Von Rusalka bis Jezibaba

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Von Rusalka bis Jezibaba
DIE OPER 2008
Von Rusalka bis Jezibaba
Volksmythologische Charaktere in tschechischen Opern
John Tyrrell
Es wurde die Theorie vertreten, dass es eigentlich zwei slawische
Mythologien gibt: eine heldenhafte Mythologie der Kriegsgötter (Pyerun,
Svarog, Svantovít), die den Herrschern und möglicherweise den
Stadtbewohnern diente, und eine ungezwungene regionale Mythologie, die in
den Märchen und im Aberglauben der Landbevölkerung – der überwiegenden
Mehrheit der Bevölkerung – erhalten blieb. Während die „offiziellen“
Kriegsgötter mit dem Übertritt der Führungsschicht zum Christentum
verschwanden, erwiesen sich die Volksgötter, die die Seen und Wälder, die
Hütten und die Höfe bewohnten, als wesentlich beständiger. Viele Elemente
des Volksglaubens schafften es, mit dem Christentum zu koexistieren, oder
sie wurden von den katholischen Priestern (die oft selbst aus Bauernfamilien
stammten) neu interpretiert und überlebten so im lokalen Aberglauben bis
heute. Wenn tschechische Opernlibrettisten und -komponisten eine
übernatürliche Sphäre mit mannigfaltigen und eindringlichen Assoziationen
für ein tschechisches Publikum suchten, fanden sie diese seltener im
christlichen Bereich oder bei den vorchristlichen Kriegsgöttern, sondern eher
in der bescheideneren Volksmythologie des tschechischen Hinterlandes. Und
nachdem diese Mythen und Erzählungen bei den tschechischen
Stadtbewohnern in Vergessenheit geraten waren, wurden sie in den
Jahrzehnten vor der Blütezeit der tschechischen Oper wiederbelebt, und zwar
durch die Märchenschauspiele (báchorka) von Václav Kliment Klicpera und
Josef Kajetán Tyl und in den Büchern von Karel Jaromír Erben und Bozena
Nemcová, in denen den einheimischen übernatürlichen Elementen eine
zentrale Bedeutung zukam.
Man muss jedoch betonen, dass Erben, Nemcová und andere Autoren der
Volksmärchen-Bewegung, die sich in Böhmen in den 1830er Jahren unter
dem Einfluss von Herder und der Gebrüder Grimm entwickelte, eine ganz
neue Literaturgattung schufen, anstatt bloß überliefertes Material authentisch
zu dokumentieren. Neˇmcovás beliebte Volkserzählungen und -legenden
(Národní báchorky und poveˇsti, 1845/46, 1854/55) basierten zum Teil auf
Geschichten, die sie selbst gesammelt hatte; Erbens Sammlung Einhundert
Slawische Volkserzählungen und Legenden im Originaldialekt (Sto
prostonárodních pohádek a povestí slovanskych v nárecích puvodních, 1865)
versammelten seine eigenen Prosafassungen fremden Materials. Erbens
bekanntestes Werk, Ein Blumenstrauß aus Volkserzählungen (Kytice z
povestí národních), hingegen – über mehrere Jahrzehnte verfasst und erst
1853 als Sammlung von zwölf Balladen veröffentlicht – stellte weniger den
Versuch dar, Volkspoesie zu imitieren, als vielmehr eine neue tschechische
Dichtung zu schaffen, und zwar im nationalen Stil: Kunstdichtung statt
Volkspoesie. In vielen Fällen verdanken sich seine Balladen Einflüssen aus
anderen slawischen Literaturen, zum Beispiel den Balladen des polnischen
Poeten Juliusz Slowacki. Erbens Balladen – die zu den perfektesten und
bewegendsten ihrer Art zählen – waren jedem Tschechen bekannt, da sie in
zahllosen Auflagen erschienen und in vielen Gemälden und Vertonungen
umgesetzt wurden. Dvorák vertonte eine (Die Geisterbraut – Svatební kosile)
als Dramatische Kantate und schrieb Tondichtungen über vier weitere.
Die Welt, die Erbens Blumenstrauß beschreibt – vor allem seine grimmigen
übernatürlichen Wesen, die gern schreckliche Rache an jenen Sterblichen
üben, die sich mit ihnen einlassen –, wurde so sehr zum Teil des
tschechischen Nationalbewusstseins, dass Jaroslav Kvapil beim Verfassen
des Librettos zu Rusalka seine Hauptquelle, Friedrich de la Motte Fouqués
Undine (1811), vor allem durch Bezugnahme auf Erbens Welt zu verwandeln
suchte.
„In meinem Märchen gibt es sehr viele tschechische Folklore-Elemente, und
im Geist und in der Form habe ich versucht, dem unübertrefflichen Beispiel
unserer Balladen zu folgen. Mein Märchen ist viel näher an Erbens Werk,
seiner Lilie (Lilie), seinem Wassermann (Vodník) und dem Goldenen Spinnrad
, als an anderen Vorlagen. Vielleicht war es dieses Merkmal meines Werkes,
das den großen Meister Dvorák bewegte, es zu erwählen.“ (Kvapil, 1901)
Der erste Schauplatz in Kvapils Libretto ist das Ufer eines Sees. Dies erlaubt
ihm folgende Besetzung: die drei Waldnymphen (die ersten Stimmen, die in
der Oper zu hören sind), der Wassermann (Vodník), der Alberich-artig
versucht, sie zu fangen, und die Wassernymphe (Rusalka), die mit Hilfe der
Hexe Jezibaba eine menschliche Seele bekommt. Menschliche Figuren, wie
der Prinz, in den Rusalka sich verliebt hat, und sein Gefolge erscheinen erst
gegen Ende des ersten Aktes. Der zweite Akt zeigt Rusalka unglücklich und
erfolglos als Mensch; im dritten Akt kehrt Rusalka ins Wasser zurück.
