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ERGONOMIE SITZEN IM ROLLSTUHL Analyse, Verständnis und Eigenerfahrung Ein Buch über Prinzipien, basierend auf praktischen Erfahrungen BENGT ENGSTRÖM 1 Ergonomie und Behinderung Was ist Ergonomie? “Ergonomie” - aus dem griechischen ergon: Arbeit und nomos: Gesetz. “Arbeitswissenschaft oder Biotechnologie ist ein Forschungsfeld, wo mit Hilfe von u.a. Anatomie, Physiologie und Psychologie untersucht wird, wie Arbeitsmilieu, Arbeitsmethoden und Werkzeug ausgeformt sein sollten, um auf bestmögliche Art und Weise dem menschlichen Körperbau und seiner Funktionsweise, sowohl physisch als auch psychisch Rechnung zu tragen. Das Ziel ist es, die schädlichen Einwirkungen der Arbeit zu verringern”. Man spricht hier von Arbeit. Was kann als Arbeit verstanden werden? Rein physisch bedeutet es, daß Energie verbraucht wird, um Arbeit zu leisten. Ökonomisch kann man sagen, dass durch Arbeit ein Produkt geschaffen wird, welches einen materiellen Wert hat. Auch der menschliche Körper verrichtet Arbeit. Wenn wir Gehen, Stehen, Sitzen und Essen oder uns waschen, brauchen wir Energie, um diese Aktivitäten auszuführen. Die notwendige Energiemenge variiert, abhängig davon wie anstrengend diese Tätigkeiten sind. Die Arbeitssituation einer Person kann von Betriebsergonomen unter ergonomischen Gesichtspunkten analysiert und bei Bedarf umgestaltet werden. Die Grundannahme, um eine Arbeitsstituation vernünftig, also ergonomisch umzugestalten ist folgende: Arbeitnehmer, die durch unökonomische Kräfte bei zehrenden Arbeitsabläufen Schäden erleiden, verursachen durch krankheitsbedingte Fehlzeiten zusätzliche Kosten für den Arbeitgeber. Wie ist das jetzt bei einer Person, die wegen eingeschränkter physischer Funktion nicht regulär arbeiten kann ? Die “Arbeitssituation” ist in einem Rollstuhl zu sitzen und den täglichen Pflichten nachzukommen. Der “Arbeitgeber” ist der Staat, der in Form von öffentlicher Pflege,Rehabilitierung, Hilfsmittelversorgung,Transport,etc.den Arbeitnehmer "bezahlt". Wenn die Arbeitskapazität eines Behinderten, abgesehen von den täglichen Aufgaben, verbessert werden kann, kann die Unterstützung(die Kosten) des Staates verringert werden. Primäre und sekundäre Maßnahmen für Rollstuhlbenutzer, die Schäden und Funktionseinschränkungen verhindern oder verringern können, senken die Kosten für Krankenpflege und rehabilitierende Behandlung. Es ist normalerweise physisch und psychisch anstrengend, lange zu sitzen. Ist es auch noch unbequem, ist es auf jeden Fall ungemütlich. Sitzen ist Arbeit ! Einen Rollstuhl zu fahren bedeutet, noch mehr zu arbeiten. Das Sitzen in einem Rollstuhl erfordert immer eine optimale ergonomische Anpassung. Wenn man daran denkt, wie lange der ergonomische Gedanke schon im Arbeitsleben existiert, muss man sich wundern, dass er noch keine größere Bedeutung auf dem Gebiet der Behinderung gefunden hat. Es könnte sein, dass die alten Vorurteile noch weiterleben. In den meisten Ländern sind Körperbehinderte immer noch abhängig von wohltätigen Organisationen. 1 2 Physische Einwirkung Wir leben in einer physischen Welt. Die Gesetze der Physik gelten natürlich auch für den Körper. Wir sind vollständig in die physische Welt integriert. Jede Kraft, die auf Materie einwirkt, wirkt auch auf den menschlichen Körper ein. Um den sitzenden Menschen und die Anforderungen an verschiedenen Sitzstellungen zu verstehen, braucht man ein grundlegendes Verständnis der Naturwissenschaft. Das Wissen, wie Gleichgewicht erzeugt und erhalten wird, gründet auf klaren Regeln der Mechanik. Man braucht die Mechanik nicht zu lieben, aber wenn man die Grundprinzipien der Mechanik annimmt, wird es leichter, das Stehen, das Gehen und das Sitzen zu analysieren. Das Kapitel beleuchtet das Zusammenspiel zwischen Gravitation und Körperposition, um eine gute Balance zu erreichen. Auch wenn man Mechanik