Strafrecht im Stadtrecht - Geschichtsverein Goslar

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Strafrecht im Stadtrecht - Geschichtsverein Goslar
Strafrecht im Goslarer Ratskodex
von
Frank Weissenborn
Thema des heutigen Vortrages ist das Strafrecht im Goslarer Ratskodex aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Wer allerdings im Ratskodex nach den Begriffen „Strafe“
oder „Strafrecht“ sucht, wird diese nicht finden.
Damit ergibt sich sogleich ein methodisches Problem: Ist es zulässig, die Begrifflichkeit der heutigen Rechtslehre auf eine Rechtsquelle des Mittelalters anzuwenden,
der diese Begrifflichkeit völlig unbekannt ist? Der Versuch, eine nach heutigem Verständnis unsystematische historische Rechtsquelle unter Anlegung moderner Maßstäbe systematisieren zu wollen, wird zum Scheitern verurteilt sein. Methodisch zulässig dürfte allerdings sein, im Goslarer Ratskodex nach Strukturen zu suchen, die
auch noch für das heutige Strafrecht prägend sind.
Wodurch aber ist das Strafrecht nach heutigem Verständnis im Wesentlichen geprägt?
Strafe bedeutet im Allgemeinen die Zufügung eines empfindlichen Übels als Reaktion auf die Verletzung geschützter Rechtsgüter, wie zum Beispiel Leben, körperliche
Unversehrtheit, Gesundheit, Eigentum, Vermögen oder die Funktionsfähigkeit und
Integrität des Staates und seiner Einrichtungen.
Dieses empfindliche Übel erscheint im heutigen Strafgesetzbuch (StGB) in Form der
Freiheitsstrafe (§ 38 StGB) und der Geldstrafe (§ 40 StGB). Dabei meint Strafrecht
ausschließlich das staatliche Strafen, das heißt die Auferlegung einer der vorgenannten Sanktionen durch staatliche Organe im Verhältnis zum Bürger.
Grundvoraussetzung und zugleich Maßstab allen staatlichen Strafens ist nach heutigem Rechtsverständnis die persönliche Schuld des Täters.
Schuld bedeutet die Fähigkeit eines Menschen, das Unrecht der Tat einzusehen und
nach dieser Einsicht zu handeln (Arg. e § 20 StGB). An Schuldformen unterscheidet
das Strafgesetzbuch Vorsatz und Fahrlässigkeit.
2
Vorsätzlich handelt, wer in Kenntnis aller Tatumstände einen bestimmten missbilligten Taterfolg herbeiführen will oder dies zumindest billigend in Kauf nimmt1. Fahrlässig handelt, wer einen missbilligten Taterfolg herbeiführt, ohne dies zu wollen, dies
aber bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte erkennen und vermeiden können2.
Das Ziel staatlichen Strafens ist die Bewahrung oder Wiederherstellung des Rechtsfriedens.
Die Zwecke staatlichen Strafens sind die tat- und schuldangemessene Vergeltung
begangenen Unrechts, um dem Verletzten Genugtuung zu verschaffen sowie die
Verhinderung künftiger Straftaten und zwar zum einen durch Abschreckung weiterer
tatgeneigter Personen und zum anderen durch sichernde und erzieherische Einwirkung auf den Täter, um diesen von weiteren Taten abzuhalten und wieder in die
rechtstreue Gesellschaft zurückzuführen.
Damit unterscheidet sich die Strafe wesentlich vom – zivilrechtlichen – Schadensersatz, der dem Verletzten einen Ausgleich für eine erlittene Beeinträchtigung bieten
soll und zwar entweder durch tatsächliche Wiederherstellung des vor der Beeinträchtigung bestehenden Zustandes oder durch Zahlung eines hierfür erforderlichen
Geldbetrages.
Während die Voraussetzungen staatlichen Strafens und die Rechtsfolgen strafbaren
Unrechts hauptsächlich im Strafgesetzbuch und darüber hinaus in einer Vielzahl weiterer Gesetze, wie zum Beispiel dem Betäubungsmittelgesetz oder dem Waffengesetz, geregelt sind, ist der Weg staatlichen Strafens, mithin das zur Bestrafung des
Täters führende Verfahren, in der Strafprozessordnung geregelt.
Der heutige Strafprozess in Deutschland unterliegt dem Legalitäts-, Offizial-, und Instruktionsprinzip.
Danach sind die Strafverfolgungsbehörden, namentlich die Staatsanwaltschaft und
Polizei, verpflichtet, Ermittlungen zu führen und den Sachverhalt zu erforschen, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfolgbare Straftaten vorliegen (§§
152 Abs. 2, 163 Abs. 1 StPO). Hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben (§ 170
Abs. 1 StPO), erstreckt das Strafgericht, wenn es die Anklage zur Hauptverhandlung
1
2
Fischer, Thomas, StGB, 56. Auflage, 2009, § 15 Rdnr. 2 ff.
Fischer, Thomas, StGB, 56. Auflage, 2009, § 15 Rdnr. 12 ff.
3
zugelassen hat (§ 203 StPO), die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle für die
Verurteilung wesentlichen Tatsachen und Beweismittel (§ 244 Abs. 2 StPO).
Dieses vorausgeschickt gilt es zu fragen, ob der Goslarer Ratskodex Regelungen
enthält, die nach heutigem Verständnis – strukturell – dem Strafrecht zuzuordnen
wären. Wir begeben uns deshalb auf die Suche nach Hinweisen auf
 Sanktionen, die einem Beschuldigten wegen einer Rechtsverletzung von der
Obrigkeit auferlegt werden und nicht der Schadenswiedergutmachung dienen,
 Schuld als persönlichem - subjektivem – Sanktionsgrund,
 Tatsachenfeststellungen als sachlichem - objektivem – Sanktionsgrund und
 Verfolgung von Rechtsverletzungen als öffentliche Aufgabe.
Hierfür lohnt ein Blick auf die Regelung des § 63, Buch II, Kapitel 1 des Ratskodex.
Diese lautet – auszugsweise – in der Übersetzung Lehmbergs wie folgt:
„Nun vernehmt, wie man jegliches Verbrechen richten soll.
Den Dieb soll man hängen, sofern das Diebesgut fünf Schillinge wert ist. Ist
das aber geringer, so geht es an Haut und Haare, es sei denn, dass er in
schlechtem Leumund stünde oder dass er (ein) Zeichen an sich hätte, das
Verbrecher gewöhnlich haben. So soll man ihn hängen. (…)
Alle Mörder und die, die Kirchen oder Kirchhof berauben oder brennen oder
Mordbrenner oder die, die die anstiften zu der Tat, die soll man rädern.
