Buchbesprechung T. Coraghessan Boyle, América

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Buchbesprechung T. Coraghessan Boyle, América
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Buchbesprechung
T. Coraghessan Boyle, América
Aus dem Amerikanischen von Werner Richter.
München: dtv 1998. 388 Seiten. Euro 9,97
ISBN 3-423-12519-5
Inhaltsverzeichnis
Informationen zu Werk und Autor
+ Empfehlung / Schulstufe
+ Zur Orientierung
+ Inhaltsangabe
+ Der Autor T. Coraghessan Boyle
+ Auszüge aus einem Interview mit T. C. Boyle
+ Die Werke von T. C. Boyle
Arbeitsaufgaben / Themenbereiche
+ Aufgabe 1: Die Struktur des Romans
+ Aufgabe 2: Die Personen des Romans
+ Aufgabe 3: Sprache und Stil
+ Aufgabe 4: Fremdenfeindlichkeit und alltäglicher, schleichender Rassismus
Lösungsvorschläge zu den Arbeitsaufgaben und Zusatzmaterialien
+ Lösungsvorschlag zu Aufgabe 1: Die Struktur des Romans
+ Lösungsvorschlag zu Aufgabe 2: Die Personen des Romans
+ Lösungsvorschlag zu Aufgabe 3: Sprache und Stil
+ Lösungsvorschlag zu Aufgabe 4: Fremdenfeindlichkeit und alltäglicher, schleichender Rassismus
Zusatzmaterialien
+ Zusatzmaterialien 1: Vom Schmelztiegel zur Salatschüssel
+ Zusatzmaterialien 2: Leben wie im Club Med
+ Zusatzmaterialien 3: Nordamerikanische Innenstädte
Weitere Vorschläge für den Unterricht
+ Schreibvorschlag 1: Neuer Schluss
+ Schreibvorschlag 2: ... und nach dem Ende?
+ Schreibvorschlag 3: Brief von América
+ Schreibvorschlag 4: Interview mit Cándido
+ Schreibvorschlag 5: Dialog zwischen Mossbacher und Cándido
+ Schreibvorschlag 6: Plot einer neuen Geschichte
+ Schreibvorschlag 7: Buchbesprechung
+ Schreibvorschlag 8: Vorstellung einer Person
+ Schreibvorschlag 9: Erfahrungsbericht von Mossbacher
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+ Schreibvorschlag 10: Reaktion auf einen Leserbrief
+ Projektvorschläge
Themenbereiche in Aktion Sprache und Stichwort Literatur
+ Themenbereiche in Aktion Sprache und Stichwort Literatur
Rezensionen
+ Rezension 1: Wiener Zeitung
+ Rezension 2: Süddeutsche Zeitung
+ Rezension 3: Berliner Morgenpost
+ Rezension 4: Frankfurter Rundschau
Weitere Tipps und Literaturhinweise
+ Tipps zum Weiterlesen, passende CDs und Verfilmungen …
+ Sekundärliteratur
Empfehlung / Schulstufe
Wir empfehlen den Roman ab der 11. Schulstufe. Insbesondere das Thema (schleichender bzw.
offener Fremdenhass, Einwanderungsproblematik …) und die Art, wie es behandelt wird – nämlich in
Form von großteils spannenden und tragisch-absurden Episoden – wird die meisten Schülerinnen und
Schüler interessieren.
Die Erzählhaltung und die einfache Erzählstruktur ermöglichen eine zügige Lektüre.
Zur Orientierung
Der liberal eingestellte Umweltschützer Delaney Mossbacher fährt mit seiner wachsgepflegten
Limousine die kurvige Straße entlang eines Cañons, um zu seiner Luxusbehausung in einem Vorort
von Los Angeles zu gelangen, als er den illegal eingewanderten Mexikaner Cándido Rincon
niederstößt.
Mit diesem Zusammenstoß beginnt eine Geschichte, beginnen eigentlich zwei Geschichten, nämlich
die der reichen Familie Mossbacher und die des illegalen mexikanischen Habenichts Cándido und
seiner jungen Frau América.
T.C. Boyle entfaltet in seinem Roman kein politisches Programm, er zeigt allerdings deutlich, oft stark
überzeichnet, den sozialen Zündstoff der Einwanderungsfrage in den USA.
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Ausführliche Inhaltsangabe
Der weiße, wohlhabende amerikanische Mittelstandsbürger Delaney Mossbacher ist engagierter
Umweltschützer, er schreibt auch – quasi als Zeitvertreib, denn für seinen Lebensunterhalt müsste er
dank einer Erbschaft nicht arbeiten – für die Zeitschrift Wide Open Spaces eine Kolumne, wohnt in der
Luxussiedlung Arroyo Blanco Estates und ist liberal eingestellt. Das heißt, er ist eigentlich nur
prinzipiell tolerant und „politically correct“, eben nur so lange es die gesellschaftlichen Probleme bloß
als unangenehme Nachrichten im Fernsehen gibt, aber nicht in seiner Enklave des Wohlstands.
Die Idylle der Familie Mossbacher – Kyra Mossbacher ist eine rastlose, karrierebesessene und
arbeitssüchtige Immobilienmaklerin, der Sohn ein nintendosüchtiger Sechsjähriger – nimmt ein jähes
Ende, als Delaney Mossbacher den illegal eingewanderten mexikanischen Wanderarbeiter Cándido
Rincon mit dem Auto niederstößt, ihn schwer verletzt und versucht, ihn mit 20 Dollar abzuspeisen:
„Delaney sah nichts als Büsche und Baumwipfel, aber jetzt wusste er, wo der Mann war – dort unten
lag er, zwischen den Krüppeleichen und Manzanitasträuchern. Die glasfaserverstärkte Stoßstange
seines Acura hatte dieses klägliche Bündel aus Knorpeln und Knochen ganz einfach den Abhang des
Cañon hinabgeschleudert, wie einen pfeilschnellen Pingpongball, und wie groß war die Chance, so
etwas zu überleben? Auf einmal war ihm übel, durch seinen Kopf rasten wüste Bilder aus dem RealityTV – Schusswechsel, Messerstechereien, Autounfälle, die endlose Parade von Opfern, die einem
jeden Tag aufs Neue serviert wurde – und etwas Brennendes, Säuerliches stieg ihm die Kehle auf.
Warum er? Warum musste das ausgerechnet ihm passieren?“
Boyle ,T. Coraghessan: América. München: dtv 1998. S. 14.
Ab diesem Zeitpunkt kreuzen sich die Wege der reichen amerikanischen Familie und der
mexikanischen illegalen Einwanderer zwar nicht direkt, aber das Leben der Reichen da oben in den
Arroyo Blanco Estates wird bis zum furiosen Finale des Buches indirekt von den Bettelarmen da unten
im Cañon verändert.
Es scheint zunächst, als würde Cándido, der sich schwer verletzt zu seiner blutjungen
siebzehnjährigen schwangeren Frau América, die Schwester seiner ersten Frau, schleppt, den
Zusammenprall mit der Welt der Reichen nicht überleben. Einen Arzt kann sich das Paar, das voller
Hoffnungen illegal und unter schlechtesten Bedingungen im von Dornengestrüpp bewachsenen
Topanga Cañon campiert, nicht leisten. Das Paar war erst vor kurzem über den Tortilla Curtain – so
die Bezeichnung für die Grenze zwischen Kalifornien und Mexika und so auch der amerikanische
Originaltitel des Romans – ins gelobte Land, ins vermeintliche Paradies Kalifornien gelangt.
Ziel all ihrer Träume ist es, dass Cándido durch illegale und mies bezahlte Arbeit so viel Geld
verdienen kann, dass das Paar sich eine menschenwürdige Behausung in einem von Mexikanern
bewohnten Viertel von Los Angeles leisten kann.
Durch die schwere Verletzung Cándidos muss América auf Arbeitssuche gehen, wird bei einer für die
Gesundheit schädlichen Arbeit mit einem Hungerlohn abgespeist und schlussendlich im Cañon auch
noch vergewaltigt.
Im gesamten Verlauf des Romans erleiden die Mexikaner ein Unglück nach dem anderen, eine
Tragödie löst die nächste ab: Sie werden in Los Angeles ausgeraubt, Cándido setzt den Cañon in
Brand und ihre Ersparnisse verbrennen dabei, ihr Baby kommt blind auf die Welt, eine Schlammlawine
reißt ihre ärmliche Behausung weg und tötet ihr Kind. Ihnen bleibt am Ende buchstäblich nichts mehr
als das nackte Leben.