früher nicht genauer studiert hat, wird man entdecken, wie “einfach” und anwendbar gewisse Prinzipien bei der Analyse des Sitzens sind. Jeder physische Körper hat einen Schwerpunkt, an dem die Schwerkraft ansetzt. Ist der Schwerpunkt eines Körpers tief, so ist die Stabilität größer, als wenn der Schwerpunkt des gleichen Körper höher liegt. Das Gleichgewicht und die Stabilität eines Körpers ist von der Körperform abhängig, z.B. ein Würfel, ein Zylinder, ein Klotz, etc... Eine große Unterstützungsfläche ergibt eine größere Stabilität als eine kleine Unterstützungsfläche. Wenn man ein physisches System balancieren will, beginnt man zu untersuchen, wie der Körper aussieht und wo sein Schwerpunkt liegt. Würfel sind anders als Zylinder. Vier gleiche Würfel sind leichter zu balancieren als zwölf. Wenn jemand einen Turm aus Holzklötzen baut, ist es am Anfang leicht, aber je höher der Turm wird, desto “analytischer” muss man vorgehen, damit der Turm nicht zusammenfällt. Je höher der Turm wird, desto weiter wandert der Schwerpunkt des Turms nach oben. Man muss dann mehr Rücksicht auf das Verhältnis zwischen Schwerpunkt und Unterstützungsfläche nehmen. Ein mechanisches System wird von Faktoren wie Reibung und Drehmoment beeinflusst, und ein Gleichgewicht der Kräfte entsteht, wenn die unterschiedlichen, entgegengesetzten Kräfte in der Summe gleich null sind. Das Skelett eines Menschen ist wie ein “Turm” aus Bauteilen mit unterschiedlichen Formen gebaut. Mechanisch unterliegt ein menschlicher Körper den gleichen Prinzipien wie ein Holzturm. Im Unterschied zum Holzturm aber, der statische, stillstehende Balance erreicht, ist ein menschlicher Körper dynamisch. Er erreicht seine Balance mit Hilfe der Muskelkraft, die mit ihren Kontraktionen kontinuierlich ausgleichende Bewegungen erzeugt. 7 3 Wie Sitzen Menschen? Es ist immer spannend, sitzende Menschen zu beobachten. Eine Sitzstellung berichtet darüber, was physisch im sitzenden Körper vor sich geht, und wie der Körper von der Schwerkraft beeinflusst wird. Sie kann auch von Empfindungen erzählen, die im inneren eines Menschen geschehen. Wir sprechen dann von Körpersprache. Das Sitzen hat verschiedene Dimensionen. Dazu gehören der physische Körper, Gefühle, Gedanken, der Wille, den Körper zu gebrauchen, Sitzstellungen ect. Das Werkzeug für Kommunikation ist der physische Körper, dieerste Dimension. Das gewünschte Ziel ist die zweite Dimension. Der Willen , das zu tun was man möchte, ist die dritte Dimension. Kann man das, was man machen will, im Sitzen ausführen? Das wird von den Körperfunktionen bestimmt, und nicht zuletzt vom Sitzwerkzeug , welches die vierte Dimension ist. Die fünfte Dimension ist die Zeit. Wieviel Zeit verbringt man sitzend, und zu welcher Tageszeit. Es gibt eine Anzahl verschiedener Bereiche und Situationen, in denen wir Sitzen. Man kann im Büro sitzen, im Auto, im Flugzeug, im Klassenzimmer, auf dem Sofa, im Restaurant, auf dem Boden, auf dem Fahrrad..... Die unterschiedlichen Bereiche bewirken unterschiedliche Typen des Sitzens. Gleiche Situationen können aber auch ganz unterschiedliches Sitzen hervorbringen, auch für ein und dieselbe Person, wenn man Faktoren wie Zeit, Sitzmöbel und Arbeitsaufgaben ändert. Die Sitzstellungen, die in diesem Kapitel gezeigt werden, sind den meisten sehr bekannt. Was man mit seinem Körper beim Sitzen macht, wird normalerweise im Unterbewusstsein geregelt. Man denkt selten daran, dass man seine Sitzstellung ändert und wie oft man sie ändert. Wenn man jedoch unbequem sitzt, wird man sich der Signale des Körpers bewusst. Signale bewirken, dass man die Körperstellung verändert, um einem Unbehagen zu entgehen. Analysen der unterschiedlichen Sitzstellungen sollten davon ausgehen, dass alle Menschen die sitzen, egal worauf sie sitzen und was sie gerade tun, nach einer Balance zwischen Komfort und Funktion streben. Es ist ganz anders