Album Linernotes von Francesco Wilking (Deutsch)

Transcrição

Album Linernotes von Francesco Wilking (Deutsch)
LUCIA CADOTSCH
SPEAK LOW acoustic-retro futurism
LUCIA CADOTSCH
(CH)
Gesang
OTIS SANDSJÖ
(SE)
Tenor Saxophon
PETTER ELDH
(SE)
Kontrabass
Künstlername
VÖ
Tour-& Album-promotion
LUCIA CADOTSCH
26.02.2016
Beats International
Albumtitel
Label
Booking
SPEAK LOW
enja/yellowbird records
Handshake Booking
The Art of keeping it simple and raw!
Die Sängerin Lucia Cadotsch hat mit SPEAK LOW eine berückend schöne
Sammlung von modern Traditionals, wie Gloomy Sunday, Strange Fruit und Moon
River, aufgenommen. In Versionen, die unverkennbar den Stempel Berlin 2015
tragen. Entstanden ist das Album zusammen mit den Meistern des
Retrofuturismus: Petter Eldh, Kontrabass und Otis Sandsjö, Tenorsaxophon.
In drei Tagen mit drei Instrumenten direkt auf Band gespielt.
Live, minimalistisch, symphonisch! Raw like Ceviche! Analog ist das neue
Berghain!
Linernotes von Francesco Wilking:
Wenn du tust, was du schon immer tun wolltest, aber nicht wusstest wie.
Wenn du endlich die Formel gefunden hast. Wenn der Moment da ist, die Spannung,
das Flirren in der Luft. Wenn du dastehst, einatmest, ansetzt, den Ton singst, ihn
triffst und er in deinen Ohren richtig klingt, auch Tage und Wochen später, richtiger
als alles, was davor war, dann nennt man das: Glück.
Lucia Cadotsch ist glücklich. Sie hat sich mit Speak Low einen Wunsch erfüllt. Und
uns. Denn sie singt auf dieser Platte einige der schönsten weil ehrlichsten Lieder, die
in den letzten 100 Jahren geschrieben wurden. Was wir hören ist ein einziges
Heureka, ich übersetze frei mit: “ich habe gefunden, was Andere zum weitergeben
hierher gelegt hatten” aber dazu später mehr.
Lucia Cadotsch hat sich freigesungen. Speak Low ist die erste Veröffentlichung unter
ihrem eigenen Namen.
Ist sie deshalb ein Newcomer? Hallo?
Die Zürcher Wahlberlinerin, hat mit dem Musikerkollektiv Schneeweiss + Rosenrot
drei Alben aufgenommen. 2012 gewann sie mit ihnen den neuen deutschen
Jazzpreis. Mit Wanja Slavin (Echopreisträger Bester Saxophonist National 2014)
betreibt sie die Liun and the Science Fiction Band, Synthpop für die Menschen von
übermorgen. Allein letztes Jahr hat sie mit der Gruppe Yellow Bird ein super-dada
Bluegrass-Album releast und mit Hayden Chisholm und dem Lucerne Jazz
Orchester den Big-Band-Swing alter Prägung ins 21ste Jahrhundert geholt.
Andere würden nach solch turbulenten Jahren erstmal durchschnaufen,
amerikanische Serien schauen und eine Auszeit mit Schafen auf Island nehmen.
Lucia Cadotsch, von der DIE ZEIT schrieb, sie sei eine der “besonders interessanten
Vertreterinnen einer Wiederbelebung des Jazz-Gesangs jenseits der abgenutzten
Standards”, nimmt sich etwas Großes, Schönes vor.
“Nina Simone und Billie Holiday, ihre Art Songs zu interpretieren und zeitlos zu
halten, haben mich dazu gebracht, diese Platte zu machen”, sagt Lucia und sie
spricht diese großen Namen aus, als rede sie von ihren nächsten Verwandten.
