Jugend und Religion - Christian-Albrechts

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Jugend und Religion - Christian-Albrechts
Jugend und Religion
(Vortrag auf der Kirchenkreissynode Neumünster 1994)
Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie das Thema weit gefaßt haben, indem Sie es Jugend und Religion,
und nicht Jugend und Kirche, oder kirchliche Jugendarbeit genannt haben. Ich brauche deswegen nicht lange einzuleiten, daß Aussagen über kirchliches Verhalten von Jugendlichen nur
sinnvoll aus einer umfassenderen Perspektive getroffen werden können, die nicht exklusiv
kirchlich, ja noch nicht einmal exklusiv christlich geprägt ist. Ich gehe statt dessen direkt von
Phänomenen allgemeinen religiösen Verhaltens aus, um dann vor diesem Hintergrund die
spezielle, kirchliche Variante in den Blick zu nehmen. Man kann beschreiben, wie Jugendliche
ihre Religiosität heute empfinden, wie sie Religion oder Spiritualität leben und in welcher
Weise sie dabei in kirchliche Strukturen eingebunden sind. Erst aus dieser Betrachtung heraus
lassen sich Rückschlüsse auf praktische Konsequenzen ziehen, die mehr als Wahrung des status
quo sein können.
Der Vortrag ist mit diesem Ziel in drei Abschnitte strukturiert. Das Verhältnis von Jugend und
Religion läßt sich nicht betrachten ohne einen Blick auf die gesellschaftliche Großwetterlage. In
einem ersten Schritt (1) geht es a) um die gesellschaftlichen Trends speziell auch der religiösen
Einstellung, die von Jugendlichen aufgenommen werden, b) um die Veränderungen, die die
Jugend ihrerseits auch an die Gesellschaft weitergibt, bzw. die Prozesse, die Jugend
gesamtgesellschaftlich in Gang setzen kann. Aussagen über speziell jugendliche Religiosität und
ihre Formen sollen sich in einem zweiten Abschnitt (2) daran anschließen. Dem Thema des
Vortrages entsprechend liegt sein Hauptgewicht auf diesem Abschnitt. Im dritten Teil (3) ist
dann Raum für eine konstruktive Interpretation der Ergebnisse, wie sich jugendliche und
kirchliche Religiosität noch aufeinander beziehen lassen. Dies ist der Ort, Konsequenzen für die
kirchliche Jugendarbeit zu bedenken. Ich hoffe, daß in diesem dritten Teil deutlich werden kann,
daß trotz der teilweise beunruhigenden und bedrückenden Beschreibungen jugendlicher Religiosität genügend Handlungsfelder für kirchliche Jugendarbeit bestehen bleiben.
1. Gesellschaft und Religion
Jugend als gesellschaftliches Konstrukt und nicht als biologische Erscheinung steht zwangsläufig in engster Beziehung zur jeweiligen historischen Ausformung der Gesellschaft. Die
Gesellschaft gewährt auf der einen Seite die Möglichkeit, daß sich Jugend als Lebensaltersgruppe formieren kann. Andererseits profitiert sie direkt von den Sozialisationsleistungen, die
in einer arbeitsteiligen, nicht mehr traditional orientierten Gesellschaft nur durch dieses gesellschaftliche Konstrukt Jugend erbracht werden können. Dieses Verhältnis von Jugend und
Gesellschaft ist natürlich einem historischen Wandel unterworfen, es ist keinesfalls statisch.
Einen Aspekt hebe ich heraus und stelle ihn an den Anfang, weil er entlastend für alle Beteiligten der kirchlichen Jugendarbeit ist. Es hat Tradition, die Jugend als die kommende
Generation zum Hoffnungsträger für eine bessere Zeit zu stilisieren. Die idealistische Jugendbewegung nach der Jahrhundertwende war der Inbegriff dieser Hoffnung. Alle Enttäuschung über
bestehende Verhältnisse, beispielsweise nach wie vor sinkendes volkskirchliches Interesse, wird
in eine in der Regel unrealistische Erwartung an die Jugend umgesetzt. Die Jugend als Rettungsboot muß in Schuß gehalten werden, wenn auch das Schiff, oder besser: das Kirchenschiff, zu
sinken droht. Diese Einstellung und daraus abgeleitete Jugendarbeitskonzeptionen können
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eigentlich Jugendliche und Jugendmitarbeiter nur überfordern. Sie führen nebenbei zu einer Art
Effektivitätszwang, der nicht eben förderlich für flexible Konzepte ist. Man muß sich klarmachen, daß Jugend in unterschiedlicher Weise gesellschaftliche Trends abbildet, und selten
wirklich Gegenbewegung gewesen ist. Auch das hat die Geschichte der Jugendbewegung
gezeigt.