zu Sitzen, verglichen mit Stehen und Gehen. Im Stehen ist es leicht, den ganzen Körper über den Füßen zu balancieren. Im Sitzen ist es jedoch überhaupt nicht leicht, den Oberkörper zu balancieren. Stehen und Gehen ist dynamisch, und es sind relativ leichte Aktivitäten, während Sitzen mehr statisch ist - weniger beweglich. Wie kompensieren die Menschen das? 25 4 Warum sitzen wir so wie wir sitzen? Im Stehen und beim Gehen sind die Beine für die Körperbalance und die ”Fortbewegung” wichtig. Das große Ziel beim Sitzen ist es, den Kopf und die Hände effektiv einzusetzen. Im großen und ganzen kann man sagen, dass die Beine transportieren und der Kopf kommuniziert. Das, was sich dazwischen befindet, der Oberkörper, ist die Basis für die Arme, die Beine und den Kopf, damit sie ihre Aufgaben auf eine funktionelle Weise ausführen können. Die Möglichkeit der Aktivität und die Ressourcen der unterschiedlichen Körperhaltungen, können von der Stellung des Oberkörpers abgeleitet werden. Damit der Kopf und die Hände funktionell genutzt werden können, also ergonomisch, sollte der Oberkörper ab und zu ein stabiler und ab und zu ein beweglicher ”Anker” sein. Die Voraussetzung für Aktivitäten des Körpers, sowohl im Sitzen als auch im Stehen, sind die Position und die optimale Dynamik des Oberkörpers. Beim Stehen ist es relativ leicht, den Oberkörper in Stellungen zu bringen, aus denen Kopf, Arme und Beine optimal fungieren können. Beim Sitzen dagegen entstehen einige Probleme, da die Verhältnisse zwischen Oberkörper und Beinen verändert werden. Die Liste der unterschiedlichen Sitzstellungen im vorhergehenden Kapitel kann verlängert werden. Aber es ist nicht die Anzahl, die interessant ist. Erst wenn wir verstehen, warum wir so sitzen, entdeckt man wertvolle Hinweise. Das ist bei der Analyse von sehr wechselnden und zwischendurch merkwürdigen Sitzstellungen von Nutzen. Wenn wir uns unterschiedliche Rollstuhlbenutzer anschauen, wundert man sich,wie merkwürdig sie sitzen. - Warum sitzen sie so? Eine Sache, die mich fasziniert ist, dass ein Mensch so sitzt, wie er gerade für diese Gelegenheit sitzen muss, obwohl die Sitzstellungen, die wir ab und zu sehen, in unseren Augen merkwürdig aussehen können. Jede Person muss sich mit der Schwerkraft auseinandersetzen, abhängig davon, wie gerade der Körper dieses Menschen gebaut ist. Wenn man daran denkt, wie direkt unser Körper physischen Kräften ausgesetzt ist, so ist es natürlich, dass die Sitzeinheiten den Körper positiv oder negativ beeinflussen können. Wie wir sitzen wird von dem, was wir tun wollen, bestimmt. Die Sitzeinheiten und die Ausstattung wie Tisch, Arbeitsfläche oder dergleichen, schaffen Möglichkeiten oder Hindernisse. 31 5 Die Auswirkung der Sitzeinheit auf den Körper Das, was Sitzen zu einem spannenden und herausfordernden Thema macht ist, dass es mehrere Dimensionen, wie Körper, Gefühle, Arbeit, Milieu und Sitzmöbel berührt. Die vorrangigste Rolle spielt das Sitzmöbel, auf dem man sitzt. Worauf oder worin wir sitzen, ein Sessel, ein Schemel, ein Schreibtischstuhloder ein Rollstuhl bedingen Stellungen, die über mechanische Gegebenheiten den Körper beeinflussen. Die unterschiedlichen Formen der Sitzeinheiten wirken sich unterschiedlich auf den Körper aus. Die Kenntnisse darüber, wie die Sitzeinheiten den Körper beeinflussen sind genauso, wie das Verstehen des Körpers, eine Frage der praktischen Erfahrung. Dieser Abschnitt wird sich näher damit befassen, wie die Sitzeinheiten im Kleinen und im Großen den Körper beeinflussen. Mein Wissen basiert auf praktischen Erfahrungen bei durchgeführten Rollstuhlanpassungen. Mit großen Auswirkungen meine ich, inwieweit der Körper bei unterschiedlichen Sitz- und Rückenwinkeln reagiert und mit kleinen Auswirkungen meine ich, inwieweit eine Fußstütze oder eine Rückenlehne den Körper beeinflussen. Genau so, wie man den Körper in verschiedene aufeinander