis.
Dass das Buch dereinst in der ganzen
Welt 15 Millionen Mal verkauft werden
würde, damit hat niemand gerechnet. Damals, so Kroeber, schien das Vergangene
verdächtig, die noch kreglen 68er führten den Vorwurf des Eskapismus auf ihren
Lippen.
Auch Gisbert Haefs, Verfasser verschiedener Historienromane („Troja“, „Alexander“, „Hannibal“), denkt noch mit
Groll an das Kunstverständnis der Achtziger: Eines Tages, so erzählt Haefs, sei Wim
Wenders, Mitbegründer des deutschen Autorenfilms, vor die Kameras getreten und
habe verkündet, dass man keine opulenten
Geschichten mehr erzählen könne. „Und
das“, echauffiert sich Haefs noch im Nachhinein, „wo gerade vor den Augen der Öffentlichkeit eine opulente Geschichte passierte, die Barschel-Affäre.“ Haefs: „Aber
so war das, Kunst stand für Kargheit.“ Das
Ergebnis: spröde Texte, genussfreie Lektüre mit viel, viel Botschaft.
Spätestens nach dem Fall der Mauer
kündigte sich eine Kehrtwende an. Der Sozialismus, die letzte Ideologie, die noch damit rechnete, dass sich das Menschen-
Roman-Held Hannibal*: Lust auf Opulenz
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Sachbücher
1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben
DVA; 49,80 Mark
2 (–) Oskar Lafontaine
Das Herz schlägt links
Econ; 39,90 Mark
3 (2) Sigrid Damm Christiane
und Goethe Insel; 49,80 Mark
4 (4) Corinne Hofmann
Die weiße Massai A1; 39,80 Mark
5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht,
lebe! Scherz; 46 Mark
6 (3) Waris Dirie Wüstenblume
Schneekluth; 39,80 Mark
7 (9) Ulrich Wickert
Vom Glück, Franzose zu sein
Hoffmann und Campe; 36 Mark
8 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist
ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark
9 (7) Bodo Schäfer Der Weg zur
finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark
10 (–) Hans J.
Massaquoi
Neger, Neger,
Schornsteinfeger!
Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark
Eine beispiellose Jugend:
Ein schwarzer Deutscher erlebt die Nazis in Hamburg
11 (11) Klaus Bednarz
Ballade vom Baikalsee
Europa; 39,80 Mark
12 (10) Daniel Goeudevert
Mit Träumen beginnt die Realität
Rowohlt Berlin; 39,80 Mark
13 (12) Dietrich Schwanitz Bildung
Eichborn; 49,80 Mark
14 (8) Ruth Picardie Es wird mir fehlen,
das Leben Wunderlich; 29,80 Mark
15 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“
Integral; 22 Mark
* Fresko von Jacopo Ripanda (Anfang 16. Jahrhundert).
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303
Kultur
Roman-Held Pilatus*: Antike Selbsthilfegruppe
geschlecht in Richtung Brauchbarkeit entwickele, war am Ende und damit – so
betonen Zeitgeist-Exegeten immer wieder
– auch jene rigorose Freude an der Zukunft, die 68er samt Autorenfilmer beflügelt hatte.
Der Münchner Arnulf Rank, EDV-Fachmann und als unermüdlicher Leser von
Historienschinken eine Art Prototyp, erinnert sich auch noch an politisch motivierte Straßenschlachten, doch, so analysiert
er, „die Zeiten sind zu kompliziert geworden, man zieht sich zurück“. Als EDVFachmann wisse er, wozu er einen Computerchip einsetzen könne, doch wie der
sich genau zusammensetze – „keine Ahnung“.
Da lobt er sich die Überschaubarkeit,
die in historischen Romanen suggeriert
wird. In einem seiner Lieblingsbücher, Ken
Folletts „Die Säulen der Erde“, geht es um
einen Kathedralenbau im 12. Jahrhundert.
„Nach der Lektüre hatte ich den Eindruck,
ich verstehe mehr von Kirchenarchitektur
als vom Computerchip.“
Hier könnte also der Urgrund für die
heutige Lust an der Rückschau liegen:
Die vielbeschworene Unübersichtlichkeit
stresst, die Zukunft lockt nicht mehr: also
geschlossener Abmarsch ins Gestern.
Rank: „Wenn ich Jacqs Ramses-Romane
lese, bin ich nah dran an einem Pharao.
Mit historischen Romanen ist man immer
* Gemälde von Albrecht Altdorfer (um 1510).
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AKG
dort, wo es groß und bedeutend wird.“ Weltereignisse frei
Haus.
Auf diese Erfolgsrezepte
setzt auch die französische
Autorin Anne Bernet. Sie
unternimmt in einer Neuerscheinung den Versuch, sich
und ihre Leser ins Zentrum
christlichen Heilsgeschehens
zu versetzen. Bernet nutzt
die Modegattung der RomanBiografie, um das Leben des römischen Statthalters zu beschreiben, der für die Hinrichtung Jesu mitverantwortlich
war: Pontius Pilatus („Ich, Pontius Pilatus. Die Memoiren eines Unschuldigen“). Die Autorin imaginiert die Verhandlung
vor dem Kreuzestod, lässt Pilatus – so will es auch die Bibel
– zaudern.
Die Zerrissenheit des Pilatus
bietet tatsächlich Stoff für ganz
große Literatur, allein man
muss der Gewalt dieses Stoffs
gewachsen sein. Bei Bernet
scheitert es an Sprache und
Charakterzeichnung: Der römische Prokurator, auch er ein
Ich-Erzähler, reflektiert im Jargon der Selbsthilfegruppe die
schlimme Tat: „Armer Messias,
armer Christos, armer König Israels … Mich
ergriff überströmendes Mitleid, und dennoch fühlte ich mich völlig ohnmächtig.“
Mit Sätzen wie diesen wird Pilatus zum
unfreiwilligen Komiker. Kein Segen also
auf dieser vorösterlichen Story.
Die Charakterzeichnung ist auch das
größte Problem im „Medicus von Saragossa“ von Noah Gordon, dem historischen
Roman, der nach Meinung der Händler der
größte Verkaufshit dieser Buchsaison wird.
Gordon vermag es tatsächlich, einer
Story Saft und Kraft zu geben. Die Geschichte seines heimlichen Juden Jona, der
vor der Inquisition durch das Spanien des
Spätmittelalters flieht, ist eine Himmelund-Hölle-Fahrt: Zarte Liebesszenen
wechseln mit brünstigen Schilderungen
von Folter und Scheiterhaufen.
Doch der Medicus ist ein arger Gutmensch, heilt und hilft, wo er nur kann.
Dass sich Verfolgung verheerend auf eine
Persönlichkeit auswirken kann, diese Möglichkeit schließt Gordon offenbar aus. Ein
Jude als Personifikation eines besseren
Prinzips – auch eine Variante des Rassismus. Erkenntniswert: marginal.
Der historische Roman hat also tatsächlich etliche Tücken. Die Gattung verspricht
einiges, löst aber nicht allzu viel davon ein.
Die Nackenbeißer erweisen sich noch als
ehrlichste Ware – lustvoller Schwelgestoff,
der auch gar nicht mehr sein will als dies.
Die Gattung, so die Theorie, nimmt
durch ihre fiktionalen Elemente der His305
Kultur
Kampf der Schinken
Historien-Boom im Fernsehen: Amerika und Europa wetteifern mit
unterschiedlichem Inszenierungsstil um die Gunst des Publikums.
„Jeanne d’Arc“-Darstellerin Sobieski: Geschichte ohne Geheimnis
Kraft der Dialoge
as Millennium geht, die Geschichte kommt, Gegenwart und
Zukunft, bitte zurücktreten von
der Bildschirmkante! Keine Übertreibung: So viel Historie war nie in der
Glotze.
An Weihnachten ist nicht nur das
Christkind geboren – zum diesjährigen
Fest, dem letzten vor der Jahrtausendwende, wird Jesus Christus auch Moviestar: Das Erste sendet zwei mal 90 Minuten lang eine Leo-Kirch-Koproduktion,
die den Weg des Heilands von Bethlehem nach Golgatha zeigt. Später werden
die Apostel dran sein, dann hat Kirch seinen Bibelzyklus zu Ende gebracht. Aber,
Gott verzeiht vieles, gut möglich, dass
das Fernsehen dann wieder bei Adam
und Eva beginnt.
Mantel- und Segenstücke haben nämlich TV-Konjunktur. Ob „Arche Noah“,
ob „Tristan und Isolde“, ob zum x-ten Mal
neu verfilmt „Der Kurier des Zaren“, ob
„Les Misérables“ oder „Der Glöckner von
Notre-Dame“, ob „Merlin“, ob AntikenFantasy wie „Hercules“ oder „Xena“ – es
trappelt in der Flimmerkiste: Pferdehufe,
kühne Reiter, schimmernde Rüstung, Lanze und Speer, Kostüm und Phrase schicken
sich an, neben Allotria, Sport und Talk ein
weiteres Schwungrad der Mythos-Maschine Fernsehen zu werden.
RTL
* „Jeanne d’Arc – die Frau des Jahrtausends“: 28. und
29. November, 20.15 Uhr auf RTL; „Balzac – ein Leben
voller Leidenschaft“: 2. und 3. Januar 2000 auf Sat 1.
SAT 1
D
Depardieu, Riemann in „Balzac“
306
sisch geprägten Verfilmung der Biografie
des großen französischen Erzählers Honoré de Balzac mit Gérard Depardieu,
Jeanne Moreau und Katja Riemann.
Die französische Bauerntochter und
später als Heilige verehrte fromme Jungfrau von Orléans (1412 bis 1431) errettete
im Hundertjährigen Krieg Frankreich
vom englischen Joch, führte durch ihre religiöse Begeisterung französische Truppen zum Sieg, brachte Karl VII. auf den
Königsthron, ehe sie, politisch lästig werdend, ins Abseits geriet und als Ketzerin
verbrannt wurde.
Voltaire sah in ihr eine naive Bauernmagd, Schiller eine innerlich Zerrissene
zwischen dem Gehorsam gegenüber
ihrer Sendung und der verbotenen Liebe
zum Feind. Für Shaw war sie keine
Heilige, sondern eine Vertreterin des
gesunden Menschenverstands wider die
Anmaßungen der katholischen Kirche,
Brecht schließlich interpretierte „Die
heilige Johanna der Schlachthöfe“ als
Je oller die Stoffe, desto voller sind die
Sofas vor dem Gerät: Deutsche Schuld
beschwörende Geschichtserkundungen
wie die Filme nach Victor Klemperers Tagebüchern erreichen mit schlappen acht
Prozent Marktanteil gerade mal die Studienratsklientel, während gut abgehangene Bibelschinken wie RTLs „Arche
Noah“ die Massen fesseln.
Kulturkritiker bellen, die Karawane
sucht ihre Sehnsucht im Gestern, in den
Zeiten, da es – so die Hoffnung – noch
das Wünschen gab, da der Lebenssinn
noch die Welt bewohnte, da richtige Männer richtige Frauen liebten, da die Guten
siegten und Gott sich zeigte.
