SZ-Archiv: A56149906

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SZ-Archiv: A56149906
SZ-Landkreisausgaben
BAYERN
Freitag, 27. Dezember 2013
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Der Aufbau des Spielearchivs steht kurz vor dem Abschluss. Stefanie Kuschill präsentiert den Klassiker „Mensch ärgere Dich nicht“.
FOTOS: PETER ROGGENTHIN
Im Spieleparadies
Das Nürnberger Pellerhaus wird künftig das Deutsche Spielearchiv beherbergen. Da findet sich nahezu
alles, mit dem sich die Menschen seit Kriegsende in ihrer Freizeit gerne beschäftigt haben
von katja auer
Nürnberg – Rita, die Verlockende, trägt
rot, während gelb für Gertrud, die Emanzipierte, steht. Und Gretchen, die Natürliche,
ist natürlich grün. Eine der Damen gilt es
zu erobern und über allerlei Umwege und
mit den unterschiedlichsten KniggeTricks nach Hause zu geleiten. Nicht in
echt. Auf dem Brett. „Ein unbegabter Liebhaber“ heißt das Spiel aus den 70er Jahren,
das Stefanie Kuschill mit all seinen Klischees besonders gut gefällt. Deswegen
hebt sie es in ihrem Büro auf. Nur gespielt
hat sie es noch nicht. Keine Zeit. Sie muss
erst die anderen 30 000 auspacken.
Stefanie Kuschill ist nicht besonders
reich beschenkt worden an Weihnachten.
Sie arbeitet im Deutschen Spielearchiv
und gerade ist sie mit ihrem Kollegen Torsten Lehmann dabei, die ganze Sammlung
in die Regale zu ordnen. Die soll nämlich
bald wohlsortiert in der ehemaligen Nürnberger Stadtbibliothek am Egidienplatz
stehen. Dann hat das Spielearchiv, dessen
größter Teil gerade noch in 2500 Umzugskartons verpackt ist, in der Spielzeugstadt
Nürnberg endlich eine Bleibe gefunden.
„Spielen ist ein Kulturgut“, sagt Kuschill. Das ist auch ihre Antwort, wenn mal
wieder jemand leicht verständnislos fragt,
warum man eigentlich so viele Spiele sammelt. „Deutschland ist Weltmeister im
Spielen und Spiele-Erfinden“, sagt sie. Deswegen wollen sie im Spielearchiv nicht nur
die alten Schachteln aufheben, die von
1945 an in Deutschland auf den Markt gekommen sind ebenso wie die jährlichen
Neuerscheinungen, sondern auch die Tradition des Spielens aufrecht erhalten. Von
2014 an wird es alle zwei Wochen Spielenachmittage im Spielesaal des Nürnberger
Pellerhauses geben. Mensch ärgere Dich
nicht liegt schon im Regal, natürlich, das
Spiel gehört zu den deutschen Klassikern.
70 Millionen Mal wurde es verkauft und
wenn die Erfindung von Josef Friedrich
Schmidt im nächsten Jahr 100 Jahre alt
wird, soll auch das im Spielearchiv gefeiert
werden. Mit einer Ausstellung zum Beispiel. In der Sammlung finden sich nicht
nur Spieleausgaben aus den verschiedenen Jahrzehnten, sondern auch allerhand
Varianten. Wer wird denn weinen steht auf
einer Schachtel und Mann muss hinaus auf
einer anderen. Drin steckt immer Mensch
ärgere Dich nicht, erklärt Stefanie Kuschill. Das Spielprinzip vom Werfen und
Schlagen gehe zurück auf das indische Pachisi und sei auf allen Kontinenten verbreitet. „Das lässt sich angeblich bis zu den Azteken zurückverfolgen“, sagt sie.
Spielen ist ein Kulturgut und
Deutschland ist Weltmeister im
Spielen und Spiele-Erfinden
Ganz so weit reicht die Sammlung im
Spielearchiv nicht zurück, aber immerhin
bis 1945. Der Spielekritiker Bernward Thole gründete das Archiv 1985 in Marburg.
Seine eigenen 5000 Spiele waren die
Grundlage. Viele Jahre war das Archiv
auch die Geschäftsstelle des Vereins „Spiel
des Jahres“, doch als diese Zusammenarbeit endete, ließ sich das Spielearchiv als
private Sammel- und Forschungsstelle für
Thole nicht länger halten. 2009 kauften
die Museen der Stadt Nürnberg die Sammlung für 100 000 Euro, ein Jahr später kamen die Umzugskartons nach Franken.
