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Auf der Suche nach Patagoniens naturschönheiten Reise ans Ende der Welt
text und Bilder: Annette Lepple Patagonien, der Stoff, aus dem die echten Abenteuer gemacht sind. endlose weite, einsamkeit und wilde, unberührte Landschaften, die in unserer welt immer seltener werden. «nirgendwo sonst bist du so allein», schrieb Florence Dixie 1881 in ihrem reisebericht. All das und mehr wollten auch Annette und Jörg Lepple finden und machten sich im Januar auf den weg ans südliche ende der welt.
B
uenos Aires, der brummende, alles verschlingende Moloch, liegt zum
Glück hinter uns. Wir sind
keine Stadtmenschen, aber
ein Besuch der TangoStadt gehört bei einer Patagonienreise trotzdem dazu. Mit dem Fahrrad
haben wir die Stadt erkundet, haben abends
stundenlang mit offenem Mund vor Bühnen
verharrt, auf denen begnadete Musiker und
Tänzer herumwirbelten. Dieses ungezwungene
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Körperbewusstsein, diese scheinbar mühelose
Leichtigkeit – Dinge, von denen wir in unseren
Breiten nur träumen können. Völlig übernächtigt, stürzen wir uns nach zwei Tagen ins Abenteuer Richtung Süden.
Natur und Schokolade. Für einen sanften
Übergang von der Zivilisation in die Wildnis
sorgt die argentinische Schweiz: San Carlos de
Bariloche ist ein anmutiges, etwas verschlafenes Städtchen am Lago Nahuel Huapi, der wie
leuchtend blaue Seide im Tal liegt. Die zwei
Hauptstrassen sind von hübschen Geschäften
gesäumt, die Schokoladeproduktion boomt,
was bei der Liebe der Argentinier zu Süssem
nicht erstaunt. Im Winter ist die Region beliebt
bei Skisportlern.
Die Landschaft ist von malerischer Schönheit, das Wetter wie im Ferienprospekt: blauer
Himmel und Sonne. Was wollen wir mehr? In
einer Chocolateria treffen wir den rotblonden
Hünen Erik aus Essen. Er lebt seit acht Jahren
in Bariloche. Zuerst jobbte er in einem Hotel,
lernte Paula kennen, sie heirateten, bekamen
südamerika
drei Kinder, und mittlerweile hat er sich als
Guide und Skilehrer einen Namen gemacht.
Ob er seine alte Heimat vermisse? «Keine Spur!
Hier haben wir eine prima Lebensqualität, die
Kinder wachsen in einer sicheren und dazu
wunderschönen Umgebung auf. Deutschland,
nein, da könnte ich gar nicht mehr leben.» Ein
netter Kerl, befinden wir und nehmen sein Angebot, uns in die Hosteria Pampa Linda im Nationalpark Nahuel Huapi mitzunehmen, gerne
an. Dort muss er eine französische Gruppe für
eine Rundfahrt abholen. Die Hosteria strahlt
Postkartenidylle aus – plätschernde Bäche, gewaltige Berge, sattgrüner Regenwald. Die Ruhe
ist nach Buenos Aires die pure Wonne. Dafür
nehmen wir die faden Mahlzeiten im Restaurant ohne Murren in Kauf. Wir werden ein paar
Tage hier verbringen und die Gegend auf Wanderungen erkunden. Im Park gibt es ein Netz
von Wegen, um die Natur zu entdecken. Die
Flora interessiert mich als leidenschaftliche Botanikerin ganz besonders.
Wie wunderbar rein die Luft hier ist, riecht
man nicht nur, sondern sieht es an den langen,
Spektakuläre Ausblicke. Im Torres del PaineNationalpark.
zartgrünen Flechtenbärten, die an den eindrücklichen Coihue-Südbuchen hängen. Wir
fühlen uns wie im Zauberwald, spüren, wie
unsere Seele von dieser Landschaft, die trotz
der eisigen Berg- und Gletscherwelt lieblich ist,
berührt wird. Ich denke, jeder Mensch trägt
eine Landschaft in sich, mit der er sich identifiziert und die ihm Frieden schenkt. Mir geht
es hier so.
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An einem Tag reiten wir mit einem lokalen
Gaucho auf klapprigen, vernachlässigten Pferden zum schwarzen Gletscher. Die Morgensonne und die aufsteigenden Nebelschwaden
verleihen dieser Urlandschaft mit ihren knorrigen Bäumen und Wildwasserbächen eine
Mystik, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Ein
fantastisches, abenteuerliches Erlebnis. Die
Tatsache, dass die Tiere hier nicht viel zu lachen
haben, rückt so eine Weile in den Hintergrund.