Lucia suchte lange nach den richtigen Charakteren für ihre Idee. Dass ihre Wahl auf
den Kontrabassisten Petter Eldh und den Tenorsaxophonisten Otis Sandsjö fiel, war
ein grosser Glücksfall. Mit Petter Eldh hatte sie bereits bei Schneeweiss+Rosenrot
zusammengespielt. Der schwedische Bassist und sein Landsmann Otis sind beide
keine Unbekannten im Jazz-Game. Petter spielt etwa beim Django Bates Trio,
Slavin/Eldh/Lillinger und unzähligen anderen Formationen, veröffentlicht wie ein
Wilder, inzwischen auch auf seinem eigenen Label (Galatea Records) und spielt
jährlich über 100 Konzerte auf internationalen Bühnen. Otis, Mitglied der Bands
Farvel und Gothenburg Gadjos ist dabei sich durch sein aussergewöhnliches Spiel
einen großen Namen in der Szene zu machen.
Schon zu Beginn der ersten Session war klar: So und nicht anders muss es klingen
und sich anfühlen. Rough und ungeschönt: Drei Instrumente! Kein Schlagzeug! Kein
Harmonieinstrument! Weder Overdub-Gewitter noch Plugin-Zauberei, sondern pures
Spiel, reines Gefühl!
Jack Bauer würde sagen: All events occur in real time, fucking live!
Lucia Cadotsch erzählt:
“Jedem Song haben wir eine ganze Probe gewidmet. Wie eine slow motion jam
session, der Zeitraum war ungefähr ein halbes Jahr, in dem wir 15 Songs gemeinsam
entwickelt haben. Jeden Song haben wir mehrere Stunden gespielt. So sind alle
Ideen entstanden. Und dieser Prozess geht auch weiter, wir spielen die Musik jedes
Mal anders, auch im Studio haben wir die Arrangements wieder verändert und auch
seitdem wieder, jede Version ist eine Momentaufnahme.”
Man hört also einem höchst spannenden work in progress zu, dessen Ausgangslage
die Lieder sind und zu deren Kern die Musiker im Zusammenspiel versuchen
vorzudringen.
Petter Eldh sagt über diesen Prozess:
"The special thing with this Trio is the long process doing these arrangement
together.All the ideas have been developed together, it´s always been about learning
the material, learning the song, then starting to condense it, stripping it down in a
way, that comes naturally from the instrumentation. We focus on the songs, that´s
really the core of everything and what we are doing to support that. Everything starts
with the song."
Die drei Solisten nehmen das, was den jeweiligen Song für sie ausmacht und
bedienen sich dabei ganz bewusst der in der Frühzeit des HipHop entstandenen
Technik des Samplens.
Sie picken sich kurze Bits aus alten Aufnahmen, etwa bei aint got no/I got life einen
Stolpertakt aus einem Studio-Konzert von Nina Simone aus dem Jahr 1968 und
spielen sie im Loop. So kreieren sie aus den Versatzstücken einer älteren Version des
Songs eine neue, sehr zeitgemäße Komposition. So hätte es J-Dilla auch gemacht.
Und wenn diese Leute Musikdienstleister wären, könnten sie ihren Ansatz auch nicht
so wunderbar heutig und poetisch in Worte fasssen. Das dem Pressetext
vorangestellte Manifest stammt nämlich aus der Feder von Petter Eldh, er hat es sich
und seinen Mitmusikern auf die Knöchel tätowiert.
Aber jeder Versuch, sich der Musik auf Speak Low analytisch zu nähern, muss an den
Klippen der Langeweile zerschellen. Ich kann allen nur dazu raten, die Lesebrille
wegzulegen und diese Platte zu hören, am Besten laut.
Es beginnt mit den Klappengeräuschen von Otis Sandjös Saxophon. Er lässt sein
Instrument klingen wie einen Synthesizer, als hielte die linke Hand einen arpeggierten
Akkord gedrückt und die rechte drehte langsam den LFO-Filter auf. Wahnsinn!
Darüber stimmt Lucia Cadotsch Slow Hot Wind an und ihre Stimme weht wie ein
leichtes Tuch im Wind der Galaxien. Der Bass kommt erst zur Mitte des Songs
hereingeachtelt und treibt ihn entschieden nach vorne. Alles klingt grobkörnig,
wunderschön unproduziert und traumsicher musikalisch. Drei Instrumente, die
umeinander herum spielen und sich immer wieder in der Mitte treffen. Man sieht kein
Gerüst, hört keine Spuren, nur Musik.
