Leseprobe - Emons Verlag

Transcrição

Leseprobe - Emons Verlag
Katrin Rohde, Jahrgang 1968, wurde in Braunschweig geboren
und lebt in ihrer Heimatstadt. Wenn sie nicht schreibt, geht sie
ihrem Beruf als Konstrukteurin in einem großen Autokonzern
nach. Die Ideen für ihre Geschichten fallen ihr Schritt für Schritt
beim Joggen durch Braunschweigs grüne Lunge ein.
K ATRIN ROHDE
Löwenbrut
NIEDERSACHSEN KRIMI
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind
frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind nicht gewollt und rein zufällig.
Rohde_Löwenbrut_06.indd 2-3
emons:
09.04.15 11:04
Für Micha
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: © mauritius images/imageBROKER/Siepmann
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln
Lektorat: Christine Derrer
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany 2015
ISBN 978-3-95451-557-8
Niedersachsen Krimi
Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie
regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter
www.emons-verlag.de
Rohde_Löwenbrut_06.indd 4-5
09.04.15 11:04
Prolog
Der kühle Novembermorgen kroch an den Beinen des Mannes empor,
der seit geraumer Zeit auf einer Holzbank verharrte. Sein Atem hinterließ eine weiße Wolke in der klaren Luft, während er konzentriert
die Schar von Menschen im Auge behielt, die sich mit Ferngläsern
bewaffnet bereit machte, den Aussichtsturm zu besteigen.
Der Mann fingerte nervös mit seinen klammen Händen eine Zigarette aus der Innentasche seines Mantels. Er zündete sie an und
blies den Rauch wie eine kleine Dampfmaschine hervor. Seine innere
Anspannung stieg mit jedem Schritt, den die Männer und Frauen
die Holztreppe hinaufstiegen.
Jetzt musste es bald so weit sein, ein ganz spezielles Objekt würden
sie durch ihre Ferngläser erspähen. Aufgeregt schnippte er die Zigarette
beiseite und beugte sich gespannt nach vorn.
Plötzlich durchbrach ein gellender Schrei die morgendliche Stille.
Eine Hand wies hektisch auf etwas, die Ferngläser wurden daraufhin
ausgerichtet. Das schrille Kreischen einer Frau erklang, und das Gemurmel schwoll an zu blankem Entsetzen. Aufgeschreckte Vögel suchten mit schnellen Flügelschlägen das Weite und schnatterten aufgeregt.
Dem Beobachter huschte ein zufriedenes Lächeln über das Gesicht, während die Ersten ihre Handys zückten, um die verstörende
Nachricht der Polizei zu melden.
Eine heiße Welle durchflutete seinen Körper, als er erneut in den
Mantel griff und sein Telefon hervorzog, es aufklappte und die Schnellwahltaste Eins drückte. Es klingelte nur einmal, bevor sich am anderen
Ende eine leise Stimme meldete. »Ja?«
»Sie haben unsere Überraschung gefunden.«
»Gut.«
Er ließ das Handy zuschnappen und stand auf. Sein Körper wirkte
nach dem Sitzen in der Kälte taub und eingeschlafen, aber das pulsierende Gefühl in seinen Adern brachte seine Lebensgeister zurück.
Endlich war es so weit: Das Spiel begann. Ein blutiges Spiel, das nur
ein Ziel verfolgte.
7
Rohde_Löwenbrut_06.indd 6-7
09.04.15 11:04
Eins
Mit hoher Geschwindigkeit preschte der silberne Wagen den
Weg entlang. Das Blaulicht auf dem Dach und die eingeschaltete
Sirene ließen Spaziergänger zur Seite springen und drohend
dem Auto hinterherwinken. Der Fahrer ignorierte die bösen
Blicke und Beschimpfungen der Menschen. Der Wagen kam
vor dem Flatterband der Polizeiabsperrung abrupt zum Stehen.