Das „Eindringen des Bösen“ in die vermeintlich heile Welt der Familie Mossbacher erfolgt nach und
nach. Zuerst werden die beiden Schoßhündchen der Familie, Osbert und Sacheverell, von Kojoten
verschleppt und getötet, dann verschwinden nach und nach Gegenstände und schließlich tauchen
düstere, unerwünschte Gestalten im Villenviertel auf.
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Als die Bürgerversammlung der Arroyo Blanco Estates erst die Errichtung eines Tors, später den Bau
einer Mauer und einen Wachdienst für das Villenviertel fordert, ist Delaney Mossbacher zwar zunächst
halbherzig dagegen, fühlt sich aber bald von den Latinos bedroht und wird vom Liberalen zu einem
üblen Rassisten, der die mexikanischen Einwanderer verfolgt, weil er sich von dem riesigen Heer
mexikanischer Einwanderer bedroht sieht.
Nach einem Brand im Cañon, der von Cándido ausgelöst wird und das Villenviertel massiv bedroht,
beginnt Mossbacher, die illegalen Einwanderer voller Hass zu verfolgen.
In einem furiosen Romanfinale reißt eine gewaltige Schlammlawine, eine Folge der durch den Brand
hervorgerufenen Erosionen, Cándido, seine Frau América, ihr Baby und Delaney Mossbacher mit:
„‘Das Baby‘, japste er, und er weinte nicht, nein, er weinte nicht. ‚Wo ist das Baby?‘
Sie antwortete nicht, und er fühlte die Kälte in seinen Adern sickern, eine solche Kälte und Müdigkeit,
wie er sie noch nie verspürt hatte. Das dunkle Wasser war rings um ihn herum, Wasser, soweit das
Auge reichte, und er fragte sich, ob ihm je wieder warm werden würde. Über das Fluchen, über den
Kummer war er hinaus, er war bis ins tiefste Mark betäubt. Das alles, ja. Aber als er aus dem
schwarzen Strudel der Strömung das weiße Gesicht auftauchen sah und die weiße Hand sich an die
Dachschindeln klammerte, da streckte er den Arm aus und ergriff die Hand.“
Boyle ,T. Coraghessan: América. München: dtv 1998. S. 389.
Der Autor T. Coraghessan Boyle
T. Coraghessan Boyle wurde 1948 in Peekskill, New York, geboren und lebt zur Zeit mit seiner Frau,
mit der er mittlerweile seit mehr als 20 Jahren verheiratet ist, und drei Kindern brav-bürgerlich in
Montecito, einem noblen Vorort von Los Angeles. Kauf und Renovierung des vom Stararchitekten
Frank Lloyd Wright erbauten Hauses hat Boyle mit dem Verkauf der Filmrechte von The Road to
Wellville finanziert.
In Biografien wird immer wieder auf Boyles schwierige Kindheit und ein ausschweifendes Leben in
den 70er Jahren hingewiesen. Weiters wird die Legende eines „Enfant terrible der Literatur“ gepflegt.
Tatsache ist, dass einerseits beide Elternteile Boyles alkoholabhängig waren und deshalb früh
starben. Andererseits hatten sie aber ein geregeltes Einkommen als Busfahrer bzw. Sekretärin hatten,
waren überzeugte Katholiken und ermöglichten ihrem Sohn eine gute schulische Bildung. Boyle
erlebte wohl eine typische Kindheit der amerikanischen unteren Mittelschicht der sechziger Jahre.
Massive Vernachlässigungen, seelische und physische Misshandlungen dürften Boyles Kindheit nicht
dominiert haben.
Schwierigkeiten in der schulischen Karriere bezeugen eher eine schulische Unterforderung als eine
Minderbegabung, denn Boyle erwarb seinen M.F.A. und später auch seine Doktorwürde im Fach
Englische Literatur des 19. Jahrhunderts an der Iowa State University jeweils mit summa cum laude.
Um dem Kriegsdienst in Vietnam zu entgehen, nahm Boyle eine Stelle als Lehrer an einer Schule mit
vielen sozialen Problemen – offener Drogenkonsum und physische Gewalt waren an der
Tagesordnung – an. Die Hoffnungslosigkeit und die Erkenntnis, nichts verändern zu können, führten
dazu, dass Boyle schließlich selbst Drogen konsumierte:
„I had never taken any teaching course. (…) This was a very tough slum school, mainly black and
Puerto Rican. I had to rip their shirts, throw them against the wall, get physical. (…) At the same time
this was when I started to get into heroin and hang out with all those people. So I was up all night
stoned, and I had to go in and do this job. It just about killed me.“
Hanser online Autorenarchiv: Boyle (http://www.hanser.de/literatur/autoren/boyle.htm).
Die Informationen stammen aus Markus Schröder: Nice guys finish last. Sozialkritik in den Romanen T. Coraghessan Boyles
(Arbeiten zur Amerikanistik 22). Essen: Die blaue Eule 1997.
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Boyle verfasste Kurzgeschichten und schaffte es auch durch das Schreiben, sich aus seiner
hoffnungslosen psychischen und physischen Lage zu befreien. Er bewarb sich 1972 am anerkannten
Writers Workshop der Iowa State University.
Nach seinem Universitätsabschluss und einer Tätigkeit als Redakteur der Iowa Review – in dieser Zeit
veröffentlichte er bereits Kurzgeschichten – bekam Boyle einen Lehrauftrag für Creative Writing an der
University of South California, wo er noch immer als beamteter Professor lehrt.
In seiner Freizeit engagiert sich Boyle für Umwelt und Politik, allerdings abseits von Parteien und
Organisationen. Zur Vermarktung seiner bewegten Vergangenheit sagt Boyle:
„People romanticize the picture of a writer, romanticize me, in fact, and think that the way to be a writer
is to be stoned all the time. (…) Having a family and having a stable life is absolutely essential to any
writing I´ve ever done.“
Hanser online Autorenarchiv: Boyle (http://www.hanser.de/literatur/autoren/boyle.htm).
Die Informationen stammen aus Markus Schröder: Nice guys finish last. Sozialkritik in den Romanen T. Coraghessan Boyles
(Arbeiten zur Amerikanistik 22). Essen: Die blaue Eule 1997.
Auszüge aus einem Interview mit T.C. Boyle
In einem Interview mit der Sonntagszeitung vom 19.07.1998 spricht T. C. Boyle unter anderem über
die Gegend, in der er wohnt, über Political Correctness, über den Roman América und über das
Schreiben:
Mr. Boyle, Sie leben in einem Frank-Lloyd-Wright-Haus im kalifornischen Nobelort Montecito. Wie
gefällt es Ihnen unter all den Schönen und Reichen?
Boyle: Nun, man sieht sie selten. Manchmal sieht man jemanden im Restaurant, und man fragt sich:
Ist das nicht der und der? Damit hat es sich. Ich kenne meine Nachbarn nicht besonders gut. Ich habe
meine Hardcore-Gruppe alter Freunde, und die sind weder schön noch reich. Die sind eher ein
bisschen degeneriert (lacht). (…)
Was ist denn überhaupt eine gute Story?
Boyle: Meine Geschichten sind oft ein wenig verdreht, pervers, dunkel und von unterschwelligem,
widerborstigem Humor. Jede Story, die diese Voraussetzungen erfüllt, ist gut. Riven Rock passt in
diese Kategorie. Ich habe das Buch als schwarze Komödie geschrieben. Man kann über bestimmte
Dinge lachen, aber am Schluss ist man, so hoffe ich, bewegt. Das gleiche gilt für América. Es ist voller
Komik und Satire, gleichzeitig aber bewegend und engagiert. Überhaupt sind alle meine Bücher
untereinander ja irgendwie verbunden. Ich habe das selbst lange Zeit nicht realisiert. Aber zum Glück
werde ich ab und zu interviewt und muss ein bisschen nachdenken (lacht). (…)
Wie recherchieren Sie Ihre Bücher?
Boyle: Ich lese vor allem – um mich zu inspirieren. Im Moment gerade über die Umweltbewegung, das
Artensterben und die Evolution – im Hinblick auf mein nächstes Buch. Einige Dinge muss ich auch
sehen: Für América zum Beispiel bin ich viel in Mexiko herumgereist. In Tijuana bin ich nachts den
Grenzzaun entlanggegangen und habe mit Leuten gesprochen, die drüberklettern wollten, um in die
USA zu gelangen. (…)
Wie arrangieren Sie Ihre Geschichten?