Für das Thema Jugend und Religion sind zwei gesellschaftliche Tendenzen von Belang. Die
erste hat in den letzten Jahren unter dem Stichwort Wertewandel die Diskussion bestimmt. Die
„stille Revolution“1, die in den westlichen Kulturen vor allem in den Jahren nach dem Zweiten
Weltkrieg stattgefunden hat, besteht in einer langsamen, aber durchschlagenden Abwendung
von materialistischen zu sogenannten postmaterialistischen Werten. Pflicht- und Akzeptanzwerte, also etwa Fleiß, Disziplin, Mut, Leistung, Enthaltsamkeit usw., und der Stellenwert
gesicherter ökonomischer Verhältnisse geraten gegenüber Werten der Selbstverwirklichung wie
Selbstbestimmung, Glück, Genuß, Vertrauen, Freundschaft usw. in den Hintergrund. Von dieser
Umwertung ist selbstverständlich auch der religiöse Bereich betroffen, und zwar gleich zweifach, allerdings in entgegengesetzte Richtungen wirkend: Der gesamte Bereich traditioneller
religiöser Inhalte ist von der allgemeinen Abwertung traditionell normierter, kultureller Werte
betroffen und gerät mit zunehmender postmaterialistischer Gesinnung in Vergessenheit. Demgegenüber gilt, daß postmaterialistisch eingestellte Menschen entsprechend ihrer Bevorzugung
geistiger Werte eher geneigt sind, über Sinn und Zweck des Lebens nachzudenken. Grundsätzlich sind sie religiösen Themen gegenüber aufgeschlossener.2
Den gesellschaftlichen Mentalitätswandel kann man auch beschreiben als „Übergang von einem
nomozentrischen zu einem autozentrischen Selbst- und Weltverständnis.“3 Der neue Typ des
Autozentrikers orientiert sich in seinen Handlungen hauptsächlich an seinen eigenen Fähigkeiten, und das gleich in mehrfacher Hinsicht: Im Gegensatz zum Nomozentriker, der sich als
Teil der Gesellschaft ihr hauptsächlich verpflichtet fühlt, begründet der Autozentriker sein
Selbstwertgefühl nicht in seiner Wichtigkeit für die Gesellschaft, sondern im Erlebnis seiner
eigenen Stärke, seiner Kompetenz und Kreativität. Er oder sie ist deswegen nicht notwendig
unsozial, aber er wird Gemeinschaftspflichten nur akzeptieren, wenn sie ihm selbst sinnvoll
erscheinen. Der Autozentriker wird trotz des Bewußtseins einer komplexen Lebenswelt für sich
in Anspruch nehmen, auftauchende Probleme in seiner Umwelt aufgrund seines eigenen
Beurteilungsvermögens zu bewerten. Profis, seien es Politiker oder Fachwissenschaftler, stehen
grundsätzlich im Verdacht, unfähig oder sogar kriminell zu sein, vor allem, wenn sie Teil einer
Großorganisation sind. Institutionelle Akzeptanz wird also nicht mehr einfach zugebilligt,
sondern muß von Fall zu Fall durch Überzeugung neu erworben werden. Die autozentrische
Person will frei von formalisierten Zwängen jeder Art sein, sie will ungezwungen sein, echt,
unmittelbar, etwas platt ausgedrückt „sie will sie selbst sein.“ Ehrlichkeit wird zu einem
1
So der Titel der ersten Veröffentlichung von Ronald Inglehart: The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles
Among Western Publics, Princeton 1977. Die Debatte wurde wieder aufgenommen in ders.: Kultureller Umbruch. Wertwandel
in der westlichen Welt, Frankfurt/New York 1989.
2
R. Inglehart: Kultureller Umbruch, 245.
3
Helmut Klages: Wertedynamik. Über die Wandelbarkeit des Selbstverständlichen, Zürich 1988, 64ff. [Zitat 64].
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wichtigen Faktor vor allem in gefühlsorientierten menschlichen Beziehungen, sie überbietet
dabei jede Verhaltensnormierung wie Takt, Höflichkeit oder auch Selbstbeherrschung. 4
Auch wenn die Auswirkungen des Wertewandels nicht einheitlich beschrieben werden, kann
man ein paar durchgängige Merkmale aufzählen:
•
Ein relativ stabiles Wertgefüge ist in Bewegung gekommen zugunsten neuer Wertpräferenzen, die die alten Werte nicht verdrängt, aber relativiert haben;
•
hedonistische, glücksbezogene Orientierungen nehmen zu;
•
eine deutliche Enttraditionalisierung der Lebenswelt hat stattgefunden; mit einiger Zeitverschiebung wurden tradierte von rationalisierten Lebensformen abgelöst;
•
normative Bestimmungsgründe des Handelns sind zugunsten von kognitiven zurückgedrängt worden, dh. es wird argumentative Rechtfertigung gefragt;
•
in der Folge von Rationalisierung entsteht eine Individualisierung, weil jeder und jede
die Gründe seines Handelns selbst reflektieren muß;
•
dies wiederum führt zu einer Pluralisierung der Gesellschaft, da typische einheitliche
(„standardisierte“) Lebensentwürfe bzw. Weltbilder zunehmend unmöglich werden.5
•
die Weltsicht besteht aus zusammengestückelten Teilen, die aus dem Markt der Möglichkeiten nach eigener Maßgabe ausgewählt werden, eine patchwork-identity bildet sich
aus.
Wie immer man diesen Wertewandel bewertet, ob man ihn begrüßt als die Morgendämmerung
der alternativen Gesellschaft oder den endgültigen Untergang zuverlässiger Sozialformen, muß
man sich damit anfreunden, daß er ein geschichtliches Ereignis ist, das zwar beschrieben, aber
nicht beliebig beeinflußbar, geschweige denn rückgängig zu machen ist. Die Effekte, die sich im
sogenannten Wertewandel zeigen, stellen die konsequente Ausformung der Ideen der Aufklärung dar, die mit einer beträchtlichen Verzögerung heute die geistige Realität westlicher
Gesellschaften bestimmen.6 Die Auswirkungen des Wertewandels auf religiöses Verhalten,
insbesondere der kirchlich institutionalisierten Form, die wir vor Augen haben, sind eine Folge
von vielen. Andere gesellschaftliche Großinstitutionen wie politische Parteien, das politische
System überhaupt, Vereine etc. erleiden einen ähnlichen Akzeptanzverlust wie die Kirchen.
Demgegenüber ist der zweite soziologische Aspekt, den ich Ihnen vorstellen möchte, speziell an
die religiöse Perspektive gekoppelt.
Seriöse Umfragen zur Kirchenmitgliedschaft – und dazu sind zumindest die großen
EKD-Umfragen zu zählen - können interessante Aufschlüsse über das Verhalten der Kirchenmitglieder geben. Dennoch greifen die meisten kirchensoziologischen Arbeiten dieser Art zu
kurz, weil sie überhaupt nicht in den Blick bekommen, wie Gesellschaften, Religion und ihre Institutionen in Gesellschaften und die individuelle religiöse Verfaßtheit grundsätzlich ineinandergreifen. Im engen binnenkirchlichen Horizont rechnet man nicht mit der Möglichkeit, daß sich
4
Diese unbedingte Ehrlichkeit kann natürlich auch zerstörerisch sein, weil ihr letztlich kaum ein anderer Wert standhalten kann.