Der laute Signalton erstarb, mit ihm der Motor.
»Was ist das für eine Scheiße hier?«, brummte Lars Henkel
hinter dem Lenkrad schlecht gelaunt, bevor er seine Jacke vom
Beifahrersitz fischte und blitzschnell seinen Blick wandern
ließ. Vor ihm lag eine Weggabelung, an der links eine Schneise
zwischen zwei großen Teichen entlangführte, der rechte Pfad
verschwand im Wald. Nahe der Weggabelung ragte ein hoher
Holzturm in die Höhe. Der komplette Bereich wurde durch
das rot-weiße Plastikband als polizeiliche Sperrzone ausgewiesen.
Innerhalb ging es zu wie in einem Taubenschlag: Uniformierte und Polizisten in Zivil liefen wild durcheinander, telefonierten oder waren in Gespräche vertieft. In den Augen von
Lars wirkte es alles andere als koordiniert.
»Ein riesiger Sauhaufen«, fluchte er, als er die Fahrertür aufstieß, ausstieg und sich die Jacke überzog.
Wie aus dem Nichts tauchte seine Kollegin Henrike Noske
auf.
»Da bist du ja endlich«, begrüßte sie ihn ungeduldig, »hier
ist die Hölle los. So was habe ich noch nie gesehen. Unglaublich.« In ihrer Stimme schwang eine Spur von kriminalistischer
Begeisterung mit.
»Du bist ja völlig aus dem Häuschen.«
»Musst du dir selbst ein Bild machen. Die Presse hat auch
schon Wind davon bekommen.«
»Scheint ja eine Sensation in der Luft zu liegen.«
»Endlich mal etwas anderes als die üblichen Trunkenheits8
Rohde_Löwenbrut_06.indd 8-9
morde oder Raubüberfälle. Ist doch super.« Henrikes Stimme
überschlug sich ein wenig.
Lars schlüpfte unter der Absperrung hindurch und folgte ihr
zum Uferbereich. Sie blickten zu der Stelle des kleinen Sees,
an der sich weiß gekleidete Kollegen um die Spurensicherung
kümmerten. Sie trugen zusätzlich hüfthohe Gummianzüge
mit Hosenträgern, um sich vor dem Wasser und Schlamm zu
schützen.
Lars kniff seine Augen zusammen und versuchte, aus der
Distanz zu erkennen, wo sich das Opfer befand. Aber außer
abgestorbenen Baumstümpfen, die mit ihren Ästen bizarr über
die Wasseroberfläche herausragten, konnte er nichts entdecken.
Allmählich verstand er Henrikes Aufregung, denn dieser
Tatort war ungewöhnlich. Meist lagen die Opfer tot auf der
Straße oder in Wohnungen, nicht aber in der Mitte eines Sees.
Seine Alarmglocken klingelten warnend, und sein Instinkt
sagte ihm, dass dieser Fall sich zu einem Problem entwickeln
könnte.
»Die Spurensicherung ist so gut wie fertig, na ja, im Wasser
ist auch nicht viel zu finden. Bevor sie die Leiche da rausholen, können wir sie uns ansehen.« Sie hob einen wasserdichten
Hosenanzug vom Boden auf und drückte ihn Lars in die Hand.
»Den brauchst du.«
Den Tag erneut verfluchend, zog er die Schuhe aus und den
Öl-Anzug über die Jeans. Die integrierten Gummistiefel kniffen
an seinen Füßen, denn seine Füße waren im Verhältnis zu seiner
Körpergröße von einem Meter achtzig relativ groß. Auch der
Anzug war ihm deutlich zu klein. Henrike hatte ihr olivgrünes
Ölzeug bereits übergestreift und winkte ihm ungeduldig zu.
Gemeinsam traten die beiden in den flachen Teich, dessen Kälte
rasch durch die wasserabweisende Kleidung drang.