An zwei Produktionen*, die demnächst
zu sehen sind, lassen sich die unterschiedlichen Macharten studieren, mit
denen Amerika und Europa das TVWachstums-Genre historische Fiction zu
beherrschen suchen: an der in Amerika
entwickelten Fernsehverfilmung des
Jeanne-d’Arc-Stoffs und an der franzö-
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realitätsblinde Wohltäterin, die die Raffinessen des Kapitalismus nicht durchschaute.
Und das moderne Fernsehen amerikanischer Machart? Es legt sich nicht fest. Es
hat keine Meinung zur Person der heiligen Jungfrau. Ihm sind Interpretationen
der Figur unwichtig, denn es hat ganz anderes im Kopf: lauter schöne Bilder.
Die TV-Verfilmung des Frankokanadiers Christian Duguay zerlegt den
Stoff in Gemälde, Zeitlupenaufnahmen
von tobenden Schlachten, in süßliche
Heiligenbilder von der Jungfrau mit strahlender Rüstung auf ihrem sich bäumenden Ross.
Bei dieser hemmungslosen Schwelgerei
im schönen Bilderschein wird der Film
hemmungslos fromm. Johannas Stimmen
von oben werden ungeniert optisch inszeniert: als strahlender Schein oder –
höchste Stufe der Erbaulichkeit – als Antlitz Gottes, als hätte der gefordert: Du
sollst dir ein Bildnis von mir machen.
Der historische Stoff dient als Übungsplatz für Special Effects, er wird rhythmisiert durch den raschen Wechsel von
Gefühlserregung und schneller Befriedigung. Dieser TV-Jeanne-d’Arc ist die flotte Träne lieber als eine lange durchzuhaltende innere Spannung. Die meisten
Figuren sind zu festen Klischees geformt.
So wandelt die New Yorker Jungschauspielerin Leelee Sobieski legosteinhaft
mit Strahleblick eines aufrechten American Girl durch das Natterngezücht europäisch-dekadenter Gestalten. Derlei bearbeitete Geschichte hat kein Geheimnis
mehr und erschüttert die selbstgefällige
Gegenwart kaum.
Aber zugegeben: Wenn die amerikanische Jungfrau Peter O’Toole, der den
zunächst verschlagenen, aber später reuefähigen Bischof gibt, an dessen gefrorenes
Herz rührt, wechselt dieser Film für einen
Moment von kalter Bilderpracht in die
Dimension echter Wärme.
„Balzac – ein Leben voller Leidenschaft“ riskiert optisch weniger, ohne je
unansehnlich zu sein. In diesem europäischen Angriff auf die alte Zeit regieren
das Vertrauen auf große Schauspieler und
die Kraft der Dialoge. Wie Obelix erwatschelt sich Depardieu den Balzac-Part,
schelmisch, täppisch, aber voller Ehrfurcht für den großen Poeten. Und er
wird konterkariert von seiner kalten Mutter, die die Moreau souverän hinlegt. Sie
spielt, als schaute das alte Europa voller
Skepsis, aber auch mit liebender Weisheit auf seine großen Dichter.
Die Quote dürfte den Kampf um die
Machart der Historienschinken entscheiden. Die Kultur hat viel zu verlieren.
Nikolaus von Festenberg
Historischer Banal-Roman
Hormonell begabte Burgfräulein
toriografie die Trockenheit und Sperrigkeit. In Wahrheit aber verführt die Angst
vor zu viel Gelehrsamkeit nicht wenige Autoren dazu, ihre Stoffe völlig weich zu
spülen. Geschichte aber ist richtiges Leben und damit immer ein Wagnis, eine
Zumutung.
Markus Werner, hoch anerkannter
Schweizer Autor, findet in seinem neuen
Roman „Der ägyptische Heinrich“ (Residenz-Verlag) eine Form, sich dem Gegenstand Geschichte literarisch angemessen
zu nähern. Sein Ich-Erzähler aus der JetztZeit rekonstruiert das Leben seines UrUr-Großvaters, eines Schweizer Pfarrersohns, der vor 150 Jahren nach Ägypten
auswanderte.
Der Protagonist der heutigen Welt
taucht ein in die damalige, taucht wieder
auf, reflektiert und kommt zu dem Ergebnis, dass beide Zeitschichten, die Gegenwart wie die Vergangenheit, kritisch gesehen werden müssen.
Zum einen entlarvt er seinen Großvater, der bislang in seiner Familie der Held
unter den Ahnen war, als Taugenichts,
zum anderen nervt ihn auch das Hier und
Jetzt. „Ein einziger Tag der Versenkung
schien bewirken zu können, dass ich
mich beim Wiederauftauchen als Relikt jener Zeit fühlte, in der ich mich aufgehalten hatte, und die Rückkehr in meine
Welt war keine ins Vertraute. Von einem
anderen Epochenrhythmus wie infiziert,
empfand ich den normalen Verkehrsfluss als Niedertracht und die normalen Bewegungen der Menschen als Veitstanz.“
In diesem halb-historischen Roman
verstört Geschichte. Besseres kann sie,
in erzählter Form, kaum bewirken.
Susanne Beyer
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Kultur
Wunderbarer
Minister
Der Münchner Staatstheaterchef
Eberhard Witt wirft sein
Amt vorzeitig hin – neuer Eklat im
Traditionskonflikt zwischen
Bayerns CSU und Theaterkünstlern.
E
in ordentlicher bayerischer Theaterkrach geht so: Ein Dramatiker
schreibt ein Stück, in dem sich poetisch-klare Sätze finden wie „Der letzte
Terrorist ist mir noch lieber als der erste
von der CSU“. Ein Schauspieler spricht
diese Sätze auf der Bühne nach. Im Premierenpublikum gibt es Tumult. CSU-Politiker schlagen Krawall, dass man sich derlei nicht bieten lasse. Der Theaterintendant aber verteidigt die Freiheit der Kunst
– und dann ist es bloß eine Frage von Monaten, bis man den Theaterchef mit
Schimpf und Bierzeltdonner aus dem schönen Bayernland gejagt hat.
So geschah es beispielsweise 1985/86.
Der Dramatiker hieß damals Herbert Achternbusch, der Schauspieler Josef Bierbichler und der Staatsschauspielintendant
Frank Baumbauer. Von allen dreien lässt
sich sagen, dass sie nach dem Skandal um
das Achternbusch-Stück „Gust“ zumindest
im nichtbayerischen Rest der Republik als
tapfere Kämpfer und moralische Sieger dastanden.
In der vergangenen Woche sah es ganz so
aus, als sei in München eine Neuauflage des
bewährten Schauspiels zu bestaunen: Eberhard Witt, 54 und seit gut sechs Jahren auf
dem einst von Baumbauer belegten Intendantenposten, schmiss entnervt den Kram
hin: Er sei sich sicher, „dass ich künftig nicht
* Residenztheater, Nationaltheater.
mehr so frei und unabhängig arbeiten kann
wie bisher“. Die Schurkenrolle fiel, na klar,
mal wieder den üblichen Verdächtigen zu –
den Beton- und Bierköpfen von der CSU.
Nur: Diesmal hatte es weder auf einer
der drei Staatsschauspielbühnen – Residenztheater, Cuvilliéstheater und Marstall
– einen Eklat gegeben noch auf irgendwelchen Rednertribünen. Und, noch verwirrender: Witts Dienstherr, Bayerns CSUKunstminister Hans Zehetmair, 63, beteuerte fast verzweifelt, dass er Witt „in seine
künstlerische Freiheit nie reingeredet“
habe. Der nun im Sommer 2001 (statt, wie
ursprünglich vereinbart, zwei Jahre später)
scheidende Intendant bescheinigte seinem
Noch-Chef, er habe Zehetmair in sechseinhalb Jahren nur dreimal im Theater gesehen, prinzipiell aber sei der CSU-Mann
„ein ganz wunderbarer Kultusminister“.
FOTOS: W. RABANUS
I N T E N DA N T E N
Theatermacher Schweeger, Witt
Genervt von „jahrelanger Piesackerei“
Ja, was nun? War die „Bombe am Bayerischen Staatsschauspiel“ (Münchner „Abendzeitung“) irrtümlich gezündet worden? Der
Anlass für Witts Rücktrittsgesuch, das Zehetmair bereits akzeptiert hat, erscheint
tatsächlich mickrig. Der Intendant wurde,
sagt er, bei zwei wichtigen Einstellungen
monatelang hingehalten. „Wenn man nicht
mal mehr einen Dienstvertrag fristgerecht
hinkriegt, kann man kein Theater leiten.“
In Zehetmairs Ministerium bestreitet
man die Verschleppungsschikane. Die von
Witt vergangenen Dezember angekündigten Vertragsentwürfe seien erst im Juli in
Münchner Staatsbühnen*: Seltener Besuch vom Dienstherrn
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Zehetmairs Amtsstube am Münchner Salvatorplatz eingegangen, von wo man sie
unverzüglich (und unterzeichnet) ins kaum
500 Meter entfernte Staatstheater zurückexpediert habe. Als sie dort ankamen, hatte Witt bereits seine Demission eingereicht,
nicht zum ersten Mal, wie Zehetmairs Sprecher Toni Schmid spöttisch anmerkt: „Weil
es der Minister ein bisserl leid war, bald im
wöchentlichen Rhythmus Rücktrittsbriefe
vom Intendanten zu bekommen, hat er das
Gesuch diesmal angenommen.“
In Wahrheit hat der Zwist wohl mit unterschiedlichen Vorstellungen von Theaterkunst zu tun. Witt berichtet von „jahrelanger Piesackerei“ durch Ministeriumsbeamte. In seiner bisherigen Amtszeit hatte der
Intendant geschickt den Spagat zwischen
gefällig-konservativen Inszenierungen und
ein paar radikaleren Ausflügen geübt.
Im Vergleich zum anderen großen Münchner Sprechtheater, den
städtischen Kammerspielen, wo der
penible Textbefrager Dieter Dorn
das Regiment führt, erschien Witt
schon damit vielen bayerischen Kulturwächtern als waghalsiger Neuerer. Seit Anfang des Jahres aber
steht fest, dass Dorn in den Kammerspielen 2001 abtreten muss; sein
Nachfolger ist der einst von der
CSU aus dem Staatstheater verjagte Frank Baumbauer, 54, derzeit
noch Leiter des Hamburger Schauspielhauses. Er gilt als Förderer eines
ungestümen, wenig textgläubigen Gegenwartstheaters – und dem wollte Witt nun
noch wildere Theaterkunst entgegensetzen.
Die Neubesetzungen, die Witt erst spät
durchbringen konnte, sind die Position der
Chefdramaturgin Elisabeth Schweeger und
des künstlerischen Direktors Ulrich Wessel.
Die Österreicherin Schweeger, 45, hat bisher
unter Witts Obhut die Staatsbühne im Marstall mit Avantgarde-Spektakeln bespielt.
