Der schlimmste Fehler der Menschen

Transcrição

Der schlimmste Fehler der Menschen
Magazin für Empathie
Der schlimmste Fehler
der Menschen
ist ihr Mangel an Einfühlungsvermögen. Joseph Eddison
1
EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser,
was haben ein Huhn, ein TV-Moderator und
ein Seelsorger gemeinsam? Sie alle haben
– mehr oder weniger – etwas mit Empathie
zu tun. Glaubt Ihr nicht? Dann lasst Euch von
uns überzeugen! Wir sind „empa“, ein junges Magazin aus Hannover, und wir möchten
Euren Horizont erweitern. Wir lassen Euch
an Geschichten teilhaben, die das Leben geschrieben hat, die zum Leben animieren und
die uns am Leben zweifeln lassen.
Anfangs ging es noch schleppend: Die Herausforderung, das Thema Empathie für unser
Abschlussprojekt möglichst bunt, innovativ
und vor allem interessant zu gestalten, war
groß. Doch dann sprudelten die Ideen nur so
über. In wöchentlichen Redaktionssitzungen
tauschten wir jede Menge Ideen aus und
so wuchs das Magazin mit jedem Treffen.
Die Inspiration kam von überall: So fragte
sich eine Kommilitonin, ob Tiere überhaupt
emphatisch sind – bei ihrem Kater war sie
sich da nicht so sicher. Aus diesem Grundgedanken entstand die Geschichte „Wortlose Menschenkenner“ (S. 132). Eine andere
Kommilitonin ging der Frage nach, worin das
2
Rezept einer beständigen Liebe steckt – auch
das gibt es zu lesen in „Beziehungsweise“ (S.
8). Und habt Ihr nicht auch schon einmal die
Emotionen Anderer auch gespürt? Dass es
sich dabei nicht etwa um Einbildung, sondern um eine Tatsache handelt, lest ihr im
Artikel „Gefühlsansteckung“ (S.116).
Wir haben uns immer wieder überlegt,
wessen Lebensgeschichten zu Empathie
besonders interessant sind: Wie empfindet
ein Satiriker (S. 44), ein Fallanalytiker der
Kriminalpolizei (S. 96) oder ein Schauspieler
(S. 56)? Und wie viel Empathie ist im Sport
verträglich, wenn man gewinnen möchte (S.
146)? Wir haben außerdem für Euch in den
sozialen Netzwerken gestöbert, in der Zeitgeschichte nach besonders empathischen
Ereignissen gekramt und lassen Euch testen,
wie Eure Zwischenmenschlichkeit angelegt
ist. Das Ergebnis unserer Arbeit seht Ihr auf
den folgenden Seiten.
Wir wünschen Euch viel Spaß beim Lesen,
Eure empa-Redaktion
3
Inhalt
Editorial
76
„Ich bin kein Gutmensch!“
80
3
Beziehungsweise
Leben
Manches geht einfach zu weit
Pädagogen über Schüler
8
Sprachunterricht für Studenten
„Ganz im Gegenteil!“
20
Neugierig auf fremde Kulturen
„Wir holen uns die Welt ins Haus“
26
Umfrage:
Und was ist Empathie für Euch?
„Knast tut gut!“
86
Wir arbeiten mit dem Ergebnis, das der Täter produziert
96
„Empathie ist, wie einen Stein ins Wasser zu werfen.“
Berufung
102
30
Psychotest:
...Und wie empathisch seid Ihr?
Kann man‘s lernen oder nicht?
38
Von der Notwendigkeit der Satire:
Wenn Empathie hinter dem gesellschaftskrtischen
Zweck zurücktritt
Twitter-Zitate:
#empa
52
Medien
Seele
56
7 Schauspieler, die Method-Acting (fast) zu weit getrieben haben.
64
„Es gibt Krisen, die kann man kommen sehen“
Ein Interview mit Dr. Annika Schach
4
Vorsicht ansteckend!
Bei diesen Gefühlen fiebern wir automatisch mit
116
Geteiltes Leid
122
Wortlose Menschenkenner
132
44
„Der Schauspieler muss voll und ganz an das glauben, was er auf der Bühne denkt und sagt.“
Gesichter
110
66
NEUN FAKTEN ÜBER EMPATHIE
70
„Eigenarbeit kommt vor Fremdarbeit“
72
Empathische Momente der Geschichte
142
Der Weg des Kriegers
Wie man durch Ninja-Kriegskunst empathischer wird
146
Integration made in Braunschweig:
Als Team glücklich in der neuen Heimat
156
Impressum
Bewegung
164
5
Leben
6
7
Leben
Beziehungsweise
von pia schulte
Es gibt sieben Milliarden Menschen auf der Erde. Die oder den Richtigen zu finden, ist dabei gar
nicht so einfach. Wenn die Suche dann erfolgreich war, muss man mit seinem Partner, seinen Stärken
und Schwächen auch umgehen können. Jedes Paar geht seinen eigenen Weg. Aber gibt es überhaupt ein Rezept für die perfekte Beziehung? Spielen Alter, Geschlecht oder Herkunft dabei überhaupt eine Rolle? Vier Paare sprechen über ihren Beziehungsweg und darüber, welche großen und
kleinen Hürden gemeistert werden müssen.
8
9
Leben
VOM BESTEN FREUND ZUM FESTEN FREUND
Die Teenager-Zeit: Erwachsenwerden und das erste Mal in seinem Leben verliebt sein. Das ist für jeden etwas ganz Neues. Es scheint, als gehöre die
ganze Welt dir. Doch man muss auch lernen, diese
Gefühle einzuordnen und damit umzugehen. So
ging es auch Nicolas (17) und Conni (16). Die zwei
kennen sich aus der Schule. Aus ihrer anfänglichen
Freundschaft wurde irgendwann mehr und so war
die beste Freundin auf einmal die feste Freundin,
der beste Freund wurde zum festen Freund. „Ich
bin Conni lange hinterher gelaufen. Sie war noch
mit ihrem damaligen Freund zusammen, aber
sie hatte auch Gefühle für mich. Sie konnte sich
einfach nicht entscheiden. Wollte niemandem
wehtun. Aber letztendlich hat sie dann die richtige Wahl getroffen. Das war im Juni 2015“, erzählt
Nicolas mit einem Grinsen.
Dass es so lange gedauert hat, bis sie zusammengekommen sind, führen die zwei auf viele unnötige Streitereien zurück: „Oft waren das einfach
nur blöde Missverständnisse, die durch WhatsApp
oder ähnliches entstanden sind. Die Emotionen
kommen da einfach nicht richtig rüber. Ich finde
man kann auch leichter aufeinander böse sein.
Man versteckt sich in einer gewissen Weise hinter
seinem Handy“, erzählt Conni. „Da muss ich ihr
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Conni über Nicolas: „Das Gesamtpaket
macht ihn aus. Einfach alles. Er ist witzig,
charmant und gutaussehend.“
Recht geben. Wenn ich ihre Stimme höre oder
ihr gegenübersitze kann ich viel schlechter auf sie
sauer sein. Dann dauert es nur ein paar Minuten
und ich nehme sie in den Arm und alles ist halb
so schlimm. Das hätte damals vieles erleichtert“,
steuert Nicolas bei.
Wenn eine Lösung des Problems nicht immer sofort parat ist, dann kommt die Empathie ins Spiel.
Man muss dem Partner zuhören und ihm geben,
was er braucht. Das ist nicht immer leicht, weiß
Nicolas: „Empathie ist eine Gabe, die nicht jeder
hat. Ich tu mich da manchmal schwer. Ich bin sehr
lösungsorientiert. Ich versuche immer, ein guter
Zuhörer zu sein und dann kann ich ihr auch das geben, was sie in dem Moment braucht. Das ist aber
nicht immer eine Lösung. Manchmal reicht es,
wenn ich sie einfach in den Arm nehme.“ Conni
sieht das etwas anders: „Ich bin nicht so lösungsorientiert wie Nicolas. Ich kann manche Sachen
auch einfach mal so stehen lassen und gucken, wie
sich das Ganze entwickelt. Man kann nicht immer
eine Lösung finden. Ich denke aber auch, dass ich
eine gute Zuhörerin bin und ich frage dann oft
nach, wie er das genau meint. Manchmal kommt
er dann ganz alleine auf eine Lösung.“
Besonders als Teenager ist die Balance zwischen
den Freunden und der Beziehung sehr schwierig. Auf der einen Seite möchte man viel Zeit mit
seinem Schwarm verbringen, auf der anderen
Seite hat man auch noch Freunde, die man nicht
vernachlässigen möchte. Dann kann leicht etwas auf der Strecke bleiben.
Doch muss man sich dann immer sofort zurücknehmen für den Partner? Nicolas: „Ich finde, das
ist ein schmaler Grad zwischen Egoismus und
Selbstbewusstsein. Es kommt auf das Maß an.
Zwar bin ich schon selbstbewusst, aber es kommt
auch immer darauf an, ob Conni mit meiner
Entscheidung leben kann. Wenn ich weiß, dass
sie das in dem Moment nicht glücklich macht,
würde ich mir diesen Vorteil nicht daraus ziehen.
Dann würde ich mich auch schonmal zurücknehmen.“ „Ich finde aber, dass wir sehr viel zusammen
machen und dann ist es ja nicht schlimm, wenn
wir uns mal einen Abend nicht sehen und was mit
Freunden machen. Wenn man sich ein paar Tage
hintereinander nicht sieht, hat man auch wieder
Gesprächsstoff, über den man mit dem Partner
reden kann. Aber wenn dieser eine Abend natürlich unsere letzte Chance wäre, uns noch einmal
zu sehen und danach dann für eine lange Zeit
nicht mehr, dann ist das was anderes. Dann würde
ich lieber was mit Nicolas machen als mit meinen
Freunden“, erklärt Conni.
Nicolas über Conni: „Ich liebe ihre
Haare. Aber auch ihre ganze Art: Sie ist
immer so lieb und ein fach total lustig.
Wir necken uns auch ab und zu. Das
wäre sonst ganz schön langweilig. Ich
glaube die Mischung macht sie ziemlich
perfekt.