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Boyle: Überhaupt nicht. Es passiert einfach, indem das Buch wächst. Ich arbeite von Tag zu Tag, und
was ich am Vortag geschrieben habe, schreibe ich jeweils ab, um mich wieder in die richtige
Stimmung zu bringen. Bei einem Thriller kann man die Struktur vielleicht vorher festlegen, aber gute
fiktionale Literatur ist einzigartig, jedes Buch muss seine eigene Form finden. Was ich allerdings
immer zuerst brauche, ist ein Titel. Das ist eine Art Organisationsprinzip. Das hilft sehr. (…)
Wie halten Sie es denn mit der Political Correctness? Fühlen Sie sich davon nicht eingeschränkt?
Boyle: Überhaupt nicht. Ich bin gegen die Political Correctness. Political Correctness ist Faschismus,
ist Religion. Sie gibt den rechten Weg vor. Und alles, was abseits steht, ist nicht erlaubt, nicht einmal
in Diskussionen. Ich wurde im Zusammenhang mit América angegriffen. Man warf mir vor, ich hätte
mich erdreistet, aus der Sicht eines Mexikaners zu schreiben, ohne selbst Mexikaner zu sein. Das ist
doch völlig absurd. Wenn man jemanden aus einer anderen Kultur oder vom anderen Geschlecht
verstehen will, was gibt es dann Besseres, als sich in seine Rolle zu versetzen? Aber die politisch
Korrekten sagen, man kann eine Frau nur verstehen, wenn man selbst eine ist, und einen Litauer nur,
wenn man Litauer ist. Das ist das engstirnigste und dümmste Denken, das ich mir überhaupt
vorstellen kann. Ich lasse mir von niemandem sagen, was ich zu denken habe und worüber ich
schreiben darf. (…)
Wie sind Sie denn als Jugendlicher zu den Hippies gekommen?
Boyle: Na gut, sprechen wir von der Jugend. Ich habe meine Jugend verschwendet. Ich war zornig,
ich war degeneriert, ich war ein Punk. Aber ich habe mich selbst aus dem Dreck gezogen. Ich verließ
New York und ging zum Studium nach Iowa. Und ließ mein ganzes altes Leben zurück.
Wie das?
Boyle: (lacht) Die Literatur war meine Rettung. Schon als ich mit all den Junkies rumhing, wusste ich:
Ich selbst bin kein Junkie, ich bin nicht so blöd wie die, und ich werde nicht mit 22 sterben. Warum?
Weil ich im Gegensatz zu denen Bücher las. Und weil ich die Hoffnung hatte, Schriftsteller zu werden.
Zwar hatte ich noch nie etwas geschrieben, aber ich dachte, eines Tages werde ich etwas schreiben –
und begann dann tatsächlich. Ich habe Glück gehabt. Innerhalb von sechs Monaten hat ein Magazin
zwei Storys akzeptiert, und das spornte mich an, nach Iowa in ein Writing Program zu gehen. Ich war
vorher nie in Iowa gewesen, ich war überhaupt nie westlich von New Jersey gewesen. Ich habe mein
Leben komplett geändert und wurde ein guter Student. Ich wusste, was ich wollte – und schaute nie
zurück. (…)
Sie sagten, Amerika sei hier vollendet. Doch in América schildern Sie die Turbulenzen, die die
Immigration aus Lateinamerika mit sich bringt.
Boyle: Man muss unterscheiden. Der Mix der Kulturen und der Rassen, wie man ihn in L. A. findet, ist
absolut großartig. L. A. ist eine Versuchsstadt. Keine andere Stadt weltweit ist ähnlich polyglott. Das
ist das Ende des Rassismus. Das eigentliche Problem der Immigration – und ich habe in América
beide Seiten zu zeigen versucht – ist die Überbevölkerung. Wir im Norden schlucken die
mexikanische Überbevölkerung. Mexiko ist ja ein Einparteienstaat, der seit Jahren von einer kleinen
Oligarchie kontrolliert wird. Früher wurde die Großfamilie gefördert, nach dem Prinzip: Je mehr Leute
wir haben, desto stärker sind wir. Mit der Folge, dass heute jährlich eine Million Menschen auf den
Arbeitsmarkt drängen, und dies in einem Land mit einer Arbeitslosigkeit von 40 Prozent. Natürlich
kommen die hierher. Wir sind Tiere, wir gehen dorthin, wo die Ressourcen sind. Deshalb haben wir im
Buch das Bild der Kojoten.
Sie haben in América ein düsteres Bild des Immigrationsproblems gezeichnet. Sogar ein liberaler
Geist wie die Hauptfigur, Delaney Moosbacher, fürchtet sich vor den Mexikanern.
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Boyle: Moosbacher ist ein Umweltschützer. Und alle Umweltschützer sind in ihrem Herzen gegen die
Immigration, nach dem Prinzip: Je mehr Leute wir haben, desto mehr Umweltverschmutzung. So
einfach ist das. Die Grünen sind an sich sehr liberal. Sobald es aber um die Immigration geht, sind sie
reaktionär.
Was kann man gegen die Überbevölkerung tun?
Boyle: Nichts. Man kann gar nichts tun. Es wird auf lange Sicht keine Landesgrenzen mehr geben. Es
kann gar keine Grenzen und nationalen Identitäten mehr geben. Alles wird unter der wachsenden
Bevölkerung zusammenbrechen. Außer, es passiert was, Seuchen, Kriege, Klimaveränderungen oder
Hungersnöte. Wir werden vermehrt Territorialkriege erleben, die Leute werden wie primitive Stämme
um Land und Ressourcen kämpfen. Je mehr Leute, desto knapper die Ressourcen. Ich glaube nicht,
dass man etwas tun kann, die Spezies Mensch wird einfach in einem Desaster enden.
Verstehen Sie sich als politischer Schriftsteller, Mr. Boyle?
Boyle: Ich fürchte ja. Wenn auch weniger stark als andere. Wenn ich eine politische Meinung abgeben
möchte, würde ich Essays schreiben. Aber mein Zugang ist ein ästhetischer, ich versuche einfach,
gute Kunst zu machen. Aber plötzlich merke ich, dass ich mich mit politischen Themen befasse. Sie
sind nicht vorherrschend, aber sie sind vorhanden. América ist zwar nicht das, was man gewöhnlich
als politischen Roman bezeichnet. Politische Romane funktionieren nicht, weil ihre Botschaft eine Art
Propaganda ist, und die verdeckt die Kunst. Ich habe keine Botschaft, ich will niemanden überzeugen.
Was wollen Sie denn?
Boyle: Ich will, dass der Leser das Ende des Buches entdecken will. Ich will den Leser verführen, sich
aufgrund meiner Ansichten eine eigene Meinung zu bilden. Die beste Kunst ist die, welche den
Betrachter oder den Leser einlädt. Das ist auch der Grund, warum ich keine Genre-Schreibe mag. Sie
lädt den Leser nicht ein, sondern sie erzählt einfach eine Geschichte. Ich aber möchte den Leser
teilhaben lassen.
Die Werke von T. C. Boyle
Wassermusik (1987), Roman
Der Roman spielt in England und in Afrika und verquickt das Leben des Forschers Mungo Park mit
dem eines kriminellen Überlebenskünstlers.
World’s End (1989), Roman
Mächtige Großgrundbesitzer und Indianer prallen in diesem Roman aufeinander; Geschichte wird am
Beispiel der Landnahme durch die Weißen im Gebiet der Kitchawanken-Indianer dargestellt. Der
Roman ist ein Panorama von 300 Jahren amerikanischer Geschichte.
Grün ist die Hoffnung (1990), Roman
Wenn der Fluss voll Whiskey wär (1991), Erzählungen
Der Samurai von Savannah (1992), Roman
Ein Japaner kommt in eine Künstlerkolonie und entfacht bei deren Mitgliedern rassistische Gefühle.
Willkommen in Wellville (1993), Roman
Der Roman ist eine Satire auf den amerikanischen Gesundheitswahn.
Tod durch Ertrinken (1995), Erzählungen
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América (1996), Roman
Riven Rock (1998), Roman
Fleischeslust (1999), Erzählungen
Arbeitsaufgaben/Themenbereiche
Aufgabe 1: Die Struktur des Romans
!
Wie viele Erzählstränge können Sie erkennen und wie stehen diese miteinander in Verbindung.
Wann treffen, überkreuzen oder berühren sich diese direkt bzw. indirekt?
!
Wie leben die Mossbachers, wie die Mexikaner?
!
Beschreiben Sie die Orte und Schauplätze, an denen der Roman spielt.
!