Dass sie nun auch in den beiden großen Häusern das Sagen hat, lässt das „Welt“-Feuilleton erschauern, bei ihr erhielten „Schein-Innovationen nur durch den Kommentar ihre
Wichtigkeit“, und in diesem Kommentar sei
viel zu oft „von Politik die Rede“.
Schweeger hält sich zwar für „keine bequeme Person“, trotzdem sei sie keine Revoluzzerin, „die gegen das System kämpft
– ich arbeite aus dem System heraus“.
Auch das klingt immer noch gefährlich
nach Systemveränderung, weshalb viele in
München nun aufatmen, dass die Schweeger mit Witt 2001 ihren Platz räumt. Als
Wunschkandidat für den Intendantenjob
im Staatsschauspiel wurde vergangene
Woche schon mal Dieter Dorn, 63, genannt. Den aber kann sich nicht mal
Zehetmair-Sprecher Schmid auf diesem
Posten vorstellen: „Der Minister schätzt
Dorn“, sagt er, „aber von den Kammerspielen ins Staatstheater – das ist, als würde einer mitten im Dreißigjährigen Krieg
die Religion wechseln.“ Wolfgang Höbel
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K. RUGE
Kultur
Neutöner Boulez: „Die Avantgarde-Müdigkeit ist vor allem Schuld der Interpreten, die im Gewerbe den Ton angeben“
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Man spielt gern den wilden Hund“
Der Avantgardist Pierre Boulez über Bayreuth, die Berliner
Philharmoniker und die Chancen der Neuen Musik im nächsten Jahrhundert
Der französische Komponist und Dirigent
Pierre Boulez, 74, gehört zu den international erfolg- und einflussreichsten Vertretern der modernen Tonkunst.
SPIEGEL: Herr Boulez, vor 32 Jahren haben
Sie im SPIEGEL gefordert, alle Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Ihr SprengSatz erschütterte damals die gesamte Szene. Seitdem waren Sie in Bayreuth tätig,
haben die herrschaftlichen Wiener Philharmoniker dirigiert, auf Schallplatte Musik von Richard Strauss aufgenommen und
ganz offenbar Ihren Frieden mit dem Betrieb gemacht. War Ihre Bombe von 1967
ein Blindgänger oder Ihr Pulver nass?
Boulez: Genau gesehen habe ich damals gesagt, die Sprengung der Opernhäuser sei
die eleganteste Lösung, um die Routine
loszuwerden. Natürlich war das eher humorvoll gemeint, wurde aber komischerweise oft wörtlich genommen. Was ich da312
mals sagen wollte und bis heute für richtig
halte: Wenn man an den Institutionen etwas ändern will, muss man in sie hineingehen und von innen wirken.
SPIEGEL: Aber Ihr damaliger Überdruss an
den puffigen Musiktheatern und ihren muffigen Spielplänen war doch ernst und böse.
Boulez: Natürlich. Aber wenn man jung ist,
spielt man gern den wilden Hund und
kläfft draußen wüst herum. Wenn man reifer wird, sollte man nicht mehr draußen
bellen, sondern drinnen handeln.
SPIEGEL: Sind denn nach Ihrer Beobachtung die Opernhäuser inzwischen offener,
die Orchester beweglicher und die Zuhörer
aufgeweckter geworden?
Boulez: Ja, keine Frage. Wenn ich zum Beispiel nächstes Jahr mit dem London Symphony Orchestra auf Tournee gehe und nur
Programme mit Musik des 20. Jahrhunderts dirigiere, dann ist das, kommerziell
gesehen, natürlich ein großes Risiko. Aber
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das Orchester nimmt das Wagnis auf sich,
und ich hoffe, dass das Publikum es auch
annehmen wird.
SPIEGEL: Nun eignet sich Boulez als Heiliger der Avantgarde aber auch als ideale
Galionsfigur für so ein Unternehmen.
Boulez: Abgesehen von der Heiligsprechung mögen Sie Recht haben. Jedenfalls
sehe ich für mich als Dirigent darin eine
Mission. Ich muss nicht unbedingt „Tosca“
oder Tschaikowski dirigieren, das machen
andere oft genug. Doch Webern, Schönberg, Strawinski aufzuführen empfinde ich
immer noch als notwendig und nützlich.
SPIEGEL: Aber Richard Strauss unter dem
Dirigenten Boulez scheint uns weder notwendig noch nützlich.
Boulez: Neugier ist eine der wichtigsten
Triebfedern meiner Arbeit. Und von
Strauss hat mich „Also sprach Zarathustra“, vor allem der Anfang, schon immer
sehr interessiert. Also habe ich das Werk di-
Werbeseite
Werbeseite
rigiert – auch wenn manche die Nase
rümpften.
SPIEGEL: Ihr Kollege Karlheinz Stockhausen
hat jüngst mal wieder gegen die „totale
Popularisierung“ des Musikbetriebs gewettert. Gehen Sie d’accord mit ihm?
Boulez: Stockhausen lebt hauptsächlich in
seiner Welt. Die komplexen Probleme des
täglichen Musiklebens sieht er mit einem
gewissen Abstand. Die „Popularisierung“
ist vielleicht eine falsche Antwort auf eine
richtige Frage.
SPIEGEL: Aber hat Stockhausen nicht doch
Recht, wenn er die Passivität des Betriebs
gegenüber den Zeitgenossen anprangert?
Boulez: Sicher hat er Recht. Nur ist die
Avantgarde-Müdigkeit des Betriebs in Wahrheit vor allem Schuld der Interpreten, die im
Gewerbe den Ton angeben und sich nur
glänzend vermarkten wollen. Die haben
einfach Angst, weil sie im zeitgenössischen
Repertoire nicht kultiviert genug sind. Sie
gehen auf Nummer Sicher, und das bedeutet: lieber einen Beethoven- als einen Schönberg-Abend. In Paris sehe ich Massen von
Plakaten mit Klavier-Recitals. Und was spielen die Pianisten? Chopin, Chopin, Chopin.
SPIEGEL: Mögen Sie Chopin nicht?
Boulez: Doch, doch. Er ist ein großer Komponist und konnte glänzend für Klavier
schreiben. Aber das ist 150 Jahre her, und
seitdem ist viel große Literatur für Klavier
entstanden. Man muss nur zugreifen.
„Ring des Nibelungen“ in Bayreuth (1976): „Ich hatte zeitweise den Eindruck, vor und hinter mir
SPIEGEL: Jetzt, kurz vor der Jahrhundert-
wende, bricht der etablierte, tradierte Musikbetrieb immer öfter auf. Die Berliner
Philharmoniker beispielsweise gerieten
jüngst unter Beschuss, weil sie im nächsten
Sommer erstmals live mit der Rockband
Scorpions auftreten wollen. Ist so was ein
Zeichen von Kulturverfall?
Boulez: Mon Dieu, lasst sie doch machen,
wenn sie Spaß daran haben! Die Rockmusik mit ihrer rhythmischen Kraft und ihrer
musikalischen Energie kann äußerst belebend wirken, und ich möchte nicht ausschließen, dass die Philharmoniker von diesem Abenteuer letztlich auch für ihre normale Arbeit profitieren.
SPIEGEL: Wird Beethoven in Berlin künftig
rockig klingen?
Boulez: Vielleicht wird er ein wenig anders
und aufregender sein. Ich finde es jedenfalls
nicht gut, wenn wir uns zu ernst nehmen und
arrogant über andere Bereiche herfallen. Ich
habe ja auch mit Frank Zappa gemeinsam
gearbeitet.Viele fanden das schrecklich, ich
fand es gut und amüsant und interessant.
Ich wollte und will nie hochnäsig sein. Es
muss nicht jeden Abend so genannte große
Kunst entstehen. Rock und Pop sind immerhin reale und vitale Ausdrucksformen
unserer Zeit, sie sind Musik der Aktualität.
SPIEGEL: Ein Hauptproblem der zeitgenössischen E-Musik besteht darin, dass sie fast
Kultur
entweder völlig rückwärts orientiert oder
überhaupt nicht mehr vorhanden ist.
SPIEGEL: Und wie soll sich diese Musikkultur wieder bilden?
Boulez: Man muss dafür arbeiten, schon
früh, in den Schulen. Ich gebe Ihnen ein
Beispiel. Ich habe neulich in der Pariser
Cité de la Musique vor Abiturienten eineinhalb Stunden lang eine Analyse von
Weberns „Fünf Stücken für Orchester“
vorgetragen, alles mit Beispielen. Sie hätten eine Stecknadel fallen hören können,
so konzentriert haben die Schüler das verfolgt. Ich glaube, die fanden das regelrecht
spannend.
SPIEGEL: Also muss man Neue Musik doch
lernen und darf nicht einfach genießen?
Boulez: Bedenken Sie: Man kann nur genießen, wenn man gelernt hat und versteht.
SPIEGEL: Darf ein Komponist mit den Erwartungen des Publikums kokettieren?
Boulez: Ich glaube nicht. Als Komponist
müssen Sie sich treu bleiben, und jede Koketterie mit dem Geschmack anderer gefährdet Ihre persönliche Integrität.
SPIEGEL: Herr Boulez, an neuen Opern ist
kein Mangel. Auch Sie haben seit Jahrzehnten ein Stück fürs Musiktheater angekündigt, aber bis heute nicht geliefert.
Weil sich die Gattung überlebt hat?
Boulez: Dass immer wieder neue Opern
entstehen, beweist, dass sie sich nicht überlebt hat. Ich habe mit meinem Opernpro-
jekt einfach doppeltes Pech gehabt. Erst
war ich mit Jean Genet …
SPIEGEL: … dem schillernden französischen
Poeten …
Boulez: … auf ein gemeinsames Projekt
verabredet, und mitten in der Vorarbeit
starb Genet; dann wollte ich mit Heiner
Müller etwas machen, und drei Monate,
bevor wir uns zur Detailbesprechung treffen konnten, starb auch er.
SPIEGEL: Ist das Ganze damit begraben?
Boulez: Sicher nicht. Andererseits habe ich
auch keine besondere Lust, eine Oper zu
komponieren mit der üblichen Raumtei-
M. GÄBLER / PUNCTUM
S. LAUTERWASSER / BAYREUTHER FESTSPIELE
immer gegen das große
Publikum durchgesetzt
werden muss. Mozart
dagegen schrieb, wenn
auch auf höchstem Niveau, stets auch für den
Massengeschmack. Was
konnte er, was die heutigen Neutöner à la Boulez nicht können?
Boulez: Das gegenwärtige Publikum ist ungleich
größer und soziologisch
vielfältiger geschichtet
als das des Rokoko. Hätte Mozart seine „Così
sei der Mob los“
fan tutte“ zum Beispiel
auf einem Bauernhof dargeboten, hätten,
so nehme ich an, die Zuhörer völlig ratlos reagiert. Wenn er, wie Sie sagen, den
Massengeschmack traf, dann war diese
Masse ein erlesener Zirkel von hohem
Kunstverstand.
SPIEGEL: Wollen Sie bestreiten, dass viele zeitgenössische Kompositionen vom
Zuhörer eine intellektuelle Arbeit und
gedankliche Aufgeschlossenheit verlangen, die dieser offenbar nicht leisten will
oder kann?