Problematisch wird es überall dort, wo die Bewußtseinsgrundlage dieser Ehrlichkeit Schwankungen unterworfen ist, z.B. in
mitmenschlichen Beziehungen.
5
Vgl. Heiner Barz: Religion ohne Institution? Eine Bilanz der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung (Teil 1 des
Forschungsberichtes „Jugend und Religion“ im Auftrag der aej), Opladen 1992, 25-30.
6
H. Klages: aaO., 78f.
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Religiosität auch anders manifestieren kann als in der uns bekannten Form der Großkirchen,
seien sie nun volkskirchlich oder anders organisiert. Der Religionssoziologe Thomas LUCK MANN hat die Situation der Kirchen auf den folgenden prägnanten Satz gebracht:
„Das Überleben traditioneller Formen der kirchengebundenen Religion, das Fehlen einer institutionalisierten Gegenkirche im Westen und die alles überragende Bedeutung des Christentums für die Entwicklung der westlichen Welt verstellen – zusammengenommen – die Sicht auf
die Möglichkeit, daß eine neue Religion im Entstehen sein könnte.“7 Etwas vereinfacht bauen
die Kirchen auf Grundfesten auf, die zwar historisch sehr langfristig gewachsen sind, jedoch
nicht in jedem Fall unverbrüchlich bis in die Ewigkeit stehen müssen. Säkularisierung bedeutet
nicht keine Religion, sondern eine Religion in neuer Form: losgelöst von traditionellen Bekenntnissen und Dogmen, losgelöst von Institutionen, privatisiert, nutzorientiert, individualisiert, eine
Selektiv-Religion. Die soziale patchwork-identity zieht eine patchwork-religion nach sich. Die
gerade genannten Begriffe hat LUCKMANN noch nicht gebraucht, aber die Entwicklung hat er
treffend vorhergesagt. Ich vergaß zu sagen, daß das Zitat aus dem Jahr 1967 stammt. Die
Situation, in der sich kirchlich organisierte Religiosität heute befindet, ist also als Spätfolge bestimmter gesellschaftlicher Bedingungen frühzeitig beschrieben worden. Die vorhergesagte
Privatisierung von Religion kann zumindest in drei Dimensionen beschrieben werden:
•
Religiöse Angebote sind nicht mehr gültig aufgrund von traditionellen Geltungen, sie
werden sozusagen nicht mehr öffentlich-allgemeinverbindlich vollzogen, sondern die
Entscheidung über Gültigkeit und Akzeptanz wird in die Sphäre des Einzelnen gestellt.
Keine religiöse Instanz hat in unserer Gesellschaft noch ein Monopolrecht auf Wahrheit.
•
Zwar sind institutionalisierte religiöse Angebote noch vorhanden, und den Kirchen wird
auch eine gewisse Kompetenz in diesen Dingen zugebilligt, allerdings werden diese
Angebote nicht als geschlossene Systeme wahrgenommen. Sie werden selektiv aufgenommen, eine Auswahl wird vorgenommen, die wiederum in der privaten Sphäre
stattfindet.
•
Diese Auswahl wird vor allem auf der Grundlage eigenen Erlebens und eigener Erfahrung getroffen. Der Filter wird definiert durch private Betroffenheitserfahrungen,
weniger durch allgemeinverbindliche ethische Grundsätze.8
Beide vorgestellte Ansätze verbindet mit jugendlicher Religiosität und mit Konzepten von
Jugendarbeit, daß sie auf Sozialisationsprozessen aufbauen. Bestimmte Wertprioritäten, die den
generationsbedingten Wertewandel vorantreiben, werden in der sogenannten formativen Phase
des Kinder- und Jugendalters angelegt. Zum anderen geschieht die Übernahme religiöser Sinnsysteme in spezialisierten komplexen Gesellschaften immer noch, indem Menschen in diese
Systeme hineinwachsen und sie übernehmen.9 Überlegungen zu einer Konzeption von kirchlicher Jugendarbeit, die solche umgreifenden Ansichten gesamtgesellschaftlicher Veränderungen aus der Betrachtung ausschließen, stehen immer in der Gefahr, Symptombehandlung zu
Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt/Main 11991, 76. (Im Original: The Invisible Religion, New York
1967.)
7
8
Vgl. Volker Drehsen: Zum funktionalen Religionsbegriff. Anmerkungen aus theologischer Sicht, in: aej-Studientexte 2/92,
Stuttgart 1992, 82-84.
9
Vgl. dazu Kapitel IV. „Die gesellschaftlichen Formen der Religion“ bei T. Luckmann: aaO., 87ff.
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sein. Sie sind deswegen keinesfalls unsinnig, sie bleiben allerdings Makulatur, wenn damit
grundlegende Krisen kirchlicher Religiosität repariert werden sollen, bzw. wenn man sich diese
Krisen nicht vor Augen führt.
2. Tendenzen jugendlicher Religiosität in postmoderner Zeit
Die gesellschaftlichen Betrachtungen bilden eine Folie, vor der die besondere Problematik der
jugendlichen Religiosität gezeichnet werden kann. Der Blick wird nun weniger soziologisch,
dafür kommt das Individuum in den Blick.