einwirkende Teile aufteilen kann, so kann man die Teile einer Sitzeinheit aufteilen, die jeweils den Körper unterschiedlich beeinflussen. Ich höre ab und zu von Kursteilnehmern, dass man zwischen viel zu vielen Rollstühlen wählen kann. Außerdem kann man auch glauben, dass es kaum funktionelle Unterschiede zwischen den Rollstühlen gibt. Das bewirkt, dass man unsicher wird und nicht genau weiß, wie man entscheiden soll. Gerade aus diesem Grund habe ich meine Arbeit vorwiegend auf Sitzfunktionen ausgerichtet, um zu verstehen, wie unser Körper von Sitzeinheiten beeinflusst wird, und zu wissen, welchen Rollstuhl man anschaffen sollte. Wenn man versteht, wie ein Körper von einer besonderen Rückenlehne oder einem besonderen Sitzwinkel beeinflusst werden kann, kann man leichter bestimmen,ob die Sitzeinheit, die verwendet werden soll, für den Rollstuhlbenutzer geeignet ist. Um akzeptable Resultate zu erreichen, muss das Wissen,wie die unterschiedlichenEigenschaften der Sitzeinheit den Körper über kurze oder lange Perioden beeinflussen, dieVoraussetzung für die praktischen Lösungen sein. 77 6 Die Schädigung durch das "Hilfsmittel" Der Rollstuhl, der ein Hilfsmittel ist, wirkt immer auf irgendeine Art und Weise auf den Körper ein. Entweder sorgt er beim Sitzen für einigermaßen Komfort und gute Funktion, oder er führt zu erhöhten Schwierigkeiten. Alle Faktoren, die auf den Körper einwirken, haben entweder positive, neutrale oder negative Effekte. EinRollstuhl beeinflusst. Er sollte also für diejenigen, die den ganzen Tag darin sitzen, ohne die Möglichkeit zu Stehen und zu Gehen, als eine Behandlungsform betrachtet werden. Das Ziel ist es, Schäden vorzubeugen und vitale Funktionen zu entwickeln und/oder beizubehalten Viel zu leicht wird bei Rollstuhlbenutzern eine schlechte Sitzstellung ignoriert, die zu ernsten Schäden führen kann. Was ist eine schlechte Sitzstellung? Sitzstellungen, diestatisch sind oder werden und über längere Zeit andauern, können zu einer schlechten Sitzhaltung führen. Eine häufige Annahme ist es, dass Rollstuhlbenutzer, die schlecht sitzen, wegen herabgesetzten Funktionen nicht “ordentlich” sitzen können. Wenn man mit Rollstühlen und Sitzenden arbeitet, lernt man schnell, dass die schlechte Sitzstellung nicht der Funktionsminderung des Rollstuhlbenutzers zuzuschreiben ist. Man kann in den meisten Fällen Sitzstellungen finden, die Schäden vorbeugen können. Zu Schäden kommt es, wenn man über längere Zeit hin schlecht sitzt. Die Schäden, die am häufigsten vorkommen, sind Druckstellen, herabgesetzte Beweglichkeit, Kontrakturen der Gelenke und Muskeln, herabgesetzte Muskelkraft und erhöhter oder verringerter Muskeltonus. Die Probleme können als funktionelle Schäden angesehen werden, z.B. die Schwierigkeit, sich wach zu halten, herabgesetzter Appetit und das reduzierte Vermögen, die primären Aktivitäten des Lebens zu bewältigen ( primäre ADL). Bei der Bestandsaufnahme, welche Schäden ein Rollstuhlbenutzer bekommen kann, kann man sich darüber wundern, wieviel diese Schäden “kosten”. Eine Druckstelle ist eine konkrete Schädigung und die Kosten können “berechnet” werden. Dagegen ist es nicht einfach auszurechnen, wieviel eine Kontraktur kostet, z.B. eine steife Hüfte oder eine schiefe Wirbelsäule. Es ist schwierig die Kosten der Schäden aufgrund schlechter Sitzstellungen zu berechnen, aber es gibt Gelegenheiten, “Kosten” zu analysieren. Was kostet eine herabgesetzte Lungenkapazität, ein herabgesetztes Schluckvermögen, Verstopfung, stark angeschwollene Beine, Hüftschmerzen...? - Schlechte Sitzstellungen sind sicher sehr kostspielig!! 