Boulez: Ich kenne dieses Argument, die
Stücke seien „zu hoch“. Falsch. Das Problem liegt nicht bei den Komponisten, sondern in der allgemeinen Musikkultur, die
Komponist Stockhausen
„Falsche Antwort auf richtige Frage“
Kultur
K. RUGE
CAMHI / STILLS / STUDIO X
lung Bühne, Orchestergraben, Publikum. Boulez: Ja, aber ich habe es aus demselben
Die Schauspielregisseure haben manchmal Grunde nicht getan.
schon ganz andere Lösungen gefunden.
SPIEGEL: Vor Jahren haben Sie einmal
SPIEGEL: 1976 haben Sie, zusammen mit gerügt, dass Deutschland – das Land der
dem Regisseur Patrice Chéreau, in Bay- Dichter und Denker, wie Sie süffisant sagreuth den so genannten Jahrhundert- ten – keinen Kulturminister habe. Nun ha„Ring“ herausgebracht – erst ein Skan- ben wir Michael Naumann. Welchen Rat
dal, dann ein Triumph. Wie beurteilen würden Sie – der Franzose mit deutschem
Zweitwohnsitz – ihm geben?
Sie den Eklat nach 23 Jahren?
Boulez: Es war eines der
Boulez: Ich kenne Herrn
furchtbarsten Erlebnisse
Naumann nicht. Ich denmeines Lebens. Dieser Terke, er sollte sich auf
ror des Publikums und des
die wirklich großen, naOrchesters! Ich hatte im
tionalen Institutionen und
Orchestergraben zeitweise
Ereignisse beschränken und
den Eindruck, vor und hinum Gottes willen nicht
ter mir sei der Mob los.
die Souveränität der einzelnen Länder antasten
SPIEGEL: Stimmt es eigentoder beschneiden. Was in
lich, dass das Orchester daden verschiedenen Länmals vorsätzlich falsch gedern geleistet und ermögspielt hat?
licht wird, ist das größBoulez: Mehrere Musiker
te Kapital des deutschen
wollten beweisen, dass ich
Kulturlebens. Da sage ich
den „Ring“ nicht dirigieren
als Kenner des französikönnte. Deswegen spielten
schen Zentralismus bloß:
sie, wenn nicht buchstäblich Boulez-Kollege Zappa
Hände weg!
falsch, so doch dem entgegen, was ich verlangt hatte. Schon die Pro- SPIEGEL: Wenige Wochen vor der großen
ben waren eine Qual; und als dann bei der Kalenderwende stellt sich die Frage nach
Premiere, am Anfang des dritten Akts den Chancen der Neuen Musik im nächs„Götterdämmerung“, im Zuschauerraum ten Jahrhundert. Wird sie sich durchsetzen
auch noch der Chor der Trillerpfeifen ein- und klassisch werden?
setzte, wollte ich endgültig hinschmeißen. Boulez: Ach, ich bin kein Prophet. Aber
ich wette, dass sie unentbehrlicher und daSPIEGEL: Und warum haben Sie gezögert?
Boulez: Weil das genau die Reaktion gewe- mit selbstverständlicher Teil des Repersen wäre, die meine reaktionären Gegner toires wird, weil Interpreten und Publierhofften. Den Gefallen wollte ich ihnen kum an Kenntnis gewinnen und damit
Scheu, Vorbehalte und Vorurteile verlienicht tun. So habe ich durchgehalten.
SPIEGEL: Hatten Sie im Festspielleiter Wolf- ren werden.
gang Wagner eine Stütze bei der Randale? SPIEGEL: Welche Neutöner schaffen den
Boulez: Unbedingt. In meiner damaligen Sprung ins nächste Millennium?
Situation hat er sich mustergültig verhalten Boulez: Ganz sicher Strawinski, Schönberg,
und sogar alle Störenfriede im Orchester Webern, Berg und Bartók.
ersetzt. Ein Jahr später waren da viele neue SPIEGEL: Und von den Lebenden?
Gesichter, und es wurde dadurch ein ganz Boulez: Ich denke an die so genannte
anderes Arbeiten.
Darmstädter Gruppe, an Stockhausen, LiSPIEGEL: Sitzen Ihnen der Schreck und der geti, Kurtág, Berio, Kagel; vermutlich auch
Schock noch immer in den Knochen? Ist noch ein paar andere.
Bayreuth deshalb für Sie endgültig passé? SPIEGEL: Und Boulez?
Boulez: Die schreckliche Erfahrung von ’76 Boulez: Der wahrscheinlich auch; wer weiß?
kann ich nicht einfach abschütteln, sie SPIEGEL: Herr Boulez, wir danken Ihnen
gehört für mich unweigerlich zu Bayreuth. für dieses Gespräch.
Aber dass ich dort wohl
nie mehr dirigieren werde, hängt mit meinem Alter und meiner knapper
werdenden Zeit zusammen. Ich kann es mir nicht
mehr leisten, drei Monate
eines Sommers der Arbeit an einer Oper zu widmen.
SPIEGEL: Hätten Sie später gern Chéreaus Salzburger „Don Giovanni“
dirigiert?
* Mit Redakteur Klaus Umbach in
der Kölner Philharmonie.
Boulez beim SPIEGEL-Gespräch*: „Nie hochnäsig sein“
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FOTOS: J. RÖTTGER / VISUM
Großskulptur „Perfect World“, Künstler Rhoades: Huldigung an den Strippenzieher der Avantgarde
KUNST
Ein Paradies
mit Abgründen
In den Hamburger Deichtorhallen
baut Jason Rhoades, Star
der internationalen Szene, an einer
„Perfekten Welt“ nach dem Vorbild des väterlichen Gemüsegartens.
E
ine ganze Welt-Schöpfung hat sich
der Künstler ausgedacht, und gern
spricht er darüber im Tempus der
Vergangenheit: „Ich machte sie in sechs
Teilen, und den siebten Teil ließ ich einfach
weg.“ Also: Wohlgefallen, Feiertagsruhe?
Von wegen. Geschäftig läuft der Amerikaner Jason Rhoades, 34, auch nach der Ausstellungseröffnung noch mit ausholenden
Schritten durch die südliche Hamburger
Deichtorhalle. Hier hat er einen großen
Druckcomputer zu überwachen, dort eine
Maschine zu bedienen, die lange Metallstangen kreischend auf Hochglanz poliert. Dann
schwingt er sich auf eine höhere Ebene empor und puzzelt da an einem Klebebild.
Fertig, mit einem letzten Handschlag abgeschlossen, wird diese von Rhoades so genannte Perfect World noch lange nicht,
möglicherweise nie. Jedenfalls soll das Publikum sie als Millennium-Work in Progress buchstäblich ins Jahr 2000 hineinwachsen sehen (bis 5. März).
Schließlich wird daraus laut Deichtorhallen-Mitteilung die „wohl größte Innenskulptur, die jemals gebaut wurde“. Der
Dschungel silbriger Pfosten, durch den Besucher sich vorankämpfen müssen, soll auf
1500 Quadratmeter anwachsen. 5,20 Meter
hoch liegt die Plattform, durch deren
Löcher und Spalten man sporadisch Leute
bei der Arbeit erblickt – mit ein bisschen
320
Glück den Künstler selbst. Aber nur zwei
ruckelnde Fahrstuhlkörbe für je eine Person stehen zu einer Vogelschau auf das bereit, was Rhoades da eigentlich treibt.
Er verpflanzt den biblischen Mythos von
Sechstagewerk und Paradies ungeniert in
die eigene Kindheit zurück. Genauer: Er
schafft, als Foto-Faksimile, den Garten seines Vaters in Kalifornien nach. Stück für
Stück hat er im Sommer Gurken, Bohnen,
Mais und reichlich sprießendes Unkraut
aus Augenhöhe abgelichtet. Nun druckt der
Computer die Naturmotive im Lebensmaßstab aus, und Rhoades klebt sie, wie zu
einem Satellitenbild, zur artifiziellen „Perfect World“ zusammen.
Solche Großbastelei sieht ihm ähnlich.
Manisch verkoppelt er seit Jahren Widersprüche: Privates und Öffentliches, Konsum und Mythen, Pornografie und Kunstgeschichte, Autorennen und Esoterik. Aus
Warenhäusern und von Heimwerkermärkten schleppt er rastlos Einkäufe heran und
ordnet sie genialisch zu wuchernden, farbigen Assemblagen, in denen es gern auch
flimmern, tuten und qualmen darf.
Und während Kritiker noch streiten, ob
sie ihm „künstlich aufgeblasene Oberflächlichkeit“ attestieren sollen oder „erstaunlichen Sinnreichtum“, eilt der Künstler bereits weiter, etwa von Biennale zu
Biennale (New York, Lyon, Venedig). Auf
der internationalen Szene der neunziger
Jahre ist er mit gutem Grund ein Topstar.
Seine dicken Autos – daheim ein Ferrari, in Europa ein Chevrolet Impala – ständen ihm also schon als Statussymbole zu,
doch für ihn sind sie mehr: Skulpturen unterwegs, Verkörperungen rastlosen Ortsund Perspektivenwechsels. Er liebt den raschen Blick des Autofahrers aus den Augenwinkeln, für den die Dinge verschwimmen.
Recht so: Der Sog der Akkumulation ist
Rhoades’ Stärke, nicht die Feinjustierung
plastischer Werte. Die ändern sich sowieso
von einer Schau-Station zur nächsten. Folgerichtig hat Rhoades voriges Jahr zu seid e r
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ner Rück-Schau in der Nürnberger Kunsthalle sieben ältere Installationen aus sieben
Schaffensjahren in den „sieben Mägen“
alias Räumen des Hauses neu verdaut
und ineinander verwurstet – als „Teil des
Schöpfungsmythos“.
Auf den greift er in Hamburg nun ausdrücklich zurück, nur weniger kraus, als
er gewöhnlich vorgeht. Unter der lampenbestückten Hallenkuppel, die ein Sternenzelt darstellen könnte (oder, so Rhoades,
eine „große Titte“), scheint die „Perfekte
Welt“ an den Garten Eden anzudocken,
aber auch an die Hängenden Gärten der
Semiramis und an fliegende Teppiche auf
großer Fahrt. Diskreter spielt sie mit erlauchten Beispielen der Kunstgeschichte.
So erinnert Rhoades mit seinem Stangen-Labyrinth an jene „Meile Bindfaden“,
die Avantgarden-Heros Marcel Duchamp
1942 kreuz und quer durch eine New Yorker Surrealistenausstellung spannte. Der
aufwendig herauspolierte Silberglanz huldigt obendrein dem Bildhauer-Perfektionisten Constantin Brancusi.
Vorsicht: Stolpergefahr! Während Duchamp Kinderspiele in der Galerie anregte (und der Eröffnung fernblieb), müssen
Rhoades und seine Helfer selbst auf der
Hut sein. Denn ihr aus Dreiecksplatten zusammengesetzter Garten Eden hat kein
Geländer, doch bedrohliche Klüfte. Wer
hinunterfällt, erlebt einen wahren SündenFall und bricht sich leicht den Hals. Plastikschlangen winden sich halbhoch durchs
Gerüst; unten liegen schlaffe Puppen herum wie Abgestürzte. Wohlweislich wird
dringend empfohlen, sich anzuseilen.