Zum Glück halten die aus Strohballenschnur
geflochtenen Sattelgurte.
Nachdenkliche Bekanntschaft. Pedro hat
ganz vernarbte Hände. Ich wende meinen Blick
ab, will nicht neugierig wirken, obwohl ich es
bin. Seit Bariloche sitzt er neben mir im Bus
nach Puerto Varas. Wir haben uns einander
vorgestellt, aber kurz darauf fällt er in brütendes Schweigen und blickt mit gerunzelter Stirn
aus dem Fenster. Er ist um die vierzig, zu jung,
um so ernst oder so traurig zu sein.
Jörg und ich haben beschlossen, getrennt
zu sitzen, damit wir Kontakt zu anderen Reisenden aufnehmen können. Das ist oft eine
spannende Angelegenheit, aber nicht, wenn
sich eine verschlossene Auster neben einem
niedergelassen hat.
Ich werde durch einen herabrutschenden
Koffer aus meinen Träumereien gerissen. Die
Besitzerin reist mit sechs kleinen Kindern und
ist offensichtlich gestresst, so fällt ihre Entschuldigung flüchtig aus. Aber, oh Wunder,
mein Nachbar ist wegen des Vorfalls wie ausgewechselt. Wir kommen ins Gespräch und
essen zusammen handgemachte Schokolade
aus Bariloche. Pedro kommt ursprünglich aus
Buenos Aires. «Aber ich hasse Argentinien!»
Er spuckt diesen Satz aus wie einen unverdaulichen Knochen.
Für einen Moment bin ich sprachlos, fasse
mich aber und versuche, der Aussage mit einem Lachen die Schärfe zu nehmen. Unwillkürlich nicke ich dem wohlgenährten Ehepaar,
das sich irritiert umdreht, freundlich zu. Doch
Pedro meint es ernst. Seine ganze Familie
wurde von der Militärjunta ausgelöscht. Alle
verschwanden spurlos. Bis auf seine jüngste
Schwester, die mit der Tante in Paraguay un-
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Schafe. Ideal fürs raue, oft windige Wetter in
Patagonien (ganz oben).
Gaucho. Ein Leben im Pferdesattel (oben).
Reitpause. Mit Pferden unterwegs in der
Urlandschaft (links unten).
Vulkan. Der Osorno (2652 m) gehört zu den
schönsten Vulkanen Chiles (unten).
tertauchen konnte. Und du? Er sieht mir die
unausgesprochene Frage an und senkt den
Blick auf seine geschundenen Hände. «Ich hatte
Glück», murmelt er. Der Hass ist so schnell
verschwunden, wie er aufkam, irgendwo in den
Tiefen seiner verwundeten Seele. Wie reagiert
man auf solche Ungeheuerlichkeiten? Etwas
ratlos drücke ich ihm den Rest meiner Schokolade in die Hand. Wieder dieses scheue Lächeln. Er erzählt, er habe seine Schwester in
Bariloche besucht. Sie ist mit einem Lehrer verheiratet. Kinder habe sie nicht, die Ärzte können sich den Grund dafür nicht erklären, aber
es gibt nicht für alles eine rationale Erklärung.
An der Grenze zu Chile müssen wir alle
aussteigen. Die Hälfte der Pappe-Sandwiches,
die der Fahrer unterwegs ausgeteilt hat, und
zahlreiche Früchte fliegen hier in die Müllcontainer. Nichts Derartiges darf nach Chile eingeführt werden, schliesslich könnte ein mitgebrachter Apfel das ganze Land verseuchen. Gelangweilt beobachten die Zöllner, wie die Reisenden ihre schweren Koffer auf das klebrige
Förderband hieven, auf dem sie durchleuchtet
werden. Könnte ja sein, dass sich doch noch
ein Apfel zwischen den Klamotten verbirgt.
Nach geschlagenen zwei Stunden darf der Bus
weiterrumpeln. Der Fahrer singt lauthals zu
einem Lied im Radio und fährt in Schlangenlinien, um den Schlaglöchern auszuweichen.
In Puerto Varas verabschiede ich mich von Pedro und wünsche ihm viel Glück.
Im chilenischen Seengebiet. Im Gepäckberg
graben wir nach unseren Rucksäcken und machen uns auf die Suche nach einer preiswerten
Unterkunft. Puerto Varas liegt am Lago Llanquihue, in der Ferne thront der Vulkan Osorno
wie ein weisser Riese über dem See.