Um sich ein Bild jugendlicher Religiosität zu verschaffen, kann man seit 1992 auf eine umfassende Studie zurückgreifen, die die Arbeitsgemeinschaft evangelischer Jugendarbeit (aej) in
Auftrag gegeben hat. Diese Studie, die von dem Sozialwissenschaftler Heiner BARZ durchgeführt wurde, bietet bei aller möglichen Kritik10 die folgenden Vorteile: Im Gegensatz zu sogenannten quantitativen Erhebungen, deren bekannteste die in regelmäßigen Abständen erscheinende SHELL-Studie ist, wurden in der qualitativen Erhebung von BARZ ausführlichÜberzeugungen und Lebensbilder der Jugendlichen in längeren Gesprächen erhoben und
ausgewertet. Dadurch lassen sich bestimmte Aussagen zur Religiosität überhaupt erst adäquat
bestimmen. Ein Beispiel: Der in anderen Studien festgestellte ungebrochene, ja sogar trotz
sinkender Akzeptanz anderer theologischer Dogmen steigende Glaube an ein Leben nach dem
Tod erhielt durch eine nicht standardisierte Befragung eine völlig neue Bedeutung. Gemeint war
mitnichten eine christliche Auffassung von Tod und Auferstehung, sondern diffuse fernöstliche
Vorstellungen von Seelenwanderung und Wiedergeburt.11 Die aej-Studie zeichnet weiterhin aus,
daß die Frage nach religiösen Inhalten nicht - wie bei den meisten anderen Studien - auf die
Dimensionen religiöser Rituale (also etwa Gottesdienstbesuch, Feste, Gebetspraxis etc.), auf die
Anerkennung von Glaubensinhalten (Relevanz von Glaubensbekenntnissen, Fragen nach dem
Gottesbegriff etc.) oder auf religiöses Wissen (z.B. nach Bibel, Fremdreligionen, Okkultismus
usw.) beschränkt geblieben ist. Vielmehr wurde auch nach Konsequenzen der Religion für die
alltägliche Lebenspraxis und vor allem nach individuellem religiösem Erleben außerhalb
geprägter Strukturen gefragt. Man muß natürlich bei dieser Art von Umfrage in Kauf nehmen,
daß wesentlich weniger Jugendliche als bei standardisierten Verfahren befragt werden können,
die durch Ankreuzen ausgefüllt und datentechnisch ausgewertet werden können. Verzichtet man
jedoch auf die Informationen exakter Prozentzahlen, erhält man in qualitativen Verfahren ein
differenziertes Stimmungsbild. Es spricht für die Studie und die angewandte Methode, daß sie
im Gegensatz zu anderen Erhebungen ein großes Echo in der kirchlichen Jugendarbeitsszene
ausgelöst hat, und daß sie von vielen Praktikern in ihren Ergebnissen bestätigt wurde.
Die Ergebnisse, die ich Ihnen hier nur in prägnanten Ausschnitten präsentieren kann, sind nach
den soziologischen Ausführungen nicht mehr überraschend. Zum größten Teil decken sie sich
10
Die teilweise überaus heftige und z.T. weit unter der sachlichen Ebene geführte Diskussion über die Ergebnisse der Studie
wurde erstaunlicherweise meistens auf die Methodenfrage verengt. Die Ergebnisse der Studie scheinen aber vor allem bei
Praktikern der Jugendarbeit auf zustimmende Resonanz gestoßen zu sein, im übrigen widersprechen die wesentlichen
Ergebnisse kaum den andernorts, zum Teil von jenen heftigen Kritikern, festgestellten Trends jugendlicher Religiosität. (Vgl.
dazu die Beiträge über die Auswertungstagung in Bad Boll in aej-Studientexte 2/92.)
11
Vgl. Heiner Barz: „Wer glaubt denn heute noch an die sieben Gebote?“ Ergebnisse und Provokationen der empirischen
Studie „Jugend und Religion“, in: aej-Studien texte 2/92, Stut tgart 1992, 46f.
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mit Einzelergebnissen anderer Erhebungen. Überraschend ist die Deutlichkeit, in der Jugendliche ihre Distanz zu den Kirchen ausgedrückt haben. Ein Thema der Gespräche war die Frage
nach dem Sinn des Lebens. Im Gegensatz zu früheren, speziell zu christlich geprägten Sinnsystemen fällt auf, daß übergeordnete, womöglich transzendente Inhalte keinen umfassenden
Rahmen mehr bilden. In vielen Fällen wird auch – zumindest verdeckt – eine Sinnlosigkeit des
Lebens unterstellt, allerdings ohne daß besonders unter diesem Manko gelitten würde. Die
aktuelle Sinnkonstruktion besteht demgegenüber in einer Ansammlung von einzelnen Komponenten individuellen Glücks, die innerweltliches Wohlbefinden ausmachen: Glück ist, wenn
man eingebettet ist in seinen zuverlässigen Freundeskreis, wenn man in einer harmonischen
Zweierbeziehung geborgen ist, wenn man sich einen gewissen Lebensstil leisten kann – wobei
die Frage, an welchem Punkt luxuriöse Lebensführung anfängt, eindeutig vom Standard der
Wohlstandsgesellschaft geprägt ist. Freiheit von äußeren Zwängen der Lebensführung, Leben im
Einklang mit sich selbst und den eigenen Maßstäben, interessante Erwerbsarbeit und Gesundheit
im Sinne körperlicher Fitness und Attraktivität sind die anderen wichtigen Glückselemente.
Verlorene Transzendenz, Diesseitigkeit und Selbstverwirklichung sind die Merkmale dieses
Modells.12
Der Glaube der Jugendlichen im Alltag präsentiert sich nach den hier dargestellten, teilweise
schon bekannten Koordinaten: Allgemein unterliegt er der Individualisierung und dem eigenen
Urteil, das die traditionellen Muster kritisch hinterfragt und prüft. Ein weiteres wichtiges
Element ist die Frage nach dem praktischen Nutzen. „Ich kann den Glauben ausüben oder auch
lassen, und was bringt es mir?“ Die Kanzler-Doktrin, nach der entscheidend ist, was hinten
herauskommt, manifestiert sich auch in der Glaubenswelt der Jugendlichen. Glaube muß eine
nützliche Konsequenz haben. Positiv gewendet: der Glaube muß lebensrelevant sein. Trotz der
Innerweltlichkeit, die sich zeigt, bricht das Transzendente in Form von parapsychologischen
Phänomenen und okkulten Praktiken ein, allerdings in aller Regel sehr gemäßigt, eher so, wie
es im alltäglichen Aberglauben ausgedrückt ist. Das Weltbild muß spannungsfrei sein, die
widerstrebenden Polaritäten von Gut und Böse werden in einer Konstruktion, z.B. dem Gottesbild, zusammengesehen, nicht in zwei einzelne Mächte auseinanderdividiert. Die beschriebenen
Merkmale treffen also auch auf christliche Glaubensinhalte zu, wo sie denn erwähnt werden.
