Luigi Rognoni Schwindelnde Abenteuer Gioacchino Rossinis

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Luigi Rognoni Schwindelnde Abenteuer Gioacchino Rossinis
Theater Ulm 2007/08 Materialien
Gioachino Rossini „Il Turco in Italia“
Luigi Rognoni: Schwindelnde Abenteuer Seite 1/4
Luigi Rognoni
Schwindelnde Abenteuer
Gioacchino Rossinis komischer Realismus
Auf den ersten Blick erscheint Rossinis Opernschaffen als gradlinige Fortsetzung der
Opera-buffa-Tradition des 18. Jahrhunderts. Dies würde bedeuten, daß Rossini dem
italienischen Vorbild gefolgt wäre, das von Pergolesi über Galuppi bis Cimarosa
reicht und in der formalen Perfektion und der objektiven Synthese der Mozartschen
Oper gipfelt. Tatsächlich aber gleichen die komischen Opern Rossinis in Geist und
Inhalt keinesfalls denen des Settecento. Mag er noch mit einem Fuß in der Affektenlehre der Aufklärung stehen, er befreit sich rasch davon und führt Formen und Stilelemente des 18. Jahrhunderts in schwindelnde Abenteuer hinüber.
Rossini ist eine der ungewöhnlichsten und überraschendsten Erscheinungen in der
buntschillernden Geschichte der Oper und des Musiktheaters. Erst während der letzten Jahrzehnte hat man begonnen, seine musikhistorische Bedeutung zu er kennen;
erst jetzt hat man festgestellt, daß Rossini nicht nur der Schöpfer des »Barbier von
Sevilla« und des »Wilhelm Tell« ist, sondern daß seine gesamte, 38 Opern umfassende Theaterproduktion, die in dem knappen Zeitraum von nur 19 Jahren - zwischen 1810 und 1829 - geschrieben wurde, nicht nur all jenes Material meisterhaft
beherrscht und anwendet, das später die Opern Donizettis, Bellinis und schließlich
Verdis kennzeichnet, sondern bereits die soziale Spannung des sich neu bildenden,
aus der Französischen Revolution hervorgegangenen, mediterranen Bürgertums widerspiegelt. Bekanntlich hatte Rossini nach seinem »Wilhelm Tell«, der am 3. August
1829 an der Opera in Paris uraufgeführt war, unwiderruflich beschlossen, sich vom
Tummelplatz der Oper zurückzuziehen. Und dies gerade in dem Augenblick, in dem
sich mit »Wilhelm Tell« eine neue Richtung in der Opernproduktion des erst 37jährigen italienischen Komponisten abzeichnete. Tatsächlich begann mit »Wilhelm Tell«
eine neue Epoche, aber nicht mehr für Rossini. Er verzichtete entschlossen und überließ es anderen, den »Opernkarren« weiterzuziehen. Rossini lebt danach noch
vierzig Jahre, überhäuft mit Ruhm, und, wie an einemPenster stehend, schaut er mit
ironischem Lächeln dem Treiben in der romantischen Musik zu. Hin und wieder
schreibt er kleine Arien und Klavierstücke, die er seine »Alterssünden« nennt und
worin er die Klavierkunst einesLiszt undChopins einerseits und die triumphierende
Grand Opera andererseits zu imitieren scheint. Er schreibt jetzt andere Musik. Oft
komponiert er Hymnen oder Kantaten aus irgendwelchen Anlässen, oft aber sind es
maliziöse Anspielungen auf eben diese Anlässe. Er schreibt auch Kirchenmusik, darunter das Meisterwerk »Stab at mater«, und beschließt sein Leben mit einem außergewöhnlichen geistigen Testament, der »Petite Messe solennelle«.