Aber kann man auf Dauer glücklich werden, wenn
die Freunde irgendwann zu kurz kommen würden?
Da sind sich beide einig: „Das kann nicht gutgehen. Die Beziehung würde uns auf die Dauer nicht
mehr glücklich machen. Man tut dann quasi dem
Partner etwas Gutes, aber man selbst möchte ja
lieber etwas anderes. Wir unternehmen gerne etwas mit unseren Freunden. Versuchen das auch ab
und zu miteinander zu verbinden, dass wir zusammen irgendwo mit Freunden hingehen.“
Im Laufe einer Beziehung erkennt man immer
mehr, ob der Weg, den man gerade geht, auch
der richtige für sich und seinen Partner ist. Manchmal braucht es etwas Zeit diesen Weg zu finden
- manchmal geht man ihn von Anfang an richtig,
aber es kann auch sein, dass man ihn nie richtig
findet und die Beziehung daran scheitert.
Conni und Nicolas haben ihren richtigen Weg
noch nicht ganz gefunden: „Wir versuchen eigentlich immer die goldene Mitte zu treffen, die für uns
beide okay ist. Vielleicht müssen wir einfach noch
öfter herausfinden, was der andere genau will.
Bisher war unser Weg gut – mit ein paar Verbesserungsmöglichkeiten. Wenn wir daran arbeiten,
aber bei allem anderen so weiter machenwie
bisher, dann kann es ja nur eine perfekte Zukunft
werden“, sagt Nicolas.
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Leben
„WENN MAN SICH VERLIEBT, DANN IST DAS HALT SO“
Pat und Sebastian sind seit zwei Jahren ein Paar. Sie haben sich über ein Schwulen-Dating-Portal
kennen- und lieben gelernt. Pat (26) ist Student und hat seinen eigenen Youtube-Kanal, Sebastian
(38) betreibt ein Reisebüro und eine Event-Location.
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13
Leben
Wie seid Ihr zusammengekommen?
Pat: Es war ein bisschen komplizierter bei uns.
Ich war 8 Jahre in einer Beziehung und Sebastian
sogar 15 Jahre. Also wirklich lange. Ich bin dann
mit meinem Exfreund, seiner Mutter und meiner
besten Freundin auf einen Hof gezogen, hier in
der Nähe.
Sebastian: Dann haben wir uns aber über dieses
Schwulen-Online-Portal kennengelernt, weil er
mir in meiner Nähe angezeigt wurde und darüber
hinaus sind wir zusammengekommen.
Glaubt Ihr, dass Ihr eine andere Beziehung habt
als Heterosexuelle?
Pat: Nein. Ich finde, dass es bei anderen Schwulen
oft anders ist, als bei Heterosexuellen. Aber bei
uns nicht. Wir kennen zum Beispiel auch ein anderes schwules Paar, das führt eine offene Beziehung.
Das gibt es ja auch bei Heterosexuellen, aber das
käme für mich nicht in Frage.
Wer hat denn bei Euch die Hosen an?
Sebastian: Ja, das ist eine gute Frage (beide
lachen).
Pat: Ich glaube, Sebastian hätte sie gerne an
(lacht). Aber ich sage immer zu ihm, wenn er die
Tür vom Büro zumacht um 18:30 Uhr, dann ist
das Chef-Dasein vorbei. Er ist ja nicht mein Chef.
Irgendwann hat er dann auch mal Feierabend.
Sebastian: Ich glaube, das ist bei uns wie in einer
klassischen Beziehung. Ich habe eigentlich die
Hosen an.
Pat: Du hast sie schon an, aber nur ein bisschen
mehr als ich.
Sebastian: Aber die Frau – also ich meine Pat
(lacht) – hat ja in einer heterosexuellen Beziehung
auch meistens die Hosen an. Der Mann meint nur
oft, dass er die Hosen anhat. Aber die Frau lenkt
und entscheidet eigentlich.
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Nehmt Ihr Euch für den anderen zurück?
Pat: Ja. Ich finde, dass wir das beide extrem
machen. Da passen wir uns immer dem anderen
an. Zum Beispiel war es einmal so, dass wir einen
Spieleabend geplant hatten bei Freunden. Da
wollte Sebastian dann aber nicht mit hin, weil er
keine Lust mehr hatte. Ich war dann aber ein bisschen pissig, weil ich mich so darauf gefreut hatte.
Dann ist er letztendlich doch mitgegangen und er
fand es gut.
Pat über Sebastian: „Ich fühle mich bei
ihm so geborgen. Er ist wie ein Aufpasser
für mich. Ich kann mit ihm reden und er
ist immer verständnisvoll. Ich liebe seinen
Humor und natürlich sieht er gut aus. Und
ich kann von ihm noch sehr viel lernen.“
Gibt es bei Euch eine klassische Rollenverteilung?
Pat: Auf jeden Fall. Ich bin bei uns die Frau in der
Beziehung. Schon alleine von den Interessen her
und auch beim Verhalten.
Sebastian: Man merkt das besonders, wenn ich
zum Beispiel sage, dass irgendwas besser aussieht
als das andere und er entgegnet dann: „Wie? Das
andere hat dir nicht gefallen?“. Aber das meinte
ich dann ja gar nicht so.
Seid Ihr eifersüchtig?
Pat: Oh scheiße. Da breche ich jetzt besser ab
(lacht).
Sebastian: Da fragen wir am besten Pat. Ich bin
sicherlich auch eifersüchtig, aber auf einem relativ
niedrigen Niveau.
Pat: Naja. Das hat sich aber auch geändert. Vor
einem Jahr hast du noch geguckt, wen ich auf Instagram like und wenn das mal ein Typ mit freiem
Operkörper war, dann hast du mich direkt drauf
angesprochen. Und das ist jetzt nicht mehr so. Ich
bin dafür jetzt eifersüchtiger.
Schränkt das nicht ein, wenn man nur Kompromisse eingeht?
Sebastian: Nein. Ich denke eine Beziehung ist
immer ein Kompromiss und solange man sich
nicht komplett verbiegen muss, ist das auch in
Ordnung. Jemand, der in einer Beziehung keine
Kompromisse eingeht, kann auf Dauer nicht glücklich sein.
Ist Euer Weg der richtige?
Sebastian: Ich finde ihn gut so. Was ich aus meiner
letzten Beziehung gelernt habe ist, dass man Berufliches und Privates trennen sollte. Mein Ex hat
eine zweite Filiale meines Reisebüros geleitet. Und
wenn man dann mit seinem Partner nur noch über
die Arbeit spricht, dann kommt es viel leichter zum
Streit. Wir haben uns teilweise nur noch über berufliche Dinge gestritten, über Sachen die im Büro
passiert sind und gar nicht privat.
Sebastian über Pat: „Ich mag seine Herzlichkeit sehr und dass man in schwierigen Situationen offen mit ihm darüber reden kann.
Ja, und natürlich mag ich sein Aussehen.“
Pat: Das stimmt. Ich mochte meine Beziehung davor aber auch total. Mein Ex-Freund und ich sind
heute noch beste Freunde. Er ist mir auch immer
noch genauso wichtig. Aber die Beziehung war
zum Schluss nur noch Freundschaft. Ich finde aber
auch, dass Seb und ich uns viel ähnlicher sind als
mein Ex und ich. Wir sind viel alberner zusammen.
Das finde ich bei ihm so toll, obwohl er ja schon 38
ist. Und mein Ex war nur ein Jahr älter als ich.
Hat der Altersunterschied irgendwann mal eine
Rolle gespielt?
Pat: Das war am Anfang die größte Hürde für
mich. Ich dachte immer schon, dass 38 ganz schön
krass ist. Aber dann hab ich auch wieder gedacht,
dass das Alter ja eigentlich keine Rolle spielt.
Wenn man sich verliebt, dann ist das so. Man muss
sich ja gut verstehen. Aber zum Beispiel war es mir
vor seinen Eltern unangenehm, dass ich Student
bin. Seb steht mitten im Leben: Er hat ein Haus
gebaut, leitet zwei Reisebüros und hat einen festen Job. Und ich als Student habe sozusagen noch
nichts erreicht.
Sebastian: Natürlich habe ich am Anfang auch darüber nachgedacht. Aber das war für mich leichter
als für Pat. Ich war ja mit allem schon fertig. Ich
stehe mit beiden Beinen im Leben und dann ist es
ja egal, was der andere macht. Ob er studiert oder
sonst irgendwas macht.
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Leben
„LIEBE IST ÜBERALL GLEICH“
Léna (21) und Tobias (21) lernten sich in Köln in einer WG kennen, in der sie später auch zusammengewohnt haben. Sie sind seit zehn Monaten ein Paar. Léna ist gebürtige Französin und kam 2014 durch das
Austauschprogramm ERASMUS nach Deutschland. Sie hat deutsche Wurzeln - ihre Großeltern wohnen
in Berlin. Tobias ist für sein Studium an der Sporthochschule nach Köln gezogen.