Das christliche Gottesbild trifft man vor allem in pantheistischen Ausprägungen an: Gott in der
Natur, als unbewußte Wirkmacht in der Welt. BARZ hat das neue Gottesbild monistisch genannt,
da im Gegensatz zu früheren, klassisch christlichen Bildern Gott nicht als Gegenüber, nicht als
übergeordnete Person oder als der ganz Andere empfunden wird. Statt dessen herrscht ein
Gottesbild vor, das in den beiden Sätzen „Gott ist in allem, und ich bin ein Teil von Gott“ zusammenfließt.
Das Zusammenflicken von Versatzstücken verschiedener religiöser Systeme oder Anschauungen ist grundlegend für jugendliche Religiosität. Es wird zum Teil als Zeichen ihrer be-
12
Vgl. Heiner Barz: Postmoderne Religion am Beispiel der jungen Generation in den Alten Bundesländern (Teil 2 des
Forschungsberichts „Jugend und Religion“ im Auftrag der aej), Opladen 1992, 84-101.
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sonderen Durchdringung empfunden: „Irgendwie haben doch alle Religionen recht, irgendwie
sagen doch alle das Gleiche, ob sie Gott nun Allah oder Buddha oder anders nennen.“13
Religion spielt im Alltag der Jugendlichen keine ernstzunehmende Rolle mehr, wobei in den
Äußerungen klar wird, daß mit Religion in der Regel die christliche Religion gemeint ist. Hinter
der Ablehnung taucht dabei bei einigen Jugendlichen so etwas wie eine „zweite Religion“ auf
(auch oft als Spiritualität bezeichnet), in der – in Abgrenzung zu den offiziellen Religionen –
„die Suche nach Orientierung, nach Wahrheit, ganzheitlichen Zusammenhängen oder auch die
Erforschung und Kultivierung der Gefühlswelt“14 stattfinden kann. Interesse an Religion ist
jedoch zumeist Interesse an religiösem Wissen, nicht an einer Glaubensauseinandersetzung.
Außer bei kirchennahen Jugendlichen ergibt sich eine eindeutige Beurteilung von Religion und
religiösen Praktiken: „Die westliche Welt hat alles, was sie braucht, und deshalb verlieren wir
den Glauben.“15 Dieses Zitat aus einem Interview drückt die Bestimmung von Religion als
einem zu überwindenden Phänomen aus, das seine Daseinsberechtigung nur noch für in irgendeiner Form defizitäre Lebensbereiche hat. Religion kann einen inneren Seelenfrieden verschaffen, das wird teilweise beobachtet und anerkannt, allerdings muß dieser Vorteil durch den
Verlust von Eigenständigkeit und Unterordnung unter bestimmte äußere Verhaltensweisen
erkauft werden. Religion ist dementsprechend etwas für Menschen mit Defiziten des Selbstwertgefühls, mit Orientierungsdefiziten, mit Reflexionsdefiziten und sozialen Defiziten. In diese
Reihe paßt die Feststellung, daß Religion etwas für Entwicklungsländer sei, denn in diesen
Ländern fehlt die entwickelte Wohlstandskultur, die Religion überflüssig machen könnte. Ich
sage es pointiert: Religion ist etwas für arme Willis, die alleine nicht so recht durchs Leben
kommen, genauer: die den Ansprüchen an das Individuum in der postmodernen Gesellschaft
nicht ohne Hilfe entsprechen können. Naturgemäß ist die Einschätzung von Religion in der
Gruppe der kirchennahen Jugendlichen anders.16
Als letztes Ergebnis der Studie möchte ich den nunmehr auch konkret nachgefragten Themenbereich Kirche und Christentum im Alltag vorstellen, nachdem die Voten über Religion im letzten
Abschnitt implizit auch schon einiges über kirchlich organisierte, christliche Religiosität
vermitteln konnten. In diesem Bereich finden sich die einhelligsten Urteile quer durch alle
befragten Gruppen von Jugendlichen. Es gibt nur einen relativ kleinen kirchlichen Sektor, der
positive Assoziationen hervorruft, dazu gehört das soziale Engangement der Kirchen und eine
romantisierende Vorstellung von der Ursprungsidee christlichen Lebens. Ein sehr weiter Bereich
ruft indifferente Assoziationen hervor, dazu gehört sowohl das Kirchengebäude als auch der
darin stattfindende Gottesdienst. Ungebremste Abneigung trifft jedoch die Kirche als Machtapparat, wobei je nach Ausbildung und Kenntnisstand der Jugendlichen alles an kritischem
Potential aufgeboten wird, was gegen Kirche überhaupt aufgebracht werden kann. Was sich im
Bereich der unspezifischen Religion schon zeigte als zum allgemeinen Gedankengut gewordene
13
H. Barz: aaO., 117ff.
14
H. Barz: aaO., 150.
15
H. Barz: aaO., 151.
16
Vgl. H. Barz: aaO., 154-156.152f. Zur Einteilung in verschiedene jugendliche Stichprobengruppen vgl. 28-32. Der
Stichprobenplan ist im Anhang dieses Vortrags abgedruckt (S. 16).