Abends finden im Zentrum ein Konzert
und ein Schönheitswettbewerb statt. Leicht bekleidete junge Mädchen trotzen dem kalten
südamerika
Schiffsreise. Die Fjordlandschaft entlang der
chilenischen Küste ist grossartig (oben).
Freundlicher Empfang. Vor der Post von Puerto
Eden im Süden Chiles (unten).
Nachtwind und den gierigen Blicken der Besucher. Am nächsten Tag machen wir einen
Ausflug zum Lago Todos los Santos, der inmitten von schwarzsandigen, kargen Lavafeldern
liegt. Das Wasser schimmert in den verführerischsten Blau- und Grüntönen. Ich ziehe die
Schuhe aus, um die Temperatur zu testen, und
bin überrascht: Es ist angenehm, nicht zu kalt.
Schwupp, schon ziehe ich meine Kleider aus
und tauche ins glatte Nass. Als alte Wasserratte
bin ich immer für ein erfrischendes Bad zu haben. Es ist ein ganz besonderes Erlebnis, in diesem See zu schwimmen. Das Wasser ist klar,
kein Mensch weit und breit und der Blick auf
den Vulkan Osorno schlichtweg umwerfend.
Ich habe ein Gefühl von Leichtigkeit und
könnte ewig weiterschwimmen. Als ich doch
noch aus dem Wasser herauskomme, ist mein
ganzer Körper von feiner, schwarzer Asche
überzogen. Was solls – ich lache über die Miene
von Jörg, der Sand nicht mag, erst recht nicht,
wenn er stark mit Asche angereichert ist. «Anderswo zahlt man viel Geld für solche BeautyAnwendungen», sage ich fröhlich.
Am nächsten Tag geht es mit dem Bus weiter nach Puerto Montt. Von dort wollen wir die
Navimag, ein umgebautes Frachtschiff, nach
Puerto Natales nehmen. Alle Patagonienreisenden sind sich in diesem Punkt einig: Auf
diesem Weg kann man die unberührte Schönheit der Fjorde am besten geniessen und dabei
hautnah die Gletscherwelt erleben.
Im Hafen Angelmo bei Puerto Montt kommen wir aus dem Staunen nicht heraus. Bunte
Strassenstände bieten allerlei feil. Bei einer gebrechlichen, farbenfroh gekleideten Alten kaufen wir Obst für die Reise. Vor der Tür eines
kleinen Restaurants steht ein bauchiger Kessel,
dahinter eine Frau mit langem Zopf und einem
Holzlöffel. Strahlend lässt sie uns einen Blick
in den Topf werfen: «Delicioso!» Wir nicken
und sie schiebt uns durch die geöffnete holzwurmzerfressene Tür. Wir quetschen uns auf
schmale Bänke. Der Laden ist berstend voll mit
Einheimischen. Das gefällt uns,
die müssen ja wissen, wo es
schmeckt. Wir verspeisen unsere
Fischplatte in einvernehmlichem
Schweigen und beobachten dabei
fasziniert die Schaben, die an Tischen und Wänden Klimmzüge
machen. Andere Länder, andere
Sitten. Aber das Essen ist wirklich
sehr schmackhaft.
Draussen treffen wir auf die
Alte vom Obststand: Sie ist erleichtert, als sie uns sieht und
drückt uns ein paar Münzen in
die Hand. Wir verstehen nur wenig von ihrem aufgeregten Geplapper, aber ihre Ehrlichkeit
rührt uns. Sie hatte uns vorhin zu
wenig Wechselgeld gegeben.
Navimag ahoi! Diese Schiffsreise von Puerto
Montt nach Puerto Natales ist wirklich empfehlenswert. Die Fjordlandschaft mit ihren einsamen Torfmooren und Gletschern zieht beinahe unwirklich an uns vorüber. Wie ein endloses impressionistisches Gemälde, das Einsamkeit und Wildnis wiedergibt. Dies so stark
und intensiv, es lässt einen nicht los, rückt alles
andere in den Hintergrund. Ab und zu schwimmen Magellanpinguine und Seehunde nebenher. Sie schauen neugierig zum Schiff, als scheinen sie sich zu fragen: Was habt ihr hier verloren, Leute?
Täglich gibt es interessante Vorträge zu
Klima, Flora und Fauna. Das Essen stimmt,
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Paine treffen. Wir leihen uns ein Zelt,
Isomatten und Kochgeschirr. Sich
beim Einkaufen und Packen auf das
Wesentliche zu beschränken, will gelernt sein. Zwanzig Kilo für jeden – da
gibts nichts zu ändern.