Der einen tötet oder verwundet oder gefangen nimmt oder beraubt oder brennt
ohne Mordbrand oder Frau oder Mädchen notzüchtigt oder der den Frieden
bricht, dem soll man das Haupt abschlagen.
Den Verräter und Fälscher soll man im Fasse sieden.
4
Welcher Christenmensch ungläubig wäre oder Vergiftung betriebe, deren er
überführt würde: Den soll man auf einem Scheiterhaufen verbrennen.
Welche Frau oder Mädchen mit Diebstahl oder Friedensbruch ihr Leben verwirkt, die soll man lebendig begraben.
Wer auch einen von diesen in Hinsicht auf diese Dinge unterstützt mit Rat oder mit Hilfe, überführt man ihn dessen, soll dasselbe Recht auf ihn angewendet werden, das auf den angewendet werden soll, der den Rechtsbruch
beginge. (…)“3.
Nach der vorgenannten Regelung sind bestimmte missbilligte Verhaltensweisen, auf
die im Folgenden noch näher eingegangen werden soll, mit dem Tode oder mit der
körperlichen Verletzung des Missetäters bedroht. Dabei differenziert der Ratskodex
bei der Art und Weise, wie der jeweilige Missetäter vom Leben zum Tode gebracht
werden soll, nämlich durch Aufhängen am Halse, rädern, d.h. durch Zerstoßen der
Knochen des Delinquenten mit einem Wagenrad, Abschlagen des Kopfes, Sieden in
heißem Wasser oder Öl, Verbrennen auf dem Scheiterhaufen oder – speziell für
Frauen – lebendig begraben. Unter der Schwelle der Tötung des Missetäters kennt
der Ratskodex die Sanktionen an Haut und Haaren, zum Beispiel durch Auspeitschen, Brandmarken und Abscheren des Haupthaares.
Diese vom Ratskodex angedrohten Folgen missbilligten Verhaltens sind für die Suche nach Spuren strafrechtlichen Denkens von besonderem Interesse. Die Tötung
oder körperliche Verletzung des Missetäters trägt keinerlei Elemente des materiellen
Schadensausgleiches in sich. Vielmehr sind die vorgenannten Sanktionen an Leib
3
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S.
267 – 269):
„Nu vornemet wu me iowelk vngherichte richten scal. Den def scal me henghen dar de duue vif scillinghe
wert is. Is der auer min so ghet it to hut vn to hare. It ne sj dat he anrochtich sj oder dat he teken an sik
hebbe dat misdadighe lude pleghet to hebbende so scal men ine henghen. vn we penighe ver leset de
swaren vt den lichten dat is en duue. Alle mordere vn de kerken oder kerkhof rouet oder bernet oder
mortberne oder de se vorderet to der dat de scal men radebraken. De enne dodet oder wundet oder vet
oder rouet od bernet sunder mortbrand od wif oder maghet nottoghet oder de den vrede brikt deme scal
men dat houet afslan. Dene vor radere vnde velschere scal men in kopen bernen. Welk kersten minsche
vnghelouich were oder mit vor giftnisse vmme ginghe des he ouer wunnen worde den scolde me vp ener
hort bernen. Welk wif oder maghet mit duue oder vredebrake ire lif vor warcht de scal men leuendich be
grauen. We ok disser enen to dissen dinghen vorderet mit rade oder mit hulpe kumt men des bouen ine
dat selue recht scolde ouer ine gadat ouer dene gan scolde de den broke dede“.
5
oder Leben – auf Anordnung der Obrigkeit öffentlich vollzogen – nur dazu geeignet,
den durch die Tat Verletzten oder deren Hinterbliebenen Genugtuung zu verschaffen, die Täter – entweder durch physische Vernichtung oder Stigmatisierung – unschädlich oder zumindest erkennbar zu machen und anderen tatgeneigten Personen
ein abschreckendes Beispiel zu bieten. Damit weisen diese Sanktionen an Leib oder
Leben bereits wesentliche Elemente einer Kriminalstrafe im modernen Sinne auf.
Für strafwürdig in diesem Sinne hält der Ratskodex insbesondere die nachfolgend
genannten Delikte, die als „ungerichte“ bezeichnet werden, was wohl am ehesten mit
dem Wort „Verbrechen“ übersetzt werden kann.
Diebstahl und Raub
An erster Stelle nennt der Ratskodex den Diebstahl, ohne diesen Begriff allerdings
zu definieren. Der Diebstahl ist für männliche Delinquenten mit der Todesstrafe durch
Erhängen bedroht, soweit das Diebesgut mindestens fünf Schillinge wert ist oder der
Täter ein notorischer Missetäter ist. Weibliche Delinquenten sollen in diesem Falle
statt der Strafe des Erhängens die Todesstrafe des Lebendig Begrabens erleiden.
Ansonsten ist der Diebstahl mit der Leibesstrafe des Brandmarkens und Auspeitschens (Staupenschlag) bedroht. Letzteres ergibt § 55 Buch II, Kapitel 1 des Ratskodex, der in der Übersetzung Lehmbergs folgendermaßen lautet:
„Wer stiehlt, was fünf Schillinge wert ist, der ist schuldig, den Galgen hinzunehmen. Ist das weniger, so soll man ihn durch die Zähne brennen und öffentlich stäupen. Es sei denn, dass er auch vorher in schlechtem Leumund steht,
so soll man ihn richten mit dem Strick“4.
Sowohl die für den minderschweren Diebstahl angedrohte Leibesstrafe des Brandmarkens und Auspeitschens, als auch die für den schweren Diebstahl angedrohten
Todesstrafen des Hängens und lebendig Begrabens hatten entehrende Wirkung.
Gebrandmarkte Diebinnen und Diebe trugen das Zeichen ihrer Vorstrafe für jedermann sichtbar mit sich umher. Der am Galgen gehenkte Delinquent wurde zur Zeit
4
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S.
263):
„We stelet dat vif scillighe wert is De vor scult des galgen. Is des min So scal men ene durch de tene
bernen vn to der stupe slan It ne sj dat he vore ok besproken sj So scal men richten mit der weden.“
6
der Entstehung des Ratskodex nach dem Strafvollzug nicht etwa vom Galgen abgenommen, sondern verblieb dort bis zur Verwesung 5. Die lebendig begrabene Delinquentin erhielt kein christliches Begräbnis in geweihter Erde6.