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Religionskritik jeglicher Provenienz, psychologisch oder marxistisch oder philosophisch, wird
hier sozusagen wiederholt, indem die dunklen Seiten der Geschichte des Christentums teilweise
gekonnt aufgezeigt werden. Dies alles spielt sich auf dem Boden einer tiefgründigen Abneigung
gegen Großinstitutionen ab, die zum postmodernen Bewußtseinswandel gehört, wie ich im
ersten Abschnitt ausgeführt habe. Alles, was in größerem Stil organisiert wird, ist per se verdächtig, vorrangig an Bevormundung, Zwangsausübung und Macht zum Zwecke der Bereicherung interessiert zu sein. Dazu kommt der „innere Zwang zur Heuchelei“, den die Jugendlichen
erstmalig in Religions- und Konfirmationsunterricht zu erleben meinen, und den sie als grundlegendes Verhaltensmuster christlicher Religion vermuten. Dementsprechend trifft die Kirchgänger das gesammelte Maß an Verachtung. Das Defizit-Paradigma wird auf sie in voller Härte
angewendet, wer an dieser Veranstaltung teilnimmt, muß wirklich arm dran sein, zusätzlich
erzkonservativ bzw. reaktionär und verlogen freundlich noch dazu.17 Diese Einstellungen sind
wie gesagt nur in ihrer Härte jugendspezifisch, nicht in ihrer grundsätzlichen Tendenz. Vor
einigen Wochen erschien in der ZEIT, die nun sicher nicht zu den Revolverblättern zu zählen
ist, ein Dossier mit dem beziehungsreichen Titel „Wer nur den lieben Gott verwaltet“, der ein
guter kritischer Artikel hätte sein können, wenn er nicht die genannten prinzipiellen Negativeinstellungen zur Kirche als Großverband sehr kritiklos zur Grundlage gehabt hätte.18
Wenn finstere Aussichten die Laune der Theologen trüben, war es bis jetzt immer ein probates
Mittel, den Kirchentag als die leuchtende Ausnahme zum Hoffnungsstreif am Horizont zu
machen. Ich fürchte, ich muß Ihnen auch diese Illusion etwas verderben. Hauptgrund der
Kirchentagsbegeisterung ist nur ganz begrenzt das christliche Treiben. Vor allem der Festivalcharakter mit „Action, Amüsement, Gemeinschaft und dem Ausbrechen aus dem Alltag“, also
Elemente sehr indirekten religiösen Erlebens, machen seinen Reiz für Jugendliche aus. Viel
schwerer wiegt in meinen Augen, daß der Kirchentag ein Happening einer sehr spezifischen
Gruppierung ist, nämlich der kirchennahen Jugendlichen mit politisch-diakonischer Ausrichtung. Alle anderen Gruppen einschließlich der missionarisch-biblischen Kirchennahen
nehmen das Kirchentagsspektakel bestenfalls uninteressiert, in der Mehrzahl jedoch kritisch auf.
Den einen ist er nicht kritisch genug, sie bemängeln den Charakter als Massenveranstaltung und
erkennen bei Teilnehmenden ihre alten Vorbehalte bezüglich einer anpasserischen Herdenmentalität wieder. Den anderen ist er nicht glaubensorientiert genug und zu sehr am WerbeEffekt orientiert.
Versucht man, aus der Studie mit allen Einschränkungen ein kurzes Fazit zu ziehen, so bleibt
die ernüchternde Erkenntnis, daß „christliche Religion und Kirche [...] ihre Plausibilität für die
weit überwiegende Mehrzahl der jungen Menschen bis ins Grundsätzliche hinein [verloren hat].
Die Anknüpfungspunkte zwischen jungen Menschen und kirchlicher Tradition sind auf spärliche Elemente mit der Funktion von Dienstleistungen zusammengeschrumpft. Wider alle Rede
von neuen religiösen Strömungen, die auch eine neue Offenheit für die Antworten christlicher
Tradition erwarten ließ, gibt es keine generelle religiöse Stimmungslage unter jungen Men-
17
Vgl. H. Barz: aaO., 167-181.
18
Martin Merz/Sabine Rückert: Wer nur den lieben Gott verwaltet, in: Die Zeit, Nr. 7, 11.2.94, 13 ff.
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schen.“19 So der Jugendforscher Norbert COPRAY , an den man ergänzend anknüpfen kann: Wo
es diese religiöse Stimmungslage gibt, kann christliche Kirche sich nicht als geeigneter Ort
dafür kenntlich machen.
3. Interpretationen und Konsequenzen für eine kirchliche Jugendarbeit
Ich habe Ihnen die Ergebnisse der aej-Studie nicht vorgestellt, um Sie zu demoralisieren. Ganz
im Gegenteil: Soll kirchliche Jugendarbeit für alle Beteiligten fruchtbar und befriedigend sein,
gilt es, die Rahmenbedingungen ungeschönt zur Kenntnis zu nehmen. Nur so kann verhindert
werden, daß sich Jugendmitarbeiter und -mitarbeiterinnen zum Ziel nehmen, Unmögliches
möglich zu machen. „Wider das Don Quijote-Syndrom“20 (N. COPRAY) heißt, sich nicht gegen
die Windmühlenflügel des massiven gesellschaftlichen und jugendkulturellen Trends zu
stemmen. Nur so kann auch verhindert werden, daß die Jugendlichen, die ihre Religiosität
immer noch in kirchlichen Zusammenhängen leben und erleben, mit den kirchlichen Erwartungen an die gesamte Jugend überfordert werden.
Das Bild von Kirche und Christentum, das bei den meisten Jugendlichen vorherrscht, ist eine
Langzeitfolge früherer Versäumnisse, und die Kritik der Jugendlichen trifft zu Recht. Oft genug
ist die kirchliche Jugendarbeit – wie die Kirchen selbst – eine traditionsbewahrende und
antiemanzipatorische Größe gewesen. Lust- und Körperfeindlichkeit innerhalb kirchlicher
Verbände und Strukturen sind ebenfalls erst in Ansätzen überwunden. BARZ hat zu Recht darauf
verwiesen, daß in der Theologischen Realenzyklopädie als Standardnachschlagewerk das
Stichwort Glück schlicht nicht vorkommt. Viele Vorwürfe, die Jugendliche heute gegen Kirche
und Christentum erheben, sind jedoch unzeitgemäß überholt. Zwei sozialpsychologische
Gesetzmäßigkeiten unterstützen diesen Trend:
Erstens dauert es eine Zeit, bis sich Bewußtseinsinhalte auch im konkreten Verhalten widerspiegeln, BARZ hat das „psychohistorisches Trägheitsgesetz“ genannt. Obwohl im Bewußtsein
der Menschen schon länger der Eindruck besteht, daß Kirche und Lebenswelt auseinanderdriften
und deswegen zunehmend größere Begründungsprobleme bestehen, kommt das erst jetzt in
konkreter Abwendung zum Ausdruck. Zweitens ist es leider so, daß ein bestehendes Meinungsbild auch durch anderslautende Mitteilungen nur schwer verändert wird, da Nachrichten bzw.