Mit einem Minibus fahren wir in
den Park und setzen mit einem Boot
über den Gletschersee Lago Grey. Riesige Eisschollen treiben im graublauen Wasser. In der Ferne taucht der
Grey-Gletscher auf. Es ist bewölkt
und kühl. Wir sind froh über unsere
Thermokleidung. Das Klima Patagoniens ist wechselhaft und fordert Flexibilität.
In den nächsten Tagen machen
wir so richtig Bekanntschaft mit dem
berüchtigten patagonischen Wind,
ebenso die Unterhaltung am Abend – Filme,
Tanz, Spiele. Die Unterbringung in offenen Kojen, von denen aus man seinen Mitreisenden
bequem die Hand schütteln kann, steigert den
Gemeinschaftssinn.
Einziger Landgang ist in Puerto Eden: Hier
leben die letzten einheimischen Indianer. Vom
Garten Eden ist dieser trostlose Ort weit entfernt. Ist dieser Name Ausdruck von Ironie?
Von den baufälligen Hütten blättert die Farbe,
die Fenster sind mit Lumpen verhängt, der Müll
liegt verstreut im hohen Gras. Eilig werden wackelige Tische aufgestellt, eine Handvoll Gebasteltes wird feilgeboten. Beschämt laufen wir
durch das Dorf. Wir sind sicher, dass es nicht
die Bestimmung dieser Menschen ist, ihr Dasein derart trostlos und deprimiert zu fristen.
Selbst die Hunde scheinen depressiv zu sein.
Zu Fuss von Camp zu Camp. Puerto Natales,
eine farblose Kleinstadt mit Outdoorläden, in
der wir die letzten Vorbereitungen für unsere
grosse Tour durch den Nationalpark Torres del
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Bergpanorama. Blick auf den Lago Nahuel Huapi
bei Bariloche (oben).
Heruntergekommen. Stopp auf der Schiffsreise
im kleinen Hafenstädtchen Puerto Eden (links).
Trekking. Zu Fuss die Bergwelt erkunden (unten).
Camping. Nach anstrengendem Wandern am
Abend müde ins Zelt (rechte Seite; links unten).
Felszacken. Die Torres wirken wie Zähne eines
Riesen (rechte Seite; rechts unten).
der oft mit bis zu 180 Stundenkilometern übers
Land fegt und keine Gnade kennt. Die Trekkingtour ist anstrengend, aber die spektakuläre
Natur entschädigt uns für alle Torturen. Die
gut markierten Routen, auf denen uns oftmals
ehemalige Navimag-Mitreisende über den Weg
laufen, führen abwechselnd bergauf, bergab,
durch Lichtungen mit pastellfarbenen Fingerhut-Blumen, durch Nothofagus-Wälder, an
türkisfarbenen Seen vorbei.
südamerika
Das ständige Auf und Ab bringt uns ins
Schwitzen. Bei einer Pause wagen wir einen
Sprung in den Lago Grey. Am Horizont treiben
die Eisschollen, wir fühlen uns mutig und erfrischt, wie die ersten Eroberer, die aber wahrscheinlich nie so verrückt gewesen und ins eisige Nass gesprungen sind. Am Abend im
Camp finden wir dann das eiskalte Wasser zum
Duschen nicht mehr so toll. Die Dauerduscher
haben die Warmwasservorräte geschröpft und
sitzen nun vergnügt in der Hütte, während wir
mit Gletscherwasser und klappernden Zähnen
duschen und die verschwitzten Haare waschen.
Unsere Köpfe fühlen sich an wie Eiswürfel.
Die Campingplätze sind idyllisch gelegen,
aber sehr überlaufen. Frau Dixie hat damals –
als sie 1881 ihren Reisebericht geschrieben
hat – vermutlich andere Verhältnisse vorgefunden. So richtig einsam fühlen wir uns nie.
An einem Abend beschliessen wir, am Lago
Nordenskjöld unser Nachtlager aufzuschlagen.
Heute haben wir einen ruhigen Platz in bester
Aussichtslage. Warm eingepackt und in behaglichem Schweigen essen wir unser Fertigrisotto
und geniessen das Panorama und die Einsamkeit. In der Nacht bläst uns ein Sturm mitsamt
dem Zelt fast weg. Das will etwas heissen bei
zwei Erwachsenen mit Gepäck! Erst in den frühen Morgenstunden fallen wir in einen narkoseähnlichen Schlaf.