Listen Sie alle Unglücksfälle, Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen etc. auf, die der
mexikanischen Einwandererfamilie passieren und zugefügt werden. Beschreiben Sie sie.
!
Glauben Sie, dass T.C. Boyle damit übertreibt oder könnte so etwas auch in der „Realität“
passieren?
!
Beschreiben Sie, wie die „heile Welt“ der Familie Mossbacher in ihrem Luxusghetto langsam
„zerfällt“.
Aufgabe 2: Die Personen des Romans
!
Beschreiben Sie die Entwicklung Delaneys Mossbacher vom liberalen Umweltschützer zum
Rassisten.
!
Charakterisieren Sie seine Frau Kyra.
!
Charakterisieren Sie Cándido Rincon und seine Frau América.
!
Beschreiben Sie die Handlungsweise(n) der Bewohner der Villensiedlung Arroyo Blanco Estates.
Warum bauen sie eine Mauer um ihre Siedlung und schotten sich damit von ihrer Umwelt ab?
Können Sie ihre Handlungsweise verstehen? Wie würden Sie selbst als Bewohner so einer
Siedlung handeln und warum gerade so?
Lesen Sie dazu vorher die Zusatzmaterialien über die Stadt- und Bevölkerungsentwicklung in
Kalifornien von S. Geisel, E. Ribbeck und R. Sliwa-Schneider.
!
Verfassen Sie einen Dialog, in dem Delaney Mossbacher und Cándido über ihre jeweiligen
Beweggründe, Vorstellungen, Vorurteile etc. diskutieren.
!
Kommentieren Sie folgendes Zitat:
„Man ärgert sich also über die Unmöglichkeit, in bereitwillig edler Identifikation in die armen
Latinos hineinzuschlüpfen und dort zu bleiben bis zum glücklichen Ende, fühlt sich mies, weil
einem das uramerikanische „Scheißbohnenfresser“ nicht nur einmal auf der Zunge liegt, ärgert
sich, weil sie verbohrt sind, diese Mexikaner, kurzsichtig und geldgierig und mit
schlafwandlerischem Geschick stets das größtmögliche Unglück heraufbeschwören, und fühlt sich
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!
mies, weil man gegen Kojoten und anderes Gelichter selbstverständlich auch eine zwei Meter
fünfzig hohe Mauer bauen würde.“
Hochgatter, Paulus: Pretty bad feelings. In: Falter/Literaturbeilage vom 04.10.1996
Aufgabe 3: Sprache und Stil
Beschreiben Sie Sprache und Stil des Romans und bringen Sie Beispiele für Ihre
Untersuchungsergebnisse.
Aufgabe 4: Fremdenfeindlichkeit und alltäglicher, schleichender Rassismus
!
!
Definieren Sie die Begriffe „Rassismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“.
Können Sie Fremdenfeindlichkeit / Rassismus in Ihrer Umgebung orten? Wenn ja, wie äußert sich
dies?
!
Was könnte man Ihrer Meinung nach gegen Fremdenfeindlichkeit / Rassismus konkret
unternehmen?
!
Analysieren Sie den „Koyotenvergleich“ (S. 237–241), den Delaney Mossbacher in seinem Artikel
zieht? Welche Schlussfolgerungen zieht Mossbacher daraus?
!
Wie stehen Sie zu dieser Position Mossbachers? Wäre die Einstellung Mossbachers nach Ihrer
Definition von „Rassismus“ und „Fremdenfeindlichkeit“ rassistisch bzw. fremdenfeindlich?
!
Wie werden die Mexikaner im Roman – vor allem im Alltag – diskriminiert? Wie reagieren die
Einheimischen auf die illegalen arbeitssuchenden Mexikaner im „Vermittlungszentrum“? Finden
Sie Beispiele und kommentieren Sie diese.
!
Welche Formen der Diskriminierung von Ausländern können Sie in Österreich feststellen?
!
T.C. Boyle sagt in einem Interview sinngemäß, dass die Einwanderung in die USA nicht
unbegrenzt sein könne. Kommentieren Sie Boyles Aussagen, die im folgenden Zeitungsausschnitt
wiedergegeben werden:
„Auch für Boyle ist Amerika bisher das Land der ‚Immigration‘ gewesen, das verschiedene
Volksgruppen aufgenommen hat. ‚Wollte man das Ganze optimistisch betrachten, dann könnte
man sagen: Es wird auch in Zukunft funktionieren.‘ Boyle findet freilich, dass Amerikas
‚multikulturelle Gesellschaft‘ inzwischen an Grenzen gestoßen sei. Der Menschenstrom aus Asien
und Lateinamerika stellt in seinen Augen die liberalen Prinzipien des Landes auf eine harte Probe.
Der Autor registriert in den USA eine heftige ‚Anti-Immigrationsstimmung‘, weil die Zahl der
Zuwanderer niemals so hoch gewesen sei wie jetzt, nicht einmal im 19. Jahrhundert. Boyle spricht
sich für ein Moratorium bei jeglicher Immigration aus, weil sie unreguliert nach seiner
Überzeugung nicht nur die ökonomischen, sondern auch die politischen Grundlagen Amerikas
gefährde. Allein eine solche Maßnahme erlaube nämlich noch ein Urteil darüber, ob die
verschiedenen Volksgruppen gerade in den südlichen Bundesstaaten der USA sich
ausbalancierten, stabilisierten und vermischten. Andernfalls sei ‚das Land in Gefahr auseinander
zu fallen‘.“
Müller, Helmut L.: Ihr da oben – wir da unten. In den USA ist die Einwanderung zum Streitfall geworden. In: Salzburger
Nachrichten vom 01.02.1997
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!
Auch ins „reiche Österreich“ wollen viele Menschen kommen, weil sie dort bessere
Zukunftsaussichten für sich erhoffen. Wie stehen Sie zu dieser Tatsache? Sollte man diese
Menschen zu uns kommen lassen, unter welchen Bedingungen, wie viele …? Diskutieren Sie
diese Frage.
!
Schreiben Sie an die im österreichischen Parlament vertretenen Parteien und erfragen Sie ihre
jeweiligen Positionen in Bezug auf Einwanderung bzw. auf die Aufnahme von Flüchtlingen.
!
Lassen Sie sich die Parteiprogramme schicken und fassen Sie die grundlegenden Aussagen
daraus zusammen.
Lösungsvorschläge zu den Arbeitsaufgaben und Materialien
Lösungsvorschlag zu Aufgabe 1: Die Struktur des Romans
Zur Struktur:
Es wird von zwei parallelen Lebenswegen erzählt, die eng neben einander verlaufen, von einer
zweigeteilten Welt. Die beiden Erzählstränge verlaufen voneinander getrennt, berühren sich kaum
bzw. kreuzen sich fast nie direkt, außer an den dramatischen Höhepunkten des Romans, dann aber
immer völlig zufällig und in zerstörerischer Form.
Die Struktur des Konflikts könnte man mit einem schleichenden Schwelbrand vergleichen, der lange
Zeit vor sich hinschwelt und sich dann explosionsartig ausbreitet.
Die Handlung des Romans wird von den zwei männlichen Protagonisten, Delaney Mossbacher und
Cándido Rincon, getragen. Die Geschichte wird deshalb auch aus den konträren Blickwinkeln des
Wohlhabenden und des mexikanischen Habenichts erzählt.
Jeweils von Kapitel zu Kapitel abwechselnd wird das Leben dieser unterschiedlichen Menschen und
ihrer Familie erzählt. Der abrupte Wechsel steigert die Spannung und ermöglicht die notwendige
Differenzierung zwischen den Reichen und den Armen, zwischen – im wahrsten Sinne des Wortes –
„jenen da oben“ und „denen da unten“.
Das relativ kunstlose und einfache Erzählschema zeigt – neben dem aufkeimenden Hass – auch die
Ängste auf beiden Seiten, die Missverständnisse und die Motivationen. Die Angst ist es auch, die
schließlich über die Vernunft siegt.
Die Erzählerfigur ergreift nie direkt Partei, der Erzähler lässt sich nicht in die von der Political
Correctness diktierten Polarisierung von Gut und Böse verleiten. Die Sympathien sind aber doch auf
Seite der mexikanischen Illegalen (vgl. Sie dazu die Charakterisierung der Famillie Mossbacher).