öffentliche Meinungen hauptsächlich selektiv-bestätigend zur Kenntnis genommen werden.
Konkret: Daß sich die Mehrheit von Christen und Christinnen für Bischöfinnen ausspricht, ja
daß Frau Jepsen in Nordelbien Bischöfin ist, macht auf einen Menschen, der die Kirche für
einen frauenfeindlichen Laden hält weniger Eindruck als eine Meldung über eine Handvoll
Pastoren, die ihren Beruf an den Nagel hängen wollen, weil Frauen ordiniert werden dürfen.
Eine Erfahrung, evtl. auch nur aus zweiter Hand, von einer restriktiven Jugendarbeit wirkt
effektiver für das negative Image kirchlicher Jugendarbeit als zehn Fälle einer emanzipatorischen. Dieser Effekt verstärkt sich zu allem Überfluß mit zunehmender Distanz von der Kirche
19
Norbert Copray: Tendenz fallend. Das Verschwinden von Kirche und Christentum in der Jugendkultur, in: aej-Studientexte
2/92, Stuttgart 1992, 128.
20
Vgl. N. Copray: aaO., 130.
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und dementsprechend abnehmender Kenntnis kirchliche Strukturen: Natürlich trifft die päpstliche Ablehnung künstlicher Verhütungsmittel auch die evangelischen Kirchen.
Den Unterschied zwischen Innen- und Außenperspektive in der Wahrnehmung kirchlicher
Aktivitäten beobachtet man auch im Image kirchlicher Jugendarbeit: Kirchenferne Gruppen
assoziieren mit kirchlicher Jugendarbeit eher Beschäftigungsangebote für „Looser und Cordhosenträger“, sie schreiben ihr eine Surrogatfunktion für alle zu, die sich aus irgendwelchen
Gründen keine andere Freizeitbeschäftigung leisten können. Sie verbinden mit dem Angebot
negativ die kirchliche Einflußnahme bis zur religiösen Indoktrination und die Verbindlichkeit
des kirchlichen Angebots. Dagegen wird aus der Innenperspektive der religiöse Anspruch
deutlich weniger wahrgenommen, was zum Teil ebenfalls Anlaß zu Kritik gibt.21 Diese etwas
widersprüchliche Einschätzung kann neben dem Hinweis auf das schiefe Bild, das Kirche in der
Jugend allgemein hat, doch nur bedeuten, daß es offensichtlich weder bei den Kirchenfernen
noch bei den Kirchennahen gelungen ist, die Lebensrelevanz christlichen Glaubens zu verankern. Nach wie vor rauscht die frohe Botschaft an den meisten Jugendlichen vorbei, jedenfalls
in der Art und Weise, wie sie bis jetzt oft vermittelt wird.
In der kirchlichen Jugendarbeit muß man aus genau diesen Gründen über eine zweigleisige
Strategie nachdenken. Es muß klar sein, ob man die kirchlich orientierten Gruppen, seien sie
nun missionarisch-biblisch oder politisch-diakonisch orientiert, oder Jugendliche allgemein
ansprechen will. Die Schwierigkeiten der zuletzt genannten Aufgabe dürften klar geworden sein,
vor allem das Auseinanderdriften der Innen- und Außenbewertung als selbstverstärkender
Kreislauf: je geringer die Akzeptanz, desto weniger Berührungspunkte, desto mehr Klischees.
Nichtsdestotrotz halte ich diese Öffentlichkeitsarbeit für unverzichtbar, es sein denn, man
bevorzugt eine kleine, aber feine exklusiv-kirchliche Jugendarbeit. Das uneingeschränkte
Angebot für alle Jugendlichen erfordert unter Umständen Methoden, die kirchlich unpopulär
sind. Es erfordert einen Verzicht auf jedwede missionarische Absicht und auf Seiten der kirchlichen Mitarbeiter eine realistische Auseinandersetzung mit den eigenen Ansprüchen. Kirchliche
Jugendarbeit - und ich setze hinzu: nicht nur die Jugendarbeit - sollte aufhören, Menschen als
Objekte ihrer Bemühungen zu sehen. Stattdessen sollten Menschen begleitet werden in ihrem
Suchen und ermutigt werden, in ihrer Ratlosigkeit beweglich zu bleiben. Menschen ihre eigenen
Lösungen finden zu lassen, sollte Ziel kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit sein. Kirche kann sich
weiterhin profilieren als Institution, die gesellschaftliche Suchprozesse trägt und beherbergt,
unabhängig vom Eigennutzen, der dabei herausspringt.22 Erwartungen Jugendlicher an kirchliche Jugendarbeit, die immerhin noch geäußert werden, beziehen sich dementsprechend vor
allem auf dialogische Präsentation religiöser Themen im Seminarstil und Anregung zur Selbsterfahrung, und zwar auch zur religiösen Selbsterfahrung. 23 Wendet man sich den kirchennahen
Jugendlichen zu, kann man zwar eine gewisse Vertrautheit mit christlichen Inhalten und
Symbolen voraussetzen, aber auch in dieser Gruppe finden ähnliche Prozesse der Ablösung von
21
Vgl. H. Barz: aaO., 213-222.
22
Vgl. N. Copray: aaO., 132.
23
Vgl. H. Barz: aaO., 223.