Am nächsten Tag scheint die Sonne und
taucht die Berge in sanftes Licht. Wir machen
uns eilig auf den Weg, da heute die grösste
Etappe ansteht: Wir wollen es bis zum hochgelegenen Campingplatz Chileno am Fuss der
Torres del Paine schaffen. In fast meditativer
Stimmung setzen wir einen Fuss vor den anderen. Meine Schultern tun weh und werden
mit einem Schal gepolstert. Das Gewicht des
Rucksacks fordert seinen Tribut. Willkommene
Ablenkung ist die Pflanzenwelt – vor allem der
chilenische Feuerbusch mit seinen leuchtend
korallenroten Blüten verzaubert mich. Das
Holz dieses Grossstrauchs ist rosa und wird
gerne von Kunsthandwerkern zum Schnitzen
verwendet. Die Südbuchen sind vom rauen
Klima gezeichnet und muten mit ihrem bizarren Wuchs wie Bonsais an.
Wir beobachten kreisende Kondore, die
Futter suchen, Gänse und Enten. Kleinere Vögel sind hingegen im dichten Buschwerk
schwierig auszumachen. In der Laguna Inge
springen wir unter den ungläubigen Blicken
einer Gänsefamilie ins Wasser. Es ist nicht tief,
am Boden ist dichter Bewuchs. Beim Abtrocknen entfernen wir rasch und angeekelt die Egel,
die schon genüsslich unser Blut saugen. Die
51
Infos zu Patagonien – Feuerland
PATAG O
NIE
N
Geografie: Als Patagonien wird der unterste Teil Südamerikas bezeichnet. Der Río Colorado in Argentinien
und der Río Bío Bío in Chile bilden die nördliche Grenze. Südlich der Magellanstrasse liegt Feuerland mit seinen zahlreichen Inseln.
Grösse: Patagonien ist rund fünfmal grösser als
Deutschland.
Bewohner: Die Region ist sowohl auf der chilenischen
wie auf der argentinischen Seite – abgesehen von wenigen Ballungszentren – sehr dünn besiedelt. Die meisten Einwohner haben europäische Vorfahren. Indigene Bevölkerung gibt es
Gänseeltern schütteln missbilligend
in diesem Teil Südameridie weissen Köpfe. Unglaublich, was
kas praktisch keine.
sich die Touristen alles erlauben!
Wirtschaft: Im chilenischen Teil Patagoniens
Beeindruckende Felstürme. Der
ist der Tourismus die wichletzte Anstieg, natürlich auch wieder
tigste Einnahmequelle. Im
gewürzt mit stetem Auf und Ab, erargentinischen Teil sind
weist sich wegen eines immer stärker
nebst dem Tourismus die
werdenden Windes mit Orkanböen
Schafzucht und die Erdölals echte Herausforderung. Wir stemförderung von grösserer
men uns wild entschlossen gegen dieBedeutung.
se Naturgewalt und werden Zeugen
Einige Höhepunkte: Naeiner komischen Szene: Im einen
tionalpark Torres del Paine
Moment sitzt am Wegrand ein Wan(Chile), Nationalpark Los
derer, im nächsten ist er wie vom ErdGlaciares mit Perito Moreboden verschwunden. Seine Partneno, Fitz Roy und Cerro Torrin schaut sich verwundert um. Der
re (Argentinien), Nationalpark Tierra del Fuego und
Sturm hat ihn mit seinem Rucksack
Beaglekanal (Chile und Argentinien), Halbinsel Valdés
hintenübergeblasen. Wir helfen, den
(Argentinien)
Unglücklichen zu bergen. Zum Glück
Beste Reisezeit: In den Sommermonaten von Novemist ihm nichts passiert. Kein Patagober bis Februar. Der für Patagonien typische starke
nienreisender sollte je den Wind unWind bläst jedoch auch in diesen Monaten. Im chileterschätzen. Er ist brutal und unberenischen Teil fällt bedeutend mehr Regen als im argentichenbar. Diese Erfahrung lehrt uns,
nischen Teil.
an ausgesetzten Wegabschnitten stets
Verkehrsmittel: Zwischen den grösseren Orten oder
nah am Berg zu gehen und die Nähe
Nationalpärken gibt es Busverbindungen. Wer unterzum Abgrund zu meiden.
wegs lieber Stopps einlegt, mietet ein Auto oder engagiert einen Taxifahrer. Für weite Distanzen nutzt man am besten
BOLIVIEN
eines der zahlreichen Flugangebote. Für die Strecke von Puerto
BRASILIEN
PA R AG UAY
Montt nach Puerto Natales (v.v.)
ist die Navimag mit ihren Fährschiffen ein lohnenswertes Transportmittel.