Léna spricht nahezu perfekt Deutsch und das hat sie unter anderem auch Tobias zu verdanken: „Tobi
muss mir noch so viel erklären. In Deutschland ist schon einiges anders als in Frankreich. Das fängt bei
den Feiertagen an und hört bei wichtigen Dokumenten auf.“
Andere Länder, andere Sitten. Aber ist die Liebe überall gleich? „Ja, Liebe ist überall gleich. Man sagt
zwar, dass die Franzsosen so romantisch sind und ich lege da auch sehr viel Wert drauf, aber Tobi kann
genauso romantisch sein. Vielleicht macht er das auch nur, weil er weiß, dass ich darauf so achte“, meint
Léna. Tobias stimmt zu: „Die Franzosen sind auch sehr gastfreundlich. So wurde Léna aber auch erzogen. Wir Deutschen sind da eher praktisch veranlagt, so sagt das Léna zumindest immer.“
Léna kannte damals noch niemanden in Deutschland außer ihre Großeltern als sie ihr Erasmus-Jahr
gestartet hat. Dann kam Tobias und sie hat sich sofort in ihn verliebt. Unternimmt man dann automatisch
mehr mit dem Partner und vernachlässigt somit die neugewonnenen Freunde? Tobias: „Ich nehme mich
definitiv zurück. Wenn sie zu Hause bleiben will, ich will aber eigentlich feiern gehen, dann bleibe ich
auch zu Hause, wenn es Léna damit nicht gut geht. Aber oft sagt sie auch, dass ich gehen soll und sie
macht dann was mit ihren Erasmus-Freundinnen. Wir gehen aber auch viel zusammen raus.“
Léna über Tobias: „Er ist einfach immer gut gelaunt und unternehmungslustig. Er kuschelt
gerne und ist sehr taktvoll. Ich mag an ihm, dass er so sportlich ist und ich merke einfach
immer wieder, dass das sein Element ist. Das finde ich beeindruckend.“
Tobias über Léna: „Ich mag ihre süße Art, ihren Humor und ihre Denkweise. Sie ist sehr
tough und ist auch immer gut gelaunt, obwohl sie morgens schlecht aus dem Bett kommt.“
„Meistens hat er aber auch keine Lust auf Feiern, wenn ich keine Lust habe. Oder andersrum. Dann stellt
sich die Frage gar nicht“, erzählt Léna. Beide tun aber auch Dinge, die der Partner gerne macht und
man selbst in dem Moment nicht so sehr. Tobias macht mit Léna einen Tanzkurs und Léna geht dafür
mit zum Fußballgucken. Dadurch gibt es zwischen den beiden ein Gleichgewicht. Doch wann ist eine
Grenze erreicht? Tobias: „Wenn eine Seite zu dominant wird. Oder aber auch zu rücksichtsvoll wird. Man
muss ja auch mal sagen können, dass man etwas will oder eben nicht.“
Hat man denn eine andere Beziehung, weil man aus zwei verschiedenen Ländern kommt? „Ja, ich
glaube schon. Er muss mir noch sehr viel erklären. Das schweißt zusammen. Man kann sich auch mehr
austauschen. Dadurch lernt er mein Land kennen und ich seins. Ich nehme Tobi auch oft mit nach Frankreich, wenn ich meine Eltern besuche. Wir machen dann viele kulturelle Sachen, damit er weiß, woher
ich komme“, erklärt Léna.
Wenn man aus verschiedenen Ländern kommt hat man auch oft andere Vorstellungen von einer Beziehung. Jedoch Tobias und Léna nicht. Sie haben ihren Weg sehr schnell gefunden sagen die zwei: „Unser
Weg ist auf jeden Fall der richtige. Es gibt auch mal Kompromisse, die man eingehen muss. Aber das ist
in jeder Beziehung so. Das Besondere in unserer Beziehung ist, dass wir uns die ganze Zeit noch nicht
einmal gestritten haben. Und das, obwohl wir ja immer zusammen gewohnt haben. Im Moment leben
wir in der WG in einem kleinen Zimmer zusammen. Das ist eine große Herausforderung. Aber bis jetzt
funktioniert das. Jeder verändert sich, aber wir verändern uns auch zusammen und so groß kann der
Spalt zwischen uns gar nicht werden, dass das mal nicht mehr klappen sollte.“
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Leben
DIE JUGENDLIEBE GEHEIRATET
Roswitha und Herbert kennen sich seit 50 Jahren
und sind 48 Jahre verheiratet. Im Leben der beiden Rentner gab es nie einen anderen Partner. Sie
haben zwei Kinder und zwei Enkelkinder.
Wie hat es zwischen Euch gefunkt?
Herbert: Ach, immer schon (er lacht).
Roswitha: Man hat sich mit den Cliquen getroffen und dann hat man sich nett gefunden. Wir
kennen uns seit der Schule. Gefunkt hat es dann
als Teenager. Herbert waren 19 und ich 16. Dann
ging man in „Humperts Häuschen“. Das war so
ein Türvorstand mitten im Dorf. Da war man vor
Kälte und Regen geschützt und auch vor neugierigen Blicken. Irgendwann ist Herbert dann
mit zu meinen Eltern gekommen und er musste
sozusagen um Erlaubnis bitten, dass er mit mir
zusammen sein durfte. Später sind wir dann auch
ab und zu zusammen ausgegangen. Ins Kino zum
Beispiel. Da liefen dann Western-Filme. Das war
wirklich was Besonderes. Oder man fuhr mit den
Freunden in ein Nachbardorf zum Tanzen. Da hing
dann auch die silberne Kugel an der Decke und es
wurde getanzt.
Gab es jemals Eifersucht bei Euch?
Roswitha: Früher gab es das. Das ist aber auch
normal. Das muss auch alles noch lebendig bleiben, sonst würde es langweilig.
Herbert: Man muss ja hin und wieder auch nochmal gucken dürfen. Aber letztendlich stellt man
dann immer fest, dass es zu Hause doch richtig ist.
Glaubt Ihr an Seelenverwandtschaft?
Herbert: Ja, da haben wir schon oft drüber gesprochen. Es ist meiner Meinung nach auch vorbestimmt, welche Menschen zusammen gehören.
Könnt Ihr Euch in den Anderen hineinversetzen?
Roswitha: Ja, beide. Aber auch schon von Anfang
an. Es hat einfach gepasst.
Herbert: Es kommt wirklich manchmal vor, dass ich
genau das sagen wollte, was Roswitha gesagt hat.
Oder dass ich das Gleiche gedacht habe. Das ist
manchmal unglaublich.
Hattet Ihr schonmal einen richtig großen Streit?
Roswitha: Selbstverständlich. Das wäre auch nicht
normal, wenn man sich nicht mal streiten würde.
Dann haben wir auch schonmal eine halbe Stunde nicht miteinander geredet. Früher, wenn die
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Männer dann in der Wirtschaft geblieben sind und
nicht pünktlich zum Essen nach Hause gekommen
sind. Das war mir mit Sicherheit nicht recht. Aber
eigentlich bin ich da ziemlich tolerant.
Herbert: Ich hatte nie einen Grund, sauer auf dich
zu sein (er lacht). Nein, man darf und muss auch
verschiedene Meinungen haben. Es darf aber
nicht in einem großen Streit ausarten, den man
dann drei Tage aussteht. Abends muss alles wieder gut sein.
Müsst Ihr Euch zurücknehmen für den Anderen,
damit er glücklich ist?
Roswitha: Wir machen viele Sachen gemeinsam,
weil wir die gleichen Interessen haben.
Herbert: Manchmal muss man sich aber auch für
einen Teil entscheiden. Es ist wichtig, dass man
auch mal was alleine macht.
Roswitha: Natürlich. Man muss da ein Gleichgewicht finden. Herbert macht auch mal Sachen für
sich. Er geht zum Schwimmen oder in die Sauna
und ich gehe dann zu einem Handarbeits-Workshop oder zu meinen Nachbarinnen.
Roswitha über Herbert: „Ich habe das Gefühl, dass ich Herbert einfach brauche, wie er
ist. Er war immer schon sehr aufmerksam.“
Herbert über Roswitha: „Roswitha ist ein
fröhlicher Mensch. Sie verstellt sich nicht. Das
schätze ich so an ihr.“
War und ist Euer Weg immer der richtige?
Herbert: Auf jeden Fall. Wie gesagt, man muss
gucken, ob die Blümchen überall gleich sind, aber
zu Hause ist es doch am schönsten.
Roswitha: Ich würde es immer wieder so machen.
Es hat einfach gepasst bei uns. Wir ergänzen uns
und das ist das Schönste.
Was wünscht Ihr Euch für die Zukunft?
Herbert: Ich wünsche mir, dass wir noch viele schöne Jahre verbringen können. Dass wir noch etwas
erleben können, was uns beiden Spaß macht.
Roswitha: Es ist so wichtig, dass man noch Pläne
hat. Man wird im Alter immer eingeschränkter
durch die Gesundheit. Ich habe da wirklich Angst
vor, dass es irgendwann nicht mehr geht. Wir freuen uns über die Sachen, die wir noch zusammen
machen können und unsere Familie ist uns auch
enorm wichtig. Ohne die geht es nicht.
19
Leben
Sprachunterricht für ausländische Studenten
„Ganz im Gegenteil!“
Stefan Ruch unterrichtet seit 30 Jahren Deutsch für Ausländer am Sprachenkolleg in Freiburg. Er weiß viel über die Probleme der Studenten – und auch
darüber, wie man sie löst.
BOLOR-ERDENE NARANKHUU
Wenn Sie schätzen müssten: Wie viele Ausländer haben Sie bisher unterrichtet?
Ich habe mein Examen 1985 gemacht und habe auch schon während meines Studiums Deutsch für Ausländer unterrichtet. Ich hatte selber mit einigen Mitstudenten hier in Freiburg eine Sprachschule gegründet und bin dann auch ins Ausland
gegangen, um dort eine Weile zu unterrichten. Wenn ich jetzt zusammenzähle,
wie viele Studenten ich in meinem Leben unterrichtet habe, dann komme ich so
schätzungsweise auf 3000. Ich kann es nicht so genau sagen. Aber es bewegt sich
zwischen 2000 und 3000.
Für manche Menschen wäre es schwierig, jeden Tag mit Ausländern zu kommunizieren, die fast kein Deutsch können. Fällt Ihnen Ihr Beruf manchmal schwer?
In meinem speziellen Fall ist es ein bisschen anders, weil ich hauptsächlich die
C1-Klasse unterrichte. Ich unterrichte eigentlich Menschen, die schon recht gute
Sprachkompetenzen haben. Ich bin auch als Fachleiter und Direktor von der Schule tätig. Deswegen habe ich natürlich andere Aufgaben, nicht nur den Unterricht.
Und für mich ist das zur Normalität geworden. Also fällt mir das nicht schwer und
macht mir auch Spaß, mit Menschen aus anderen Ländern Kontakt zu haben. Es ist
manchmal schwierig, wenn es nicht geht. Dann versuchen wir es auf Englisch. Das
klappt auch nicht immer. Wenn es auch nicht geht, dann probiere ich es mal auf
Spanisch oder auf Französisch. Manchmal gibt es eben auch Leute, deren Sprache
ich nicht spreche und die auch meine Sprache nicht sprechen. Dann gibt es keine
Lingua Franca mehr (lacht) und dann wird es schwierig. Und dann müssen wir Übersetzer holen. Wir haben genügend Studenten, die dolmetschen können.