Durch diese Art des Strafvollzuges wurde den Delinquenten auf Dauer der Friede
entzogen. Ein Grund hierfür könnte sein, dass der Diebstahl zur damaligen Zeit als
besonders gemeinschädlich und zudem als heimtückisch empfunden wurde. Nach
damaligem Rechtsverständnis war der Diebstahl nämlich wesentlich durch das
Merkmal der Heimlichkeit geprägt. Dies lässt sich der Vorschrift des § 53, Buch II,
Kapitel 1 des Ratskodex entnehmen, die in der Übersetzung Lehmbergs folgendermaßen lautet:
„Wer des Nachts bearbeitetes Holz oder Gras nimmt, das ist Diebstahl, nimmt
er das des Tages, so ist es ein Raub“7.
Wie die eben zitierte Vorschrift zeigt, scheint der Raub nach damaligem Rechtsverständnis, im Gegensatz zum Diebstahl, durch die offene, d.h. nicht verheimlichte
Wegnahme einer fremden Sache geprägt gewesen zu sein. Anders als nach heutigem Rechtsverständnis waren – zumindest nach dem Wortlaut des Ratskodex – weder der Einsatz von Gewalt noch die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder
Leben als Mittel der Wegnahme für die Annahme eines Raubes erforderlich.
Im Gegensatz zu den bei Diebstahl angedrohten Todesstrafen des Hängens und lebendig Begrabens wirkte die für den Raub angedrohte Todesstrafe des Enthauptens
nach damaligem Rechtsverständnis nicht entehrend8.
Sind allerdings Kirchen oder Kirchhöfe Objekte der Raubtat, so droht der Ratskodex
hierfür die – im Vergleich zur Enthauptung grausamere – Todesstrafe des Räderns
5
Zur Geschichte und zum Vollzug der Todesstrafe des Hängens: Leder, Karl Bruno, Todesstrafe, Wien, München
1980, S. 111 ff.
6
Zur Geschichte und zum Vollzug der Todesstrafe des Lebendig Begrabens: Leder, Karl Bruno, Todesstrafe,
Wien, München 1980, S. 162 ff.
7
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S.
261 - 263):
„We des nachtes be arueydet holt oder gras nimt Dat is duue. Nit he dat des daghas So is dat en rof.“
8
Zur Geschichte und zum Vollzug der Todesstrafe des Enthauptens: Leder, Karl Bruno, Todesstrafe, Wien, München 1980, S. 133 ff.
7
an. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass nach dem damaligen Rechtsverständnis Kirchen und Kirchhöfe als Orte religiöser Verehrung einen besonderen Friedensschutz genossen. Auf diesen Aspekt werde ich an anderer Stelle noch zu sprechen
kommen.
Totschlag und Mord
Der Totschlag, das heißt die Tötung eines Menschen durch einen anderen Menschen ist nach der vorhin zitierten Vorschrift des § 63, Buch II, Kapitel 1 des Ratskodex, ebenso wie der Raub, mit der Todesstrafe des Enthauptens bedroht.
Der Ratskodex verwendet den Begriff des Totschlags, ohne ihn zu definieren oder
gegenüber anderen Tötungsdelikten – insbesondere Mord – abzugrenzen. Dass
schon nach dem Verständnis der damaligen Zeit zum objektiven Tatbestand der Tötung eines anderen Menschen das subjektive Element des Vorsatzes hinzutreten
musste, legt indes § 83, Buch II, Kapitel 1 des Ratskodex nahe, der in der Übersetzung Lehmbergs – auszugsweise – folgendermaßen lautet:
„Wenn ein Kind unter einen Wagen oder unter ein Pferd liefe oder von anderem Unglück geschähe, dass einer Schaden anrichte ohne seinen Vorsatz, da
einer stürbe oder verwundet würde: der müsste selbsiebt vollkommener Leute
das an den Heiligen verteidigen, dass es ohne seinen Vorsatz geschehen wäre. So trete es ihm nicht an das Leben (…)“9.
Nach der eben zitierten Quelle trifft den Wagenlenker oder Reiter keine Strafe an
Leib und Leben, wenn die Tötung oder Verletzung des vor Pferd oder Wagen laufenden Kindes nicht böswillig geschehen ist und der Schädiger dieses selbsiebt bei den
Heiligen beschwört. Auf diese Art der Eidesleistung werde ich noch an anderer Stelle
eingehen.
9
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S.
281):
„Of en kint lepe vnder enne waghen oder vnder en pert od van anderem vnghelucke ghe scude dat en
scaden dede ane inen danck dar en dot bleue od ghewunt worde De moste selue seuede vulkomener
lude dat an den hilleghen ir weren dat it an sinen dangk gheschen were So ne tredet ime an dat lif nicht.“
8
Die subjektive Tatseite berücksichtigt auch § 125, Buch II, Kapitel 1 des Ratskodex,
der in der Übersetzung Lehmbergs – auszugsweise – folgendermaßen lautet:
„Arbeiten Leute zusammen beim Heben oder beim Tragen oder bei anderen
Dingen: Geschieht dadurch Unglück, dass darunter einer stürbe oder verwundet würde: Deswegen darf der keinen Rechtsnachteil auf sich ziehen, der bei
der Arbeit dabei gewesen ist. Wen man aber deswegen beschuldigt, dass er
dabei fahrlässig [frevelhaft] gehandelt hätte, der muss sich dessen entschuldigen“10.
Hierin werden Ansätze für eine subjektive Zurechnung von Schadensfolgen bei gefahrgeneigten Arbeiten deutlich.
Anders als der Totschlag ist Mord mit der für den Delinquenten im Vollzug weitaus
fürchterlicheren Todesstrafe des Räderns bedroht11. Der Ratskodex verwendet den
Begriff des Mordes ohne ihn zu definieren oder gegenüber dem Totschlag abzugrenzen. Bei Mord dürfte es sich nach damaligem Rechtsverständnis entweder um die
heimliche oder um die geplante also mit Vorbedacht ausgeführte Tötung eines anderen Menschen gehandelt haben12.
Doch schon die begriffliche Unterscheidung von Mord und Totschlag im Ratskodex
sowie die unterschiedlich harten Strafandrohungen sind weitere Anzeichen dafür,
dass bereits nach damaligem Rechtsverständnis bei der Tötung eines Menschen von
fremder Hand nicht allein der Erfolg der schädigenden Handlung, sondern auch die
subjektive Tatseite für die Strafe ausschlaggebend war.
10
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S.