»Verflucht noch eins, der Tag entwickelt sich nicht gut«,
brummte Lars vor sich hin.
Henrike erreichte als Erste den Ort des Verbrechens, wo bereits etliche Beamte standen und miteinander tuschelten. Einige
schüttelten fortwährend den Kopf und konnten den Blick nicht
von dem Bild abwenden, das sich ihnen bot. Neugierig schloss
9
09.04.15 11:04
Lars zu Henrike auf, die den Kopf tief gesenkt hielt und das
Objekt anstarrte, das den Trubel ausgelöst hatte: Knapp unter
der Wasseroberfläche lag der Tote. Er glotzte seine Betrachter
mit weit aufgerissenen Augen an.
Was Lars zuvor für einen Ast gehalten hatte, entpuppte sich
als rechter Arm der Leiche, der unnatürlich mit ausgestrecktem
Zeigefinger auf das gegenüberliegende Ufer wies. Am Finger
baumelte eine goldene Kette mit einem schlichten Kreuz.
»Das ist doch ein schlechter Witz«, sagte Lars eine Spur zu
laut und schreckte die leise murmelnden Beamten auf. »Wurde
der so gefunden? Mit dem ausgestreckten Zeigefinger und dem
Anhänger dran?«
Ein junger Polizist, den Lars nicht kannte, trat nach vorn.
»Die Vogelkundler haben ihn entdeckt.«
»Das war nicht meine Frage«, entgegnete Lars übellaunig.
»Wurde am Tatort etwas verändert?«
Der junge Beamte lief rot an. »Nein, es wurde nichts verändert.«
»Gut.« Lars beugte sich zu der Wasseroberfläche hinab, um
einen Eindruck vom Gesicht des Toten zu erlangen. Die schräg
stehende Sonne spiegelte sich auf dem Wasser und erschwerte
eine genaue Betrachtung. Dennoch erkannte er, dass das Gesicht
keinerlei äußerliche Verletzungen aufwies. Der restliche Körper
schien nackt zu sein, aber das schlammige Wasser, das durch die
Umherstehenden immer wieder aufgewühlt wurde, verhinderte
eine genaue Inaugenscheinnahme.
»Der muss aus dem Wasser raus, so kann man nichts erkennen«, sagte Lars in die Runde.
»Wir holen ein Boot und bringen ihn dann an Land«, schlug
der junge Polizist vor.
Lars beugte sich dicht an dessen Uniform und las seinen
Namen auf dem aufgenähten Schild. »Dann mal los, Krupke,
kommen Sie in Gang, oder wollen Sie, dass der Tote im Wasser
ersäuft?«
Im Hintergrund lachte jemand, während Krupke rasch gen
Ufer stapfte, um seinen Auftrag zu erfüllen.
Indes beugte sich Henrike konzentriert über den Toten. »Ich
10
Rohde_Löwenbrut_06.indd 10-11
bin gespannt, was uns die Rechtsmedizin über ihn erzählen
kann.«
Bevor Lars ihr antworten konnte, klingelte sein Handy.
»Hallo, Chef«, meldete er sich.
»Was ist da draußen los?«, polterte Walter Kimmichs Stimme
in einer Lautstärke, die alle Anwesenden mithören ließ. »Die
Presse läuft mir die Bude ein. Heute ist Sonntag, Himmel und
Herrgott noch mal.« Im Hintergrund redete eine weibliche
Stimme beruhigend auf Kimmich ein.
»Wir ziehen ihn gleich aus dem Wasser. Dann muss die
Rechtsmedizin erst mal ran. Ich fahre nach Hause und haue
mich wieder aufs Sofa. Letzte Nacht war es spät, weil ich mit
der –«
»Lars, du bleibst da und kümmerst dich um den Fall«, fiel
ihm sein Vorgesetzter laut ins Wort. »Sonst gibt es morgen einen
ordentlichen Einlauf.«
Lars knirschte hörbar mit den Zähnen. »Okay, geht klar.«
Ohne Verabschiedung drückte er das Gespräch weg, in dem
Wissen, dass Kimmich gewohnheitsmäßig an die Decke gehen
und ihn zum wiederholten Male zum Teufel wünschen würde.