C H IL E
Bücher: «Argentinien», Lonely
A RG E N T I N I E N
Planet Travel Guide (Deutsch),
Pazifik
ISBN: 978-3-8297-2212-4,
U R U G UAY
«Chile und die Osterinsel», Reise
Santiago
Buenos Aires
Know-How Verlag, ISBN: 978-38317-2113-9, «In Patagonien –
Rio Bio Bio
Reise in ein fernes Land», Bruce
Rio Colorado
Nahuel
Chatwin, ISBN 978-3-499Osorno
Huapi N.P.
Atlantik
12836-3, «Patagonien – Von HoSan Carlos
Puerto Varas
rizont zu Horizont», Carmen Rohrde Bariloche
Puerto Montt
bach, ISBN 978-3-492-40387-0
Navimag Schiffsreise
Karten: Argentinien, 1:1,2 Mio.
(World Map), Reise Know-How
Verlag, ISBN 978-3-8317-7154-7,
Chile, 1:1,6 Mio. (World Map),
Los Glaciares N.P. (Perito Moreno Gletscher)
Puerto Eden
Reise Know-How Verlag, ISBN:
Torres del Paine N.P.
Puerto Natales
978-3-8317-7116-5
Ushuaia
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Tierra del Fuego N.P.
Am späten Nachmittag kommen wir erschöpft am Campingplatz an und bauen unser
Zelt auf. Morgen soll das Wetter unbeständig
werden. Eigentlich sind wir total kaputt, machen uns aber dennoch gleich auf den Weiterweg, schliesslich ist der Aussichtspunkt Los
Torres ein absolutes Muss. Anfangs geht es auf
einem kleinen Pfad durch verträumten Laubwald. Sobald wir den Wald verlassen, verliert
sich der Weg in einem Geröllfeld. Der Aufstieg wird beschwerlich, der höchste Punkt
lässt sich nur schwach erahnen. Oft müssen
wir stehen bleiben und uns neu orientieren.
Wir setzen jeden Schritt mit Bedacht, sonst ist
es unter Umständen für eine Weile der letzte.
Wir haben keine Lust, herauszufinden, wie es
um die Qualität der Bergrettung in Patagonien
steht.
Nach einer schier endlosen Quälerei
schleppen wir uns über den letzten Felsen und
sind einen Moment sprachlos, bevor wir uns
umarmen. Die Zacken der Torres ragen wie die
vernachlässigten Zähne eines Riesen in den
blauen Himmel. Das «Zahnfleisch» ist von
Schnee bedeckt und verschwindet in groben
Falten in einem trübgrünen Gletschersee. Der
Wind tost und heult. Wir fühlen uns klein und
schutzlos im Angesicht dieser Gewalten. Kein
Ort, um länger zu verweilen. Vorsichtig machen wir uns an den Abstieg.
Die Torres sollen in der Morgensonne
überwältigend schön sein, aber in diesem Augenblick mag ich nicht an einen neuerlichen
Aufstieg denken. Ich will nur noch warm duschen und schlafen. Trotz Erschöpfung schlafe
ich schlecht, habe aber nicht die Energie, mitten in der Nacht die Tour nochmals zu machen,
um den Vollmond über den Torres zu sehen.
Jörg hingegen macht sich um kurz nach
3 Uhr mit der Stirnlampe auf den Weg. Der
Vollmond wird von Nebelschwaden umschmeichelt, leichter Nieselregen setzt ein. Der Aufstieg ist nachts wesentlich leichter als am Tag,
weil das Licht der Lampe die Reflektoren an
den Felsen sichtbar macht. Der Weg ist wohl
für eine Wanderung im Dunkeln ausgelegt
worden. Nach knapp zwei Stunden ist Jörg am
Ziel und kann sich noch kurz am Naturschauspiel erfreuen, ehe sich der Nebel wie eine Decke über die Berge und den Mond legt. Ich bin
froh, als er ein paar Stunden später heil beim
Frühstück erscheint.
südamerika
Von Tieren und Gletschern. Hunderte Kilo-
meter fahren wir per Anhalter durch die Pampa. Dies mag bei dem geringen Verkehrsaufkommen als eine riskante Sache scheinen,
klappt aber gut. Nur einmal ist der Fahrer totmüde und schiesst mit zeitweise geschlossenen
Augen wie ein Kamikaze über den Asphalt. Ist
das die Sorte Abenteuer, die uns vorschwebte?