311 - 313):
„Arbeydet lude to samene an borende oder an draghende oder an anderen dinghen. Schut dar van vnghelucke dat darvnder en dot bleue oder ghe wundet. Dar ne darf de nene not vmme liden de in dem arbeyde mede ghe wesen heft. Wen me auer dar vmme schuldighet dat he dar vreuel an ghe dan hebbe.
De mot sich des untsculdighen“.
11
Zur Geschichte und zum Vollzug der Todesstrafe des Räderns: Leder, Karl Bruno, Todesstrafe, Wien, München 1980, S. 150 ff.
12
Sellert, Wolfgang / Rüping, Hinrich, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege,
Aalen 1989, Bd. I, S. 102 m.w.N.
9
Verwundung
Ebenso wenig wie den Totschlag definiert der Ratskodex das Delikt der Verwundung
eines anderen Menschen. Der eben zitierte § 83, Buch II, Kapitel 1 des Ratskodex
spricht indes dafür, dass nur die vorsätzliche Verletzung eines anderen Menschen
mit einer Strafe an Leib und Leben geahndet werden sollte. Welche Arten von Verwundungen eines anderen Menschen mit der Todesstrafe bedroht waren, ist dem
Ratskodex indes nicht zu entnehmen
Allerdings sieht § 88, Buch II, Kapitel 1 des Ratskodex bei leichten Körperverletzungen, die im Rahmen eines Turniers d.h. eines Kampfspieles unabsichtlich zugefügt
werden, einen Haftungsausschluss vor. Diese Vorschrift lautet in der Übersetzung
Lehmbergs wie folgt:
„Wenn Turnier oder Ritterspiel oder Buhurt auf dem Marktplatz oder anderswo
oder auf dem Felde stattfindet, wobei man trommelt: Welcher Streiter zu Fuß
oder zu Pferde da niedergeritten wird und ihm wehgetan wird, darüber befindet kein Gericht, wenn der das tut, sich dessen zu entschuldigen, dass es
fahrlässig, ohne seine Absicht, geschah“13.
Dies dürfte auf dem Gedanken beruhen, dass der Teilnehmer an einem Turnier mit
den damit üblicherweise verbundenen gesundheitlichen Risiken rechnen und sich
damit abfinden muss. Nach heutiger Terminologie könnte man von einem deliktischen Haftungsausschluss wegen eigenverantwortlicher Selbstgefährdung des Geschädigten sprechen.
Brandstiftung, Mordbrand und Kirchenbrand
Brandstiftung – ohne Mordbrand – ist nach dem Ratskodex mit der Todesstrafe des
Enthauptens bedroht. Eine Differenzierung danach, ob der Brand willentlich oder
13
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013,
S. 285):
„Wanne torney oder forest oder behort up dem markete oder anderes wur oder up dem velde is, dar men
bj bunghet, welk kypere to vote od to perde dar neder wert ghereden un ime we ghe dan wert. Dar ne
geyt nen gherichte ouer, of de dat deyt sich des untsculdighe, dat it unurueliken ane sine dangk ghe
schude“.
10
aus mangelnder Vorsicht gelegt wurde nimmt der Ratskodex ebenso wenig vor wie
eine Differenzierung danach, ob Wohngebäude oder Stallungen oder andere Objekte
in Brand gesetzt wurden.
In Abgrenzung zur Brandstiftung dürfte Mordbrand als Tötung eines anderen Menschen durch Legen eines Feuers als gemeingefährliches Mittel aufzufassen sein.
Kirchenbrand erklärt sich schon von seinem Wortlaut her als Inbrandsetzen eines
Kirchengebäudes. Ebenso wie der Kirchenraub ist auch der Kirchenbrand im Ratskodex mit der Todesstrafe des Räderns bedroht. Auch hier kommt wieder der Gedanke des besonderen Friedensschutzes für Gotteshäuser zum Tragen.
Notzucht
Notzucht ist nach dem Ratskodex mit der Todesstrafe des Enthauptens bedroht.
Nach damaligem Rechtsverständnis dürfte als Notzucht der von einem Mann gewaltsam erzwungene außereheliche Geschlechtsverkehr mit einer Frau zu verstehen
sein, der als solcher durch Erheben des Hilfsgeschreis offenbart werden sollte. Dies
lässt sich § 93, Buch II, Kapitel 1 des Ratskodex entnehmen, der in der Übersetzung
Lehmbergs – auszugsweise – folgendermaßen lautet:
„Begeht einer Notzucht an Frau oder Mädchen: Das soll man beschreien auf
frischer Tat oder von der Stelle, wo die Notzucht geschehen ist, mit dem Hilfsgeschrei denen bekannt machen, die da am nächsten sind (…)“14.
Der Ratskodex hebt ausdrücklich hervor, dass ein Mann auch bei erzwungenem Beischlaf mit seiner Geliebten wegen Notzucht strafbar sein kann. Dies ergibt die Vorschrift des § 94, Buch II, Kapitel 1 des Ratskodex, die in der Übersetzung Lehmbergs
folgendermaßen lautet:
„An seiner Geliebten kann einer Notzucht begehen“15.
14
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S.
289):
„Deyt en nottoch an wiue oder an maghet Dat scal men be scryen in verscher dat oder van der stat dar
de not is gehe schen mit gherochte kundighen den de dar neyst sin“.
11
Die letztgenannte Regelung lässt darauf schließen, dass der gewaltsam erzwungene
Beischlaf innerhalb der Ehe nicht als strafbare Notzucht aufgefasst wurde.
Gefangennahme
Die Gefangennahme eines Menschen durch einen anderen Menschen bedroht der
Ratskodex – ebenso wie Totschlag, Raub, Brandstiftung und Notzucht – mit der Todesstrafe des Enthauptens. Ob die Gefangennahme eine gewisse zeitliche Dauer
haben und mit einer räumlichen Verbringung, d.h. mit einer Verschleppung des Tatopfers einhergehen musste, bestimmt der Ratskodex nicht, erscheint aber in Anbetracht der hohen Strafandrohung naheliegend.
Verrat und Fälschung
Verrat und Fälschung sind nach dem Ratskodex mit der Todesstrafe des Siedens im
Fass bedroht. Ob mit Verrat der Hochverrat, das heißt der Verrat gegenüber der weltlichen Herrschaft gemeint war, bestimmt der Ratskodex nicht, erscheint aber naheliegend.