Lars blickte zum Ufer. »Was machen die da hinten? Wir sind
doch nicht beim Kaffeekränzchen. Wenn die nicht gleich den
Scheißkaffee wegpacken, gehe ich da rüber, und dann rumst
es.«
Henrike konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, denn Lars
kam langsam auf Touren, und es war besser, wenn es von nun
an wie am Schnürchen lief.
Henrike und Lars beobachteten vom Ufer aus, wie das Boot
mit dem Toten in ihre Richtung gezogen wurde. In Ufernähe
hatten Polizeibeamte einen Sichtschutz aus Planen errichtet,
hinter dem das tropfende Opfer vor den Augen der Umwelt
verschwand.
»So, und nun bitte alle raus«, rief Lars in die Runde. Er hatte
den dringlichen Wunsch, nur mit Henrike die erste Begutachtung vorzunehmen.
Nachdem die Kollegen seiner Aufforderung nachgekommen
11
09.04.15 11:04
waren, verhängte Lars den Eingang mit einer grauen Polizeidecke. Das Licht wurde dämmrig, denn die Sonne stand tief,
dennoch war es ausreichend für eine erste Untersuchung.
Respektvoll näherte Henrike sich dem nackten Toten und
kniete sich neben ihn. »So etwas habe ich wirklich noch nie
gesehen.« Sie wies mit dem Finger auf eine Stelle nahe der
Leistengegend. »Was sind das denn für Beulen? Und da am
Arm auch.« Abrupt stand sie auf und trat einen Schritt zurück.
»Könnte eine ansteckende Krankheit sein.«
Lars rieb sich grübelnd das unrasierte Kinn. »Das gefällt mir
gar nicht. Ich glaube, hier treibt jemand Spielchen mit uns. Das
ist doch kein Zufall, wenn eine Leiche im Wasser abgelegt wird,
und zwar genau so, dass sie garantiert entdeckt wird. Und was
soll das mit dem Kreuz bedeuten?«
Er beugte sich ein wenig hinab und besah sich das Holzgestell,
auf dem der tote Körper festgebunden war: eine solide Konstruktion aus Latten, deren rechteckiges Grundgerüst die stabile
Lage im Teichgrund gewährleistet hatte. Zudem war sie mit
Pflastersteinen beschwert gewesen, die die Bergung erheblich
erschwert hatten.
Der Tote selbst wurde durch senkrechte Hölzer in dieser
eigenartigen Position gehalten. Der Kopf mit den weit aufgerissenen Augen war gen Himmel gerichtet und fiel mit dem
unnatürlich abgewinkelten Arm mit dem ausgestreckten Zeige­
finger besonders ins Auge.
»Lange lag er jedenfalls nicht im Wasser«, sagte Henrike.
»Die letzte Wasserleiche aus dem Mittellandkanal, die wir im
Sommer geborgen haben, sah völlig anders aus.«
Lars nickte zustimmend und umrundete das Opfer. »Armer
Teufel, hoffentlich war er schon tot, bevor man ihn auf das
Holzgerüst geschnallt hat.«
Henrike schrieb ihre Beobachtungen in ein kleines Notizbuch: »Ich schätze den Mann auf circa vierzig bis fünfzig Jahre,
die Haare am Kopf wurden ihm vor Kurzem abrasiert, so hell,
wie die Kopfhaut leuchtet. Ich würde sagen, er sieht ungepflegt
aus. Da ist Dreck unter den zu langen Fingernägeln, auch die
Fußnägel machen keinen besseren Eindruck. Außerdem wirkt
12
Rohde_Löwenbrut_06.indd 12-13
er dünn, fast abgemagert.« Sie zog die Stirn in Falten und ließ
die Aufzeichnungen in der Jackentasche verschwinden.