Was der Einwandererfamilie passiert:
Not, Hunger, Elend, Krankheiten; der Autounfall Cándidos; die Ausbeutung durch schlecht bezahlte
und gesundsgefährdende Arbeit; die Rechtlosigkeit; die Vergewaltigung Américas durch Mexikaner;
die Krankheit Américas; die Demütigungen durch die Amerikaner bzw. ihre deutlich gezeigte
Verachtung; die Beraubung in Los Angeles; der Brand im Cañon, der alle Besitztümer und
Ersparnisse vernichtet; die Blindheit ihres Babys und dessen Tod durch die Schlammlawine; die
Schlammlawine …
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Das „ Eindringen des Bösen“ in das Wohlstandsidyll der Familie Mossbacher erfolgt nach und
nach:
! der Unfall;
!
die Schoßhündchen verschwinden und werden von Kojoten verspeist;
!
die Katze verschwindet, Dinge verschwinden;
!
Graffiti erscheinen an den Gartenmauern;
!
Fremde, bedrohliche Gestalten, und Macho-Autos tauchen im Villenghetto auf;
!
Kyra wird von Mexikanern bedroht;
!
das Auto wird gestohlen;
!
im Cañon bricht Feuer aus, sodass das durch hohe Mauern geschützte Villenviertel evakuiert
werden muss;
!
der Erdrutsch.
Lösungsvorschlag zu Aufgabe 2: Die Personen des Romans
Personencharakterisierung:
Delany Mossbacher: Er glaubt, so etwas wie ein Henry David Thoreau der Neuzeit zu sein, arbeitet
aber für eine wenig beachtete Naturzeitschrift. Er weiß mit seiner freien Zeit wenig anzufangen. Hält
sich für einen intellektuellen Liberalen, was ihn in seinen Augen zu einem anständigen Menschen
macht: ein „liberaler Humanist ohne Verkehrssündenregister und in einem wachsgepflegten
japanischen Auto mit persönlichem Kennzeichen“. Er repräsentiert den Durchschnittsamerikaner, der
sich für einen Naturfreund, Umweltschützer, Schöngeist hält und der obendrein wohlhabend ist (er hat
geerbt und ist nicht auf Arbeit angewiesen); er lebt anfänglich in einer heilen Welt, verwandelt sich
dann langsam („schleichender Rassismus“) in einen intoleranten Egoisten und üblen Rassisten, der
Cándido Rincon verfolgt, ihn hasst.
Kyra Mossbacher:
Mossbacher Sie ist gleichberechtigt und verdient gut, ihr Doppelname Meneker-Mossbacher
deutet schon die etwas gekünstelte Gleichberechtigung an. Sie glaubt, emanzipiert zu sein, ihr
einziges Streben gilt allerdings dem Profit. Kyras Charakter erscheint deshalb etwas farblos und
eindimensional, damit soll auch ihre Oberflächlichkeit dokumentiert werden: sie ist karrieresüchtig,
dünkelhaft, geldgierig. Die Natur ist für sie Kapital, Geld in Form von Immobilien; sie lässt Mexikaner
vertreiben, weil diese die Grundstücks- und Häuserpreise verderben.
Cándido Rincon:
Rincon Er ist ein Pechvogel und Unglücksrabe, der immer gegen den drohenden
Untergang in Form von Dreck, Hunger, Hass und Verfolgung kämpft. Er will heraus aus dem Elend
und hinterlässt dabei, ohne es zu merken, eine Spur der Zerstörung und Verwüstung. Ein Vergleich
mit dem biblischen Hiob, einem ahnungslosen Sünder, drängt sich förmlich auf, denn er ist ein
Erleidender, „den eine unbekannte Macht ins Zentrum der Qualen gestellt hat und der dort nicht mehr
herauskommt.“ (Frankfurter Rundschau vom 1.3.1997)
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América Rincon:
Rincon Sie ist naiv und kommt arglos und voller Hoffnung in eine fremde Umgebung. Sie
war schon vorher das Opfer einer patriarchalisch strukturierten Gesellschaft gewesen, was in der
Vergewaltigung der damals Zwölfjährigen kulminierte. In der neuen Umgebung wird sie wegen ihrer
Herkunft und wegen ihres Geschlechts ebenso wenig als gleichberechtigt behandelt und noch einmal
vergewaltigt. Ihr Mann sieht ihre Rolle als Mutter und als Ehefrau, die darauf zu warten hat, bis ihr
Mann, der das Geld verdient, nach Hause kommt. Er erträgt die Berufstätigkeit seiner Frau auch nicht,
als er selbst dazu nicht fähig ist. Cándido gesteht América auch keine eigene Entscheidungsfähigkeit
zu. América kann sich nicht aus ihrer Lage befreien und muss passiv zusehen, wie ihr Leben immer
mehr zerstört wird. Sie geht psychisch an der ausweglosen Situation zugrunde, wird Opfer der
Gesellschaft mit deren patriarchalischen Strukturen.
Dass die Figuren teilweise etwas klischeehaft gezeichnet sind, ist nicht zu verleugnen.
Lösungsvorschlag zu Aufgabe 3: Sprache und Stil des Romans
!
Genaues, zuweilen satirisch pointiertes Erzählen; eindringliche Metaphern und Bilder, viele
Vergleiche;
!
teilweise sehr plakativer, etwas übertreibender Stil; ironisch und sarkastisch; bilderreiche Sprache,
die manchmal etwas drastisch wirkt – selbst die spanischen Eigennamen transportieren
„Bedeutung“: América; Cándido („der Einfältige“); die Tochter Scorro („Hilfe“).
!
präzise und genaue Erzählhaltung – vgl. beispielsweise die Schilderung der Geburt der Tochter in
der dunklen Hütte, die Mutter ist auf Düngemittelsäcke gebettet (biblische Analogie zur Geburt zu
Bethlehem).
Lösungsvorschlag zu Aufgabe 4: Fremdenfeindlichkeit und alltäglicher, schleichender
Rassismus
Der „ Koyotenvergleich“
Die Geisteswelt Delany Mossbachers entlarvt sich in seinen Ausführungen über die Tierpopulationen
im Alltag und das Verhalten der Koyoten im Besonderen als „unaufhaltbare Übergriffe“ der Natur. Der
1
Artikel Mossbachers endet auch dementsprechend :
„Die Koyoten jedenfalls sind auf dem Vormarsch, sie vermehren sich, um die Nischen zu füllen,
siedeln sich dort an, wo das Leben am leichtesten ist. Sie sind gerissen, scharfsinnig, hungrig und
nicht aufzuhalten.“
Die „Lösungen“ Mossbachers sehen so aus, dass niemand mehr ins Freie gehen sollte bzw. niemand
Nahrungsmittel frei zugänglich aufbewahren sollte.
Delany Mossbacher zieht den Vergleich Wildnis–Zivilisation heran, um damit die mexikanischen
Einwanderer pauschal zu stigmatisieren. Er vereinfacht damit soziale Prozesse und schafft simple
Feindbilder. Er vertritt einen Biologismus: „Wenn eine Art die andere bedroht, bedeutet das Krieg.“
1
Boyle ,T. Coraghessan: América. München: dtv 1998. S. 241.
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Zusatzmaterialien
Zusatzmaterialien 1: Vom Schmelztiegel zur Salatschüssel
Sieglinde Geisel
Vom Schmelztiegel zur Salatschüssel.
Amerikas multikulturelles Selbstverständnis wandelt sich
Wer um die Jahrhundertwende nach Amerika ausgewandert war, ließ die Alte (und oft elende) Welt
unwiderruflich hinter sich. Es ging darum, es in Amerika möglichst schnell möglichst weit zu bringen.
Um jeden Preis wollte man „Amerikaner“ werden und sprach deshalb die europäische Muttersprache
oft nicht einmal mehr zu Hause. „Was der Großvater vergessen wollte, daran will der Enkel sich
erinnern.“ Der berühmte Ausspruch von Marcus Hanson bringt es auf den Punkt: Die Besinnung auf
die eigenen Wurzeln ist ein Projekt der Enkel, die nun die Heimat ihrer Großeltern besuchen, „to
celebrate our heritage“, wie die ewig gleiche Formel heißt.
Die Weigerung, sich in den amerikanischen Mainstream einzuspeisen, ist allerdings auch ein Zeichen
für das gestiegene Selbstbewusstsein von Minoritäten, insbesondere der äußerlich und kulturell
„fremden“ Asiaten und Lateinamerikaner, die seit den sechziger Jahren die Mehrzahl der Einwanderer
stellen. Auch die Metaphorik hat sich geändert. Der „melting pot“ ist von der „salad bowl“ abgelöst
worden, manchmal ist auch vom Mosaik oder dem Kaleidoskop die Rede. Diese Metaphern zielen alle
darauf ab, dass die einzelnen Teile nicht zur Unkenntlichkeit verschmelzen, sondern Form und Farbe
behalten und so ebenfalls ein größeres Ganzes bilden.