Ob der Ratskodex mit Fälschern etwa Betrüger im Allgemeinen meint, lässt sich nicht
mit Bestimmtheit sagen. Den Begriff „valsch“ verwendet der Ratskodex an anderer
Stelle im Zusammenhang mit der Fälschung von Geld. Schon der Besitz von Falschgeld konnte nach dem Ratskodex – zumindest im Wiederholungsfalle – die Leibesstrafe des Handabschlagens nach sich ziehen, die zur Recht- und Ehrlosigkeit des
Täters führte.16 Soweit für das Herstellen – Schmelzen – falscher Münzen die Todesstrafe des Siedens verhängt wurde, dürfte es sich um eine – das Tatunrecht – spiegelnde Strafe gehandelt haben17.
15
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S.
289):
„An siner amyen mach en nottoch began“.
16
17
Goslarer Ratskodex Buch II, Kapitel 1, §§ 58 – 62.
Grundlegend zur spiegelnden Strafe: Sellert, Wolfgang / Rüping, Hinrich, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Aalen 1989, Bd. I, S.107 m.w.N.
12
Ketzerei und Giftmischerei
Die Abweichung vom wahren christlichen Glauben, d.h. im 14. Jahrhundert die Abweichung von der römisch-katholischen Lehre sowie Giftmischerei bedroht der Ratskodex mit der Todesstrafe des Verbrennens auf dem Scheiterhaufen, wenn und soweit der Täter dieser Delikte überführt werden kann. Dieser ausdrückliche einschränkende Zusatz ist deshalb bemerkenswert, weil es sich – wohl auch nach damaligem
Rechtsdenken – von selbst versteht, dass ein Täter nur dann die angedrohte Strafe
erleiden muss, wenn er der entsprechenden Tat überführt ist. Hier ist allerdings zu
berücksichtigen, dass es sich bei der Ketzerei und wohl auch bei der Giftmischerei,
wenn man letztere als Erscheinungsform der Hexerei versteht, um Verstöße gegen
die religiöse Ordnung handelt. Die Aufklärung von Religionsdelikten oblag im Mittelalter der Kirche bzw. damit beauftragten Mönchsorden, wie beispielsweise den Dominikanern. Wurde jemand der Ketzerei oder Hexerei überführt, dann überantworteten
die kirchlichen Ermittler den Delinquenten der weltlichen Obrigkeit zum Strafvollzug,
gemäß dem Grundsatz, dass die Kirche kein Blut vergieße (ecclesia non sitit sanguinem)18.
Beihilfe
Der Ratskodex bestimmt schließlich, dass derjenige, der einen anderen bei einem
der vorgenannten Delikte mit Rat und Hilfe – wohl im Sinne von tätiger Hilfe – unterstützt, dieselbe Strafe erleiden soll, wie der unmittelbare Rechtsbrecher selbst. Diese
Bestimmung ist deshalb von besonderem Interesse für das Thema des heutigen Vortrages, weil sich in dieser Bestimmung gut erkennbar der Gedanke des aufkommenden Schuldstrafrechtes äußert. Der Grund für die Bestrafung des Gehilfen ist, dass er
die fremde Tat, zu der er Hilfe leistet, in subjektiver Hinsicht billigt und wünscht. Nur
über diese subjektive Beziehung des Gehilfen zur fremden Tat erwächst dem Gehilfen ein Vorwurf. Dieser Gedanke dürfte auch schon den oder die Verfasser des
Ratskodex geleitet haben. Hierfür spricht, dass die Beihilfe im Ratskodex als „Unterstützung mit Rat und Hilfe“, mithin durchaus als willensgesteuert, beschrieben wird.
18
http://www.HRGdigital.de/HRG.ecclesia_non_sitit_sanguinem
13
Sonstiger Friedbruch
Die vorgenannten Delikte erscheinen als besondere Formen des Friedbruchs. Dies
kann zunächst aus dem Wortlaut von Buch II, Kapitel 1, § 63 geschlossen werden,
wonach Friedbruch – im Allgemeinen - für männliche Delinquenten mit der Todesstrafe des Enthauptens und für weibliche Delinquenten mit der Todesstrafe des Lebendig Begrabens bedroht ist. Ferner stehen die vorgenannten Delikte im Kontext
des Titels vom Friedensbruch (van vredebrake).
Warum der Verfasser des Ratskodex gerade die vorgenannten Delikte besonders
erwähnt, kann nur vermutet werden. Naheliegend erscheint, dass der Verfasser die
vorgenannten Delikte für besonders gravierende und deshalb ausdrücklich erwähnenswerte Verstöße gegen die Friedensordnung hielt. Dann stellt sich allerdings die
Frage, warum der Verfasser diese Delikte nicht näher beschreibt sondern sie nur als
solche, beispielsweise als Raub oder Mord, benennt. Eine mögliche Erklärung hierfür
könnte sein, dass sich die Menschen in der damaligen Zeit unter den Deliktsbezeichnungen durchaus etwas vorstellen konnten, ohne dass es einer begrifflichen Bestimmung des jeweiligen Deliktes im Sinne der modernen Rechtslehre bedurft hätte.
Hervorzuheben bleibt, dass der Friedensbruch, das heißt der – gewaltsame – Bruch
der rechtlich gebotenen Friedensordnung und seine rechtlichen Folgen im Ratskodex
verhältnismäßig breiten Raum einnimmt. Immerhin handeln im 1. Kapitel des 2. Buches des Ratskodex allein 142 Paragraphen vom Friedensbruch. Daraus wird deutlich, dass es sich hierbei um einen Aspekt von zentraler Bedeutung für das geordnete Zusammenleben innerhalb der Stadt gehandelt haben muss.
Soweit es den Friedensschutz betrifft, liegt der Goslarer Ratskodex – modern ausgedrückt – genau im Trend seiner Zeit. Munzel-Everling hat dies sehr treffend wie folgt
formuliert: „Der Friede ist zentraler Begriff der mittelalterlichen Rechtsordnung, die
eine dem christlichen Gott verpflichtete und geschuldete Friedensordnung ist, deren
Bruch eine Straftat darstellt“19. Nach dem mittelalterlichen Rechtsdenken sollten bestimmte Personen (z. B. Geistliche), Sachen (z.B. Pflüge und Mühlen) oder Orte (z.B.
19
Munzel-Everling, Dietlinde, Der Einfluss des Sachsenspiegels auf das Stadtrecht von Goslar und dessen Ausstrahlung auf andere Städte, in: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S. 40.
