Der Genesungsprozess der Königssportart macht Fortschritte

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Der Genesungsprozess der Königssportart macht Fortschritte
Der Genesungsprozess
der Königssportart macht
Fortschritte
Von Michael Gernandt
tephanie Brown Trafton, 29, hat zugegeben, beim
erstmaligen Betreten des Berliner Olympiastadions
doch ein wenig verstört gewesen zu sein. "All die
Säulen und Steinblöcke, sie sind Furcht einflößend." Spontan
war der amerikanischen Olympiasiegerin von 2008 im Diskuswurf der Landsmann Jesse Owens in den Sinn gekommen, in
dessen Namen die US-Mannschaft bei der Weltmeisterschaft
der Leichtathleten im vergangenen Monat den Wettstreit um
die Medaillen aufgenommen hatte. Sie könne sich jetzt
vorstellen, "wie Jesse sich gefühlt haben muss, als er in dieses
Stadion kam und das auch noch in einer Situation, in der die
Menschen ihm nicht unbedingt die Daumen drückten".
S
Es gilt indessen als verbürgt, dass die Amerikanerin mit dem
hohen Wurfpotenzial im Verlauf der WM nicht weiter von
dunklen Gedanken heimgesucht worden ist. Spätestens bei
der Siegerehrung für den Weitsprung der Männer müssen sie
verflogen gewesen sein. Diese Verleihung der Medaillen war
auf Initiative der Berliner Veranstalter von den Enkelinnen
des wegen seiner Rasse von den Nationalsozialisten verhöhnten, vierfachen Olympiasiegers von Berlin 1936, Jesse Owens,
und seines deutschen Gegners und Freunds Lutz Long vorgenommen worden. Brown Traftons neues Deutschlandbild war
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nun scharf konturiert. Die locker-gelöste, immer friedlichaufgeschlossene Atmosphäre im Stadion mag ihr eine Hilfe
gewesen sein.
Schon zum fünften Mal - nach den Olympischen Spielen
1972, den Weltmeisterschaften 1993 und den Europameisterschaften 1986 und 2002 - leisteten demnach deutsche
Sportfreunde bei einem internationalen Championat der
Leichtathletik mit ihrem ausgeprägten Verständnis für ein
faires Miteinander den am Ende wertvollsten Beitrag des
Meetings. Sie haben bei aller berechtigten, nie ausufernden
Begeisterung über die Leistungen eigener Athleten die Würdigung der sportlichen Rivalen aus dem Ausland und ihrer
Ergebnisse nie aus den Augen verloren. So empfand Blanka
Vlasic, die anfangs skeptische kroatische Gegenspielerin und
Bezwingerin der deutschen Hochsprung-Favoritin Ariane
Friedrich, den ihr zuteil gewordenen Beifall wie ein Wunder.
"Die beste Leistung", urteilte der Berliner "Tagesspiegel", habe
das Publikum gezeigt - "ganz ohne Aufputschmittel". 1993
hatte das IOC die schwäbischen Fans ob ihrer Fairness bei der
Stuttgart-WM mit einem Pokal ausgezeichnet. Die Herren der
Ringe sollten sich bei den Berlinern in ähnlicher Weise
bedanken.
Die Erinnerung an diesen Aspekt der WM wird fraglos lange
haften bleiben. Andere bedürfen erst noch der Klärung, bevor
man sie als zukunftstauglichen Wert begreifen kann. Da steht
an erster Stelle die spannende Frage: Wie geht die deutsche
Leichtathletik, die nach dem historisch schlechtesten
Abschneiden 2008 in Peking die beste Bilanz seit 1999/2001
registrieren durfte (neun Medaillen, 5. Platz in der Nationenwertung) mit dem Berliner Hoch um und mit dem Zuwachs
an TV-Quoten aus der Gruppe der 15- bis 49-Jährigen? Wenn
kein Heimvorteil mehr jedweden Rückenwind verursacht,
Alltag wieder einzieht im Jahr 2010 ohne globales Championat (nur eine EM in Barcelona), wenn die WM 2011 in
schwierigem Terrain (Korea) vonstatten geht und für Olympia
2012 in London die internationale Konkurrenz die Ärmel
höher krempelt als im Jahr nach Olympia 2008. Die deutsche
Leichtathletik, hat Ehrenpräsident Helmut Digel im Interview
mit dem "Olympischen Feuer" festgestellt, bewege sich in
einem ständigen Auf und Ab. Tatsächlich folgte auf die viel
gelobte Heim-WM 1993 zwei Jahre später ein Tief, von dem
man sich erst 1999/2001 erholt hatte - um 2003/2004 abermals einzubrechen.
Denkbar ist allerdings auch: Die nach Olympia 2004 vom
damaligen Cheftrainer und nun als Sportdirektor in den
Ruhestand zu verabschiedenden Jürgen Mallow ("Ich wusste
doch, dass die deutsche Leichtathleten besser sind als ihr
Ruf") in Angriff genommene Reform der Leistungsorganisation für das Nationalteam festigt sich erst jetzt; in Verbindung
mit dem in Berlin vollzogenen Generationenwechsel führt sie
gar zu selteneren negativen Ausschlägen der Leistungskurve.