Ethnisches Erbe ist chic, je exotischer, desto besser. Wer kann, gibt sich als „Bindestrich-Amerikaner“
(„hyphenated American“) zu erkennen, was allerdings so gut wie nicht zählt, ist der „Anglo-American“
oder (noch blasser) „European American“. Bildungsbürger fürchten daher um den Erhalt der „western
civilization“. Denn in diesem Diskurs ist selbst Shakespeare nichts weiter als ein „dead heterosexual
white male“.
Kaliforniens wütende weiße Minderheit
Dieses Klima hat den „angry white male“ der neunziger Jahre geschaffen, der sich mit der Protestwahl
von 1994 zu Wort meldete. Dass Kalifornien beim „backlash“ der bedrängten weißen Mehrheit eine
Vorreiterrolle spielt, ist kein Zufall. Denn seit die Einwanderer nicht mehr aus Europa kommen, hat
Kalifornien New York als Eingangstor zu Amerika abgelöst. Viele der Asiaten und Lateinamerikaner,
die in Kalifornien ankommen, bleiben dort, deshalb hat der prozentuale Anteil der weißen Bevölkerung
Kaliforniens im letzten Jahrhundert dramatisch abgenommen. Von 90 Prozent um 1900 fiel der Anteil
der weißen Bevölkerung 1990 auf 56 Prozent. Letztes Jahr ist die Balance gekippt: Zum ersten Mal
seit der europäischen Besiedlung sind die Weißen in einem Staat in der Minderheit. Im Jahr 2010 soll ihr
Anteil in Kalifornien laut Prognose noch weiter auf 40 Prozent zurückgehen. (Ab dem Jahr 2050 werden die
Weißen in den gesamten Vereinigten Staaten weniger als fünfzig Prozent der Bewohner stellen – ein Rückgang,
der mindestens so sehr den niedrigen Geburtenraten der Weißen wie der Einwanderung zuzuschreiben ist.)
An der Wahlurne jedoch sind die Weißen auch in Kalifornien nach wie vor eine Mehrheit: Mit Volksinitiativen –
etwa zur Aufhebung der „affirmative action“ und dem Ausschluss illegaler Immigranten von medizinischer
Versorgung und Schulbildung – verteidigen sie ihren Status. Für die Weißen ist der Minderheitenstatus eine
grundsätzlich neue Erfahrung - eine, mit der sie offensichtlich schlecht leben können. Daher ist es kein Zufall,
dass Kalifornien in einem weiteren gesellschaftlichen Trend führend ist: den „gated communities“. In seinem
Buch „The Coming White Minority“ zitiert Dale Maharidge einen weißen Kalifornier, der seinem Unmut freien
Lauf lässt: „Die Mainstream-Kultur will nicht überall Graffiti. Sie will keine großen Männergruppen, die
draußen herumstehen und Bier trinken. Sie will keine Verkäufer, die von Tür zu Tür ziehen. Sie will nicht, dass
Wäsche vor dem Fenster aufgehängt wird. Das alles gab es in unserer Community vor fünf Jahren nicht.“ Das
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größte Privileg, das eine ummauerte Siedlung Bewohnern zu bieten hat, ist die Abwesenheit der
„anderen“. Dies kommt der Wiedereinführung der Rassentrennung gleich. Offensichtlich haben die
Weißen keine Lust, sich als Minderheit die Frage stellen zu müssen, ob sie mit den anderen
Bevölkerungsgruppen lieber in den Schmelztiegel oder in die Salatschüssel steigen.
In: Neue Zürcher Zeitung vom 21./22.10.2000
Zusatzmaterialien 2: Leben wie im Club Med
Leben wie im Club Mediterrané
Eckhart Ribbeck, Leiter des Städtebaulichen Instituts der Uni Stuttgart, über die Zukunft der
Mega
Meg astädte
DIE ZEIT: Kleine, abgezäunte Luxusghettos inmitten von Slums – sehen so die Megastädte der
Zukunft aus?
RIBBECK: Nein, nicht jede große Metropole entwickelt sich so. Da sind einerseits die so genannten
world cities wie Tokio oder New York, die die weltweiten Finanz- und Handelsströme auf sich
konzentrieren und dabei sehr reich werden. Und dann gibt es die armen Schwestern der world cities,
die unkontrolliert wachsen und von den verarmten Bevölkerungsmassen fast erdrückt werden.
ZEIT: Sind solche Städte noch regierbar?
RIBBECK: Eine Stadt wie Kinshasa (die Hauptstadt des Kongo) ist es vermutlich nicht mehr. Das ist
eines jener städtischen Konglomerate, die überhaupt keine normalen Siedlungsstrukturen haben.
Stadtplanung ist dort so gut wie unmöglich.
ZEIT: Kinshasa ist ein extremes Beispiel ...
RIBBECK: Mag sein, aber alle Megastädte haben riesige Probleme. Sie wachsen nicht nur räumlich
sehr schnell, sondern verändern ständig ihre soziale Struktur. In den Metropolen des Südens geraten
neuerdings auch gewachsene Mittelschichten unter Druck, da viele Menschen traditionelle Berufe
ausüben, mit denen kein Geld mehr zu verdienen ist. Neben dem formellen Sektor entsteht dann eine
riesige Schattenwirtschaft. Gleichzeitig bildet sich eine neue, elitäre Schicht, die direkt mit der
Weltwirtschaft verbunden ist. Sie schafft sich Enklaven, Luxusghettos.
ZEIT: Manche Stadtplaner reden von sozialer Apartheid.
RIBBECK: Ja, die Schere zwischen Armen und Reichen öffnet sich immer weiter, unter den Städten
und in den Städten selbst. Aber wir sollten das selbstkritisch sehen. Die Megastädte der
Entwicklungsländer, in denen Arm und Reich auf engstem Raum aufeinander prallen, spiegeln die
globale Situation wider. Wir leben hier auf dem Wohlstandskontinent Europa. Auch wir ziehen
Barrieren hoch, um uns die Probleme vom Leib zu halten. Auch wir sind eine große Insel, ein
kontinentales Luxusghetto sozusagen.
ZEIT: Wie entwickelt sich das soziale Leben hinter den Mauern?
RIBBECK: Anders, als man annimmt, ist das soziale Leben in den Ghettos oft sehr lebendig. Die
Leute leben dort wie in einem Club Mediterrané. Es gibt pausenlos Kulturprogramme, Schulfeste,
sogar Lokalzeitungen. Gelegentlich versucht man auch, aus den eigenen Mauern auszubrechen, und
knüpft Kontakte mit Bewohnern anderer Ghettos.
ZEIT: Und der Rest der Gesellschaft wird ignoriert?
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RIBBECK: Ja, die Gemeinden verstehen sich als private Inseln. Aber ihre Mitglieder spüren, dass sie
sich nicht völlig von der Gesellschaft absondern können - nicht zuletzt weil die Viertel der Reichen
einen enormen Bedarf an Dienstleistungen haben. Sie brauchen Hausangestellte, Autowäscher,
Schuhputzer, Boten, Sicherheitsleute.
ZEIT: Den Staat brauchen sie aber offenbar nicht mehr ...
RIBBECK: Nein, sie wollen nicht, dass der Staat in ihre Enklaven hineinregiert. Das hängt auch damit
zusammen, dass viele Stadtverwaltungen nicht in der Lage sind, die Infrastruktur und die öffentlichen
Dienstleistungen auf einem gewissen Niveau zu halten. Die Bewohner der Enklaven wollen folglich mit
der problembeladenen Stadt nicht mehr in Berührung kommen. Diese Haltung ist natürlich eine
Gefahr: Die reichen Zonen versuchen, ihre Privilegien abzuschotten, indem sie zum Beispiel kaum
noch Steuern und Abgaben zahlen.
In: Die Zeit vom 18.05.2000
Zusatzmaterialien 3: Nordamerikanische Innenstädte
Rita Sliwa-Schneider
Nordamerikanische Innenstädte der Gegenwart
Sozialräumliche Aspekte
Segregationslandschaften
(…) Vergleichsweise klein sind die neuen Enklaven des gehobenen Lebensstils, die sozialräumlich
ebenso ausgegrenzt sind wie die Armen-Ghettos. Gated communities entstanden vielerorts seit den
80er Jahren. Im Rahmen der allgemeinen Maßnahmen zur Downtown-Aufwertung verwirklichen sie
auf ausgewählten city-nahen Arealen das In-Town-Living-Konzept, das den oberen
Einkommensgruppen im Downtown-Arbeitsmarkt ein suburbanes und abgeschottetes Milieu bietet.