14
Kirchen, Friedhöfe, Dörfer innerhalb ihrer Umzäunung, Landstraßen) unter besonderem Schutz vor gewaltsamen Angriffen stehen. Deutlich wird dies seit dem 11. Jhdt.
in den religiös motivierten Gottesfrieden (beschworene Vereinbarungen zwischen
geistlichen und weltlichen Herren innerhalb ihrer Territorien) und seit dem 12. Jhdt. in
den fürstlichen und königlichen Landfrieden20.
Diese Friedensordnungen drohten für den Bruch des gebotenen Friedens oftmals
Leibes- oder Lebensstrafen an. Dieser Tradition folgend bildet das Goslarer Stadtrecht eine eigene partikulare Friedensordnung für die Stadt und ihre Bürger, indem
es Friedensbrüche sanktioniert21. Deutlich wird dies auch in der Vorrede des Ratskodex, die in der Übersetzung Lehmbergs folgendermaßen lautet:
„Der Rat der Stadt Goslar hat mit einträchtiger Zustimmung der Kaufleute und
Woltwerchten und der Gilden derselben Stadt beschlossen, dass sie ihre Gesetze in dieses Buch bringen wollen, auf das es desto angemessener sei, für
jeden dem Recht entsprechend zu urteilen22.
Herkunft der Regelung gemäß Ratskodex Buch II, Kapitel 1, § 63
Doch woher stammen die Vorschriften, wie man „ungerichte“ richten soll? Handelt es
sich um originäre Rechtsschöpfungen des Verfassers oder hat dieser etwa auf ältere
20
Vgl. z.B. Ssp. Ldr. II 66 § 1 (zitiert nach: Sachsenspiegel [Landrecht], hrsg. v. K.A. Eckhardt, 2. Aufl. 1955 (=
Monumenta Germaniae Historica, Fontes iuris germanici antiqui, nova series tomi I pars I, in: Sellert, Wolfgang /
Rüping, Hinrich, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Aalen 1989, Bd. I, S.
115):
„Nu vernemet den alden vrede, den de keiserleke walt gestedeget hevet deme lande to Sassen, mit der
guden knechte willekore van deme lande. Alle dage unde alle tit scolen vrede hebben papen unde geistleke lude, megede und wif unde joden an erme gude an erme live, kerken unde kerkhove unde iewelk
dorp binnen siner gruve unde sime tune, pluge unde molen, unde des koninges straten in watere unde in
velde, de scolen stede vrede hebben, unde allet dat dar binnen kumt“.
Grundlegend zur Entwicklung der Strafrechtspflege im Zeitalter der Gottes- und Landfrieden: Sellert, Wolfgang /
Rüping, Hinrich, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Aalen 1989, Bd. I,
S.91 ff. m.w.N.
21
Munzel-Everling, Dietlinde, Der Einfluss des Sachsenspiegels auf das Stadtrecht von Goslar und dessen Ausstrahlung auf andere Städte, in: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S. 40, 41.
22
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S.
85):
„De rat der stat to Goslere ist to rade ghe worde mit endrechtigher volbort der Coplude, vnde wolt werchten, vn der Ghelden der seluen stat, dat se ire recht in dit boc willet bringhen“.
15
Vorlagen zurückgegriffen? Letzteres dürfte der Fall sein. Es bestehen signifikante
Übereinstimmungen zwischen dem Goslarer Ratskodex, dessen Entstehungszeit um
1350 liegen dürfte und dem Sachsenspiegel, dessen Entstehungszeit gut einhundert
Jahre davor liegt.
Betrachten wir zum Beispiel die bereits oben zitierte Vorschrift über die Todesstrafe
des Enthauptens im Ratskodex (Buch II, 1, § 63). Diese lautet im Original:
„De enne dodet oder wundet oder vet oder rouet od bernet sunder mordbrant
od wif oder maghet nottoghet oder de den vrede briket, deme scal men dat
houet af slan“.
Diese Bestimmung entspricht nahezu wortgleich der Strafandrohung des Sachsenspiegels in Ssp. Ldr. II 13 § 5. Diese lautet im Original:
„De den man sleit oder vet oder rovet oder bernet sunder mordbrant, oder wif
oder maget nodeget, unde vredebrekere, (…) den scal men dat hovet af
slan“23.
Diese Übereinstimmung spricht dafür, dass dem Verfasser des Ratskodex der Sachsenspiegel nicht nur bekannt war, sondern ihm sogar als Vorlage diente 24. Augenscheinlich genoss der Sachsenspiegel als Aufzeichnung und Sammlung sächsischen
Gewohnheitsrechtes zur Zeit der Entstehung des Goslarer Ratskodex weitgehende
Autorität, auf die sich der Verfasser des Ratskodex berufen wollte.
Rechtsgang für die Ahndung von Verbrechen
Abschließend bleibt die Frage, ob der Ratskodex ein eigenes geregeltes Verfahren
kannte, das allein auf die Bestrafung des Täters abzielte.
23
Zitiert nach: Sachsenspiegel [Landrecht], hrsg. v. K.A. Eckhardt, 2. Aufl. 1955 (= Monumenta Germaniae Historica, Fontes iuris germanici antiqui, nova series tomi I pars I, in: Sellert, Wolfgang / Rüping, Hinrich, Studien- und
Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Aalen 1989, Bd. I, S. 119.
24
Hierzu grundlegend: Munzel-Everling, Dietlinde, Der Einfluss des Sachsenspiegels auf das Stadtrecht von
Goslar und dessen Ausstrahlung auf andere Städte, in: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S. 33 ff.
16
Wie eingangs erwähnt, ist das heutige Strafverfahren nach der Strafprozessordnung
vom Legalitäts-, Offizial- und Instruktionsprinzip geprägt. Das bedeutet kurz gesagt,
dass grundsätzlich alle verfolgbaren Straftaten von Amts wegen verfolgt und erforscht werden müssen.
Einen Amtsträger, der zur Aufklärung von Straftaten berufen ist, kennt der Ratskodex
allerdings noch nicht. Die sogenannte hohe Gerichtsbarkeit, zur der auch das Richten über Friedensbrüche gehörte, lag in den Händen des Stadtvogtes25. Seit dem
Erwerb der Reichsvogtei durch den Rat der Stadt Goslar im Jahr 1290 war der Stadtvogt ein vom Rat eingesetzter städtischer Bediensteter26. Der Vogt war Gerichtsvorsitzender, nicht hingegen öffentlicher Ankläger.
Der mittelalterliche Rechtsgang folgte noch dem Grundsatz, wo kein Kläger ist, da ist
auch kein Richter27. Dies wird aus § 47, Buch II, Kapitel 1 des Ratskodex deutlich,
der auszugsweise in der Übersetzung Lehmbergs wie folgt lautet:
„Wer einen Verbrecher vor Gericht überführen will, der soll ihn gebunden mit
Hilfsgeschrei vor Gericht bringen und ihn wegen der Schuld anklagen und die
Festnahme erbitten“28.