»Wir müssen die Ergebnisse der Rechtsmedizin abwarten.«
Sie schlug rasch den Vorhang zur Seite und trat nach draußen,
wo sie die kühle Herbstluft tief einsog.
»Alles klar?«, fragte Lars.
»Geht schon. Für einen Moment habe ich mir Sorgen gemacht, der Tote könnte eine ansteckende Krankheit haben und
ich würde sie mit nach Hause zu meinen Kindern schleppen«,
sagte Henrike nachdenklich.
»Ist doch alles ausgerottet, die Seuchen, meine ich.« Lars
klopfte ihr beschwichtigend auf die Schultern.
»Hast ja recht, war nur ein schwacher Moment …«
»Den ich ganz selten bei dir erleben darf.«
»Und das ist auch gut so, denn eine Mimose bei der Kripo
taugt nichts.«
»Dann lass uns denjenigen befragen, der ihn entdeckt hat.«
»Daraus wird heute nichts, der Mann ist vorhin zusammengeklappt, und der Arzt hat ihm eine Spritze sowie absolute Ruhe
verpasst. Wir bestellen ihn am besten morgen ins Kommissariat.«
»Einverstanden. Die Kollegen sollen die anderen Vogelkundler befragen. Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Die
letzte Nacht war anstrengend.« Lars gähnte laut.
Henrike verdrehte die Augen. »Du und deine Frauengeschichten. Ich will nichts davon hören.«
Lars grinste sie übermütig an und winkte ihr im Weggehen
zu. Weit kam er nicht, denn eine weibliche Stimme rief laut
seinen Namen. »Kommissar Henkel? Hallo?«
Er erkannte die Stimme sofort, und ein Lächeln machte sich
auf seinem Gesicht breit. Seine Augen suchten die gaffende
Menge ab, die ungeduldig hinter der Absperrung verharrte.
»Hier.«
Ihr Anblick hob sich atemberaubend von den anderen Passanten ab. Die hochgewachsene Frau mit den schulterlangen
Haaren erwiderte warmherzig sein Lächeln und zog ihn wie
ein Magnet an. Ihre Kleidung war eindeutig nicht für einen
sonntäglichen Spaziergang ausgewählt, denn der leuchtend rote
13
09.04.15 11:04
Mantel und die hochhackigen Stiefel passten eher zu einem
Stadtbummel.
»Yvonne Grüner, welch Überraschung, Sie hier zu sehen«,
begrüßte er sie und reichte ihr die Hand.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, hauchte sie ihm entgegen und gewährte ihm länger als nötig die Hand, die er gern
umschlossen hielt.
Die beiden sahen sich tief in die Augen und dachten im
selben Moment an die Nacht zurück, die sie leidenschaftlich
miteinander verbracht hatten. Es war bei diesem einen Mal
geblieben, denn schnell hatte Lars das wahre Wesen von Yvonne
Grüner erkannt: zielstrebig, eiskalt, karrieregeil. Deshalb hielt
er das »Sie« für angebrachter als beim persönlichen »Du« zu
bleiben.
»Was treibt Sie denn hierher?«, fragte er scheinheilig und
entlockte ihr ein einnehmendes Lächeln.
»Die Arbeit natürlich, Herr Kommissar.«
»Ist denn die Zeitung für morgen nicht schon längst im
Druck?«
»Bei so einer wichtigen Geschichte wird der Druck sofort
gestoppt, das ist doch selbstverständlich.«
Lars war auf der Hut, er wusste, Yvonne Grüner würde alle
Mittel benutzen, um ihm Informationen zu entlocken. »Es gibt
aber noch nichts zu berichten«, brummte er.