Jene Stellen, in denen Kvapil von Undine abweicht, sind sofort
augenscheinlich, wenn man Kvapils Libretto mit solchen deutscher Opern
vergleicht, die ebenfalls auf Fouqués Erzählung basieren, etwa die
Undine-Bearbeitungen von Hoffmann (1816) und Lortzing (1845). Trotz ihres
übernatürlichen Kerns wird die Geschichte in diesen Opern aus einer
menschlichen Perspektive erzählt, sie schildern menschliche Reaktionen auf
ihre nicht-menschliche Hauptfigur. Undine begegnet uns dort zuerst mit ihren
menschlichen Pflegeeltern, nicht wie Rusalka in ihrem eigentlichen flüssigen
Element. Undines Onkel Kühleborn, ein Flussgeist, der Fluten und Stürme
heraufbeschwören kann, erscheint in den deutschen Opern in seiner
menschlichen Gestalt, in der er über sie wacht – im Gegensatz zu Kvapils
Wassermann, der an das Wasser gebunden ist und im zweiten,
„menschlichen“ Akt nur auftauchen kann, weil praktischerweise ein Teich in
der Nähe ist. Sogar die Undine-Rusalka-Figur ist unterschiedlich gestaltet.
Fouqués Undine, und dementsprechend auch Hoffmanns und Lortzings, ist
ein launisches Kind, deren übernatürliches Wesen durch ihre plötzlichen
Stimmungsschwankungen angedeutet wird. Dagegen ist Rusalka eine
leidende slawische Heroine, und in diesem Sinn eher verwandt mit der
Rusalka von Alexander Dargomyschskys Oper (1856; im Prager
Nationaltheater zuerst 1889 gespielt). Dargomyschskys Rusalka, die auf
Puschkins unvollendetem Versdrama basiert – und vor Puschkin auf
russischen Volkslegenden –, ist ein Mädchen, das von ihrem adligen
Liebhaber betrogen wird und sich ertränkt, woraufhin sie zur Wassernymphe
wird.
Kvapils tschechische Entsprechung des grimmigen Kühleborn war eine Figur,
die Erben in seiner Ballade Der Wassermann (Vodník) unsterblich machte.
Dvorák hatte diese bereits 1896 zu einer Tondichtung verarbeitet, und vor ihm
benutzte Zdenek Fibich die Figur bereits 1883 für ein Melodram. Erbens
Wassermann, der eher auf lausitzer, sorbischen und slowenischen
Sagenquellen beruht als auf tschechischen, ist gewalttätig und sadistisch: Er
rächt sich an seiner menschlichen Frau, indem er ihr gemeinsames Kind
enthauptet und den Körper gegen das Haus ihrer Mutter schleudert, in das sie
vor ihm geflohen ist. Kvapils sanftes pessimistisches Wesen, voller Besorgnis
um Rusalka, ist sein Gegenbild. Kvapils Lesart ist dabei näher an jener der
Volkssagen von Wassermännern, die etwa die Gebrüder Grimm in Böhmen
sammelten. Während man Wassermännern gemeinhin am besten aus dem
Weg ging (der Ursprung der Figur liegt vermutlich darin begründet, dass man
Kinder dadurch abhalten wollte, in der Nähe von gefährlichen Teichen zu
spielen), gibt es durchaus auch Geschichten, die sie in einem
liebenswürdigeren Licht zeigen: als Freunde der Einheimischen, die
Hebammen und Paten belohnen und Mädchen eher umwerben als rauben.
Im Gegensatz zu Kvapils Figur konnten die tschechischen Wassermänner an
Land gehen und waren von Menschen fast nicht zu unterscheiden; was sie
verriet, war ein ständiges Tropfen aus ihrem linken Rockschoß.
Kvapils Hexe schließlich, die kein Gegenstück bei Fouqué hat, scheint
genauso bösartig wie Erbens Mittagshexe (Polednice), obwohl sie, wie Kvapil
im Vorwort zu seinem Libretto erklärt, auch dem Einfluss durch Andersen und
Gerhart Hauptmann einiges verdankt (einschließlich ihres Namens – die
tschechische Übersetzung von Hauptmanns Märchendrama Die versunkene
Glocke nennt sie „Jezibaba“). Tatsächlich ist sie aber eine Land-Version von
Andersens Meerhexe. Jezibaba gibt Rusalka ihre „Land-Beine“, genau wie die
Meerhexe der Kleinen Meerjungfrau einen Trank gibt, der ihren Fischschwanz
in Beine verwandelt. Der Preis ist in beiden Fällen derselbe: Die Meerhexe
verlangt die schöne Stimme der Meerjungfrau und schneidet ihr
dementsprechend die Zunge heraus; Rusalka weilt – ähnlich der
Meerjungfrau – stumm unter den Menschen. Fouqués Undine hingegen muss
keine Zugeständnisse dieser Art machen und erklärt ihrem erstaunten
Prinzen ihre Herkunft sehr deutlich. Der Schluss jedoch ist gleich. Sowohl
Undine als auch Rusalka werden
von ihrem Prinzen zurückgewiesen, der seine Untreue mit dem Leben
bezahlt. Nur die Kleine Meerjungfrau kann sich nicht dazu durchringen, ihren
Prinzen zu töten, und erhält trotzdem eine zweite Chance, diesmal als
Luftgeist.