95 7 Ergonomische Anpassung Die Ziele einer Rollstuhlanpassung variieren von Benutzer zu Benutzer, weil jeder Rollstuhlbenutzer sowohl physisch als auch psychisch ein einzigartiger Mensch ist. Die Umgebung, in der er oder sie lebt, kann sehr verschieden sein, genauso wie die persönlichen Ansprüche an den Rollstuhl. Der eine Rollstuhlbenutzer will, dass der Rollstuhl leicht ist, und ein anderer möchte auf jeden Fall die Regale in der Küche erreichen. Wiederum ein anderer muss sich leicht auf dem Sitz nach vorne bewegen können, damit das Aufstehen aus dem Rollstuhl leichter wird. Jeder Rollstuhlbenutzer ist eine neue Herausforderung. Die Person, die für Wahl und Anpassung des Rollstuhls verantwortlich ist, sollte sehr offen sein und den Ansprüchen der Rollstuhlbenutzer gerecht werden. Das Anpassen von Rollstühlen ist eine Kunst. Die Kunst besteht darin, zusammen mit dem Rollstuhlbenutzer die individuellen Bedürfnisse zu analysieren und zu verstehen. Eine Anpassung basiert auf der Funktion, der Umgebung und den persönlichen Wünschen. Die Anpassung kann manchmal wie ein kompliziertes Puzzlespiel sein. Ein Rollstuhlbenutzer, der in den letzten drei-vier Jahren schlecht gesessen hat, verändert seine Sitzstellung nicht ohne weiteres. Das kann sehr lange dauern. Auch wenn der Rollstuhl, den man anpassen soll, phantastisch ist und eine Sitzeinheit mit guten Eigenschaften hat, braucht man Zeit, um z.B. steife Gelenke geschmeidiger zu machen, stark geschwächte Muskeln aufzubauen und/oder hohe Muskelspannung zu lösen. Der Rollstuhl für die, die lange Zeit sitzen müssen, sollte immer wie eine individuelle Körperorthese auf Rädern betrachtet werden. Dieses Kapitel beschreibt Prinzipien bei der Anpassung von Sitz- und Fahreinheiten. Das Ziel ist die individuelle Position einer Person im Raum und die Position, die dem Rollstuhlbenutzer größtmögliche Funktion gibt. Die Position des Körpers wird vorwiegend davon bestimmt, wie der Sitz und die Rückenlehne, zusammen mit Arm- und Fußstütze, eingestellt sind. Manchmal will man als Anpasser viel zu sehr bestimmen, wie der Rollstuhlbenutzer sitzen soll, abhängig davon, was man sich selbst über Sitzstellungen beigebracht hat. Denke daran, dass nur wenige Individuen in der Lage sind, über eine kurze Zeit hin aktiv zu sitzen. Sollte es so sein, dass ein Rollstuhlbenutzer das Resultat nicht akzeptieren kann, nimm dies ernst und schaffe neue Veränderungen. Sei nicht bekümmert, wenn du Fehler machst! Wir lernen aus Fehlern! Sieh nur zu, dass die Korrekturen ausgeführt werden, bevor Schäden entstanden sind. Denke auch daran, dass ein Fehler eine Chance bietet, neue Veränderungen zu schaffen! 113 8 Rollstuhlmechanismus Der Rollstuhl ist einHilfsmittel , um langfristig sitzenden Menschen, Mobilität und Aktivität zu ermöglichen. Wenn der Rollstuhl nicht korrekt entworfen oder angepasst ist, wird durch ihn eine unzureichende Sitzstellung und schädliche Inaktivität erzeugt. Die Räder, die an der Sitzeinheit des Rollstuhls montiert werden, sollten von guter Qualität, ergonomisch angepasst und benutzerfreundlich sein. Derjenige, der irgendwann einmal versucht hat einen Rollstuhl draußen zu benutzen weiss, wie schwer dies auf Hügeln und unterschiedlichen Unterlagen, wie Kies, Sand und Gras sein kann. Bürgersteigkanten, Treppen und Türen werden zu enormen Behinderungen der Bewegungsfreiheit. Die Umgebung und der Rollstuhl können unterschiedliche Schwierigkeiten schaffen. Sie können zusammen dazu führen, dass die Behinderung des Rollstuhlbenutzers ausgeprägter und seine Bewegungsfreiheit stärker begrenzt wird.Ein gut angepasster Rollstuhl trägt dazu bei, dass ein aktiver Lebensstil aufrecht erhalten werden kann. Denke daran, dass der Ausdruck “aktiver Lebensstil” nicht nur für junge Rollstuhlbenutzer gilt, sondern auch für ältere Rollstuhlbenutzer, die auf ihre Art aktiv sind, sogar in einem Alter von 85 Jahren in einem Altersheim. Soziale Teilnahme bedeutet, dass man dabei sein kann und mitwirkt an dem, was um einen herum passiert. Die Möglichkeit, sich in seiner Umgebung zu bewegen, ist ein sehr wichtiger Teil des sozialen Lebens. Rollstuhlbenutzer sind auf Rädern mobil, und derjenige, der