Gibt es Nationalitäten, die Deutsch wirklich schneller lernen können als
andere?
Ich sage es umgekehrt. Es gibt Nationalitäten, die große Schwierigkeiten haben.
Es ist natürlich, wenn man zum Beispiel Thailändisch spricht, erheblich schwieriger
Deutsch zu lernen, als für einen Franzosen oder einen Engländer, weil die Sprachsysteme so unterschiedlich sind. Auch die Grammatik ist unvergleichbar fremd.
Und das dauert eben länger.
Leuten, die aus verschiedenen Ländern kommen und verschiedene Mentalitäten besitzen, Deutsch beizubringen, ist bestimmt nicht einfach. Wie wichtig ist
Empathie bei Ihrem Beruf?
Also erst mal ist natürlich Empathie für alle Menschen eine wünschenswerte Eigenschaft. Und es gibt auch Berufsbilder, die das mehr oder weniger verlangen. Es
könnte jetzt auch ein Arzt sein, der auch über Empathie verfügen sollte.
Und natürlich auch ganz besonders für Deutschlehrer. Wenn man nicht nur in der
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Leben
„Empathie ist für alle Menschen eine wünschenswerte Eigenschaft“
Schule mit Ausländern arbeiten oder mit Menschen, die mit mehr Schwierigkeiten als andere
konfrontiert sind, dann sollte man wissen, mit
welchen Problemen diese Menschen sich beschäftigen und welche Schwierigkeiten sie haben,
wo man sie abholen kann. Sich in den Kopf eines
anderen Menschen hineinzuversetzen, ist die Bedingung des Berufs.
Wie sollte man mit ausländischen Studenten
kommunizieren, auf was sollte man achten?
Also für viele Ausländer, die jetzt hier an unsere
Schule kommen, ins Sprachenkolleg kommen sind
wir die Schule und dann auch der Lehrer, der entsprechender Lehrer, ihre erste Anlaufstation. Also
das heißt, dass wir sind sehr oft gefragt sind nicht
nur als Deutschlehrer, sondern auch als Ratgeber.
Als jemand, der ihnen Hilfestellung leistet, weil sie
manchmal Schwierigkeiten haben, die sie gar nicht
verstehen können, welche durch die Fremdheit
der Kultur bedingt sind oder durch die unterschiedlichen Lebensweisen, durch Gesetzesfragen
oder Regeln die sie in ihrer Heimat nicht kennen
und sie können ja niemanden fragen, wenn sie
niemanden kennen.
Das heißt unsere Schule legt großen Wert darauf,
dass wir auch außerhalb des Unterrichtes ihnen
wirklich praktische Hilfeleistungen anbieten. Das
heißt an die Behörde einen Brief schreiben oder
beim Vermieter anrufen. Und das vermitteln wir
ihnen auch und bieten ihnen das auch an. Also wir
sagen ihnen dann schon wenn Sie Schwierigkeiten
haben, wenn Sie nicht weiterwissen, kommen Sie
bitte zu uns.
Gab es Momente, wo man ratlos war und nicht
wusste, wie man richtig kommunizieren sollte?
Ja natürlich. Manche Probleme konnten wir überhaupt nicht lösen. Also problematisch und auch
schwierig wird es dann, wenn es zum Beispiel um
Aufenthaltsgenehmigungen geht. Da haben wir
wenig Einfluss darauf. Also wir können natürlich
mit den entsprechenden Dienststellen wie Auslän-
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derbehörden verhandeln und haben auch unsere
Kontakte. Aber wir können es letztendlich nicht
wirklich beeinflussen. Und dann stoßen wir auch an
eine Grenze, wo wir nicht weiter handeln können.
Das wäre jetzt ein Beispiel.
Ein anderes Beispiel wäre, dass viele Schüler aus
unterschiedlichen Gründen hierher kommen und
hier dann auch nicht immer glücklich sind. Manche
werden vielleicht auch von ihren Eltern hierher
geschickt, obwohl sie es gar nicht wollen und so
jemandem kann man eigentlich nicht helfen. Da
ist dann schnell die Grenze erreicht und da muss
man dann auch als Lehrer zu sich selber sagen, das
mache ich jetzt nicht weiter, das betreibe ich jetzt
nicht weiter, ich kann mich davon nicht auffressen
lassen. Also wir unterrichten ja ziemlich viele Studenten und Schüler. Und wir müssen für uns selber
auch eine Grenze des Engagements finden. Sonst
kann man den Beruf nicht mehr ausüben.
Sich mit anderen Kulturen anfreunden, heißt
manchmal auch die fremde Kultur zu akzeptieren. Sollte man auch auf die eigene Mentalität
verzichten, um sich anzupassen?
Das halte ich für keine gute Idee. Ich bin der Meinung, wenn man ins Ausland geht, dann
versteht man seine eigene Herkunft
besser. Man beleuchtet sie kritischer, man hinterfragt auch die Regeln, auch die kulturellen Gewohnheiten aus denen man kommt. Also man
lernt sich dadurch wirklich besser kennen auch
sich als Mensch, durch den kulturellen und historischen und auch gesellschaftlicher Einfluss, der
eine Person ausmacht. Aber man soll sich in der
Fremde nicht anpassen. Anpassung würde ja bedeuten, dass man die eigene Identität verliert und
die behält man. Das ist auch gut so. Und das ist
auch eben für das fremde Land eine Bereicherung.
Also ich bin sehr dafür, dass die Ausländer, die
zu uns kommen so bleiben wie sie sind. Sowohl
als Menschen, als auch in ihre kulturellen, gesellschaftlichen Prägung so bleiben, wie sie sind. Die
„Das ist für die meisten Deutschen nicht leistbar sofort zu verstehen was der Hintergrund ist“
sollen sich an die Regeln, die hier herrschen,
gewöhnen. Das ist eine Bedingung, die das Zusammenleben erst ermöglicht. Aber von Anpassung halte ich gar nichts.
Manchmal reicht es nicht, wenn man über Kultur und Mentalität bescheid weiß, denn das
Verständigen hängt an erster Stelle von der
Sprache ab. Zum Beispiel kann ein Student
etwas “Böses“ sagen, obwohl er es eigentlich
nicht so meint. Was würden Sie in diesem Fall
Deutschen empfehlen?
Es gibt natürlich ganz viele Kleinigkeiten an
sprachlichen Missverständnissen. Ich mache
immer ein kleines Beispiel, wenn sie die deutschen Partikel falsch benutzen, also Wörter wie
„denn“, „eigentlich“ oder „doch“. Wenn sie
die an die falsche Stelle setzen oder wenn sie
sie auf eine für deutsche ungewohnte Weise
betonen, dann bekommen manche Sätze eine
völlig andere Bedeutung. Also wenn Sie zum
Beispiel sagen: „Wie heißen sie eigentlich?“
Vielleicht meinen sie das freundlich, weil sie gelernt haben, dass „eigentlich“ ein Höflichkeitspartikel ist.
Aber hätten sie es falsch betont, das würde
einen deutschen Hörer erst mal leicht erschrecken, warum die Frage so aggressiv klingt. Das
ist für die meisten Deutschen nicht leistbar, sofort zu verstehen, was der Hintergrund ist. Denn
dazu bräuchte man ja einigermaßen genügend
Erfahrung, den Grund des sprachlichen Missverständnis zu kennen. Deshalb kann ich Ihnen
da jetzt nicht viel Hoffnung geben. Also wenn
es keine geschulten Menschen sind, die mit
Ausländern ständigen Kontakt haben, und die
richtigerweise einschätzen können, woher diese
sprachlichen Missverständnisse resultieren, da
sie im Grunde überhaupt nicht böse gemeint
sind, sondern das Gegenteil ausdrücken wollten. Wenn man das nicht kennt und nicht hat
und sich nicht damit beschäftigt, dann glaube
ich nicht, dass es da viel Verständnis für gibt. Ich
glaube, von den meisten Deutschen ist da nicht
viel Verständnis zu erwarten.
Zumindest unsere Leser können dann dafür Verständnis haben.
Wenn das dazu beiträgt, dann wäre das schön.
Gab es lustige Momente, aufgrund der Kulturunterschiede und der unterschiedlichen Mentalität?
Ja, die gab es (lacht). Es gibt immer sehr
unterschiedliche Momente. Das Schöne ist in
dieser Klasse eigentlich, dass es so eine kleine
Welt ist, die sich zusammenfindet, also Menschen
aus der ganzen Welt. Und das macht diesen Beruf
spannend. Manche haben z.B sehr unterschiedliche Einschätzungen über ihre Sprachkompetenzen und vermitteln das auch. Wir hatten einmal
einen Koreaner. Er kam zu mir und nachdem ich
ihm gesagt habe, dass er die C1, also die höchste
Stufe leider nicht besuchen kann, meinte er, das
kann überhaupt nicht sein, weil er fühlt, dass er C1
ist (lacht). Also solche Nettigkeiten gibt es öfter
mal.
Gab es dann eine besondere Sitte, die von ausländischen Studenten entdeckt wurde?
Das gibt es natürlich. Es fällt mir auf, dass wir zum
Beispiel sehr viele asiatische Studenten aus Korea,
Japan, zur Zeit auch viele aus Thailand haben. Es
fällt mir schon auf, dass für diese Gruppe von Studenten die Sprache besonders schwer fällt. Aber
sie ertragen ihre Frustration und Niederlagen
mit großer Geduld. Davor habe ich ein großen
Respekt. Das ist vielleicht auch bedingt durch
ihren buddhistischen Hintergrund. Mir fällt auf,
dass es da so eine Leidensfähigkeiten gibt, welche
vielleicht (lacht) bei denen ausgeprägter ist als bei
einem Mitteleuropäer.
23
Leben
„Der Italianer singt den ganzen Tag und lacht. Das ist das nicht und derKoreaner ist zurückhaltend. Und das stimmt allerdings überhaupt nicht.“
„Es ist traurig, dass es so ist. Aber es Ist die Realität.“
Sie haben den Studenten bestimmt viel geholfen und beigebracht, konnten Sie dabei auch
selber etwas dazulernen?