Speak Low. Der Titelsong, wurde von Kurt Weill 1943, mittenhinein in die Wirren des
2. Weltkriegs, geschrieben, als ein Appell zum Respekt vor der Liebe, mehr als ein
Jahrzehnt später von der späten Billie Holiday gesungen und dann noch 100000
weitere Male, ein Standard eben. In der Version von Lucia Cadotsch entfaltet sich die
ganze Range dieses Songs und gleichzeitig die Meisterschaft dieses Trios und ihrer
Sängerin. Ein Groove der zugleich musikalisches Thema ist, Holz und Blech blending
in perfection fahren wie eine Lok durch das Lied. Die Sängerin lässt sich mitnehmen,
hält am Bahnhof kurz inne, um über die Kürze des Lebens zu sinnieren, aber da fährt
der Zug schon wieder an. Ich will im Wohnzimmer tanzen und wundere mich keinen
Moment, wie das ohne Drumbeat geht. Was mich aber wundert, ist, wie ich an jedem
Wort, das gesungen wird, hänge. Das liegt daran, das Lucia Cadotsch den Text singt,
er ist in jedem Moment da und wie die Musik für jeden zu verstehen. Auch das macht
sie zu einer bemerkenswerten Sängerin. Hier singen die Liebe und der Schmerz, sie
klingen wahr und man glaubt ihnen, dass sie sich behaupten können im Gerumpel
unserer Zeit.
Strange Fruit, “That is about the ugliest song i`ve ever heard”, hat Nina Simone mal
über den Song gesagt. “ugly in the sense, that it is violent…when you think of a man
hanging from a tree and you call him strange fruit…” Der Song handelt von den
Lynchmorden in den Südstaaten der 30er jahre und auch, wenn er Reime und
wiederkehrende Melodien hat, ist es keiner, den man vor sich hinsummt, sondern
einer, der dir, durch seine textliche Radikalität, Angst machen kann, wozu Menschen,
auch heute, fähig sind. Und so will Lucia Cadotsch es auch verstanden wissen, wenn
sie dieses Lied in ihr persönliches Songbook aufnimmt.
Sie singt Strange Fruit nicht mit der Wut der Nina Simone sondern mit Klarheit und
Mitgefühl, angelehnt an Billie Holidays Commodore-Aufnahme von 1939. Ihre
Stimme: schwarze Tinte auf einem weissen Blatt Papier, manchmal fein
geschwungen, manchmal fest, aber nie zu dick aufgetragen. Die Wut lässt sie ihre
Mitmusiker erzählen und was Petter Eldh am Ende dieses Liedes macht, sind die
unglaublichsten paar Takte Musik, die ich seit Langem gehört habe.
Diese und die anderen Lieder auf Speak low haben eins gemeinsam. Sie sind
Standards, aber Lucia und die Jungs begreifen sie eher als moderne Traditionals
(tradere lateinisch für weitergeben), Songs, die sie gefunden haben, deren Bedeutung
vielleicht im Laufe der Zeit etwas verwaschen ist. Also müssen sie neu betrachtet und
auf ihre Essenz reduziert werden. Genau das passiert auf Speak Low. Und bei all der
Spielfreude, all den Variationen und freier Improvisation:
Was man hört, sind diese wunderschönen Songs.
Wenn es also darum geht, Musik aus einer anderen Zeit in die unsere zu retten oder
das, was uns ausgemacht hat, Denen, die kommen werden zu erzählen, ist Lucia
Cadotsch mit diesem Album die denkbar beste Botschafterin. Hayden Chisholm hat
Recht, wenn er sagt: "Lucia’s voice possesses the necessary subtlety and
understatement to deliver such traditional jazz songs in our times. It is hard for me to
imagine another contemporary vocalist with the ability to sing these tunes with such
grace." Punkt.
Nein noch nicht, lassen wir das letzte Wort lieber Petter Eldh sprechen:
"We´re putting all our ideas into one rocket, we fire that off, it explodes and spreads
out all over the fucking place but some of the stuff is gonna land right where we´re
standing and what is left is what we use. Yeah, that´s what we´re doing. How about
putting that into a fucking press text?"
Ja, warum eigentlich nicht?
-Francesco Wilking