für eine Rollstuhlanpassung verantwortlich ist, muss wissen, wie diese Anpassung so effektiv wie möglich ausgeführt wird. Einen Rollstuhl mobil anzupassen bedeutet, die Fahreinheit und die Räder so einzustellen, dass sie gut mit der schon ergonomisch angepassten Sitzeinheit harmonieren. Das Resultat sollte die Aktivität nach vorne über längere Zeit hin erleichtern und stimulieren. Das, was man anpasst, ist ein “Arbeitsplatz” für eine Person mit einem speziellen Bedürfnis. Ist es ein angepasster Arbeitsplatz, wird es weniger anstrengend sein zu arbeiten, also sich mit dem Rollstuhl zu bewegen. Wenn die Arbeitsbedingungen schlecht sind, kann es schwer werden, ja sogar unmöglich, sich mit dem Rollstuhl zu bewegen. Man braucht keine großen Maßnahmen, damit ein Rollstuhl leichter manövriert werden kann. Es handelt sich hauptsächlich um mechanische Veränderungen. 173 9 Das Rollstuhlfahren Ich nehme an, dass du ein Fahrrad hast. Denke dir, dass du auf deinem Fahrrad sitzt, das für dich perfekt eingestellt ist. Du sollst zu einem Geschäft fahren, um etwas einzukaufen, was du für den Abend brauchst. Es sind vier Kilometer bis dorthin, aber es ist Frühling und die Sonne scheint warm und die Vögel zwitschern. Es wird eine herrliche Radtour! Aber plötzlich, nach zwei Kilometern, sinkt dein Sattel zwanzig Zentimeter tiefer und es wird viel schwieriger, zu treten. Aber.....du bist stark motiviert zu dem Geschäft zu kommen, so dass du weiter fährst. Nach drei Kilometern geht die Lenkstange 15 cm hoch! Jetzt wird es sehr schwer Fahrrad zu fahren, aber weil du immer noch genug motiviert bist, machst du weiter, obwohl es jetzt richtig anstrengend ist.... aber es ist ja nur noch ein kleiner Kilometer...und...du schaffst es! Bevor du nach Hause fährst, wirst du dir Werkzeug leihen und den Sattel und deine Lenkstange korrigieren, so dass du es schaffst, den ganzen Weg zurückzufahren. Ich benutze gerade eine Fahrradtour als Beispiel, weil fast alle wissen, wie es ist mit dem Fahrrad zu fahren. Wir haben gute Erfahrungen mit dem Benutzen eines Fahrrades, es ist etwas Natürliches im Leben vieler Menschen. Wenn dein Fahrrad für die Bedürfnisse deines Körpers falsch eingestellt ist, wirst du sicher aufhören es zu benutzen, es wird zu anstrengend. Ein Rollstuhl kann direkt mit einem Fahrrad verglichen werden. Beide haben Räder und werden mit dem Körper fortbewegt, das Fahrrad mit den Beinen und Armen und der Rollstuhl mit den Armen und ziemlich oft mit einem oder beiden Beinen. Wie man mit den Armen beim Rollstuhlfahren arbeitet, ist davon abhängig, wie die Räder im Verhältnis zum Körper des Rollstuhlbenutzers plaziert sind. Bei vielen Rollstühlen sind die Antriebsräder auf den Rohren der Rückenlehne montiert. Das bedeutet, dass das Zentrum der Räder dort plaziert ist. Das ist für die meisten Rollstuhlbenutzer zu weit hinter dem Oberkörper, um ergonomisch effektiv für die Arme zu sein. Eine normale Größe der Antriebsräder ist 24”, was für eine aufrecht sitzende lange Person gut sein kann, aber für eine kurze Person oder für einen Rollstuhlbenutzer mit einer gekrümmten Brustwirbelsäule kann es ganz falsch, ja sogar schädlich sein. DieKompensationen aufgrund dessen, führen fast immer zu einer schlechteren Sitzstellung. Die Antriebsradposition und die Sitzeinheit, die falsch sind, erschweren das Manövrieren. Wenn es anstrengend ist einen Rollstuhl zu manövrieren, ist es keine ungewöhnliche Kompensation, es nicht zu machen. 