Die kritische Würdigung Rossinis, von Stendhal bis zum Beginn unseres Jahrhunderts und bis zu den Schriften Giuseppe Radiciottis, hat keinen wirklichen kritischen
Beitrag zur Interpretation von Rossinis Werk geleistet. Meist sind es Verherrlichung,
Anekdote, legendenhafte Biographie, die nur dazu beitragen, die »Wiederentdeckung« Rossinis als Kulturphänomen mit Hilfe einer seriösen, geschichtskritischen
Methode zu verzögern, durch die allein das Werk Rossinis erhellt und real verstanden werden könnte.
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Seit 1947 befasse ich mich mit dem Studium von Rossinis Werk. Dabei fiel mir als
erstes auf, daß seine ernsten Opern, obwohl sie zahlenmäßig die komischen Opern
überwiegen, fast völlig in Vergessenheit geraten sind und daß diese ernsten Opern
ebenso umfangreiche Probleme der Beziehung von Sprache zu Musik aufwerfen,
wie sie für seine komischen Opern kennzeichnend sind, denen Rossini vor allem
seinen Ruf verdankt. Es war notwendig, besonders die syntaktischen Konstanten
aufmerksam zu analysieren, die Rossinis Stilelemente in der rein instrumentalen
Struktur seiner Sprache als Reflex der Beziehung zwischen Wort und Musik kennzeichnen. »Denn die Worte dienen mehr der Musik als die Musik den Worten dient...
wollte ein Komponist dem Sinn der Worte auf Schritt und Tritt folgen, so würde er eine an sich ausdruckslose, armselige und vulgäre Musik komponieren, ein Mosaik,
nicht mehr, unzusammenhängend und lächerlich«, sagte Rossini 1836 zu seinem
Freund Antonio Zanolini. Mit dieser Definition entfernt sich der Musiker nicht wesentlich von dem »handwerklichen« Ideal des Musikers des 18. Jahrhunderts, der Arien,
Duette, Terzette schreibt, die auf den objektiven Schemata der instrumentalen Formen beruhen. Es besteht eine gewisse Gleichgültigkeit, ob nun die Stimme oder das
Instrument eingesetzt werden soll. Es gelten die gleichen Maßstäbe, die den musikalischen Konstruktionen als strukturelle Modelle dienen: dreiteilige Arie (Liedform, Sonatenform, Rondoform usw.). Hieraus erklärt sich die (vom Text her sinnlose) Wiederholung von Worten oder ganzen Sätzen, die Zerstückelung der Worte in den
stimmlichen Verzierungen der Opernmelodie. Was zählt, ist allein die musikalische,
auf den Schemata beruhende Struktur.
Dennoch hat jede kritische Behauptung ihre Grenzen und Gefahren, auch wenn sie
für die sie bestätigende Norm unanfechtbar erscheint. Es wäre einseitig und dumm,
wollte man behaupten, der von Lorenzo da Ponte geschriebene Text zu »Figaros
Hochzeit« wäre Mozart gleichgültig gewesen und er hätte ebenso gut einen anderen
Text mit dem gleichen musikalischen Resultat in Musik umsetzen können. Die linguistische Phänomenologie der Beziehung zwischen Musik und Wort verweist (will
man nicht reinem Formalismus erliegen) ständig auf andere analytische Dimensionen, die nur an Hand des sozio-kulturellen Kontextes, in dem ein Kunstwerk entsteht, geklärt werden können. Die »regle du jeu« in »Figaros Hochzeit« (ganz abgesehen vom »Don Giovanni«) fordert zu einer Untersuchung der Fundamente heraus,
welche nicht nur die Grundlage der Oper des 18. Jahrhunderts bilden, sondern auch
die der gesamten Kultur des Zeitalters der Aufklärung und des Rationalismus, das
die Oper geprägt hat. Wir können an dieser Stelle dieses komplexe Problem nicht
abhandeln, aber es ist unzweifelhaft, daß die Position Rossinis im Bereich der Oper
formal als direkte Fortsetzung der Vorbilder des 18. Jahrhunderts erscheinen kann.