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Tradition und der Auswahl bestimmter Glaubensinhalte statt. Die Probleme, die Jugendliche
dieser Gruppierung haben, kreisen nach wie vor um das Theodizeeproblem, um die Schöpfung
als „gute Schöpfung“ und - schon seltener - um die Frage von Leben und Tod. Ganz generell gilt
für alle Gruppierungen, daß Jugendliche nur Erfahrungen zur Grundlage von Sinndeutungen
machen, nicht überlieferte Deutungen einfach übernehmen.24
Die Frage nach einer glaubwürdigen Vermittlung der Lebensrelevanz des Christentums verweist direkt auf die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Da Tradition und kirchliche Autorität
keinerlei Überzeugungskraft mehr haben, sind persönliche Erfahrungen die einzige
Legitimationsinstanz. Natürlich konzentriert sich das in den Personen, die die kirchliche
Jugendarbeit verantworten. Darin sind sich im übrigen alle Umfragen über kirchliches Verhalten
einig: Die Personen, mit denen man im Laufe seiner religiösen Karriere zu tun hatte, bleiben in
tiefer Erinnerung, ganz im Gegensatz zu den vermittelten Inhalten. Hier läßt sich ein sehr
konkretes Ziel für die praktische Durchführung von Jugendarbeit formulieren: Die Begleitung
und Stärkung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter muß wesentlich verbessert werden. Nicht im
Sinne einer dogmatisch-moralischen Aufrüstung, sondern so, daß sie glaubwürdig in ihrem
eigenen Suchprozeß sein können und nicht als Verwaltungsangestellte mit überholten Antworten auf längst vergessene Fragen erscheinen.25
Ich finde es selbstverständlich, an den Bedürfnissen und Erwartungen der Jugendlichen anzusetzen, also die neue Religiosität, wo sie denn artikuliert wird, auf mögliche Anknüpfungspunkte hin zu durchforsten. Solche Anknüpfungspunkte sind nach Aussagen der Jugendlichen
religiöse Erlebnisse in der Natur, in der Gemeinschaft und mit der eigenen Körperlichkeit.
Sicher wird das Erleben des eigenen Körpers, wozu gerade im Jugendalter Sexualität und
mitgeteilte Körperlichkeit gehört, vom narzißtischen Zeitalter, das wir erleben, zusätzlich
verstärkt.26 In ähnlicher Weise gilt das auch für die Konjunktur, die Natur genießt. Diese drei
Bereiche sind allerdings in ihrer religiösen Erlebnisqualität keineswegs neu. Sie lassen sich an
fast jedem historischen Ort kirchlicher Jugendarbeit wiederfinden, sie sind leider bis auf das
Stichwort Gemeinschaft nach wie vor in theologischen und religionspädagogischen Konzepten
nur sehr unvollkommen berücksichtigt.
Die Kritik, die Jugendliche an den Kirchen üben, ist schonungslos, und die Konsequenzen für
die Formen, in denen sie und mit ihnen auch die kirchliche Jugendarbeit weiterbestehen werden,
scheinen sehr grundlegend zu sein. Die Lage ist ernst, keine Frage, und es besteht nicht der
geringste Anlaß zur Verharmlosung, wie es in der Folge der aej-Studie teilweise geschehen ist.
Dennoch gibt es auch Anlaß, die dargestellten Veränderungsprozesse positiv zu sehen. Jugendli-
24
Die typischen Problemfelder der kirchennahen religiösen Sozialisation sind kurz zusammengefaßt in Karl Ernst Nipkow:
Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrungen im Lebenslauf, München 1987 , 43ff.
25
26
Vgl. N. Copray: aaO., 131.
Der Platz reicht hier nicht, um die Entsprechung zu beschreiben, die zwischen der soziologischen Entwicklung vom
nomozentrischen zum autozentrischen Menschen und der psychologischen Entwicklung vom ödipalen zum narzißtischen
Sozial isatio nstyp besteht. (Vgl. die immer noch aktuellen Beiträge in dem Sammelband Helga Häsing/Herbert Stubenrauch/
Thomas Ziehe (Hrsg.): Narziß - Ein neuer Sozialisationstypus?, Bensheim 4 1981) Wie religiöse Sozialisation an der
Ausdifferenzierung der narzißtischen P ersönlichkeit ankn üpfen kann, ist in d er Forschung hin länglich beschrieben worden.
(Vgl. dazu grundlegend Reiner Preul: Religion - Sozialisation - Bildung. Studien zur Grundlegung einer religionspädagogischen Bildungstheorie, Gütersloh 1980, 215ff.)
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che haben endgültig aufgehört, Dinge, die ihnen fremd sind, einfach nachzubeten. Sie bedienen
sich größtenteils einer gedanklich scharfen Kritik, die sie vorsichtig gegenüber vollmundigen
Formulierungen werden läßt. Sie lehnen es ab, eine Religion zu praktizieren, mit der sie ihr
Leben nicht verbinden können. Diese Einstellungen sind nicht bequem, aber sie sind doch
außerordentlich wünschenswert für eine reife christliche Persönlichkeit. In der konzeptionellen
Arbeit haben sich bestimmte Ansätze erledigt und haben Platz geschaffen für passendere
Modelle. Religiosität, und selbstverständlich auch christlicher Glaube ist angemessen nur als
Folge einer Entwicklung und einer gedanklichen Differenzierung zu denken. Sie besteht nicht
in einer mehr oder weniger plötzlichen Übernahme dogmatischer Formeln und unangemessener
Glaubenssätze. Dies wird klarer in einer Situation, in der die religiöse Sozialisation bei Null
anfangen muß, wo sie auf keine von Autoritäten gestützten Sätze zurückgreifen kann.
Wenn ich aussuchen könnte, mit welchen Jugendlichen ich umgehen will, entweder mit denen,
die mir ins Gesicht sagen, daß sie das apostolische Glaubensbekenntnis auch dann nicht verstehen und ihnen die Bedeutung für ihr Leben im Dunkeln bleibt, wenn ich ihnen versichere,
daß es seit 1700 Jahren eine grundlegende Bedeutung hat; oder mit denen, die mir in etwas
altkluger Manier erklären, daß ich „jetzt aus der Vergebung der Schuld [...] und in der Kraft der
Auferstehung Jesu zur Ehre Gottes und zur Hilfe der Menschen leben darf“27, ich wüßte, was ich
wählen würde. Es scheint so, daß Sie und ich in absehbarer Zeit nicht mehr wählen können.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
27
Zugegebenermaßen ist dieses Zitat nicht von einem Jugendlichen. Ulrich Parzany: Orientierungen im Feld der Religion, in:
aej-Studientexte 2/92, Stuttgart 1992, 117.
©1994 Bernd-Michael Haese, Institut für Praktische Theologie
der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Leibnizstr. 4, 24098 Kiel, [email protected]