Ja, viel.
man die direkte Art von Deutschen akzeptieren
muss und auch vielleicht verstehen muss, dass es
nicht als Unhöflichkeit verstanden werden soll. Das
entspricht eben dieser Mentalität. Ob einem das
gefällt oder nicht, das ist dahingestellt. Aber es ist
so. Und wenn Sie das Beispiel Pünktlichkeit anführen, dann weiß ich gar nicht ob das wirklich noch
stimmt (lacht). Also ich kenne auch ziemlich viele
unpünkliche Landesleute. Also da muss man bisschen vorsichtig sein, ob die immer die Fleißigsten
sind, das weiß ich auch nicht. Also Deutschen
Tugenden wie Pünktlichkeit, Fleiß und Gewissenhaftigkeit und so weiter. Auch das sind glaube ich
Vorurteile, die auf der anderen Seite die Ausländer
ein bisschen in Frage stellen sollten.
Zum Beispiel?
Ich mache den Beruf ja schon länger. Ich habe gelernt, das war für mich wohl das Wichtigste, dass
alle Menschen, die in mein Klassenzimmer kommen erst mal nur Menschen sind. Und das ich alle
Vorstellungen über fremde Kulturen und über alle
Vorurteile, die ich hatte, direkt über Bord werfen
konnte, weil ich festgestellt habe, es sind erst mal
nur Menschen und die sind überall gleich und es
gibt schon Unterschiede, die natürlich wie kulturell
geprägt sind. Aber unsere Vorurteile, die wir uns,
die wir mitschleppen.
Der Italiener singt den ganzen Tag und lacht. Das
tut er nicht (lacht) und der Koreaner ist zurückhaltend. Und das stimmt allerdings überhaupt nicht.
Also ganz im Gegenteil mache ich immer mehr
die Erfahrung, dass es genau immer der Gegenteil
ist, dass z.B gerade asiatische Studenten sich im
Unterricht mehr melden als andere. Da sie aufgeschlossen, neugierig sind und genauso gut gibt es
bei ihnen verschlossene, schüchterne, zurückhaltende Spanier, Italiener usw. Also das habe ich auf
jeden Fall gelernt, dass man mit den verbreiteten
Vorurteilen aufräumen muss. Das hat keinen Sinn.
erwartet. Und die Gründe dafür können verschieden sein. Also erstens, verspricht sich der deutsche Student oder die Deutsche Studentin von
dem Kontakt entweder einen Vorteil durch den
Erwerb von eigenen Sprachkenntnissen, also man
kann bisschen Spanisch sprechen oder bisschen
Englisch sprechen. Aber wenn jemand koreanisch
spricht, ist das für einen Deutschen Studenten erst
mal völlig uninteressant, weil er die Sprache gar
nicht lernen will, kein Interesse daran hat und auch
von der Kultur wahrscheinlich nichts versteht. Das
ist für ihn auch kein Zielland. Also da spielt der
Egoismus glaube ich eine große Rolle.
Also das ist bestimmt eine Gruppe von Studenten.
Auch von arabischen Studenten wird uns berichtet, dass es ihnen kaum noch gelingt, Kontakt zu
deutschen Mitstudenten zu bekommen. Es liegt
an dem Zeitgeschehen, dass es große Ressentiments gegen Muslime gibt, gerade auch gegen
muslimische Frauen – besonders dann, wenn sie
ein Kopftuch tragen oder ähnliches. Dann ist ein
Kontakt eigentlich gar nicht mehr möglich. Also
das hat mit der Sprache nichts zu tun, sondern es
sind politische Gründe einerseits, und andererseits
aber auch ganz egoistische Gründe. Welchen Vorteil verspricht man sich als deutscher Student von
dem Kontakt oder der Kommunikation mit einem
ausländischen Studenten? So sehe ich das. Es ist
traurig, dass es so ist. Aber es ist die Realität.
Viele ausländischen Studenten haben kein
Kontakt mit ihren Kommilitonen. Liegt es an der
Sprachbarriere?
Das liegt nicht an der Sprachkommunikation, sondern das liegt an anderen Dingen. Leider wurde
mir schon von dieser Erfahrung berichtet. Gerade
an der Universität wird uns immer wieder von asiatischen Studenten berichtet, dass sie fast keinen
Kontakt haben zu ihren Mitstudenten. Das wird mir
nie von einem Italiener berichtet, von einem Spanier oder von einem Amerikaner oder sonst was.
Aber das ist dann wirklich so, dass es schon eine
Ausländergruppe gibt, die ausgegrenzt wird. Auch
an der Uni, wo man das eigentlich am wenigsten
Auf welche Eigenschaften sollten ausländische
Studenten bei der Kommunikation mit Deutschen verzichten?
Das kann ich generell so nicht sagen. Das hängt
natürlich davon ab in welchen sozialen Umfeld
man sich bewegt. Was glaube ich generell für
Ausländer hier erstmal schwieriger ist, dass die
Deutschen sehr direkt sind. Also sie sind nicht
diplomatisch. Zum Beispiel ,wenn sie jemanden
kritisieren, ist die Kritik sehr direkt. Es ist nicht in
eine diplomatische Form gekleidet. Es wäre schön,
wenn Sie, und so weiter. Sie sagen das einfach. Ich
glaube das ist auf jeden Fall etwas, das man als
Ausländer hier erst einmal verstehen muss, dass
24
Viele denken, dass Ausländer zurückgehen und
für ihre Länder nützlich sein sollten. Aber was
ist mit denen, die kein Land haben? Oder mit
denen, die aus einem Land geflohen sind, in
dem Krieg herrscht? Wie denken Sie über das
aktuelle Thema Flüchtlinge überhaupt?
Ich kann das leider gar nicht verstehen. Erstmal
sind es traumatisierte, von Krieg und Armut
betroffene Menschen. Die Deutschen sollten sich
mal bisschen ihre eigene Vergangenheit erinneren.
Denn die Generation, also meine Eltern und Großeltern, waren im Zweiten Weltkrieg selber gezwungen, die Heimat zu verlassen, weil sie politisch in
diesem Land nicht mehr leben konnten. Und viele
mussten das machen, haben es auch gemacht.Und
Deutschland selbst ist auch kein Land der Deutschen. Also historisch gesehen waren wir schon
immer ein Einwandererland. Wir leben in der Mitte
Europas, in der Umgebung von vielen anderen
Ländern. Es kamen im 16.ten Jahrhundert französische Hugenotten und es kam im 19.ten Jahrhundert viele Polen. Und die haben natürlich alle
keinen deutschen Hintergrund. Und daran sollten
wir uns bitte mal erinnern, dass wir eine Nation
sind von vielen anderen Volkern. Und diesen deutschen Kern, den gibt es überhaupt nicht. Das ist
ein Märchen. Und im Augenblick ist die Weltlage
so, dass es auch Deutschland als Land nicht ganz
unschuldig an dieser Situation ist. Aber das ist
meine persönliche politische Meinung. Die Weltlage ist nicht gut. Viele Menschen sind gezwungen,
machen es auch nicht freiwillig, ihr Heimatland zu
verlassen.
Ich kann eigentlich keinen Unterschied feststellen
zwischen einem Syrer, der aus dem Bombenhagel
und der Zerstörung seiner Stadt nach Deutschland
flieht ,und einer Roma-Familie aus Rumänien, die
in bitterster Armut lebt und perspektivlos in Rumänien leben muss und auch ihr Leben irgendwie retten will. Also ich kann eigentlich jeden Menschen
verstehen, der sein Leben retten will. Deshalb bin
ich nicht dafür, dass man jetzt Ausländer aussortiert, die dürfen kommen und die anderen nicht.
Wir sind alles Menschen. Und Menschen wollen
ein menschenwürdiges Leben haben. Die Deutschen können das ganz gut ertragen. Wir sind
reich genug.
Auf der anderen Seite, das ist jetzt aber gar nicht
mein Argument. Aber wird von ja Politischer Seite
auch immer wieder ins Feld geführt, dass Deutschland ein Land ist, dass recht kinderslos sei und
sozusagen durch Fremdes... Ich finde das Wort
schrecklich... durch fremdes Human, Capital, die
deutsche Wirtschaft auf die Ausländer angewiesen
ist. Das wäre jetzt nicht mein Argument. Aber das
klingt ja wie eine Rechtfertigung, dass wir andere
trotzdem rein lassen sollten. Aber erstmal denke
ich, dass alle Menschen die Hilfe brauchen, diese
bekommen sollten. Egal woher sie kommen. Ob
sie Syrer sind, ob sie arme Menschen aus RomaFamilien sind, was weiß ich, das spielt keine Rolle
für mich.
25
Neugierig auf fremde Kulturen
„Wir holen uns die Welt ins Haus“
Wie eine Akademiker-Familie schon seit Jahrzehnten den Menschen
hilft, die nach Deutschland kommen.
von BOLOR-ERDENE NARANKHUU
Es ist unmöglich, von ihnen ein JA zu bekommen,
wenn Familie Meier NEIN gesagt hat. „Nein“heißt
eben „Nein“ bei den Deutschen. Ulrike Meier und
ihr Ehemann Friedmut Meier, sind eine deutsche
Akademiker-Familie. Er arbeitete bis zur Pension
als Professor, sie ist Psychotherapeutin. Von den
Möbeln bis zum Besteck auf dem Tisch - alles bei
ihnen ist einfach akkurat. In ihrem Haus herrscht
Ordentlichkeit, Treffen starten bei ihnen pünktlich.
Selbst die vielen Postkarten aus allen Ecken der
Erde sind schön sortiert in einer sauberen grauen
Schachtel. Sie sind Zeugnis eines besonderen
Engagements: Seit Jahrzehnten kümmern sich die
Meiers um ausländische Studenten in Deutschland. Und können viel darüber erzählen, wie es ist,
Menschen aus fremden Kulturen an Deutschland
zu gewöhnen.
Wann hat eigentlich Ihr Kontakt mit Ausländern
begonnen?
Als Studenten waren wir beide Mitglieder in Ausländergruppen. Später haben wir mit Familien aus
anderen Ländern Europas Haustausch gemacht.