Demnach erfolgte die Einleitung des gerichtlichen Verfahrens mit dem Ziel der Bestrafung des Missetäters nicht etwa von Amts wegen, sondern durch die klagende
Prozesspartei. An anderer Stelle lässt der Ratskodex allerdings ausnahmsweise eine
Klage von Amtspersonen wegen Friedensbruchs zu, nämlich in Buch III, § 190. Diese
Vorschrift lautet in der Übersetzung Lehmbergs wie folgt:
„Was man dem Vogte nicht anklagt, das braucht er nicht zu richten. Wäre aber
ein Verbrechen vor seinem Vorgänger beklagt oder ein Friedensbruch, davon
25
Graf, Sabine, Goslar zur Zeit der Stadtrechtskodifizierung, in: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um
1350, Bielefeld 2013, S. 22; Fröhlich, Karl, Gerichtsverfassung von Goslar im Mittelalter, Breslau 1910 S. 66 - 67.
26
Graf, Sabine, Goslar zur Zeit der Stadtrechtskodifizierung, in: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um
1350, Bielefeld 2013, S. 21; Fröhlich, Karl, Gerichtsverfassung von Goslar im Mittelalter, Breslau 1910 S. 46.
27
Grundlegend zum mittelalterlichen Rechtsgang: Sellert, Wolfgang / Rüping, Hinrich, Studien- und Quellenbuch
zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Aalen 1989, Bd. I, S. 63, 64, 110 m.w.N.
28
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013,
S. 259):
„We enne misdadighe man ut winne wel, den scal ine ghebunden mit gehe screye vor gherichte bringhen uni ne umme de scult be klaghen un bidden der sattinghe“.
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müsste er aber verlangen, dass man das prozessual durchführte. Geschieht
aber eine Sache, die man nicht beklagte, von der der Rat aber glaubte, dass
diesbezüglich die Notwendigkeit bestehe, dass man sie beklagte: Wenn sie
das verlangten oder verlangen ließen, müsste man dem nachkommen“ 29.
Danach war der Rat der Stadt Goslar berufen, ein gerichtliches Verfahren vor dem
Stadtvogt zu initiieren, wenn sich kein Kläger fand, der Rat die Angelegenheit aber
gleichwohl für verfolgungswürdig hielt. Mit der Zulassung einer Klageerhebung durch
Amtspersonen bahnte sich ein eigener strafrechtlicher Rechtsgang und damit eine
Abgrenzung zum Verfahren in bürgerlichen Sachen an, die zu den bedeutendsten
Neuerungen des Mittelalters gehören dürfte30.
Für die Frage nach einem eigenen Verfahren bei Friedensbrüchen lohnt der Blick auf
das Verfahren bei handhafter Tat, dem der Ratskodex breiten Raum widmet. Handhaft ist die Tat, die dem Täter – bildlich gesprochen – noch an den Händen haftet, die
also noch frisch ist. Der Ratskodex beschreibt die handhafte Tat in Buch II, 1, § 25.
Diese Bestimmung lautet in der Übersetzung Lehmbergs wie folgt:
„Wo ein Friedensbruch geschieht oder Diebstahl oder Raub, wird einer dort
festgehalten oder auf der Flucht, das heißt handhafte Tat31“.
Das Handhaftverfahren setzte mithin voraus, dass der Täter entweder während der
Tatausführung oder unmittelbar nach der Tatausführung oder auf der Flucht vom
Tatort ergriffen wurde. Dieses Verfahren fand demnach statt, wenn die Tat gleichsam
für jedermann offenkundig war.
29
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013,
S. 505):
„Wat men deme voghede nicht be klaghet, des ne darf he nicht richten. Were auer en ungherichte vor
sinem vor varen be klaghet oder en vredebrake, de moste he wol eschen, dat me dat vuluorderede.
Schut auer en sake de men nicht be klaghede, de deme rade duchte, dat des not were, dat me se beklaghede: Of se dat escheden oder leten eschen, des scholde men volghe“.
30
Sellert, Wolfgang / Rüping, Hinrich, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege,
Aalen 1989, Bd. I, S. 109.
31
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S.
249):
„Wur en vredebrake ghe scut oder duue oder rof, wert en dar up gheholde, od in der vlucht, Dat het
hanthaftich dat“.
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Der Offenbarung der Tat diente das sogenannte Hilfsgeschrei oder „Gerüfte“ des
Verletzten. Hierdurch sollten zunächst in Rufnähe befindliche Personen alarmiert und
zur Hilfe herbeigeholt werden. Auch mag das Hilfsgeschrei zur Rechtfertigung der
anschließenden Festnahme des Missetäters gedient haben. Nach dem Sachsenspiegel, auf den sich die Regelungen des Ratskodex über den Friedensbruch – wie
bereits erwähnt – zurückführen lassen, sei das Gerüfte bereits der Klage Beginn32.
Gleichsam als Prozessvoraussetzung erwähnt der Ratskodex das Hilfsgeschrei in
der eben zitierten Vorschrift über die Vorführung des Beschuldigten vor den Vogt sowie im Zusammenhang mit dem zuvor bereits behandelten Delikt der Notzucht.
Wer auf frischer oder handhafter Tat betroffen wurde, war in seinen Verteidigungsmöglichkeiten vor Gericht eingeschränkt. So durfte sich der auf handhafter Tat Betroffene vor Gericht nicht – wie sonst möglich – vom Tatvorwurf durch Eidesleistung
entlasten und entschuldigen. Dies beschreibt der Ratskodex in Buch II, Kapitel 1, §
26. Diese Bestimmung lautet in der Übersetzung Lehmbergs wie folgt:
„Wird einer ergriffen mit handhafter Tat: Von der kann er nicht durch Eid frei
werden, wenn man das beweisen kann und den Friedensbruch“33.