Dabei denkt Rhoades sogar schon wieder an Demontage. Gern würde er nach
dem Prinzip, dass alles weiter- und ineinander wächst, für eine Ausstellung der
Kunsthalle Bremen im Dezember ein
paar Stücke „Perfect World“ abzweigen.
Nur schwant ihm, Deichtorhallen-Chef
Zdenek Felix würde „wohl die Tür verrammeln“.
Jürgen Hohmeyer
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K. MAZUR / CORBIS SYGMA
Kultur
Gitarren-Wunder Clapton: Niemand konnte so über die Saiten rasen
POP
Abschied von der Sucht
In den sechziger Jahren wurde der englische Gitarrist
Eric Clapton zum Superstar. Nach harten Abstürzen präsentiert
er jetzt eine Best-of-CD und bekennt sich zum Blues.
Legenden Hendrix, Clapton (1967)
Die Rolle des Gitarristen neu definiert
324
Er spielt selber am liebsten Blues,
selbstverständlich: Der Brite Eric Patrick
Clapp, bekannt als Eric Clapton, ist einer
der letzten überlebenden GitarrenHeroen der sechziger Jahre. Und um seinen Nimbus als Herr der Saiten zu wahren, hat seine Plattenfirma nun wieder
einmal eine „Best of“-CD herausgebracht. „Clapton Chronicles – The Best of
Eric Clapton“ heißt sie und enthält neben
zwei neuen Songs, die als Single ausgekoppelt werden, seine Hits aus den achtziger und neunziger Jahren. Die aller-
SCHMITZ / REX FEATURES
W
enn Gott ein Restaurant betritt,
fällt er auf: unrasiert, schwarze
Jeans, Sweatshirt, Turnschuhe,
auf dem Rücken ein Rucksack – wie ein
falscher Ton zwischen den auf Dunkelblau eingestimmten Anzugmännern, die
sich im Londoner „Bluebird“ zum Business-Lunch treffen. Aber Gott – so
nennt die Pop-Szene die lebende Gitarren-Legende Eric Clapton – merkt kaum,
dass seine Tischnachbarn über nichts anderes als über das Thema Geld sprechen.
Clapton hört und sieht weg: Er redet über
Musik und nichts anderes.
„Pop hat keine Substanz“, schimpft er,
„das ist Musik für Kinder, egal wie alt
diese Kinder sind.“ Blues dagegen, ja,
Blues sei etwas ganz anderes. Aus ihm
klinge Alter und Lebensweisheit, von Generation zu Generation gesammelt, vertieft und respektvoll weitergegeben. Muddy Waters klang schon alt, als er noch ein
junger Mann war. Er hatte den Blues von
alten Männern gelernt. „Blues ist die Musik für Erwachsene“, sagt Clapton. Dann
muss es wohl so sein.
dings sind kein Blues, sondern Rock und
Balladen. Aber schließlich hat ja die Plattenfirma die Auswahl getroffen.
„Meine besten Stücke aus 20 Jahren? “,
sagt Clapton, 54, „Unsinn!“ Was heißt
„Best of“ auch schon, wenn man so viele
Songs geschrieben hat, dass man sich selbst
nicht mehr an alle erinnern kann? Clapton
jedenfalls hat längst neue Lieder im Kopf,
Anfang nächsten Jahres will er mit dem
Bluesgitarristen B. B. King ins Studio gehen und ein paar Duette aufnehmen. Anschließend plant er, eine Soloplatte zu machen – und zwar so solo, dass er alle Instrumente selbst spielen wird. Das hat
Clapton nämlich noch nie gemacht, und es
ist schwer, nach vier Jahrzehnten Musik irgendetwas zum ersten Mal zu tun.
Vor 40 Jahren hielt Clapton seine erste
Gitarre in den Händen und wusste sofort:
Das ist es. Es bleibt eine offene Frage, ob
es ein angeborenes musikalisches Talent
gibt oder nur antrainiertes musikalisches
Können. Claptons Geschichte allerdings
spricht für die Vererbungstheorie. Der Vater, den Clapton nie kennen gelernt hat,
war Pianist.
Blues und Rock’n’Roll faszinierten den
14-jährigen Clapton. Er hörte die Platten
von Männern des amerikanischen Blues
wie Robert Johnson, Big Bill Broonzy
oder Muddy Waters, aber auch von
Rock’n’Rollern wie Buddy Holly. Weil er
auch so spielen wollte, übte Clapton wie
ein Besessener. Er war ein schüchterner
Teenager, aber eben hochmusikalisch.
Nach kurzem konnte er deshalb mit
Londoner Rhythm-and-Blues-Truppen in
kleinen Lokalen auftreten. Mit den Yardbirds bestritt Clapton 1963 seine erste
Plattenaufnahme: „Honey in Your Hips“.
Und schon da war zu hören, was ihn von
anderen Gitarristen unterschied: Niemand konnte bei den Soli so über die Saiten rasen wie er. „Slowhand“ – so wurde
er dafür schon bald, ironisch, gefeiert.
Clapton spielte eine Zeit lang mit John
Mayall, dem Mentor des jungen und weißen britischen Blues. Der große Karrieresprung kam 1966. Damals gründete er mit
Jack Bruce und Ginger Baker eine Band,
die weltweit Furore machte: Cream. Jedes
Lied ein Solo, mächtiger Gitarren-Sound,
technische Brillanz – das sind seitdem die
Zielvorgaben für Rockgitarristen. „Clapton ist Gott“, sprühten Fans damals auf
Londoner Häuserwände.
Clapton hatte nur einen einzigen Rivalen: Jimi Hendrix. Der war nicht so
schnell, aber er hatte geniale Einfälle. Beide zusammen definierten mit ihrem Spiel
die Rolle des Gitarristen neu, der bis dahin meist im Hintergrund vor sich hin geschrummelt hatte. Auf einmal stand der
Mann mit der Gitarre neben dem Sänger
in der ersten Reihe und durfte mit endlosen Soli das enthusiasmierte Publikum
traktieren. Bis heute sind Gitarrensoli
fester Bestandteil des Rock.Vielleicht war
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Clapton verabschiedete sich von den
Rauschgiften in drei Phasen. Die ersten
vier, fünf Jahre hat er dem wilden, freien
Drogenleben nachgetrauert. In den nächsten fünf Jahren schuf er sich einen beständigen Alltag, an dem er sich festhalten konnte, sich aber oft leer und deprimiert fühlte. Heute hat er einen neuen
Zugang zur Welt gefunden: „Mein Leben
ist so intensiv und aufregend.“
Von seinen Kollegen, die er seit den
sechziger Jahren kennt, sieht Clapton nur
noch Paul McCartney und George Harrison gelegentlich, ansonsten hat er sich einen Bekanntenkreis fernab vom Musikgeschäft zugelegt. Sein bester Freund verlegt Bücher. Selbst die Libido lässt dem
früher zwanghaften Womanizer mehr
Ruhe. Über tausend Frauen habe er gehabt, protzte er einst in seinen wilden Tagen. Zu seinen Freundinnen und Geliebten zählten Michelle Pfeiffer, Naomi
Campbell, Sharon Stone und Sheryl
Crow. Derzeit hat er keine feste Beziehung und hält es durchaus mal ein halbes
Jahr ohne Sex aus.
Es wäre falsch, sich Eric Clapton als
glücklichen, in sich ruhenden Menschen
vorzustellen. Vor über acht Jahren stürzte sein vierjähriger Sohn Conor in New
York aus dem 53. Stock des Hauses, in
dem dieser mit seiner Mutter lebte – ein
zutiefst traumatisierender Verlust für den
Vater. Als wollte er das romantische Bild
des Künstlers bestätigen, der durch einsames Leiden Geniales schafft, inspirierte ihn seine Trauer zu dem höchst erfolgreichen Song „Tears in Heaven“.
Im letzten Jahr hat Clapton auf der Karibikinsel Antigua, auf der er auch ein
Haus besitzt, das „Crossroads Centre“
eröffnet. In der Drogentherapie-Klinik
müssen zwei Drittel der Patienten bezahlen, ein Drittel – vorzugsweise Einheimische – werden umsonst behandelt. Um das
gemeinnützige Projekt zu finanzieren, ließ
er bei Christie’s in New York hundert Gitarren aus seiner exklusiven Sammlung
versteigern und nahm mehr als
fünf Millionen Dollar ein. Anderen zu helfen sei Teil der eigenen Therapie, sagt Clapton.
Er verbringt seine Zeit lieber auf der Urlaubsinsel als in
London, wo die Leute von einem Trend zum nächsten jagen, wo er allerdings auch ein
Haus besitzt – in einer Seitenstraße der King’s Road, des mit
edlen Läden und Cafés gesäumten Boulevards von Chelsea. „Es ist dreckig, irrsinnig
teuer“, klagt er und blickt in
den gräulichen Himmel: „Das
Wetter ist noch miserabler als
sein Ruf.“
Und für den Blues ist es in
London viel zu laut.
S. CLARKE / REX FEATURES
R. YOUNG / REX FEATURES
Cream zu genialisch-chaotischkreativ, um lange halten zu können. Nach zweieinhalb Jahren
brach die Band auseinander.
Clapton gründete Blind Faith und
schließlich Derek and the Dominos. Deren im Jahr 1970 erschienenes Album „Layla and Other
Assorted Love Songs“ ist ihm bis
heute eigentlich die liebste unter
all den Platten, die er gemacht
hat. „Das Album hat eine unglaubliche Atmosphäre, die aus
der Euphorie dieser Zeit herrührt“, sagt Clapton. „Wir waren
verrückt drauf und begannen
auch heftig mit Drinks und Drogen herumzuspielen.“
Clapton, damals 25, war mit
wilder Haarpracht und rosa Stiefeln eine illustre Ikone des Swinging London – und der begehr- Clapton, Sohn Conor (1990)
teste Gitarrist des Rock-Kosmos. Von der Trauer zum Hit inspiriert
Nach dem Tod von Brian Jones
hatte ihn Mick Jagger gefragt, ob er bei vor sechs Jahren mit den Zigaretten aufden Rolling Stones einsteigen wollte. hörte“, erzählt er, „fing ich an, zwanghaft
Clapton sagte ab, er wollte lieber seine ei- Süßigkeiten in mich reinzustopfen.“
genen Projekte verfolgen. Er spielte mit
Die Psychotherapie wäre nicht vollAretha Franklin, Bob Dylan, John Len- ständig gewesen, hätte Clapton nicht
non oder George Harrison. Er profilierte Nachforschungen in den Abgründen seisich als Sänger, was Mick Jagger nie zu- ner Seele angestellt. Die Ursachen für seigelassen hätte. Und er schrieb immer ne Flucht in die Sucht sieht er daher heumehr Songs.
te in „mangelndem Selbstbewusstsein und
Die Zahl der Konzerte, die er seit den einer Familie, die nicht funktionierte“.
frühen sechziger Jahren gegeben hat, kann
Clapton erfuhr erst mit zwölf Jahren,
Clapton auf „tausende“ schätzen. Ein dass seine vermeintlichen Eltern in Wahrpaar wenige Auftritte sind ihm dennoch heit seine Großeltern waren und dass
besonders in Erinnerung geblieben: ein sich seine Mutter als seine angebliche
Cream-Konzert in Philadelphia 1968; das ältere Schwester ausgegeben hatte. Erst
von George Harrison initiierte „Concert vor anderthalb Jahren fand ein kanadifor Bangla Desh“ in New York 1971, ob- scher Journalist heraus, dass Claptons inwohl er sehr stoned auf der Bühne stand. zwischen verstorbener kanadischer Vater
Sex and Drugs and Rock’n’Roll – nicht – wie in der Familie kolportiert wurClapton hat diese seit den sechziger Jah- de – ein konservativer Banker gewesen
ren mystifizierte Dreifaltigkeit tatsächlich war, sondern ein herumvagabundierengelebt: zahllose Tourneen, zahllose Grou- der Pianist, der mit mindestens vier Ehepies, zahllose Partys. Und, vor allem, frauen zusammengelebt und drei Kinder
zahllose Drogen. Als Teenager schluckte hinterlassen hatte.