»Das kann doch nicht sein, ich habe Sie vorhin gesehen, wie
Sie bei der Leiche standen. Die Polizisten munkeln, dass sie
gruselig aussieht. Erzählen Sie doch mal.«
Die Gaffer um die beiden herum verstummten und lauschten
unverhohlen dem Gespräch. Lars spürte die knisternde Spannung unter der Meute, die ungeduldig mit den Füßen scharrte,
bereit, sich auf sensationelle Neuigkeiten zu stürzen. Lars ließ
sich davon nicht beeindrucken, tippte sich zum Gruß an die
Stirn und drehte Yvonne Grüner und den Schaulustigen den
Rücken zu, um wortlos von dannen zu ziehen. Die Enttäuschung in seinem Rücken überschlug sich wie eine brechende
Welle und erreichte ihn mit leisen Beschimpfungen und enttäuschten Ausrufen.
14
Rohde_Löwenbrut_06.indd 14-15
Yvonne Grüner zeigte sich amüsiert über seine Reaktion.
»Na warte, Lars, so leicht entkommst du mir nicht«, flüsterte
sie drohend. Der ältere Mann neben ihr blickte sie neugierig
an und zog seine Augenbrauen in die Höhe. Sie schenkte ihm
ihr schönstes Lächeln, während sie sich schwungvoll abwandte
und einen leichten Hauch ihres Parfüms zurückließ.
Währenddessen verdammte Lars zum wiederholten Male
diesen Tag und stieg in sein Auto, um nach Hause zu fahren. Er
brauchte dringend eine Mütze Schlaf, denn ab morgen würde
eine Menge Arbeit auf ihn zukommen. Die Arbeit schreckte
ihn nicht, vielmehr die Aussicht, die Journalistenmeute am Hals
zu haben, zudem seinen cholerischen Chef und einen Mordfall,
der ihn voraussichtlich mehr beschäftigen würde, als ihm lieb
war.
15
09.04.15 11:04
Zwei
»›Grausiger Leichenfund in Riddagshausen. Ist die Polizei mit
dem Fall überfordert?‹« Wütend knallte Walter Kimmich die
Zeitung auf den Schreibtisch.
»Ist doch nur ein Käseblatt«, kommentierte Lars achselzuckend.
»Die Braunschweiger Nachrichten lesen eine Menge Leute,
denen wird das Frühstücksei im Hals stecken bleiben.«
»Mir egal.«
»Lars!«, brüllte Kimmich und lief rot an.
Beschwichtigend hob Lars die Hand und überflog den Artikel. Wie vermutet wusste die Presse zurzeit noch weniger als die
Polizei, vermochte dennoch dies geschickt zu kaschieren und
am Ende des Artikels Fragen zu stellen, die ihn beunruhigten:
Läuft ein Verrückter umher? Müssen wir uns bedroht fühlen? Was
tut die Polizei zu unserer Sicherheit?
Der Artikel war mit den Initialen YG gekennzeichnet.
Yvonne Grüner. Natürlich hatte die Zeitung die ehrgeizigste
Reporterin auf die Geschichte angesetzt. Lars seufzte. Wie
befürchtet entwickelte sich die neue Woche nicht nach seinem
Geschmack.
Kimmich stand zur Salzsäure erstarrt vor Lars’ Schreibtisch.
Lars musterte ihn. Mit Mitte vierzig, Bluthochdruck und seinen
cholerischen Anfällen konnte es durchaus passieren, dass er ihm
irgendwann an die Gurgel sprang. Oder besser noch vorher aus
dem Fenster. Der Gedanke amüsierte ihn.
»Was gibt es da zu grinsen?«, blaffte Kimmich ihn an. Sein
grau werdender Schnurrbart hüpfte dabei auf und ab.