Flache, wüstenähnliche Landschaft mit typischem Bewuchs: kugelige Grasbüschel, stachlige, krüpplige Büsche, die sich verzweifelt flach
an den Boden pressen, um dem ständigen
Wind keinen Widerstand zu bieten. «Survival
of the fittest», eine eindrückliche Demonstration von biologischen Grundsätzen.
Der Wind treibt den Staub in meterhohen
Wellen vor sich her. Hier und da sind Nanduund Guanako-Herden unterwegs. Was sie in
dieser Öde fressen, ist uns ein Rätsel. Sie schei-
Weite. Patagonien ist wild und leer (links oben).
Gletscher. Der Perito Moreno schiebt sich in den
See hinein (oben).
Eisabbruch. Mit etwas Glück sieht man den
Gletscher kalben (links unten).
Ushuaia. Staubige und lärmige südlichste Stadt
der Welt (rechts unten).
nen sich aber pudelwohl zu fühlen und wälzen
sich verzückt im Staub. Ein lustiger Anblick.
An der argentinischen Grenze spielen die
Zollbeamten Tischtennis und wirken sichtlich
belästigt durch unsere Ankunft. Die Formalitäten sind schnell erledigt, weil sie es nicht abwarten können, zu ihrem Spiel zurückzukehren. Auch recht.
Eis und Gletscher haben wir zwar auch in
der Schweiz, aber eben nicht einen Lago Argentino. Wir wollen den kalbenden Perito-Moreno-Gletscher sehen und verbringen ein paar
spannende Tage im 600 000 Hektar grossen Nationalpark Los Glaciares, der 1981 zum
UNESCO-Welterbe deklariert wurde.
Das Klima ist kühl und gemässigt mit regelmässigem Niederschlag. Die Regenwälder
sind üppig, dunkelgrün und lebendig. Die Südbuchen bilden einen undurchdringlichen Teppich. Es ist die Heimat des Huemuls, auch Andenhirsch genannt. Er ist klein und hat sich gut
an das unwegsame alpine Gelände angepasst.
Wir haben grosses Glück und sehen gleich am
ersten Tag ein weibliches Tier an einem Geröllhang. Scheinbar sorglos frisst es von den kargen Hälmchen. Wir sind hellauf begeistert über
diese Begegnung.
Magellangänse und Sturzbachenten sind
weitere Highlights. Letztere sind grandiose,
furchtlose Taucher, für die auch Wildwasser
kein Schrecken birgt. Dafür fliegen sie nicht
gerne und beschränken derlei
Aktivitäten auf kurze Strecken.
Kondore kreisen häufig am bedeckten, regenschwangeren
Himmel, elegant und ohne Anstrengung – so scheint es wenigstens für uns am Boden. Füchse,
Pumas und vom Aussterben bedrohte kleine Wildkatzen gibt es
im Park, aber sie sind sehr scheu
und nur mit viel Glück zu beobachten.
Die Fahrt mit dem Boot an
die Abbruchkante des Gletschers
ist eindrücklich. «Unbelievable!»
haucht die rundliche Engländewinter 2012 100 GLOBETROTTER-MAGAZIN 53
erklärte die Regierung 63 000 Hektar
am südlichsten Andenzipfel zum
Schutzgebiet. Die magellanschen Torfmoore sind ein charakteristisches
Merkmal von Feuerland. Sie bieten erstaunlich vielen Arten Lebensraum.
Einen patagonischen Rotfuchs sehen
wir gleich bei der Ankunft beim Postamt «Fin del Mundo», das sich im Park
befindet. Dort lassen wir uns den Pass
stempeln – «Ende der Welt» hat nicht
jeder in seinem Pass stehen. Entspannt
und zutraulich sitzt der zottelige Fuchs
rin neben mir, als ein gewaltiger Eisbrocken ins Wasser stürzt und das Boot zum
Schaukeln bringt. Alle versuchen hektisch,
diesen Moment mit der Kamera festzuhalten. Der Gletscher zeigt sich entgegenkommend und wiederholt die Show ein
zweites Mal. Das Foto im Kasten und ein
breites Grinsen auf dem Gesicht, lassen
wir dieses ungestüme, dramatische Fleckchen Erde hinter uns.
Am echten Ende der Welt. Ushuaia, die
südlichste Stadt der Welt, trägt den Übernamen «Ende der Welt». Wie stellt man
sich das Ende der Welt vor? Natürlich haben wir uns monatelang vor der Reise Gedanken darüber gemacht. Wir dachten dabei
an ein verschlafenes, gottvergessenes Kaff, in
dem sich Fuchs und Huemul Gute Nacht sagen
und die Zeit stehen geblieben ist. Wir dachten
an Blockhütten, Pioniergeist und Mulis am
Strassenrand, Stille und Unverdorbenheit.