Clapton zum ersten Mal Speed, später
nahm er LSD, Kokain und Heroin, und
wenn er nicht über die Gitarrensaiten
wirbelte, hatte er einen Joint in der Hand.
Er schaffte es 1973, von den illegalen
Drogen wieder loszukommen – aber nur,
weil er sie durch legale ersetzte. Clapton
schüttete mehr und mehr Alkohol in sich
hinein, vorzugsweise Wodka. Mitte der
achtziger Jahre musste er sich endgültig
eingestehen, dass er physisch und psychisch am Ende war. Gitarre spielen konnte er trotzdem noch.
Der Star schloss sich einer anonymen
Selbsthilfegruppe an und begann eine
Psychotherapie. Mittlerweile kann er
beim Mittagessen erklären, warum er Carl
Gustav Jung interessanter findet als dessen Lehrmeister Sigmund Freud. Er sei
ein Suchtcharakter, sagt Clapton, der eine Clapton vor dem „Crossroads Centre“
Droge durch die nächste ersetze. „Als ich Hundert Gitarren bei Christie’s versteigert
Michael Sontheimer
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FOTOS: KINOWELT
„eXistenZ“-Stars Law, Leigh: Auf der Flucht vor aller Welt
FILM
Igittigitt
David Cronenberg, der
kanadische Kunst-Gruselfilmer,
präsentiert ein neues
Rätselspiel: „eXistenZ“.
B
ald werden es die Spatzen, falls es
dann noch welche gibt, von allen
Dächern pfeifen: Unsere so genannte Realität sei eine sehr löchrige, ja illusionäre Angelegenheit; woanders sei
womöglich alles besser, praller, bunter –
die schärferen Autorennen, die köstlicheren Appetithappen, die exorbitanteren Orgasmen, also fast wie im Kino.
Dem Film, der ja selbst eine Simulation
ist, gefällt derzeit zunehmend der fliegende Welt-Wechsel, das Spiel mit der Simulation virtueller Abenteuer in alternativen
Realitäten. Ihn kostet es ja auch buchstäblich nichts, nämlich nur ein Fingerschnippen, nur einen Schnitt, um vom Hölzchen
aufs Stöckchen zu kommen oder von der
einen Galaxie ins andere Paralleluniversum, frei und schwerelos nach der Maxime
„Das Leben ist ein Videospiel“.
Die Ansprüche sind gestiegen. Früher
konnten kleine Mädchen einfach in einen
Kaninchenbau kriechen oder in einen
Brunnenschacht springen, um sich in der
virtuellen Realität von Frau Holle oder der
Spielkartenwelt-Simulation der Herzkönigin wieder zu finden. Von einem heutigen
(nun auch nicht mehr so kleinen) Mädchen
wird, damit ein solches Abenteuer in Gang
kommt, mehr Einsatz verlangt.
Allegra zum Beispiel – der man das
kaum ansähe, da sie auf der wunderbar
somnambulen Unergründlichkeit der
Schauspielerin Jennifer Jason Leigh wie
auf einer Wolke schwebt – ist eine geniale, umworbene, wie ein Star angehim-
330
melte Erfinderin von Simulationsspielen, die man nicht mehr altmodisch Videospiele nennen kann, weil sie direkt im
Hirn des Spielers stattfinden: Er selbst ist
die Spielfigur und kann sich per Knopfdruck in imaginäre Wirklichkeiten katapultieren.
Das Spiel heißt angemessen anspruchsvoll „eXistenZ“, und wer dabei mitmachen
will, muss sich mit einer Art Bolzenschussgerät eine Buchse in den Zentralnervenstrang der Wirbelsäule jagen lassen, wo
man dann das Kabel zum Spielsteuergerät
einstöpselt. Allerdings wollen Begriffe wie
„Kabel“ oder „Gerät“ für dieses Zubehör
kaum passen, denn sein Material ist offenbar tierischer Herkunft: Das Kabel in seiner fleischig-glitschigen Konsistenz gleicht
einer Nabelschnur, das Steuerteil einer nierenartig weichen Innerei mit Knorpeln
oder Nippeln, die man durch Kneten erregt. Igittigitt.
Kenner sind abgebrüht; sie wissen David
Cronenbergs den Ekelreflex reizende Alpträume zu goutieren; sie schätzen als Besonderheit und Stärke dieses Filmemachers
gerade sein obsessives Interesse für das
Filmemacher Cronenberg
Faszination des Fleischlichen
Fleischliche, für seidige Haut wie für schleimiges, blubberndes Gekröse oder die zarten Pastellfarben der Verwesung. Hier in
„eXistenZ“ schwelgt er, ja aast er in seinem Element: Er entwirft eine Zukunftstechnologie, die nicht mit Stahl, Glas oder
Kunststoffen arbeitet, sondern mit Häuten,
Sehnen, Knochen und Gewebe. Von seinen Werkbänken trieft Blut.
Doch diesmal ist Cronenberg als Spielerfinder mit solch erschöpfendem Übereifer bei der Sache, dass dieses „eXistenZ“Spiel in seiner ausgetüftelten und zelebrierten Morbidität letztlich nur sich selbst
zur Schau stellt und darüber hinaus kein
Auge öffnet und nichts zu erzählen hat.
Die so genannte Story nämlich, mag sie
auch mit kühnen Saltos wie auf Trampolinen auf Realitätsebenen herumhüpfen, ist
ein enttäuschend schlichtes Flucht-undVerfolgungsjagd-Abenteuer. Gleich zu Beginn nämlich wird auf Allegra ein Mordanschlag verübt – angeblich von einer Guerrillabewegung „Realistischer Untergrund“,
die aber vielleicht nur eine Simulation einer Konkurrenzfirma ist, deren Spiel sich
„transCendenZ“ nennt –, und fortan ist
die schöne kühle Allegra zusammen mit
ihrem schönen kühlen Bodyguard Ted
(Jude Law) vor aller Welt auf der Flucht.
Zu ihren Fluchtstationen gehört eine
einsame, heruntergekommene Tankstelle,
deren sinistrem Betreiber man leicht zutraut, dass er in einem Hinterzimmer
schwarzen Schnaps brennt oder schwarze
Messen liest; sodann eine abgelegene Berghütte, wo ein postmoderner Doktor Frankenstein als Vivisekteur und Transplanteur
Blut oder Hirn spritzen lässt; schließlich
ein Etablissement, das als Forellenfarm
und Brutstätte für doppelköpfige Salamander fungiert.
Die Tiere werden zum Ausschlachten
für Bauteile neuer Simulationsspiele gebraucht, und was übrig bleibt, kommt in
der Firmenkantine als Spezialität des Hauses auf den Tisch. Wer Bescheid weiß, kann
sich aus den abgefieselten Resten dieser
Meeresfrüchte-und-Kleinechsen-Platte –
also aus Schalen und Gräten, Knorpeln und
Knöchelchen – eine erstklassige Pistole
basteln, der ein menschlicher Backenzahn
als Geschoss dient. Der Esser, der den Bau
dieser hundertprozentig kompostierbaren
Bio-Knarre vorführt, erschießt dann damit
gleich den Kantinenkoch – wer weiß, ob
der nicht ein Doppelagent des „Realistischen Untergrunds“ war, aber wer weiß
auch, zu diesem Zeitpunkt, ob er das wirklich noch wissen will. Seltsam, seltsam;
Cronenbergs prätentiöse Kunst-TrashKunstwelten, gefangen in Selbstbespiegelung, sind nicht so großzügig, dass in ihnen
Erlösung winkte.
Zusammenfassend ließe sich sagen:
„eXistenZ“ ist entschieden kein Film für
Vegetarier, doch auch für Kannibalen ein
rechter Murks oder, weil das mehr hermacht, ein rechter mUrkS.
U RS J E N NY
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Stoldt, Klaus Wiegrefe. Autoren, Reporter: Wolfram Bickerich,
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Schumacher (stellv.). Redaktion: Petra Bornhöft, Susanne Fischer,
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Redaktion: Klaus Brinkbäumer, Annette Bruhns, Christian
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Knauer, Ansbert Kneip, Udo Ludwig, Thilo Thielke, Andreas Ulrich.
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WA S H I N G T O N Michaela Schießl, Dr. Stefan Simons, 1202 National
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Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim
Immisch, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna
Kovac, Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp,
Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra LudwigSidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier,
Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen,
Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp,
Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Constanze
Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn,
Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert,
Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia
Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr.
Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen
Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter,
Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt
B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles
I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten
Wiedner, Peter Zobel
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d e r
s p i e g e l
4 6 / 1 9 9 9
Chronik
MONARCHIE In einem Referendum spre-
chen sich 55 Prozent der Australier dafür
aus, die britische Königin Elizabeth II. als
Staatsoberhaupt zu behalten.
KIRCHE Während seiner Indienreise for-
dert Papst Johannes Paul II. die Christianisierung des Hindu-Staates ein.
SONNTAG, 7. 11.
SPORT Außenminister Joschka Fischer
URTEIL Die Hooligans von Lens, die 1998
den französischen Polizisten Daniel Nivel
halb tot schlugen, werden wegen schwerer Körperverletzung zu Haftstrafen bis
zu zehn Jahren verurteilt.
MITTWOCH, 10. 11.
ihren Gegenentwurf zur geplanten Gesundheitsreform der Regierungskoalition.
Kernpunkt: mehr Eigenbeteiligung der
Patienten.
DIENSTAG, 9. 11.
BERLIN In Anwesenheit von George Bush
und Michail Gorbatschow begeht der
Bundestag den zehnten Jahrestag des
Mauerfalls.
REPORTAGE
„Greif zur Kamera, Genosse“ –
Die DDR im Amateurfilm
AMOK I Ein 15-jähriger Schüler in Meißen
tötet mit 22 Messerstichen seine Geschichtslehrerin. Tatmotiv: „Hass“.