Was kann man machen, damit sich ausländische
Studierende hier in Deutschland wohl fühlen?
Viele ausländische Studierende kommen aus
Großfamilien mit ganz vielen Kontakten zu anderen Familienmitgliedern. Wenn Sie dann in
Deutschland studieren, sitzen sie plötzlich ganz
llein in einem kleinen Studentenzimmer. Das ist für
viele schwer. Wir können und wollen die Großfamilie nicht ersetzen, aber wir können den Studierenden helfen, sich hier etwas wohler zu fühlen.
Deshalb laden wir sie öfter ein zu Gesprächen, zu
26
gemeinsamen Mahlzeiten oder zu kleinen Ausflügen. In der Vorweihnachtszeit backe ich mit allen
Studierenden deutsche Weihnachtsplätzchen.
Später dekorieren wir die Wohnung weihnachtlich
mit echten Kerzen und probieren alle Plätzchen.
Manchmal wünschen sich die Studierende, etwas
mehr über die deutsche Küche zu erfahren. Ein
Deutschlehrer aus dem Senegal sagte uns einmal:
„In dem Schulbuch für meine Schüler stehen deutsche Gerichte wie „Bratwurst mit Sauerkraut“. Ich
weiß überhaupt nicht, was das ist.“ Da habe ich
ihm all die Gerichte gekocht, die in seinem Schulbuch als typisch deutsch genannt wurden.
Wie können Sie das Erlernen der deutschen
Sprache fördern?
Eine Sprache lernt man, indem man spricht. Wir
geben den Studierenden keinen Sprachunterricht.
Dazu sind besondere Schulen da. Aber wir versuchen, viel mit ihnen auf der Small-Talk-Ebene zu
sprechen. Da lernen sie so ganz nebenbei, wie
man Menschen begrüßt, sich bedankt oder
Fragen stellt. Wir leihen ihnen auch Bücher aus.
Je nach ihrem Können bekommen sie Bilderbücher, Kinderbücher, Comics, Frauenzeitschriften
oder Romane. Wenn die Studierenden noch nicht
viel sprechen können, biete ich ihnen an, dass sie
jeden Tag einige wenige Zeilen darüber schreiben,
was sie an dem Tag gemacht haben. Nachdem
diese Zeilen korrigiert worden sind, werden sie in
ein Buch geschrieben und dekoriert mit Fotos, Ansichtskarten, Eintrittskarten, eigenen Zeichnungen
oder was ihnen sonst zu diesem Thema einfällt.
So entsteht ein kleines Erinnerungsbuch über ihre
erste Zeit in Deutschland. Im vorigen Jahr besuch-
27
Leben
„Die deutsche Mülltrennung ist eine große Herausforderung für alle.
Da haben wir schon oft Schwierigkeiten und ausländische Studierende erst recht.„
te uns eine Frau aus Kasachstan, die vor 20 Jahren
bei uns war. Sie brachte ihr Erinnerungsbuch mit
und wir konnten uns gemeinsam darüber freuen,
was wir vor 20 Jahren erlebt haben.
Sie machen jedes Jahr eine Weihnachtsparty.
Kommen da auch Studenten?
Zu unserer Weihnachtsparty laden wir alle unsere Freunde und Bekannten ein. Dann kommen
ungefähr 40 bis 60 Personen. Jeder bringt etwas
zu essen mit. Es gibt ein Buffet für süße Sachen
wie Gebäck und Kuchen und ein Büffet für salzige
Sachen wie Salate und Fleischgerichte. Zu diesem Fest sind die Studierenden sehr willkommen.
Meist bringen sie ein Gericht aus ihrem Land mit.
Auch Studentinnen, die schon lange nicht mehr
bei uns wohnen, kommen dann vorbei. Ich warte
jedes Jahr auf eine Chinesin, die Obst so bearbeiten kann, dass kleine Figuren daraus entstehen.
Ihr Kunstwerk wird dann der
Mittelpunkt des süßen Buffets. Wir hatten auch
schon eine ukrainische Hochzeitstorte, Fleisch
mit süß-saurer Soße, besondere Salate und vieles
mehr. Auf der Party werden Weihnachtslieder in
verschiedenen Sprachen gesungen.
Haben Sie auch Kontakt zu den Familien der
Studenten?
Kommen Studierende aus Europa, werden sie
häufiger von ihren Eltern besucht. Dann haben wir
auch Kontakt zu ihnen. Schon zweimal haben wir
eine Hochzeit für eine Studentin organisiert und
dabei natürlich mehrere Verwandte kennengelernt.
Manchmal kommen die Studierenden, nachdem
sie in ihrem Heimatland einen Beruf ergriffen
haben, noch einmal zurück und bringen ihre Eltern
oder ihre Partner mit. Sie möchten ihren Verwandten zeigen, wo sie früher gelebt haben.
Gibt es auch deutsche Regeln, die schwer zu ver-
28
mitteln sind?
Die deutsche Mülltrennung ist eine große Herausforderung für alle. Da haben wir schon oft
Schwierigkeiten und ausländische Studierende
erst recht. In unserem Haus gibt es fünf verschiedene Möglichkeiten, Müll zu entsorgen: Glas,
Papier, Plastik, Ökomüll und der Restmüll werden
über verschiedene Behälter entsorgt. All diese
Behälter müssen unterschieden werden und für
das, was hereinkommt gibt es so viele Wörter,
die die Studierenden in ihrem Deutschunterricht
meist noch nie gehört haben. Auch nach einer
gründlichen, sehr praktischen Einführung wird oft
noch etwas verwechselt. Das ist aber kein böser
Wille. Denn diese strikte Trennung entspricht nicht
den Gewohnheiten der Studierenden in ihrem
Heimatland. Über die Mülltrennung müssen wir
meist mehrmals sprechen. Doch zum Schluss hat
es jeder gelernt.
Man kennt viele Klischees über Ausländer. Wie
zum Beispiel, dass alle Asiaten zurückhaltend
sind oder dass alle Moslems aggressiv sind. Wie
gehen Sie damit um?
Je weniger man Menschen aus einer anderen
Kultur kennt, um so eher greift man auf ein Klischee oder Vorurteil zurück. Vorurteile vereinfachen die Welt und geben eine erste Orientierung.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass diese
Klischees immer seltener zutreffen, wenn wir viele
Menschen aus einem Kulturkreis kennenlernten.
Dann entdecken wir, dass sie uns doch sehr ähnlich sind. Wenn eine chinesische Studentin nachts
weint, weil sie Probleme mit ihrem Freund hat,
hängt das nicht von ihrer Kultur ab. Auch wir Deutschen würden uns so verhalten. Wenn jemand
nach einer bestandenen Prüfung laut jubelt, ist das
auch nicht mit seiner Kultur zu erklären, sondern
ganz einfach menschlich.
Sie machen so viel für ausländischen Studieren-
de. Haben Sie besonders viel Empathie?
Der Begriff Empathie kommt aus den USA und
meint so viel wie die deutschen Begriffe: Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, Verstehen und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Das sind
alles sehr positive Eigenschaften, für mich schon
fast zu positiv. Wir sind keine besonderen „Gutmenschen“. Wir suchen den Kontakt zu ausländischen Studierenden, nicht weil wir gut sein wollen,
sondern weil wir neugierig sind.
Neugierde ist im Vergleich zur Empathie schon
fast ein negativer Begriff. Können Sie das erklären?
Es ist nicht so einfach, das zu erklären, aber ich
möchte es Ihnen zeigen. Kommen Sie mal mit.
(Wir verlassen die Küche, gehen in ein anderes
Zimmer, in dem Frau Meier vor einem großen
Blumenbild aus verschiedenen Blautönen stehen
bleibt und sich dann wieder zu mir wendet.)
Sie kennen dieses Bild, denn Sie haben es selbst
gemalt. Ich habe es gerahmt und ihm einen
Ehrenplatz in unserem Haus gegeben. Warum
ist dieses Bild entstanden? Weil ich neugierig
auf Sie war. Ich wollte wissen, was Sie können,
und das kam so: Vor etlichen Jahren haben Sie
mir zum Geburtstag eine Karte gebastelt, die ich
besonders kreativ fand, „Wow“ dachte ich „dieses
Mädchen kann was. Vielleicht kann sie sogar noch
mehr.“ Deshalb habe ich Ihnen, als wir einmal verreisten, einen kleinen Kasten mit Kreiden in ganz
unterschiedlichen Blautönen gegeben und Sie
gebeten, mir ein Bild, möglichst ein Blumenbild,
zu malen. Von dem Ergebnis war ich begeistert.
Wir glauben, dass in jedem Menschen ganz viele
besondere Eigenschaften stecken. Auf die sind wir
neugierig und die möchten wir im Kontakt mit den
Menschen kennenlernen. Nicht jeder, der unser
Haus betritt, ist ein Künstler. Aber jeder hat etwas
Besonderes. Eine Studentin kann gut kochen, eine
andere hat ein ansteckendes Lachen, eine dritte
singt gerne und eine andere kann gut zuhören.
Wären Sie mit ausländischen Studenten nie in
Kontakt getreten, hätten Sie etwas verpasst?
Auf jeden Fall! Unser Kontakt zu den Studierenden
hat auch unser Leben erweitert. Wir haben junge
Menschen um uns und können mit ihnen lachen.
Die gemeinsamen Gespräche und Unternehmungen sind auch für uns schön. Außerdem lernen wir
viel über fremde Länder, was wir sonst nie erfahren
hätten. Bevor eine Studentin aus Kirgistan, Bangladesch oder der Mongolei zu uns kommt, wissen
wir wenig über deren Heimat. Manchmal müssen
wir erst im Atlas nachsehen, wo die Länder überhaupt liegen.
Wir reisen nicht so weit, aber wir holen uns die
Welt ins Haus. Das macht unser Leben reicher. Unsere Bereicherung durch die Studierenden besteht
nicht nur darin, dass es bei uns etwas exotischer
zugeht als in anderen deutschen Haushalten. Auch
wir werden verändert, weil wir angeregt durch die
Studierenden mehr über uns und unser Leben
nachdenken und dankbarer sind für das, was wir
haben. Wir eben nicht in Kriegs- und Krisengebieten und sind auch meist von Naturkatastrophen
verschont. Auch finanziell sind wir abgesichert. Uns
geht es gut. Da können wir ein ganz kleines bisschen helfen, dass es anderen auch etwas besser
geht.