189 10 Rollstuhltechnik Die meisten Rollstühle sind so gestaltet worden, dass der Rollstuhlbenutzer eine größtmögliche Mobilität behalten soll. Es ist nicht schwer mit dem Rollstuhl aktiv zu sein, wenn er gut angepasst ist, man Instruktionen erhält und üben kann. Aber leider bekommt der Rollstuhlbenutzer nicht immer die Information und das Training, welches notwendig ist. Das gilt besonders für den weniger aktiven Rollstuhlbenutzer. Diese Gruppe erhält kaum Informationen darüber, wie man einen Rollstuhl verwendet um unabhängiger zu werden. Der erste Schritt ist es, den Rollstuhl so leicht rollbar wie möglich zu machen und den gemeinsamen Schwerpunkt des Rollstuhlbenutzers und des Rollstuhls zu finden. Wenn das getan ist, ist es leichter zu drehen und den Rollstuhl zukontrollieren (CAVE: Kippsicherung kann notwendig sein) Der nächste Schritt isthäufiges Üben. Wenn du die Aufgabe hast, andere über Rollstuhltechnik zu informieren und zu instruieren, ist es sowohl effektiver als auch lustiger, wenn du es selbst geübt hast. Der Wert ist es zu erleben, welche Übungen schwer sind oder welche es für einige sein könnten. Wenn man versteht, was für eine Person schwer sein kann, so wird man seine Erfahrungen mit in die Anpassungen einbringen können. Jede Person, die übt, wird unterschiedliche Erlebnisse erzielen und wird es unterschiedlich schwer mit den Übungen der Rollstuhltechnik haben. Das Ziel der Rollstuhltechnik ist, eine erhöhte Selbständigkeit und positive, physische Aktivität zu stimulieren. Die Rollstuhltechnik, die in diesem Kapitel präsentiert wird, ist das, was man können muss, um einen Rollstuhl aktiv in den unterschiedlichen Bereichen fahren zu können. Praktiziere alle Übungen oder nur die, die du gebrauchen kannst. Einige Menschen haben Widerstände gegen die Notwendigkeit im Rollstuhl zu sitzen, und vielleicht fühlen sich noch mehr unbehaglich, wenn sie außerhalb des Hauses fahren sollen. Fakt ist, dass es anstrengend ist, wenn man es nicht gewohnt ist, in unterschiedlichen Bereichen Rollstuhl zu fahren. Oft sind die Kenntnisse über Rollstuhlfahren nurtheoretisch.Für viele Teilnehmer in meinen praktischen Kursen ist es ein großer Gewinn, die Rollstuhltechnik zu lernen! Praktiziere das Rollstuhlfahren und lerne eine neue Dimension im Leben zu verstehen, eine Dimension auf Rädern. 213 11 Das Anpassen bei unterschiedlichen Bedürfnissen Beim Anpassen von Rollstühlen genügt es nicht, allgemeine Prinzipien über das Sitzen zu beherrschen, sondern man muss sowohl Verständnis für die unterschiedlichen Benutzergruppen, als auch für den einzelnen Benutzer aufbringen. Ein achtjähriges Kind hat physisch und psychisch andere Bedürfnisse, als ein zweijähriges Kind. Flexibilität und Offenheit gegenüber neuen Möglichkeiten sind Eigenschaften die derjenige, der für das Anpassen verantwortlich ist, haben sollte. Jemand, der für “Paraplegiker” anpasst, z.B. in einer speziellen Rehabilitationsklinik, hat viel Erfahrung beim Anpassen für diese Benutzergruppe. Aber natürlich ändern sich die Bedürfnisse der Menschen in den Gruppen, obwohl sie ähnliche Probleme im Rehabilitierungsprozess haben. Dieses Kapitel bietet Vorschläge,keinen fertigen Lösungen, an. Grundlage sind die Prinzipien, die dieses Buch präsentiert. Die Rollstuhlbenutzer, über die diskutiert wird, sind Gruppen von Benutzern mit gleichen Behinderungen und Bedürfnissen. Die Vorschläge sind praktische Lösungen, die sich immer wieder als funktionell und ergonomisch erwiesen haben. Das Rollstuhlanpassen erfordert eine Analyse der physischen und mentalen Kapazität des Rollstuhlbenutzers, und nicht zuletzt müssen die persönlichen Wünsche ernst genommen und respektiert werden. Wenn die Anpassung diskutiert wird, vergiss nicht, die Grenzen des Rollstuhls mit einzubeziehen. Vielleicht kann man die gewünschte Anpassung und das Manövrieren nicht erreichen, weil die Möglichkeiten des Rollstuhls begrenzt sind. Das erfordert Mehrarbeit, um ein gutes Resultat zu erlangen. Ansonsten wechselt man oft den Rollstuhl. Das Gefühl, dass “derjenige, der anpasst unzufrieden ist”, entsteht meist in Situationen, wo man nicht fragen oder der Benutzer nicht erzählen kann, wie sich die Veränderung auf ihn auswirkt. Bei Kommunikationsproblemen muss man genauer analysieren, wie der Benutzer reagiert und agiert. Worin liegt der Unterschied? Die Praxis erhöht das Vermögen zu sehen, wie sich die Funktionen verändern. Ein wichtiges Ziel ist es, die Veränderungen der Funktionen zu sehen und auszuwerten. 