Von wegen! Ushuaia ist laut, staubig und
unnahbar. Hier zeigt jeder, was er hat und vor
allem über wie viele PS er verfügt. Es dröhnen
die Motoren und quietschen die Bremsen.
Gnadenlos. Diese Stadt schläft nie. Beim ersten
Hostel in angeblich idyllischer Lage ergreifen
wir sofort die Flucht. Die Suche erweist sich als
schwierig, aber abends gibt es ein Ende-derWelt-Bier, mit dem wir unsere Enttäuschung
ertränken.
Der Feuerland-Nationalpark wiederum ist
von melancholischer, wilder Schönheit. 1960
54 GLOBETROTTER-MAGAZI 100 winter 2012
Wilde Schönheit. Im Nationalpark Tierra del
Fuego finden sich auch Spuren der Ureinwohner.
Das Ende Amerikas. Leuchtturm am Beagle-Kanal.
Abendstimmung. Kurze Nächte im Südsommer.
Autorin. Annette Lepple mit Ehepartner Jörg.
(Von oben nach unten)
im Gras und beobachtet uns gelassen. Gibt es
hier Tollwut? Soviel Freundlichkeit macht uns
misstrauisch, aber auch andere tierische Parkbewohner kennen keine Scheu. Die Caracaras,
eine Falkenart, hüpfen um uns herum und erhoffen sich eine Belohnung.
Abends gehen wir auf Biberbeobachtung.
Zwei junge, häufig kichernde Typen sind unsere Guides. Wir schauen uns an. Ihre coole
Art ist okay, solange sie später, wenn es darauf
ankommt, den Mund halten. So kommt es
dann auch, als wir auf Zehenspitzen durch das
urzeitlich wirkende Gelände schleichen, welches die Biber profimässig unter Wasser gesetzt
haben. Vorsicht ist angebracht, will man ein
unfreiwilliges Bad vermeiden. Abgestorbene
Bäume ragen wie Wurzeln in den rosafarbenen
Abendhimmel.
Die Biber tauchen und schwimmen geschickt und leise zwischen ihren gefällten
Stämmen umher. Wir vergessen vor Spannung
fast das Atmen. Bis auf das gelegentliche harte
Klatschen, wenn einer von ihnen uns erspäht
und warnend seine Kelle, den haarlosen
Schwanz, auf die spiegelglatte Wasseroberfläche heruntersausen lässt, ist es hier totenstill.
Der Biber ist nicht heimisch, sondern wurde
vor Jahrzehnten aus wirtschaftlichen Gründen
eingeführt. Mittlerweile sind sie verwildert, haben sich erfolgreich angepasst und die Landschaft markant geprägt. Wir fühlen uns privilegiert, einen Einblick in das Leben dieser
schlauen Tiere zu bekommen.
Die ersten Menschen liessen sich in
diesem rauen Land vor etwa 10 000 Jahren
nieder. An den Stränden im Park stossen
wir beim Wandern nicht selten auf Middens. Diese Muschelhaufen weisen auf die
Ernährungsgewohnheiten der Ureinwohner Yámana hin, die damals vom maritimen Reichtum profitierten. Sie führten ein
gesundes Leben im Einklang mit der Natur. Dies änderte sich, als Ende des
19. Jahrhunderts die ersten europäischen
Siedler eintrafen. Schiessübungen und
Epidemien sorgten für den schnellen Untergang der Feuerlandindianer.
Eine Wucht ist die Bootsfahrt auf dem
Beagle-Kanal: Kormorane, Seehunde und -löwen so weit das Auge reicht. Ein wenig können
wir nachempfinden, wie sich Charles Darwin
fühlte, als er 1833, anlässlich seiner Weltumsegelung an Bord der HMS Beagle, in Feuerland
anlegte.
Das Ushuaia von heute blieb ihm erspart.
Zum Glück ist diese Stadt nur ein kleines Puzzleteil vom gigantischen Naturerlebnis Patagonien. Wie so oft hat sich auch der Tourismus
in Patagonien als vorteilhaft für die Natur erwiesen: Man schützt und pflegt, was die Reisenden suchen und schätzen.
Wir haben gefunden, was wir gesucht haben: Wildnis, Freiheit, Naturschönheit, vielseitige Flora und Fauna und – vor allem auch –
Freundlichkeit und interessante Begegnungen.
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© Globetrotter Club, Bern
südamerika
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