Der Geist jedoch entstammt seiner eigenen musikalischen Sprache, und ihre Beziehung zum Wort ist nicht mehr die rationalistische des vorangegangenen Jahrhunderts.
Das hervorstechendste Element in Rossinis Persönlichkeit, der die ganze Gesellschaft seiner Zeit in seinen Opern dargestellt hat, besteht ohne Zweifel in der musikalischen Komik seiner Buffo-Opern. Worin aber liegt diese Komik, die so unmittelbar packt, daß sie den Hörer physisch mitzureißen scheint? Die Schemata sind normativ die gleichen wie in der komischen Oper des 18. Jahrhunderts, und auch Inhal-
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te und Situationen gleichen sich weitgehend. Dennoch scheint diese neue Komik
aus einer realistischen Auffassung des täglichen Lebens zu entstehen, dessen
Rhythmus der Musiker aufgreift und ungeschminkt in seine Formen übernimmt, indem er ihn den alltäglichen Gefühlen und Situationen aussetzt und ihm schließlich in
einem sprachlich-musikalischen Zusammenspiel Gestalt verleiht, so daß er einen
konkreten psychologischen Effekt hervorzubringen vermag: das Gelächter. Wenn
Rossini behauptet, der Sinn der Worte sei ihm gleichgültig, wie er es Zanolini gegenüber äußerte, so hat er vermutlich an die ungeheure Arbeit gedacht, die zu bewältigen war, wenn er innerhalb kürzester Zeit Opern schreiben mußte, deren Texte
er stückweise vom Librettisten erhielt und bei denen er sich manchmal nicht sonderlich um den Inhalt kümmerte. Dies bedeutet jedoch nicht, daß er dem Sinngehalt und
dem emotionalen Wert des - auch isoliert genommenen - Wortes gegenüber unempfindlich gewesen wäre. Tatsächlich besteht die musikalische Komik Rossinis fast
immer in der rhythmischmelodischen Verformung des Wortes oder bestimmter Worte
einer szenisch-musikalischen Handlung. Der scharfe und maliziöse Geist Rossinis
neigte dazu, die Absurdität bestimmter Sätze und Äußerungen aufs Korn zu nehmen, die im täglichen Leben von Adel und Bürgertum sinnlos waren und deshalb
leicht ins Lächerliche gezogen werden konnten, ebenso wie dies bei den stereotypen
Formen mittelmäßiger Dichter der Opera seria möglich ist. Die Oper ist an und für
sich eine Absurdität. Rossini hütete sich davor, sie zu reformieren, wie Gluck es versucht hatte. Er sprang mitten hinein, akzeptierte Formen und Konventionen und begann, sie neu zu kombinieren und auf seine Art zu verwenden mit Hilfe der vorgezeichneten Sprache eines präzisen, kommunikativen Elements: des Rhythmus. Und
zwischen dem musikalischen Rhythmus und dem des täglichen Lebens in allen seinen tiefen oder banalen Wandlungen scheint Rossini einen direkten Zusammenhang
herzustellen.
Dieses Zusammenhangs ist sich Rossini durchaus bewußt, wenn er in dem gleichen,
von Zanolini berichteten Gespräch folgende klare Definition gibt: »Der Ausdruck der
Musik ist nicht der gleiche wie der Ausdruck der Malerei. Er besteht nicht in der lebendigen Darstellung äußerer Wirkungen der Gemütsregungen, sondern darin, im
Hörer solche Regungen zu wecken. Darin liegt die Kraft der Sprache, daß sie >ausdrückt< und nicht >imitiert<. Jedoch ist die Kraft der Sprache >extensiver<... der musikalische Ausdruck liegt, wie ich Euch sagte, im Rhythmus. Im Rhythmus liegt die
ganze Kraft der Musik. Die Töne dienen nicht dem Ausdruck, es sei denn als Elemente, aus denen sich der Rhythmus zusammensetzt.« Dieser bereits erwähnte
Ausspruch von 1836 erscheint sehr wichtig, denn er führt uns in das Zentrum seines
musikalischen Realismus, sowohl in der Opera buffa wie auch in der Opera seria. In
der Opera buffa stellt der Rhythmus ein absolutes Element dar, auf dem der komisch-musikalische Ausdruck beruht. Dennoch paßt Rossini den musikalischen
Rhythmus niemals der Silbentrennung an, sondern verändert die Silbenartikulation
des Wortes gemäß der Logik des musikalischen Rhythmus, er unterwirft sie der unerbittlichen Raum-Zeit-Struktur der rhythmischen Symmetrie.