Der Zugang zu diesen Wohnvierteln ist häufig nur mit elektronischer Kennkarte möglich. In den USA
leben schätzungsweise schon 4 Mio. Menschen in solchen Privatgemeinden. Sie sind die Antwort der
gehobenen weißen Mittelschicht auf Hyper-Ghettos und die Multikulturalisierung der Gesellschaft.
Deren Trends sind unmissverständlich: In den Schulen von Los Angeles werden z. B.126
verschiedene Sprachen gesprochen, in der Millionenstadt San Jose sprechen nur 61,5 % Englisch,
jedoch 18 % Spanisch, 13 % Koreanisch, Chinesisch, Vietnamesisch und Tagalog sowie 7 % diverse
andere Sprachen zu Hause. Der „sprachlichen Überfremdung“ schoben die Stimmbürger Kaliforniens
am 2. Juni 1998 den Riegel vor, indem sie mit großer Mehrheit ein Volksbegehren annahmen, das die
Eliminierung mehrsprachiger Schulprogramme vorschreibt, die dreißig Jahre lang durchgeführt
worden waren. Die zur Abstimmung gekommene „Proposition 227“ schreibt vor, dass alle nichtenglischsprachigen Schulkinder einen einjährigen obligatorischen Intensivkurs in englischer Sprache
besuchen müssen, bevor sie eingeschult werden. In Chicago, Denver, New York und anderen
Stadtregionen sind ähnliche Initiativen in der Diskussion.
Konzentrationsgebiete der weißen Oberschichtsbevölkerung (z. B. Newport Beach als reichster
Gemeinde von Los Angeles) und solche von Minoritäten (z. B. Boyle Heights und East Los Angeles für
die Latino-Bevölkerung oder South Central Los Angeles für die Schwarzen) schließen sich generell
aus. Im Allgemeinen nimmt in der Kernstadt mit starkem Zustrom von Minoritäten die weiße nichtspanischsprechende (non-Hispanic white „Anglo“) Bevölkerung jedoch ab. Von 1980 bis 1990 betrug
die Abnahme 8,5 %, während die Minoritäten zunahmen. Der Zuwachs der Latinos betrug 62 %, ihre
Zahl 3,5 Mio. Die Gruppe der Asiaten in Los Angeles wuchs um 109 % auf fast 1 Mio. (…).
In: Geographische Rundschau 1/1999. S. 50.
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Vorschläge zum Schreiben
Schreibvorschlag 1: Neuer Schluss
Schreiben Sie einen neuen Schluss, der Ihren Vorstellungen davon entspricht, wie der Roman
ausgehen sollte.
Schreibvorschlag 2: ... und nach dem Ende?
Schreiben Sie die Geschichte Boyles weiter. Was könnte bzw. sollte nach dem Romanschluss
passieren?
Schreibvorschlag 3: Brief von América
América schreibt nach dem Brand im Cañon an ihre Verwandten in Mexiko. Sie schreibt davon, wie es
ihr geht, was ihr passiert ist und was sie von einer möglichen Zukunft in Kalifornien / in den USA
erwartet.
Schreibvorschlag 4: Interview mit Cándido
Schreiben Sie ein Interview mit Cándido (vor der „Arbeitsvermittlung“), in dem er unter anderem über
seine Beweggründe, illegal nach Kalifornien zu kommen, seine Träume, Vorstellungen, Wünsche etc.
befragt wird und darüber Auskunft gibt.
Schreibvorschlag 5: Dialog zwischen Mossbacher und Cándido
Verfassen Sie einen Dialog, in dem Delaney Mossbacher und Cándido über ihre jeweiligen
Beweggründe, Vorstellungen bzw. Vorurteile etc. diskutieren.
Schreibvorschlag 6: Plot einer neuen Geschichte
Wäre Delaney Mossbacher tatsächlich ein liberaler und aufgeklärter Mensch: Wie hätte die Handlung
nach dem Unfall verlaufen können? Schreiben bzw. beschreiben Sie den Plot dieser Geschichte.
Schreibvorschlag 7: Buchbesprechung
Schreiben Sie eine Buchbesprechung des Romans América, etwa für eine Jugendzeitschrift. Halten
Sie sich relativ kurz und formulieren Sie prägnant.
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Schreibvorschlag 8: Vorstellung einer Person
Arbeiten Sie einen Text aus, in dem eine handelnde Person aus dem Roman sich vorstellt, ihre
Vorlieben, Gedanken, ihre Erinnerungen, ihre Hoffnungen, Pläne … vorstellt.
Schreibvorschlag 9: Erfahrungsbericht von Mossbacher
Delaney Mossbacher reist nach Mexiko, etwa in die Indiodörfer in den Chiapas, die Weißen
gegenüber sehr argwöhnisch und ablehnend sind. Was erlebt er? Schreiben Sie seinen „Erfahrungsbzw. Reisebericht“.
Schreibvorschlag 10: Reaktion auf einen Leserbrief
Schreiben Sie einen Brief an den Verfasser des folgenden Leserbriefs aus Die Presse vom
28.10.2000, in dem Sie diskursiv dazu Ihre Meinung darstellen.
Xenophobie: Tragisches Erbe der Evolution
„ Xenophobie ist nichts Nützliches“ , 16. Oktober
Es erscheint äußerst blauäugig, Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie) als „soziales Konstrukt
gesellschaftlichen Ursprungs“ zu betrachten, ohne dass für diese Behauptung irgendein Beweis
vorliegt. Auf derart schmaler Basis von Vermutungen ein nicht umkehrbares gesellschaftliches
Großexperiment zu wagen ist hochgradig leichtsinnig. Denn leider zeigen zahlreiche Befunde in eine
andere Richtung: Fremdenfeindlichkeit dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit ein tragisches Erbe der
Evolution und somit in uns weitgehend unbelehrbar verankert sein.
Allzu viele bisherige Erfahrungen verheißen nichts Gutes: es gibt – mit einer einzigen Ausnahme –
kein einziges historisches Beispiel einer multikulturellen Gesellschaft, die wirklich langfristig
reibungsfrei funktioniert. Die USA arbeiten schwer an den tiefen Spannungen und vielen drückenden
Problemen des Vielvölkerstaates. Nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie hatten die Völker nichts
Eiligeres zu tun als sich – nötigenfalls mit Gewalt – zu trennen. Vom 70jährigen Großversuch zur
Abschaffung der Nationen und Schaffung eines Sowjetmenschen sind nach dem Wegfall des Drucks
von oben doch nur wieder die Nationen übrig geblieben, die sich jetzt mit Gewalt „auseinander
setzen“. Und soeben vor unserer Haustür haben sich am Balkan die Völker (die ein Außenstehender
fast nicht unterscheiden kann) unter entsetzlichen Qualen, „ethnischen Säuberungen“ und aller
verfügbaren menschlichen Bestialität getrennt. Weitere Stichworte: Basken, Tschetschenien,
Nordirland, Sri Lanka, Judenverfolgungen …
Der Befund für eine multikulturelle Gesellschaft sieht daher leider gar nicht gut aus. Auch wenn es am
Schreibtisch gut klingen mag und es für viele Engagierte und Gutwillige durchaus passen könnte – für
viele scheint das Zusammenleben mit erkennbar anderen sehr schnell zu Aggressionen zu führen.
Wohlstand oder Druck von oben kann dabei vieles zudecken. Sollten aber wieder schlechtere Zeiten
kommen – und die Geschichte lehrt, dass es nicht ewig bergauf geht –, werden Schuldzuweisungen
und Verteilungskämpfe abseits jeder Vernunft am ehesten zwischen den kulturell unterscheidbaren
Gruppen ausbrechen, weil dieses Verhalten – leider! – uralten Gedankenmustern entspricht. Und es
wird immer politische Führer geben, die auf diesem emotionalen Klavier spielen werden.
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Ich halte daher eine multikulturelle Gesellschaft schlichtweg für eine emotionale Überforderung der
Bevölkerung, die früher oder später zu schweren Problemen und Auseinandersetzungen führt. Es ist
daher sehr leichtsinnig, unseren Nachfahren Balkan-Verhältnisse einzubrocken in dem guten
Glauben, dass es schon „gangbare Wege“ geben wird. Wer das meint, sollte einmal etwa am Balkan
oder aktuell in Israel gangbare Wege zu lehren versuchen.