29
Leben
„Empathie gibt es noch nicht im App Store“
Und was ist Empathie für Euch?
von SELINA GÖCKLER UND KARINA HÖRMANN
Waleria Leonow (21), Medizinstudentin an der
Medizinischen Hochschule Hannover:
„Empathie bedeutet, immer ein persönliches
Verständnis für jeden einzelnen Patienten zu entwickeln und dennoch eine professionelle Distanz
zu wahren. Eine der schwierigsten Aufgaben im
medizinischen Berufsalltag ist es, die Empathie
richtig zu dosieren.“
Tabea Olm (21) studiert Jura an der
Leibniz-Universität Hannover:
„Empathie ist, sich in die Position des Gegenübers
zu versetzen, eventuell auch mitfühlen zu können.
Das kann als Jurist sehr wichtig sein, um zum Beispiel die optimale Verteidigung zu gewährleisten.
Für mich aber ist manchmal auch genau das das
Problem an dem Job, denn in manchen Bereichen
erlebt man häufig tragische Schicksale, die man
nicht jedes Mal so sehr an sich ran lassen sollte.“
Daniel Homeyer (21) studiert seit Oktober
Theologie in Heidelberg:
„Kennt Ihr das Märchen „Sterntaler“ und die Geschichte der Speisung der 4000? Sind diese Geschichten wahr? Weiß ich nicht, aber ich glaube in
ihrem Kern liegt eine Wahrheit die uns allen ins Herz
gelegt ist, ob von Gott, von Allah oder irgendeinem anderen Grund. Empathie heißt: Wer gibt, der
liebt. Wer Leid direkt sieht, der fühlt mit. Am Ende
ist das Geben, etwas aus Mitgefühl zu opfern. Das,
was wirklich glücklich macht. Das, was wirklich reich
macht. Das, was satt macht.“
30
Philipp Zeiler (23) und Chiara Paulon (41) führen eine Fernbeziehung zwischen Italien und Deutschland:
Chiara: „Meine Vermutung ist, dass die Empathie eine fundamentale Eigenschaft des Menschen ist, um
eine Beziehung mit Menschen im Allgemeinen einzugehen. In einer guten (Liebes)beziehung wächst
die Empathie von Tag zu Tag, falls sie nicht eine natürlich vererbte Gabe ist. Sie entsteht dank der Aufmerksamkeit, die man dem anderen widmet: Kleine Gesten, das Erkennen von Signalen. Noch mehr
als die natürlich gegebene Empathie zählt meiner Ansicht nach in einer guten Beziehung das einander
Zuhören und der Wille zu teilen.“
Philipp: „Empathie bedeutet in einer Beziehung, auf den Partner in einfühlsamer Weise einzugehen und ist unabdinglich. Sie lässt mich verstehen, was in meiner Partnerin vorgeht, selbst wenn sie es auf
verbaler Ebene nicht zum Ausdruck bringt. Die Empathie steigert die Vertrautheit und das Gefühl der
Zusammengehörigkeit, denn es ist für beide Partner etwas Schönes, verstanden zu werden und zu verstehen.“
Waltraud (68) und Klaus (70) Niemann aus der Region Hannover:
„Bei Empathie in einer Beziehung geht es darum, Meinungsverschiedenheiten nicht gleich
im Streit enden zu lassen. Die
Beziehung wird durch das Einfühlen in den Anderen stabiler.
Entscheidend ist der Umgang
miteinander und die Fähigkeit
zuzuhören.“
Petra Rose (50) ist Arzthelferin bei einem
Allgemeinmediziner in der Region Hannover:
„Ich denke, dass man eine gute Menschenkenntnis benötigt, um Empathie zu empfinden. Gerade ich als Medizinische Fachangestellte benötigt eine große Portion an Aufmerksamkeit. Man muss ein guter Zuhörer sein, muss gut
auf die Person zugehen können und mit Rat und Tat zur
Seite stehen. Es ist sicherlich auch typbedingt. Man muss
auch Geduld haben - gerade auch bei älteren Menschen.
Und man sollte keine Berührungsängste haben.“
31
Leben
Eva Höninger (26) ist Friseurmeisterin
in Kempen:
„Empathie ist für mich die Fähigkeit, sich
in andere Menschen und somit auch meine
Kunden hineinzuversetzen. Es ist besonders
wichtig, in Gesprächen Verständnis zu zeigen
und eine vorsichtige Wortwahl zu treffen,
wenn der Kunde auch mal eine negative
Botschaft erhält. Empathie ist nicht nur das
verbale, sondern auch das non-verbale Verständnis. Und: Empathie gibt es noch nicht im
App Store.“
Nicole Röver (40) ist Redakteurin
bei Hannover 96:
„Empathie gehört im Job für mich zu den
wichtigsten Skills - besonders in der Kommunikation. Gerade in schwierigen Situationen
ist es enorm hilfreich, wenn ich die Dinge
auch aus der Persepektive meines Gegenübers sehen und gleichzeitig mit ihm fühlen
kann. Das schafft eine gemeinsame Basis.“
Louisa Lampe (24) ist Lehramt-Studentin
an der Uni Hamburg:
„Empathie bedeutet für mich, dass ich mich in
das Denken, Handeln und die Gefühle meines
Gegenübers hineinversetzen kann. Meines
Erachtens wird das später für mich als Lehrerin
eine Schlüsselqualifikation sein, um mich in die
Problemlagen der Schüler einzufühlen. Empathie bedeutet für mich aber nicht, die Gefühle
des Gegenübers zu teilen. Als Lehrer muss
ich immer noch eine gewisse Distanz wahren,
damit ich nicht Gefahr laufe, die Probleme aller
Schüler mit nach Hause zu nehmen.“
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Lisa Franziska Ferrari (24) ist
Schauspielerin in Köln:
„Empathie bedeutet für mich,
sich in die Gefühlslage eines
anderen Menschen hineinversetzen zu können und ihn mit Hilfe
eigener Erfahrungen auffangen
zu können. Empathie vermittelt
Verständnis und Verbundenheit.“
Johannes Seidel (33) ist Fanbeauftragter bei
Hannover 96:
„Empathie bedeutet für mich die Fähigkeit,
sich in andere Personen, ihre Gefühlswelt und
ihr Handeln hineinversetzen zu können. In
meinem Beruf als Fanbeauftragter muss ich
oftmals zwischen konträren Meinungen vermitteln und Standpunkte anderer Menschen
und Institutionen vertreten. Dafür ist es unabdingbar, die Emotionen und die zugrunde
liegenden Denkweisen meines Gegenübers
nachvollziehen zu können.“
Lisa Geisler (22) und ihr Freund Claudius Witte
(27) sind seit fünf Jahren ein Paar:
„In einer Beziehung ist Empathie sehr wichtig – insbesondere auf emotionaler Ebene. Es
bedeutet grundlegend, sich vom Partner verstanden und in gewisser Weise nicht alleine
gelassen zu fühlen. In einer Beziehung sollte
Empathie recht „uneingeschränkt“ gelebt
werden.“
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Medien
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Kann man‘s lernen oder nicht?
Ohne Empathie läuft im TV-Journalismus nichts – da sind sich die NDR-Moderatoren
Hinnerk Baumgarten und Yared Dibaba einig. empa hat die beiden Journalisten separat
getroffen. Im Interview klären sie auf, wie sie mit besonders schwierigen Gästen umgehen, warum jeder Mensch mal schauspielern sollte – und warum Schönheit im Fernsehen
kein Maßstab mehr ist.
von lydia tittes
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Medien
Nice to know:
Name: Yared Terfa Dibaba
Geburtstag: 8. April 1969 in Aira
(Äthiopien)
Laufbahn: Ausbildung bei einem
Kaffee-Importunternehmen, danach
Besuch der Bremer Schauspielschule.
Anschließendes Musikstudium am
Hamburger Konservatorium.
Berufserfahrung: 1999 erste große
Schauspielrolle im Ohnsorg-Theater,
seit 2001 Moderator bei 9Live, dann
VOX. Seit 2006 Moderator beim NDR,
unter anderem bei „Mein Nachmittag“
Besonderheiten: Yared hat schon vier
Bücher geschrieben, drei davon auf
plattdeutsch.
Ihr beide seid bereits seit langer Zeit Fernsehmoderatoren
beim NDR. Jeden Tag bekommt ihr neue, völlig unterschiedliche Gäste, auf die ihr euch vorbereiten sollt. Hand aufs
Herz: Entsteht schon vor der Sendung eine gewisse Sympathie oder Antipathie gegenüber eines Gastes?
Hinnerk: Ja, selbstverständlich, aber das würde ich
natürlich nie zugeben (lacht).
Yared: Natürlich. Sobald ich mir die Unterlagen
durchlese oder den Gästefilm anschaue, weiß
ich, ob mir mein Gegenüber sympathisch ist oder
nicht. Eine gewisse Wechselbeziehung ist automatisch vor der Sendung vorhanden.
Gibt es auch unangenehme Gesprächspartner?
Yared: Die gibt es natürlich auch. Aber oft passiert
es, dass gerade unangenehme Personen spannende Geschichten liefern.
Wer waren eure spannendsten Gesprächspartner bislang?
Hinnerk: Da gibt es wirklich viele, vor allem
Politiker. Mit Ole von Beust hatte ich ein sehr
mitreißendes Gespräch oder Peter Altmaier, dem
Schwergewicht der CDU. Mit ihm habe ich mich
über das Kochen unterhalten, also über Dinge, die
außerhalb der „normalen“ Profession liegen.
Yared: Vor einiger Zeit interviewte ich einen jungen
Mann namens Kasper. Er litt unter einem Herzfeh-
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ler, überstand jedoch seine Krankheit und engagierte sich für Menschen, die unter dem gleichen
Fehler litten. Das Gespräch mit ihm hat mich sehr
berührt. Leider hat ihn die Krankheit nicht verschont, er verstarb vor einem Jahr.