223 12 Sehen - Interpretieren -Anpassen Was soll man machen, um eine Sitz- oder Fahrsituation zu verbessern? Es gibt oft mehrere unterschiedliche Möglichkeiten, um Sitz- und Fahrprobleme zu lösen. Es kann schwer sein, eine Hauptursache zu finden, da es fast immer eine Kombination mehrerer Ursachen ist. In diesem Kapitel werden Vorschläge gemacht, keine absoluten Lösungen, damit du das, was du siehst besser verstehst. Es gilt unterschiedliche Lösungen auszuprobieren, die Sehen Die Art des Problems wird hier präsentiert. Position vom ganzen oder von Teilen des Körpers. - Was sieht man? später näher untersucht werden können. Wenn das Resultat nicht gut genug ist, versuche es auf eine andere Weise. Verbesserte Sitz- und Fahrstellungen und gute Ergonomie sind die Ziele, und darin sollten sogar auch die körperlichen, mentalen und sozialen Wünsche nach individuellen Lösungen integriert werden. Hier wird in Kürze erklärt, wie das ganze organisiert ist. Interpretieren und Anpassen Interpretieren Hier gibt es eine Interpretation. -Warum ist das so? Unterschiedliche Interpretationen werden präsentiert. (Die Interpretationen sind fortlaufend nummeriert) Erklärung > P = Person anpassen Vorschlag, wie man das Problem angreifen kann. Es gibt fast immer verschiedene Arten, ein Sitz- und Fahrproblem zu lösen. Versuche verschiedene Möglichkeiten, teste immer nur eine Anpassung , zuerst A, dann B, dann C, usw. Teste auch unterschiedliche Kombinationen der Anpassungen. 267 Kapitel 12 - Anpassung und ihre Auswirkung - Tabellen Anpassung und ihre Auswirkung Jede Anpassung, die zu einer Veränderung des Rollstuhls führt, wird in irgendeiner Weise Einwirkungen auf den Körper haben. Welche Anpassungen wirken auf was ein und wie? Hier wird in Kürze präsentiert, wie häufig Rollstuhleinstellungen die Sitzeigenschaften und Fahreigenschaften des Rollstuhls verändern. Die Details, die verändert werden sind der Sitz, das Sitzkissen, das Antriebsrad und das Lenkrad. Unten wird beschrieben, welche Information die verschiedenen Spalten der Tabellen enthalten. Tabelle - Anpassung und Auswirkung ROLLSTUHLFAKTOREN So wirkt die aktuelle Anpassung ... ANPASSUNG Hier werden Anpassungen präsentiert, Einstellungen von einigen Details des Rollstuhls, die die Sitzeinheit oder Fahreinheit verändern, damit es zu einer Einwirkung auf den Körper kommt. Die Anpassung kann ausgenutzt werden, um auf eine bestimmte Art auf die Sitzeigenschaften und das Manövrieren des R o l l s t u h l e s einzuwirken. Beispiel: Wechsle zu grösseren Lenkrädern oder zu längeren Vordergabeln. DER ROLLSTUHL DER KÖRPER Wie der Rollstuhl beeinflusst werden kann, wird in dieser Spalte beschrieben. Diese Veränderung gibt dem Körper eine neue Situation. Hier wird beschrieben, wie der Körper direkt von den aktuellen Veränderungen des Rollstuhls beeinflusst wird. Der Rahmen des Rollstuhls wird nach vorne erhöht. Sowohl Sitz als auch Rückenlehne werden nach hinten gewinkelt. Die Antriebsräder werden im Verhältnis zum Oberkörper des Benutzers nach vorne bewegt. Die Einfassung der Vordergabel muss eingestellt werden. Becken und Oberschenkel werden nach hinten gewinkelt, was die Stabilität des Beckens (nach hinten) erhöht. Sogar der Oberkörper wird gegen die Rückenlehne stabilisiert. Der Druck der Rückenlehne wird erhöht. Denke daran, dass... Die Anpassung kann eine Problemsituation verbessern. Wenn sie allerdings zu etwas Negativem führt, wird hier darauf hingewiesen. Wird es zu stabil, kann das nach vorne Fallen und Aufrichten erschwert werden. Es wird schwerer, mit den Füssen den Boden vor dem Sitz zu erreichen. Der Rollstuhl kann instabil sein, mit erhöhtem Kipprisiko nach hinten. Kippsicherung kann benutzt werden. 353