»Nichts, Chef.«
»Dann verrate mir doch, was ihr gedenkt in der Sache zu
unternehmen. Ich habe keine Lust, nachher unwissend vor die
Presse treten zu müssen.«
»Um zehn Uhr ist der Vogelkundler hier, der die Leiche
entdeckt hat«, antwortete Lars leicht genervt, »den befragen
16
Rohde_Löwenbrut_06.indd 16-17
wir als Erstes. Dann brauchen wir unbedingt die Ergebnisse
der Rechtsmedizin. Die einzig brauchbaren Hinweise liefert
uns die Leiche. Das Holz von dem Gestell, auf dem sie festgebunden war, wird gerade untersucht, ob es vielleicht aus einem
Baumarkt in der Nähe stammt, ebenso die Pflastersteine, mit
denen es beschwert war.«
Kimmich beruhigte sich ein wenig. »Haltet mich auf dem
Laufenden. Wenn es etwas Neues gibt, will ich Bescheid wissen.« Erhobenen Hauptes rauschte er aus dem Büro.
Lars rutschte tiefer in seinen Stuhl und atmete langsam aus.
»Na, ersten Einlauf gut überstanden?« Froh gelaunt kam
Henrike ins Büro. Ihre schlanke Figur steckte in engen Jeans
und einem körperbetonten Rollkragenpullover.
Lars hatte sich am Anfang ihrer dienstlichen Beziehung einmal bei dem Gedanken erwischt, wie es wohl wäre, mit einer
sechzehn Jahre älteren Frau Sex zu haben. Die Idee schien ihm
immer noch nicht abwegig, wenn auch in weite Ferne gerückt.
Mit seinem Partner fing man eben nichts an.
»Sag mal, wen willst du denn mit deinem sexy Outfit beeindrucken?«
»Na, dich Jungspund bestimmt nicht«, lachte sie herzhaft,
»vielleicht den Vogelkundler.«
»Wie heißt der eigentlich?«
»Sein Name ist Luca Voigt.«
»Luca?«
»Luca ist so ein neumodischer Name. Wenn du in die Geburtenanzeigen der Braunschweiger Nachrichten siehst, findet
sich der Vorname dort sehr häufig.« Henrike schnalzte mit der
Zunge. »Na, wie dem auch sei, der Mann ist einundfünfzig Jahre
alt und verheiratet. Eine kinderlose Ehe.«
»Einundfünfzig Jahre und ein neumodischer Name?«
»Der Mann war seiner Zeit voraus.« Henrike ignorierte das
breite Grinsen von Lars. »Gemeinsam bewirtschaften die beiden
einen kleinen Bauernhof, auf dem sie Enten und Hühner züchten. Alles Bio natürlich. Seine Frau Johanna verkauft das Fleisch
und hausgemachte Delikatessen in ihrem kleinen Hofladen.
Zudem führt Luca Voigt sonntags Vogelinteressierte durch das
17
09.04.15 11:04
Naturschutzgebiet in Riddagshausen. Er und seine Frau sind
bei uns unbeschriebene Blätter.«
»Aha, sogenannte unbescholtene Bürger, die haben immer
etwas zu verbergen.«
Henrike legte die Informationen, die sie am Morgen gesammelt hatte, vor Lars auf den Tisch. »Dann bin ich gespannt, ob
du Herrn Voigt seine Geheimnisse entlocken kannst.«
Der große, grobschlächtige Mann saß wie ein Häufchen Elend
zusammengesunken auf dem viel zu kleinen Stuhl. Die prankenhaften Hände lagen gefaltet auf dem Tisch, sein Blick ruhte
auf ihnen, nur ab und zu schüttelte er den Kopf.
Lars beobachtete ihn eine Weile durch das kleine Sichtfenster
in der Tür. Es war bereits einige Minuten nach zehn Uhr, mit
Absicht ließ er den Mann zappeln, um herauszufinden, ob er
unruhig oder gar nervös wurde. Ein untrügliches Zeichen, dass
er etwas zu verbergen hatte. Aber nichts dergleichen zeichnete
sich ab, sodass Lars schwungvoll in den kahlen Raum eintrat.