MONTAG, 8. 11.
GESUNDHEIT Die CDU/CSU präsentiert
SPIEGEL TV
Flugdatenschreiber der abgestürzten
Boeing 767.
AMOK II Aus verschmähter Liebe tötet ein
türkischer Amokschütze in Bielefeld sieben Personen und sich selbst.
die Verurteilung der ehemaligen DDRFunktionäre Krenz, Schabowski und
Kleiber zu mehrjährigen Haftstrafen.
MONTAG
23.00 – 23.30 UHR SAT 1
EGYPTAIR Ein Untersee-Roboter birgt den
und der österreichische Rechtspopulist
Jörg Haider nehmen am Marathonlauf in
New York teil. Fischer belegt Platz 8928.
URTEILE Der Bundesgerichtshof bestätigt
SPIEGEL TV
PALÄSTINA Israels Ministerpräsident Ehud
Barak lässt einen Siedlungsaußenposten
im besetzten Westjordanland räumen.
300 extremistische Siedler leisten erbitterten Widerstand.
WIEDERGUTMACHUNG Die deutsche Indu-
strie weigert sich, ihr Vier-MilliardenMark-Angebot zur Entschädigung von
NS-Zwangsarbeitern zu erhöhen.
US-JUSTIZ Ein Gericht in Colorado stellt
wegen eines Formfehlers das Verfahren
gegen den elfjährigen Raoul Wüthrich
ein, der des Inzests bezichtigt wurde.
SPIEGEL TV
SAMSTAG, 6. 11.
6. bis 12. November
Amateurfilmer (1952)
Wie fast alles in der DDR war auch das
Schmalfilmhobby kollektiv organisiert.
Einzelamateure hatten es schwer. Filmkameras und Material waren teuer und
nur selten zu haben. Ob Einblicke in sozialistische Tanz- und Nacktkörperkultur, Weihnachten bei Familie Sindermann
oder heimlich gedrehte Aufnahmen vom
Abriss historischer Bauwerke: Die Produkte aus fast 50 Jahren nichtoffizieller
Filmerei sind nicht frei von Propaganda
und unfreiwilliger Komik, und doch gelang es hin und wieder, auch Missstände
zu dokumentieren.
DONNERSTAG, 11. 11.
STEUERN Die Regie-
rungskoalition beschließt weitere Stufen
der Ökosteuerreform.
Mehr als 50 SPD-Abgeordnete stimmen
nur aus Fraktionsdisziplin zu.
KARLSRUHE Das Bun-
desverfassungsgericht
verfügt, bis 2005 den
Länderfinanzausgleich
von Grund auf neu zu
regeln.
FREITAG, 12. 11.
KATASTROPHE Ein neues, verheerendes Erdbeben mit einer Stärke
von 7,2 auf der Richterskala zerstört die
westtürkische Stadt
Duzce.
AP
Flankiert von zwei Karnevals-Hostessen, lässt
Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber
seine Ernennung zum „Ritter des Ordens wider den tierischen Ernst“ über sich ergehen.
d e r
DONNERSTAG
22.05 – 23.00 UHR VOX
SPIEGEL TV
EXTRA
Zwischen Öchslegrad und Schunkelwahn
– Weinlese in Deutschland
Eine Reportage über die Wahl zur Weinkönigin, die Arbeit der Winzer und die
deutsche Gemütlichkeit bei Stimmungsmusik und Rebsaftschorle.
SAMSTAG
22.10 – 23.15 UHR VOX
SPIEGEL TV
SPECIAL
People’s Century – Das Jahrhundert
Schöne neue Welt
Der Kalte Krieg spaltet die Welt: Völker
werden auseinander gerissen, deportiert
oder gezwungen, auf der „falschen“ Seite des Eisernen Vorhangs zu leben.
SONNTAG
22.40 – 23.30 UHR RTL
MAGAZIN
RÜSTUNG Der Daimler-
SPIEGEL TV
Chrysler-Konzern
kündigt – als Folge des
gekürzten Verteidigungshaushalts – den
Wegfall von 850 Arbeitsplätzen in
Deutschland an.
Die Panzer-Affäre – Neues vom Spendenskandal der CDU; Tagebuch eines
frühen Todes – der Selbstmord des Drogenmädchens Julia; Die Autobahn der Albaner-Mafia – wie gestohlene deutsche
Limousinen in Tirana landen.
s p i e g e l
4 6 / 1 9 9 9
333
Register
schichte maßgeblich
das Verhältnis von Kirche und Staat mitgestaltet. Prädestiniert
durch seine Tätigkeit
als Militärpfarrer in Polen und Frankreich
während des Zweiten
Weltkriegs, führte er
Mitte der fünfziger
Jahre, als er schon von
der EKD entsandter Bevollmächtigter bei
der Bundesregierung (1949 bis 1977) war,
die Verhandlungen über den Militärseelsorgevertrag. Von 1956 bis 1972 war Kunst
der erste evangelische Militärbischof der
Bundeswehr. Sein Verhandlungsgeschick
setzte er auch gekonnt bei der Lösung humanitärer Probleme wie dem Häftlingsfreikauf und der Familienzusammenführung im geteilten Deutschland ein. Hermann Kunst starb am 6. November.
Gestorben
Theodore Hall, 74. Fast 40 Jahre lang leugnete er den Spionagevorwurf gegen ihn. Gerade 19-jährig, hatte der brillante Physiker
und Harvard-Absolvent, der als jüngster
Wissenschaftler in das unter oberster Geheimhaltungsstufe stehende Manhattan-Projekt in Los Alamos
berufen wurde, für die
Sowjetunion unter dem
Codenamen „Mlad“
spioniert. Der Idealist
hielt ein US-Atomwaffen-Monopol für gefährlich und hat alles
getan, um es zu vermeiden. Obwohl das
FBI ihn in den fünfziger Jahren wiederholt
vernommen hatte, war er nie angeklagt worden. Erst als Mitte der Neunziger Botschaften sowjetischer Spione entschlüsselt wurden, gab er nach und nach zu, daran beteiligt gewesen zu sein. Theodore Hall, der seit
Anfang der Sechziger an der Universität
Cambridge als führender Wissenschaftler in
der biologischen Forschung arbeitete, starb
am 1. November in Cambridge an Krebs.
Lester Bowie, 58. Er wirkte wie ein
Hermann Kunst, 93. Der Kirchendiplomat hat in der deutschen Nachkriegsge334
d e r
Urt ei l
JAZZ ARCHIV
schwarzer Doktor Seltsam, wenn er im
weißen Arztkittel die Bühne betrat – das
Labor für seine Experimente: Spirituals,
Märsche, Blues, Bebop, Soul, Reggae und
Rap wollte Bowie zu „great black music“
verschmelzen, in freier
Improvisation mit seinen Freunden vom Art
Ensemble of Chicago
faszinierte und schockierte der Trompeter
das Publikum mit
schrillen Klängen und
irrwitzigen Happenings. Bowie hatte sein
Handwerk in Rhythmand-Blues-Bands gelernt, ehe er in den sechziger Jahren zu einer Schlüsselfigur der afroamerikanischen
Jazz-Avantgarde aufstieg. Ironischerweise
fand seine schwarze Musik in Europa mehr
Anerkennung als in den Vereinigten Staaten. Lester Bowie starb am vergangenen
Montag in New York an Krebs.
Gerd Lüdemann, 53, evangelischer Theologe, muss weiter in dem von der Universität
Göttingen eingerichteten Fach „Geschichte
und Literatur des frühen Christentums“ lehren. Das Göttinger Verwaltungsgericht hat
seine beiden von ihm beantragten Anordnungen gegen seine Versetzung abgelehnt.
Lüdemann, der in einem „offenen Brief an
Jesus“ (SPIEGEL 11/1998) sämtliche protestantischen Grundüberzeugungen anzweifelte, wollte erreichen, dass er seinen seit
1983 bestehenden Lehrstuhl für „Neues
Testament“ an der Theologischen Fakultät
Göttingen behalten darf.
s p i e g e l
4 6 / 1 9 9 9
AP
G. BERNING / BONGARTS
EPD
Primo Nebiolo, 76. Bis zuletzt war seine Eitelkeit gleichermaßen grotesk und unterhaltsam. Mit maskenhaft starren Gesichtszügen verfolgte der Präsident des Internationalen Leichtathletik-Verbandes in der
Sommerhitze Sevillas die WM, und als er
zur Siegerehrung der US-Sprinterin Marion Jones von der Ehrentribüne hinab ins
Stadioninnere stieg, waren sein Gang und
seine Gestik längst von schleppender
Hilflosigkeit. Dennoch
brüstete sich der Bauunternehmer aus Turin:
Noch dreimal täglich
könne er Sex machen.
Mit seinem Sinn für
Show und Geschäft hat
der Machtmensch, der
ganz verrückt darauf
war, mit Orden behängt
zu werden, die internationale Leichtathletik in
den 18 Jahren seiner Regentschaft in die totale Kommerzialisierung getrieben. Selbst
IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch
kam nicht an dem „Genius des Bösen und
korrupten Verkäufer von Idealen“ („La Repubblica“) vorbei – wegen „persönlicher
Verdienste“ berief er ihn 1992 eigenmächtig
in das IOC-Exekutiv-Komitee. Kritiker,
die dem Despoten Desinteresse an der
Bekämpfung des Dopingproblems anlasteten, kanzelte der Macho ab: „Ich bin kein
Pipi-Experte, ich bin Verbandspräsident.“
Primo Nebiolo erlag am 7. November in
Rom einem Herzinfarkt.
Werbeseite
Werbeseite
Personalien
JEREMY / CORBIS SYGMA
DPA
Joachim Kardinal Meisner, 65, Erzbischof von Köln, und seine nordrheinwestfälischen Bischofskollegen fühlen
sich durch einen Passus zur Frauenförderung in einem Hochschul-Gesetzentwurf
der NRW-Landesregierung diskriminiert. In einem Brief
an Ministerpräsident
Wolfgang Clement
beschwerten sich die
katholischen Würdenträger darüber,
dass bei der Verteilung von Haushaltsmitteln durch die
Hochschul-Rektorate auch Fortschritte
bei der Gleichstellung von Männern
und Frauen belohnt
werden sollen. Bei
Meisner
der Priesterausbildung an den katholisch-theologischen Fakultäten, klagten die Kirchenmänner, sei
die „Einführung von Frauenquoten“ aber
„nicht umsetzbar“. Frauenquoten verböten sich schon deshalb, erläuterten sie dem
Ministerpräsidenten ihr Dilemma, weil
„die Priesteramtskandidaten in der Regel
von Priestern ausgebildet werden sollen“.