Nur ausgepackt wurden sie bisher nie.
„Wir haben drei Jahre mit einem imaginären Fundus gearbeitet“, sagt Kuschill.
Der Weg zu Torsten Lehmanns Arbeitsplatz führt an meterhohen Regalen vorbei.
Da steht sein Computer, an dem er noch eine ganze Weile damit beschäftigt sein
wird, das Archiv zu digitalisieren. „Die Datenbank soll frei zugänglich sein“, sagt er.
Noch sind längst nicht alle Spiele erfasst.
Er macht eine Maske auf. Yakari erscheint,
ein Brettspiel, bei dem es darum geht, den
kleinen Indianer Yakari und seine Freunde
wieder in ihr Dorf zurückzubringen. Leh-
„Die Parforcejagd“ lautet der Titel dieses
Spiels – es darf gewürfelt werden.
mann baut das Spiel auf und fotografiert
die Spielsituation. Verlag und Erscheinungsjahr sind in der Datenbank vermerkt, Informationen über den Autor und
natürlich die Spielanleitung.
„Spiele sind auch ein Zeitdokument“,
sagt Stefanie Kuschill. So erschienen in
den 50er Jahren, als die Deutschen ihre Liebe zu Italien entdeckten und die VW-Käfer
massenhaft über den Brenner rollten, die
ersten Reisespiele. In den 60er Jahren, als
die ersten Quizsendungen im Fernsehen
liefen, gab es die passenden Ratespiele.
„Heute sind es vor allem Fantasy- und Strategiespiele“, sagt Kuschill.
Und dann gab es freilich alle paar Jahre
ein Spiel, das heute beinahe jeder kennt.
Mensch ärgere Dich nicht war so eines und
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Monopoly, das erfolgreichste Spiel aller Zeiten. Mehr als 100 Millionen Mal wurde das
verkauft. Das Ratespiel Trivial Pursuit gehört zu den viel gespielten ebenso wie die
Siedler von Catan, auch wenn sich das inzwischen mehr ins Internet verlagert hat.
Die Raritäten verwahren die beiden an
ihrer „schönen Wand“, wie sie es nennen.
„Das ist so ähnlich wie mit den alten Handschriften in Bibliotheken“, sagt Lehmann.
Da stehen zum Beispiel Buchspiele, also
solche, deren Verpackung einer Kassette
gleicht, die ins Bücherregal passt. Die Firma Pelikan, die Schulkindern wegen ihrer
Füller bekannt sein dürfte, brachte solche
Spiele in den 70er Jahren heraus. Es gibt
auch sonderbar anmutenden Spiele im Archiv, wie das Asthmanauten-Spiel der
Schweizer Vereinigung gegen Tuberkulose
und Lungenkrankheiten. Es soll spielerisch den Umgang mit einer solchen Diagnose erleichtern.
Gespielt haben Stefanie Kuschill und
Torsten Lehmann längst nicht alles, was in
ihren Regalen steht. Geht gar nicht. Dabei
spielen sie gerne. Das wurde Kuschill, 35,
auch bei ihrem Einstellungsgespräch gefragt, erzählt sie. Ja, sagte sie, sie spiele gerne. Aber sie verliere nicht gerne. „Da hatte
ich den Job.“ Der ist freilich längst mehr als
das. So kann sie nicht mehr über einen
Flohmarkt laufen, ohne nach alten Spielen
zu schauen, die vielleicht noch fehlen könnten in der Sammlung. Privat spielt die
Volkskundlerin am liebsten mit Karten.
Lehmann, 46, der Historiker, bezeichnet
sich selbst eher als „strategisch-nüchternen Typ“ und spielt folgerichtig am liebsten Schach.
Mit Empfehlungen halten sich die beiden zurück. Zu viele gute Spiele gibt es. Einen „schrecklichen Trend“ allerdings hat
Stefanie Kuschill ausgemacht: Mütter wollen nur noch Lernspiele für ihre Kinder.
„Man lernt immer was“, sagt Stefanie Kuschill – auch wenn ein Spiel nicht als besonders pädagogisch gekennzeichnet ist. Sie
empfiehlt also: Einfach spielen.
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