Der Hüne von Mann schreckte zusammen und sah ihn beinahe
verängstigt an, seine Augen waren gerötet, so als ob er vor
Kurzem geweint hätte.
Lars ließ sich ihm gegenüber am Tisch nieder, packte den
mitgeführten Ordner auf die Tischplatte und hielt eine Sekunde
stumm den Blickkontakt. Dann schlug er bedächtig langsam
den Ordnerdeckel auf, blätterte durch die abgehefteten Seiten
und räusperte sich.
»So, Herr Voigt«, begann er das Gespräch, »da haben Sie ja
gestern eine aufregende Entdeckung gemacht.«
Voigt starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Wie,
wie mei… mein… meinen Sie das?« Seine Unterlippe zitterte
leicht.
Lars merkte, sein forscher Ton würde ihm nicht unbedingt
weiterhelfen. Rasch änderte er seine Taktik. »Na, da habe ich
mich falsch ausgedrückt«, fuhr er einfühlender fort, »das muss
ein gehöriger Schreck für Sie gewesen sein, den Leichnam statt
der erhofften Vögel zu sehen.«
Die angespannten Schultern seines Gegenübers sackten
18
Rohde_Löwenbrut_06.indd 18-19
erleichtert hinab, und die Verunsicherung in seinem Gesicht
verschwand. »Das können Sie laut sagen. Mir ist der Schreck
in die Glieder gefahren. Wissen Sie, wenn das Wasser aus dem
Mittelteich im Herbst abgelassen wird, um die restlichen Fische
herauszuholen, stehen vor allem Reiher Schlange.« Das Gesicht
von Voigt strahlte. »Wie ruhig die Vögel auf ihre Chance warten
und dann blitzschnell zuschlagen. Phantastisch.« Er geriet ins
Stocken. »Und dann habe ich den aus dem Wasser ragenden
Arm entdeckt. Durch mein Fernglas hatte ich ein gestochen
scharfes Bild. Grausam.«
Lars beobachtete ihn genau. Bei der beeindruckenden Statur
hätte er nicht einen solch ängstlichen Mann erwartet. Vielleicht
schauspielerte er nur?
»Stehen Sie jeden Sonntag oben auf dem Aussichtsturm?«
»Natürlich. Ich mache das seit Jahren und habe nur einmal
wegen Krankheit absagen müssen.« Voigts Augen leuchteten
hell. »Es ist jedes Mal spannend, eine Vogelart zu entdecken,
die nur selten zu sehen ist. Dass die Vögel hier überhaupt Rast
machen, verdanken wir den Zisterziensermönchen, die die
Teiche vor über neunhundert Jahren künstlich angelegt haben.«
»Wie weit weg ist eigentlich Ihr Bauernhof vom Tatort?«
Voigt starrte Lars bewegungslos an. »Was tut das zur Sache?«
»Nur aus Interesse. Eine Bekannte hat mich im Sommer
genötigt, einen Sonntagsspaziergang mit ihr an den Teichen
zu machen. Ich kann mich nicht erinnern, einen Bauernhof
gesehen zu haben.«
Voigt lächelte Lars verständig an. »Unser Hof liegt etwas
verborgen in einem kleinen Waldabschnitt. Im Übrigen könnte
ich sonntagnachmittags einem Spaziergang um die Teiche auch
nichts abgewinnen. Da wird man nahezu totgetreten.«
Lars verspürte einen Anflug von Sympathie für den Mann.
»Ist Ihnen gestern oder die Tage zuvor etwas Besonderes aufgefallen? War ein Fahrzeug in der Nähe? Hat sich jemand dort
herumgetrieben, der auffällig war?«
Voigt überlegte einen Moment und schüttelte den Kopf.
»Gut, wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich.« Lars
reichte Voigt seine Visitenkarte.
19
09.04.15 11:04

Documentos relacionados