Banderas, Griffith
Melanie Griffith, 42, amerikanische Schauspielerin („Celebrity“, „Crazy in Alabama“), hat ihr Altersproblem auf Kosten ihres derzeitigen Ehemanns, des spanischen
Regisseurs Antonio Banderas, 39, gelöst. Die paar Falten, die ihr das Alter ins Gesicht geschlagen hat, machten ihr rein gar nichts aus, sagt sie, „denn ich fühle mich
wie 18 “. So lange sie das glauben könne, werde es ihr wahrscheinlich auch immer
gut gehen. „In derselben Minute, in der ich realisiere, dass ich 42 bin, werde ich zusammenbrechen“, gesteht die Aktrice, die sich im Lauf ihrer über 20-jährigen Hollywood-Karriere von der Lolita zum Vamp entwickelte. Ihren Ehemann interessieren ihre Altersgeschichten „herzlich wenig“. Banderas, drei Jahre jünger als Griffith,
bekümmere mehr sein eigenes Aussehen, denn er glaube, er sei in den vergangenen
drei Jahren übermäßig gealtert: „Seine Mutter“, so berichtet Griffith, „hat ihm gesagt, in Spanien heiße es, dass ich jetzt jünger aussehe als er. Da war er total fertig.“
F. OSSENBRINK
Wolfgang Clement, 59, SPD-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, steht
fest – und überzeugend – zu seinem Land.
Am Vorabend des 9. November trifft Clement in der Berliner Bonn-Nostalgie-Kneipe „Ständige Vertretung“ auf den Intendanten des Westdeutschen Rundfunks
Köln, Fritz Pleitgen, 61. „Mensch, ’ne
tolle Stimmung hier in Berlin“, begrüßt
der Rundfunkmann den Landesherrn.
„Diese Gigantomanie hier und nur heiße diese ganzen Schaumschläger.“ Pleitgen
Luft“, widerspricht Clement. Wo denn in zögert, dann: „Nun ja, wissen Sie, wir nehBerlin die Arbeitsplätze seien, die Unter- men uns auch keine Wohnung in Berlin.
nehmen, die hier investieren? Selbst die Das stimmt schon mit NRW.“
Bauwirtschaft gehe bald
wieder nach Hause. Pleitgen: „Na ja, hier in Mitte
mit Potsdamer Platz, da
sind schon Arbeitsplätze.“
„Ach Quatsch, Herr Pleitgen“, hält der nordrheinwestfälische Ministerpräsident dagegen, „nun mal
wirklich, Sie und der WDR
stecken die hier doch nun
mal alle in die Tasche. Bei
uns in NRW ist so viel
Arbeitskräfte-Potenzial in
den neuen Medienbereichen, da ist das hier in Babelsberg und so doch gar
nix. Schauen Sie mal auf
die Zahlen, die sprechen
nur für NRW und nicht für Pleitgen, Clement
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Günter Schabowski, 70, früheres Politbüromitglied und wegen der Todesschüsse
an der Mauer rechtskräftig verurteilt, söhnt
sich mit dem westlichen wie östlichen Klassenfeind von einst aus. Der
ehemalige SED-Mann, der
mit einem Halbsatz am 9.
November 1989 den ersten
Anstoß zur Maueröffnung
gab, wirbt nicht nur für die
„Frankfurter Allgemeine“
per Anzeige, auch mit härtesten Gegnern des SEDRegimes kommt er inzwischen klar. „Stellen Sie
sich mal vor“, entfuhr es
dem Ex-Bonzen, als er am
9. November auf einem
Empfang dem Ex-Dissidenten Ralf Hirsch begegnete, „der Herr Bundeskanzler hat mir die Hand
geschüttelt – so kurz, bevor ick in’ Knast muss“.
„Man darf nicht einmal eine Wasserspritzpistole mit in die Schule bringen“, so der
Direktor, „warum sollten wir dann ein Bild
mit einem Artilleriegeschütz zeigen?“
Darauf Hirsch, ohne vorherigen Händedruck des damaligen DDR-Staatschefs
Honecker über zwei Jahre in DDR-Haft,
gnädig: „Mir reicht das Urteil. Meinetwegen bräuchten Sie nicht hinter Gitter.“
Elizabeth II., 73, Königin von Großbri-
AP
tannien, beeindruckt ihre Untertanen mit
Innenminister und erbitterter EU-Feind, Sparsamkeit. Die Herrscherin, nach Meischockte die Millionengemeinde der blau- nung der britischen Modedesignerin Viweiß-roten Radsportfans mit einem unge- vienne Westwood stets „phantastisch geheuerlichen Ansinnen. Der urgaullistische kleidet“, hatte bei ihrem Staatsbesuch in
Senator, der seinen einstigen Spezi Jacques Ghana vergangene Woche einen triumChirac seit dessen Einzug in den
Elysée-Palast für einen euro-infizierten Verräter an der nationalen Größe hält, will der nächsten
„Tour de France“ den Titel aberkennen. Sie soll, um den „Verlust der nationalen Identität im
gesamteuropäischen Brei“ zu verdeutlichen, zur „Tour d’Europe“
herabgestuft werden. Grund: die
Veranstalter hätten sich ihrer
Pflicht entledigt, durch „diesen
großen Wettbewerb die Franzosen – ich als Erster – ihre Provinzen wieder entdecken zu lassen“. Stattdessen verscheuerten Elizabeth II. in Ghana
sie Etappen wie „Exportartikel“
ins Ausland – nach England, Belgien und phalen Empfang. Rund 1,5 Millionen
Irland wird die nächste Tour auch in Ghanaer säumten die Straßen. Doch
Deutschland und der Schweiz rollen.
während ihres Besuchs zeigte sich die
Queen in einem Kleid, das sie, eine der
Samantha Jones, 17, Absolventin der reichsten Frauen der Welt, bei wenigstens
High School in Nevis, US-Staat Minneso- drei offiziellen Terminen schon mal getrata, ist Opfer rigider Sicherheitsmaßnah- gen hat: einen geblümten Hänger mit lanmen nach den tödlichen Schüssen an ame- gen Ärmeln. Man könne der Königin indes
rikanischen Schulen. Für das Jahrbuch der „keineswegs Phantasielosigkeit“ unterSchule hatte die künftige Soldatin ein Foto stellen, urteilte das Boulevardblatt „Mireingereicht, das die Schulabgängerin auf ror“. Mit immer wechselnden Accessoires
einer Haubitze sitzend zeigt. Die Schullei- verstehe sie es, ihr altes Kleid überzeutung lehnte den Abdruck des Fotos ab. gend zu verändern. Ein königlicher Mitarbeiter zur Kleiderordnung der Queen: „Da
gibt es eine gewisse Wiederholung. Sie
glaubt, dass man nichts vergeuden solle,
auch nicht Kleidungsstücke.“
Sergej Awdejew, 43, russischer Kosmonaut, hat während seines 748 Tage dauernden Aufenthalts in der Raumstation „Mir“
seine Schachkenntnisse verbessert. Nach
endlosen Wochen der Langeweile bestellte Awdejew Anfang des Jahres in der Bodenstation ein Schachprogramm, das mit
einem Transportflug angeliefert wurde. Das
Programm „Fritz“ aus der Hamburger
Software-Schmiede Chessbase vertrieb,
wie erst jetzt bekannt wurde, auf einem
gleichfalls mitgelieferten Fujitsu-Notebook
installiert, den Männern im Orbit die Zeit.
Als Awdejew und seine Kollegen die
schrottreife „Mir“ am 27. August verließen,
nahmen sie das Notebook mit. „Fritz“
blieb an Bord der Station, die demnächst
zum Absturz gebracht wird.
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DPA
Charles Pasqua, 72, französischer Ex-
Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“: „Rund die Hälfte der Bundesbürger
sterben jährlich an Herz-Kreislauf-Versagen, knapp eine Million im Jahr an akutem
Herzinfarkt, immerhin fünfzig Prozent in
den ersten dreißig Tagen nach dem Infarkt.“
Zitate
Aus der „Computerwoche“
Aus dem „Südkurier“
Aus der Fernsehzeitschrift „Hörzu“: „Erstmals stellen Frauen mehr als die Hälfte der
Abiturientinnen …“
Aus der „Westdeutschen Allgemeinen “
Aus der Zeitung „Reformiert“ zu einer Leseraktion: „Und: Bitte legen Sie ein Foto
von sich bei – möglichst kein Passfoto, sondern ein Foto, auf dem das Gesicht gut zu
erkennen ist.“
Aus der „Nordwest Zeitung“
Aus „Bild der Frau“
Aus „Die Zeit“
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Das Branchenblatt „Werben &
Verkaufen“ über die erste Ausgabe von
„SPIEGEL-Reporter – Monatsmagazin
für Reportage, Essay, Interview“:
Beim Inhalt sind sich unsere Titeltester so
einig wie selten zuvor: Es macht Spaß, das
Heft zu lesen. PR-Profi Moritz Hunzinger
spricht von „Leseschmaus“, (Blattmacherin Gabriele –d. Red.) Fischer meint: „Die
Edelfedertexte sind zum überwiegenden
Teil wunderbar.“ RWE-Öffentlichkeitschef
Dieter Schweer hat „endlich einmal neue
journalistische Ansätze“ entdeckt: „SPIEGEL-Reporter erfüllt alle Ansprüche, die
der Titel verspricht.“ Was Werber Holger
Jung unterstreicht. Er findet, die „spannende Themenmischung“ und ihre Aufbereitung passe „perfekt auf den Markenanspruch der Marke SPIEGEL“. Medienberater Hans Lauber lobt: „Ein großer
Wurf“. Und Alexander Demuth schwärmt:
„Endlich mal etwas für Gourmets, endlich
ein innovatives Konzept nach langem
Herumbasteln. Das Heft bietet Lesestoff
und Bildmaterial, das einen vergessen
macht, dass es Fernsehen gibt.“ HMS/Carat-Geschäftsführer Heinrich Kernebeck
spricht von „hoffnungsfrohem Ansatz“
und „hervorragender stilistischer Qualität“.
Das „Liechtensteiner Volksblatt“
zum SPIEGEL-Bericht „Liechtenstein –
Einladung zur Geldwäsche“,
wie der Zwergstaat das Geld von
Mafia, Drogenkartellen und
russischen Großkriminellen anzieht
(Nr. 45/1999):
Langsam, aber sicher nimmt die SPIEGELAffaire komische Konturen an. Knapp eine
Woche nach Bekanntwerden des Berichtes
über unser Land im SPIEGEL weiß die Regierung angeblich immer noch nicht, ob es
dieses Dossier gibt oder nicht. Sowohl der
Regierungschef als auch die Außenministerin windeten sich an der Pressekonferenz,
damit sie auf konkrete Fragen keine konkreten Antworten geben mussten. Auch der
deutsche Botschafter in Bern konnte sich
nur so aus der Affaire ziehen, indem er
immer wieder auf die gute Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten bezüglich Geldwäsche verwies. Die Schuld an
der Affaire wird von allen Seiten dem SPIEGEL zugeschoben. Nur ein Ablenkungsmanöver? Weiß die Regierung mehr, als sie
sagt? Es stellt sich die Frage, weshalb sowohl vom Botschafter als auch von der Regierung keine klaren Antworten zum Dossier abgegeben werden … Weshalb spricht
Deutschland nicht Klartext in Sachen Dossier? Tatsache ist: Falls es das Dossier nicht
gäbe, hätte Deutschland schon lange dementiert.
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