Was eher noch wichtiger ist: Dass die Recht bekommen, die
der Leichtathletik nun mehr gesellschaftliche Bedeutung
attestieren wollen (wofür allgegenwärtige A-Promis und im
Wahlkampf stehende Politiker bei WM-Parties noch lange
kein Indiz sind), oder die WM als "eine Initialzündung für
unsere Sportart in Deutschland" (DLV-Präsident Clemens
Prokop) empfunden haben. Der deutsche Verband DLV wird
gut beraten sein, um Wiedervorlage zu bitten: Es geht um
Versprechungen all der Schulterklopfer, die ihm während der
Berliner Tage schön getan haben. Denn nur mit besserer
Finanzausstattung des Verbands, verbesserter sozialer Absicherung seiner Elite und frischer Hilfe für die weltweit überaus erfolgreichen Nachwuchskader bei deren Planung von
Sportkarriere und Beruf, einer Hilfe, die nicht nur auf dem
Papier stehen darf, lässt sich das seit Berlin auf dem Ambos
liegende glühende Eisen schmieden.
Nicht unverstellt ist zudem der Blick auf die internationale
Leichtathletik. Sie ringt, das war in Berlin unverkennbar, auf
diversen Feldern (u.a. weiße Flecken auf der Weltkarte der
Dopingbekämpfung, unzeitgemäße Präsentationsformate der
Wettkämpfe) um die richtigen Mittel, die zur Genesung eines
seit geraumer Zeit zu beobachtenden Leidens mit Namen
Image- und Akzeptanzverlust bei jungen, am Sport interessierten Menschen beitragen sollen. Der britische Vizepräsident
des Weltverbands IAAF, Cheforganisator der Londoner Spiele
2012 und ehemalige 800-m-Weltrekordler Sebastian Coe hat
in einem Gespräch mit der "Berliner Zeitung" die Leichtathletik-Führung ermahnt, sie müsse "kreativer werden und mehr
Kraft auf zeitgenössische Darstellungsformen verwenden". Als
"größte Herausforderung" für die IAAF erkannte er jedoch:
"Dass wir den fundamentalen Wandel in der sozialen Wirklichkeit junger Menschen verstehen. Wir müssen die Jugend
aus der Virtualität in die Realität zurückholen."
Dass sie diesen schwierigen Prozess des Weglotsens der
Jugend von der Spielkonsole vor allem mit Unterstützung des
Laufwunders aus der Karibik, Usain Bolt, vorantreiben wollen,
daraus machen die IAAF und der alte Mann an ihrer Spitze,
der 76-jährige, 2011 (!) zur Wiederwahl bereite Senegalese
Lamine Diack, keinen Hehl. Bolt spielt ihnen in die Karten,
vermittelt er doch den Eindruck, selbst "eine Figur aus einem
Computerspiel" (US-Rivale Darvis Patton) zu sein. Ob der
IAAF-Führung mit dem Dreifachmeister und Eroberer von
Utopia im Sprint als Königsfigur der richtige Zug auf dem
Schachbrett des Weltsports gelingt, muss sich allerdings erst
noch erweisen. Was, wenn nur eine Sicherung durchbrennt,
wie bei der zweiten Galionsfigur der IAAF, der russischen
Weltrekordlerin im Stabhochsprung, Jelena Isinbajewa? Sie
musste Berlin nach drei Fehlversuchen an einer arrogant
hoch gewählten Anfangshöhe mit leeren Händen verlassen.
Bolts Auftritt in Berlin hat ja beileibe nicht nur uneingeschränkten Jubel ausgelöst (der war wohl gewaltig, gleich-
wohl nicht mehr vom ekstatischen Ausmaß wie 2008 in
Peking); auch die Skepsis einer nicht zu unterschätzenden,
fachlich versierten Minderheit erhielt in Anbetracht des
zweiten Vorstoßes in schier unmenschliche Bereiche neue
Nahrung. Welcher Natur ist die Antriebskraft des Mannes aus
der Karibik? Heilsbringer oder Katalysator der Glaubwürdigkeitskrise, Ikone der Werbung oder Ikone des Zweifels?
Glücksfall aus der Sicht des Marketing oder Spalter der
Generationen? Ältere Freunde der Leichtathletik wollen nicht
begreifen, dass mit pubertärem Herumgealbere à la Bolt der
Knoten zerschlagen werden kann, junge Konsumenten empfinden derlei als "endgeil", weil sie von den Protagonisten des
modernen TV-Entertainments nichts anderes gewohnt sind.
So gesehen darf man gespannt sein, wer demnächst wieder
zur Leichtathletik geht oder sich ihre Feste via Fernsehen ins
Wohnzimmer holt - sofern das elektronische Medium endlich
wieder Interesse zeigt auch am leichtathletischen Alltag. Und
der hat bekanntlich am Tag nach dem letzten Finale im
Olympiastadion begonnen.
BERLINER TAGEBUCH
Am Anfang ein Paulus-Zitat, am Ende
eine Aufforderung: "Lasset uns beten,
dass Usain clean ist"
Von Günter Deister
Donnerstag, 13. August
Ein ökumenischer Gottesdienst im Deutschen Dom als WMOuvertüre. Eine fröhliche Gemeinde aus Sportlern, Leichtathletik-Anhängern und Touristen klatscht zuweilen Beifall, es
wird mehrsprachig gebetet, gesungen und auch gelacht.
Bischof Wolfgang Huber bezeichnet die Weltmeisterschaft als
"Raum zur Begegnung", zwanzig Jahre nach dem Mauerfall
gehöre die WM "zu den großen Akzenten" der Einheitsfeiern.
Und Huber zitiert aus dem ersten Brief Paulus an die Korinther: "Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen,
die laufen alle, aber einer empfängt den Siegerpreis? Lauft so,
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