Das Wort wird sozusagen unterbrochen, automatisiert, oft sogar im Takt der Noten
buchstabiert, was eine der häufigsten und typischsten Formen von Rossinis Burleske darstellt. Sicher war diese Methode nicht absolut neu, sie leitete sich von typi-
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schen Formeln der komischen Oper des 18. Jahrhunderts ab, aber Rossini erhebt
sie jetzt zum strukturellen Prinzip der komischen Wirkung. Während der Rhythmus
im Vorbild der komischen Oper des 18. Jahrhunderts fast immer abstrakt, instrumental, unabhängig vom Wort und dessen Bedeutung war, dient der emotionale Sinngehalt des Wortes bei Rossini oft dazu, rhythmisch-sprachlich abnorme Lösungen zu
erzielen.
Rossini ist sich der szenisch-musikalischen Bedeutung dieser rhythmischen Umwandlung der Gesangskunst des 18. Jahrhunderts und ihrer Belcanto-Stilelemente
bewußt und versteht es, eine virtuose Überstruktur (die üblicherweise dem freien
Ermessen der Sänger überlassen blieb) radikal in ein Ausdrucksmittel umzuwandeln,
das in der komischen Oper zu einem lebhaften Mittel der Parodie wird durch die mechanische Verformung von Empfindungen und Äußerungen, die objektiv zur Wirklichkeit des täglichen Lebens gehören. Genauso wird Bergson es später theoretisch
darstellen. Aber es ist seltsam, daß der französische Philosoph, der das Problem der
»signification du comique« in Worten, Gebärden und Situationen des Lebens so
scharf erkannt hat, sich darauf beschränkt hat, es im ästhetischen Bereich ausschließlich an Hand von Beispielen des Schauspiels (von Moliere bis zum Vaudeville) aufzuspüren und nicht an die Opera buffa und vor allem an Rossini gedacht
hat, bei dem Begriffe wie »le trucage mecanique de la vie« und »l'automatisme installe dans la vie et imitant la vie« ihre eindeutigste und beweiskräftigste, ästhetische
und psychologische Bestätigung der Bergsonschen These finden.
Rossini ergreift eine Konvention, zerlegt sie, löst sie aus ihrer Erstarrung, erweitert
sie und füllt sie mit lebendigem, der sozialen Situation seiner Zeit gemäßen Inhalt,
genauso wie Carlo Goldoni es im venezianischen Theater getan hat. Rossini schafft
das authentische komische Musiktheater, worin die Musik das unmittelbare Empfinden der Alltäglichkeit umwandelt in die physische Freude an Klang und Rhythmus.
Das Erbe, das Rossini seinen Nachfolgern und insbesondere Verdi hinterlassen hat,
ist freilich in der anderen großen Dimension seines Genius zu suchen: im dramatischen Höhepunkt der Ouvertüre zum »Wilhelm Tell« (1829). Danach legt Rossini die
Toga des Opernkomponisten ab und überläßt, erst 37 Jahre alt, anderen die Aufgabe, die Kastanien aus dem Feuer zu holen.
Quelle: Programmheft Hamburgische Staatsoper 1980/81, „Italiana in Algeri“