Im ordentlichen gerichtlichen Verfahren, außerhalb des Handhaftverfahrens, konnte
sich der Beschuldigte durch Eidesleistung entlasten und zwar entweder durch eigenhändigen Schwur oder – in bestimmten Fällen – durch den Schwur „selbsiebt“, das
heißt durch die Hinzuziehung von mitschwörenden Eideshelfern. Dieses uns heute
fremd anmutende Verfahren beschreibt der Ratskodex anschaulich in Buch II, Kapitel
1, § 23. Diese Bestimmung lautet in der Übersetzung Lehmbergs wie folgt:
„Wurde einer totgeschlagen vor seinem Haus, in dem er wohnte, so dass er
auf der Straße stürbe, wollte man die Friedensbrecher beschuldigen, dass sie
den Hausfrieden an ihm gebrochen hätten, insofern als sie ihn aus dem Haus
32
Munzel-Everling, Dietlinde, Der Einfluss des Sachsenspiegels auf das Stadtrecht von Goslar und dessen Ausstrahlung auf andere Städte, in: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013, S. 41 m.w.N.
33
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013,
S. 249):
„Wert en be grepen mit hanthaftigh dat, d‘ mach he nicht unsculdig werden. Of me de dat bewisen mach
un de vredebrake“.
19
gezogen hätten: Davon können sie sich befreien auf den Heiligen, jeder einzelne mit seinem einfachen Eid und man sollte ihnen den Gerichtsort festsetzen, zu dem sie sich dessen entschuldigten.
Würde er aber erschlagen, dass er in seinem Haus stürbe und verwundet, in
dem er wohnte und würden sie dann wegen Hausfriedens beschuldigt: Davon
müssten sie sich befreien, ein jeder selbsiebt untadeliger Leute auf den Heiligen. Würde aber von ihnen irgendeiner in handhafter Tat ergriffen, der könnte
sich davon nicht eidlich befreien“34.
Die eben zitierte Quelle zeigt in beispielhafter Weise einige wesentliche Aspekte des
mittelalterlichen Rechtsgangs in Fällen des Friedensbruches:
Im ordentlichen gerichtlichen Verfahren - außerhalb des Handhaftverfahrens - fand
keine Beweiserhebung zum Zwecke der Tatsachenfeststellung statt. Vielmehr ging
es darum, ob der Beschuldigte den Vorwurf des Friedensbruches kraft seiner Glaubwürdigkeit und seines Leumundes zurückweisen, sich – bildlich gesprochen – vom
Tatvorwurf durch seinen Schwur reinigen konnte. Deshalb wird der Entlastungseid
auch als Reinigungseid bezeichnet35.
Dieser Reinigungseid wurde dadurch bekräftigt, dass er „auf den Heiligen“, d.h. wohl
durch Auflegen der Hand auf einen Reliquienschrein, geleistet wurde. Damit verband
der Schwörende sein Seelenheil mit seiner Unschuldsbeteuerung, was in einer Zeit
tiefempfundener Religiosität zweifellos schwer wog.
Eine weitere Bekräftigung der Glaubwürdigkeit des Schwörenden bedeutete die Hinzuziehung von Eideshelfern, die den Reinigungseid zusammen mit dem Beschuldig34
Im Original lautet die Quelle (zitiert nach: Der Goslarer Ratskodex – Das Stadtrecht um 1350, Bielefeld 2013,
S. 245 – 247):
„Worde en dot gheslaghen vor sinem hus, dar he inne wonede, dat he up der strate dot bleue. Welde
men de vredebreker sculdigen, dat se husurede an im ghebroken hedden, also dat se ene ut deme hus
ghe toghen hedden, des moghet se sek untsculdighen up den hilleghen mallik mit sines enes hant un
men scolde in dat gherichte legken dar se komen mochte dat se sik des untsculdighen. Worde he auer
irslaghen, dat he in sineme hus dot bleue unde gehe wunt dar he inne wonede un worde se denne umme husvrede ghesculdiget, des mosten se sik untsculdigen mallik selue seuede unbesprokener lude up
den hilleghe. Worde auer ir ienich in hanthaftigher dat up gehe holden, de ne mochte sik des nicht unstsculdighen“.
35
Grundlegend zum mittelalterlichen Rechtsgang: Sellert, Wolfgang / Rüping, Hinrich, Studien- und Quellenbuch
zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Aalen 1989, Bd. I, S. 63, 64, 110 m.w.N.
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ten leisteten. „Selbsiebt“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der Beschuldigte
den Reinigungseid zusammen mit sechs Eideshelfern zu leisten hatte. Bei diesen
Eideshelfern, die durch ihren Schwur ebenfalls ihr Seelenheil verpfändeten, dürfte es
sich um reine Leumundszeugen, nicht etwa um Alibizeugen, gehandelt haben. Dafür
spricht der Wortlaut der eben zitierten Quelle, wonach die Eideshelfer „untadelige
Leute“ sein sollten.
Anders als beim ordentlichen Verfahren geht es beim Handhaftverfahren um die
Feststellung von Tatsachen:
 Haben Verletzte oder Augenzeugen die Tat bemerkt und Hilfe herbeigerufen?
 Trägt der Täter bei seiner Festnahme am Tatort oder nach seiner Flucht vom
Tatort die Beute oder die Tatwaffe noch bei sich?
 Sind beim Täter noch Spuren der Tat, zum Beispiel Blutanhaftungen an Körper oder Kleidung, sichtbar?
Sind Tat und Täter offenbar, kommt eine Entlastung durch Reinigungseid – man
möchte sagen selbstverständlich – nicht in Frage. In diesem Fall zählen nur die offenkundigen Tatsachen. Deshalb kann im Handhaftverfahren durchaus der Ansatz
eines eigenständigen Strafverfahrens gesehen werden36.
Zusammenfassung
Der Goslarer Ratskodex bezeichnet verschiedene Verbrechen, nämlich Diebstahl,
Mord, Kirchenraub, Kirchenbrand, Mordbrand, Totschlag, Raub, Brandstiftung, Notzucht, Falschmünzerei, Giftmischerei und Ketzerei – ohne sie zu definieren - als „Ungerichte“, die mit Strafen an Leib und Leben – so genannten peinlichen Strafen geahndet werden sollen. Hierbei handelt es sich nach modernem Rechtsverständnis
bereits um reine Kriminalstrafen, ohne Elemente einer Buß- oder Ersatzleistung an
den Geschädigten oder dessen Hinterbliebene. Dabei lassen die Vorschriften des
Ratskodex über „Ungerichte“ durchaus schon Ansätze für ein Schuldstrafrecht erkennen. Auch zeichnen sich bereits Ansätze für eine Strafklage durch Amtspersonen
ab. Ansätze für ein eigenes gerichtliches Strafverfahren sind beim Handhaftverfahren
erkennbar.
36
Sellert, Wolfgang / Rüping, Hinrich, Studien- und Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege,
Aalen 1989, Bd. I, S. 110, 111 m.w.N.

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