Projektvorschläge
Projektvorschläge – eine Fülle von Möglichkeiten
In Verbindung mit Englisch und Geografie (Stadtgeografie, Migrationen …), Geschichte und
Sozialkunde (Einwanderungspolitik, Sozialstrukturen …), Religion (Fremdenhass, Ausgrenzung,
soziales Engagement …) ergeben sich eine Fülle von Projektmöglichkeiten
Themenbereiche in Aktion Sprache und Stichwort Literatur
Die folgenden Themenbereiche sind für die Auseinandersetzung mit T.C. Boyles America von
Bedeutung. In den VERITAS-Schulbüchern Aktion Sprache und Stichwort Literatur finden Sie dazu
wertvolle Anregungen!
Erzählsituation und Erzählerfigur:
Aktion Sprache 1, S. 95–101; Aktion Sprache 3/4, S. 59–65 und S. 69–71.
Gestaltung der Personen:
Aktion Sprache 1, S. 103–105.
Schauplätzen und Orte:
Aktion Sprache 1, S. 105–107.
Sprache (Metaphern, Symbole …):
Aktion Sprache 2, S. 118–121.
Rezensionen
Rezension 1: Wiener Zeitung
Einige Auszüge aus verschiedenen Rezensionen, die zwar insgesamt das Buch positiv beurteilen,
aber dennoch auch kritische Anmerkungen anbringen:
„Sieht man von einer mitunter gar zu eindimensionalen Schwarweißmalerei des Konflikts zwischen
Ansässigen und illegalen Einwanderern einmal ab, so bietet T. C. Boyles América einen
beeindruckenden, gänzlich unsentimentalen Blick auf die Welt, die sich heil gibt, aber die Krankheit in
den Knochen trägt.“
Mürzl, Heimo: Kojoten im Wohlstandsidyll. Zusammenprall zweier Welten:
„América“ von T. Coraghessan Boyle.
In: Wiener Zeitung vom 17.01.1999
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Rezension 2: Süddeutsche Zeitung
„Diesmal hält T.C. Boyle, Literaturprofessor an der University of Southern California, vor allem aber
Virtuose manchmal allzu süffig-üppig daherbrausender Romanströme, die Zügel seines Talents
ziemlich straff. Kaum Lauthalsbläserei, Überinstrumentierung und Metaphernverliebtheit.“
Eggebrecht, Harald: Welten im Zusammenstoß. Mit bösem Blick:
„América“ von T. C. Boyle.
In: Süddeutsche Zeitung vom 9./10.11.1996
Rezension 3: Berliner Morgenpost
„Auch sind die Darstellungen der Figuren nicht eben arm an Klischees. Andererseits ist der
Wahrheitsgehalt keinesfalls gering. Nur erzählerisch originell sind sie nicht. So liegt die Stärke dieses
Boyle-Romans kaum in der literarischen Brillanz, sondern in der sozialkritischen Aussage zu einem
Problem, das nicht nur Kalifornien beschäftigt.“
Warnhold, Birgit: Der Alptraum vom Glück.
T.C. Boyles Roman über Mexikaner, die illegal in Kalifornien leben.
In: Berliner Morgenpost vom 10.11.1996
Rezension 4: Frankfurter Rundschau
„Trotz des erzählerischen Übereifers, der vielfach zu offensichtlichen Konstruiertheit des Romans und
der zum Teil bis ins Klischee überzeichneten Figuren bietet er eine Art Unterhaltung, die tatsächlich
etwas von der Rockmusik in die Literatur einziehen lässt: (…)
Es ist nicht die Schuld Hollywoods, dass die Großaufnahme einer zur Hilfe gereichten Hand, mit
sanften Klängen untermalt, uns die Tränen ins Gesicht schießen lässt, sondern unseres Gemüts.
Boyle weiß es in jeder Hinsicht zu bedienen. Die Hoffnung allerdings, die er mit seiner abschließenden
Versöhnungsgeste heraufbeschwört, ist faul oder blind wie das Baby, das América, in biblischer
Analogie einsam in einer dunklen Hütte, gebettet auf Säcken für Düngemittel, zur Welt bringt. Ein
neuer moderner Heiland wird Amerika nicht retten. Weder den einzelnen noch die Gesellschaft.“
Sonnenschein, Ulrich: Im Zentrum aller Qualen.
T.C. Boyles neuer Roman „América“ handelt vom mittelständischen Rassenhass in den USA.
In: Frankfurter Rundschau vom 1.3.1997
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Tipps zum Weiterlesen, CDs, Verfilmungen, ...
Steinbeck, John: Früchte des Zorns (The Grapes of Wrath, erschienen 1939)
Es ist ein sozialkritischer Roman, den auch Boyles Roman América als Motto verwendet. Boyle
2
möchte die Probleme der „Okies“ auf die Gegenwart beziehen :
„I wondered, how Steinbecks´s ethos of 1939 would work in the nineties, where we have the added
complication of having close to six billion people on earth now. (…) So I wanted to re-examine
Steinbeck´s ethos in light of the new realities of today, just to see how it is like, and I didn´t know
where I was going with the book when I did start.“
Vgl. Sie dazu in América, S. 7: „Es sind keine Menschen. Ein Mensch würde nicht so leben wie sie.
Ein Mensch könnte es nicht aushalten, so im Dreck und im Elend zu leben.“
3
Vgl. Sie auch das „Kojotenbild“ bei Boyle und das Bild der Schildkröte bei Steinbeck :
„In dieser Geschichte der besitzlosen, wandernden Farmarbeiter aus Oklahoma bringt Steinbeck seine
nachdrücklichste Anklage gegen eine Gesellschaft der Besitzenden, die anonymen Geld- und
Ordnungsmächte, zum Ausdruck, die den Unterprivilegierten keine Chance gibt, sondern sie ihrer
sozialen Ausweglosigkeit überlässt. Doch bereits in einem der ersten Kapitel des Buchs
versinnbildlicht das langsame, unbeirrte Vordringen einer Schildkröte auch den zähen, instinktiven
Willen zum Überleben, die von Vitalität und moralischer Integrität gespeiste Ausdauer der einfachen
Menschen (…).
Während der Depression Anfang der dreißiger Jahre wurden vielen kleinen Farmpächtern die Kredite
gekündigt; Tausende von Familien, bereits zermürbt von Missernten, Staubstürmen und
Erosionsschäden in der dust bowl (Staubschüssel) des amerikanischen Südwestens, brachen nach
Kalifornien auf, wo ihnen von skrupellosen Agenten gute Arbeitsbedingungen vorgegaukelt worden
waren. (…) eine verzweifelte Armee des heimatlosen Proletariats eingepfercht in Lager, verhasst bei
den ansässigen Arbeitern, verachtet und ausgenutzt von den Besitzenden, von den Staatsorganen
(meist Werkzeuge der Begüterten) und der Öffentlichkeit ignoriert oder als ‚Rote‘ brutal misshandelt.“
Guterson, David: Schnee, der auf Zedern fällt. Berlin: btb / Goldmann 2000.
In dem 1994 erschienen Kriminalroman verschränken sich eine Liebes- und eine Kriminalgeschichte
ineinander. Im Jahr 1954 wird er japanischstämmige Fischer Kabuo auf der Insel San Piedro im
Pudget Sound an der Nordwestküste der USA des Mordes angeklagt. Ishmael Chambers, Redakteur
der einzigen Zeitung der Insel, verfolgt den Gerichtsprozess, mit dem das Buch beginnt …
Im Rahmen des Gerichtsverfahrens und in Form von Rückblenden wird klar, wie stark die
Inselbewohner von Vorurteilen gegen die oft seit ein, zwei Generationen auf der Insel ansässigen
Japaner – allesamt amerikanische Staatsbürger – geprägt sind. Es wird erzählt, wie dieser verborgene
Rassismus zwischen Amerikanern und Japanern während des Zweiten Weltkriegs in offenen Hass
umgeschlagen ist und in der Nachkriegszeit tiefe Narben hinterlassen hat.
Sekundärliteratur
Schröder, Markus: Nice guys finish last. Sozialkritik in den Romanen T. Coraghessan Boyles
(Arbeiten zur Amerikanistik 22). Essen: Die blaue Eule 1997.
2
Schröder, Markus: Nice guys finish last. Sozialkritik in den Romanen T. Coraghessan Boyles
(Arbeiten zur Amerikanistik 22). Essen: Die blaue Eule 1997. S. 226.
3
Beschreibung nach Kindlers neues Literaturlexikon. Band 15. München: Kindler 1988. S. 934.