Wen würdest du denn gerne mal aufs rote Sofa einladen,
Hinnerk?
Hinnerk: Meinen Vater vermutlich.
Deinen Vater?
Hinnerk: Ja, das wäre wohl ziemlich interessant. Allerdings ist das etwas schwierig, weil er nicht mehr
so gut sprechen kann.
Wie wichtig ist eurer Meinung nach Empathie in eurem Job?
Hinnerk: Ziemlich wichtig. Als Moderator versuche
ich mich in die Situation der Gäste hineinzufühlen,
in der sie sich gerade befinden. Erst wenn sie sich
wohlfühlen bin ich bereit, tiefgründige Fragen zu
stellen.
Yared: Ich glaube, dass es sehr wichtig ist. „Mein
Nachmittag“ ist sehr kleinteilig, positiv und informierend. Jeden Tag begegnen meiner Moderationskollegin und mir neue Menschen, auf
die wir uns vorbereiten. Ich habe immer Bock auf
Menschen, bin neugierig auf sie, denn jeder hat
etwas Spannendes zu erzählen. Wer keine Lust auf
Menschen hat, sollte besser kein TV-Moderator
werden.
Hinnerk, du wirst auch als „Brad Pitt des Nordens“ bezeichnet: Wie wichtig ist Aussehen im TV?
Hinnerk: Natürlich überaus wichtig. Vor dem
Bildschirm sollte man wahnsinnig gut aussehen...
Wirklich, wahnsinnig… (lacht). Nein, Spaß beiseite. Aussehen ist in erster Linie nicht so wichtig,
sondern eher die Lust, sich präsentieren zu wollen.
Früher war es so, dass die Fernsehansagerinnen
alle hübsch, sauber und adrett sein sollten. Und
mit diesen drei Attributen kann man im heutigen Fernsehen gar nicht mehr viel anfangen. Ich
meine, da gibt es zum Beispiel Einrichtungsexpertinnen, die schlagen auch sämtliche Rekorde,
was das Nichteinhalten von Diäten angeht und
sind trotzdem erfolgreich. Oder nehmen wir Cindy
aus Marzahn: So eine Entertainerin hätte es früher
niemals gegeben. Doch heute sollte ein Moderator ein gewisser Typ sein, Charisma haben und
vor allem eine große Portion Selbstbewusstsein
besitzen.
Yared, du hast drei Jahre lang die Bremer Schauspielschule
besucht. Danach folgten viele Theaterauftritte, zum Beispiel
im Hamburger Ohnsorg-Theater. Kaum irgendwo anders
spielt Empathie eine größere Rolle als in der Schauspielerei.
Denkst du, es wäre von Vorteil, wenn Fernsehmoderatoren
eine Schauspielschule besuchen müssten?
Yared: (schmunzelt) Auf jeden Fall. Allerdings ist
eine Schauspielschule hilfreich für jeden Beruf:
Du lernst deinen Körper kennen, du lernst, wie du
dich präsentierst, wie du kommunizierst. Das ist für
fast jeden Berufsalltag sehr entscheidend.
Du bist Musiker, Schauspieler und Moderator – Wenn du
dich für einen Beruf entscheiden müsstest, welcher wäre es?
Yared: Den Beruf des Entertainers (lacht). Er
vereint eine Disziplin, wo alles drin steckt, was mir
Spaß macht. Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen
und zu singen, Musik zu machen, aus Menschen
etwas herauszukitzeln, über sie zu lernen – also,
wenn du mich so fragst: Ich könnte mich im Grunde nicht entscheiden (lacht).
Zeit für Freunde und Familie bleibt da kaum…
Yared: Das ist immer das Dilemma, in dem ich stecke. Doch wenn ich meine sendefreie Zeit habe,
verbringe ich diese auch tatsächlich nur mit meiner
Familie. Ich bin kein Typ, der noch nebenbei in
einem Fußballklub angemeldet ist oder sich in
anderen Vereinen engagiert.
Zurück zur Schauspielerei: Hinnerk, du wolltest früher
Schauspieler werden.
Hinnerk: Das stimmt. Danach wollte ich jedoch
zum Radio: Ein Freund von mir war Radiomoderator bei FFN, das fand ich sehr spannend. Nach
mehreren Praktika habe ich Blut geleckt und habe
nach meiner Zeit bei Radio Antenne Niedersachsen zum NDR gewechselt. Ich liebe es, vor
anderen Menschen aufzutreten. Ich liebe es auch,
wenn ich bei Freunden eine Rede halten darf, zum
Beispiel auf Geburtstagen. Natürlich bin ich auch
immer aufgeregt, aber wenn ich merke, dass es
klappt, weicht das Adrenalin. Und ich genieße es.
Nice to know:
Name: Hinnerk Baumgarten
Geburtstag: 5. Januar 1968 in Hannover
Berufserfahrung: Von 1997 bis 2004 Moderator bei Hitradio Antenne Niedersachsen, danach Wechsel zum NDR.
Moderiert sowohl beim Radiosender NDR2 als auch beim
NDR Fernsehen die Sendung „Das!“
Besonderheiten: Hinnerk moderiert oft bei speziellen
Veranstaltungen, zum Beispiel Liveschalten am
Hamburger Hafen.
41
Medien
Als Moderator will ich schließlich die Kontrolle bewahren, das ist in solchen Moment nicht so leicht.
Natürlich gibt es da noch diesen einen berühmten
Fall…
…auf den ich natürlich noch zu sprechen kommen wollte.
Im März 2013 besuchte die Schauspielerin Katja Riemann
das Rote Sofa. Eine mediale Lawine wurde ausgelöst: Auf
YouTube hat dein Gespräch mit ihr über 1,8 Millionen Klicks.
Es hat gezeigt, dass auch mit Anstrengung und Recherche
ein Interview mal nicht so gut läuft, wie du es dir vorgestellt
hast.
Hinnerk: Ich habe mir das Video im Nachhinein
auch angeschaut und da wird natürlich klar: Da
haben sich zwei nicht richtig verstanden. Die
Zeitungen hatten ihre vorgefasste Meinung von
mir: Das Feuilleton schrieb: „Baumgarten ist ein
Arschloch“, die Sueddeutsche Zeitung meinte, bei
mir stehe „Ficken“ auf der Stirn...
Das Studio von „Mein Nachmittag“: Hier moderiert Yared Dibaba zusammen mit einer Kollegin montags bis freitags im NDR.
Stichwort Aufregung: Bist du manchmal noch aufgeregt,
Yared? Du hattest ja schon selber einige Auftritte, in denen
du interviewt wurdest: Bei Markus Lanz zum Beispiel.
Yared: Ich würde es eher eine Vorfreude nennen.
Es prickelt dann immer so vorneweg und das empfinde ich als ganz angenehm. Nicht nur als Gast,
sondern auch als Moderator selber. Zum Beispiel
bei der Moderation von „Mein Nachmittag“ ist
eine gewisse Prise Adrenalin im Blut immer vorhanden, ich brauche das auch.
nicht lernen, hat man oder hat man nicht.“ Stimmt Ihr dem
zu?
Hinnerk: Ich denke, das Mitfühlen mit anderen ist
nicht jedem gegeben. Also es stimmt: Hat man
oder hat man nicht.
Yared: Empathie ist eine Lernsache. Wir müssen es
wollen, dann kann jeder Mensch empathisch sein.
Meiner Meinung nach ist jeder gesunde Mensch
mit einer gewissen „Grundempathie“ ausgestattet.
Und wie ist es bei dir, Hinnerk?
Hinnerk: Bei einigen Gesprächspartnern ist natürlich eine andere Konzentration gefragt. Oder
eher eine höhere Aufmerksamkeitsspanne: Zum
Beispiel habe ich Conchita Wurst interviewt, die
übrigens ganz anders ist, als ich es mir vorgestellt
habe. Das war ein äußerst menschliches, angenehmes Gespräch. Wenn ich Livesendungen aus dem
Hamburger Hafen moderiere, dann herrscht auch
dort eine andere Aufmerksamkeit als die routinierten Sendungen im Studio.
Hinnerk, wie gehst du mit schwierigen Charakteren oder
Situationen um? Zum Beispiel, als die Band Deichkind die
Sendung „Das!“ besuchte und sich der Frontmann zum Ende
der Show das Shirt auszog...
Hinnerk: Es ist eben eine Livesendung: Angst ist
da Fehl am Platz. Letztendlich kann nur jeder etwas für sich selber machen: Wenn sich jemand daneben benimmt, dann präsentiert er sich einfach
selber so. Vor allem für unsere eher konservativ
angelegte Sendung sind solche „Spezialfälle“ für
den Zuschauer oft schwer zu begreifen. Die denken sich dann nur: Wer sind diese Vögel? Deichkind fande ich persönlich sehr lustig, allerdings
natürlich schwieriger zu handeln als andere Gäste.
Bei Twitter gibt es viele Zitate unter dem Hashtag Empathie.
Zum Beispiel: „Empathie ist nicht Fahrrad fahren. Kann man
42
...oder, dass du dich angegeilt im Spiegel beobachtet hast,
anstatt auf die Schauspielerin zu achten.
Hinnerk: Völliger Quatsch. Das haben Menschen
geschrieben, die selber in ihrer kleinen, dunklen
Kammer sitzen und über andere lästern. So etwas
finde ich sehr zweifelhaft. Alle wollten, dass das
Thema weiter aufgerollt wird. Dass ich zum Beispiel sage: „Frau Riemann, die spinnt, die Alte.“
Aber ich habe möglichst versucht, charmant zu
bleiben. Natürlich war ich während der Sendung
sehr überrascht, als sie so eigenwillig reagierte
und nicht auf meine Fragen antwortete. Zum
Beispiel war es ihr unfassbar peinlich, als wir Kinderfotos von ihr zeigten. Dabei wollten wir in der
Redaktion sie als Schauspielerin würdigen, ihr eine
Freude machen. Keine Ahnung, ob ich während
des Interviews alles richtig gemacht habe, aber
ich bin souverän geblieben. Sonst wäre das Ganze
für mich nach hinten losgegangen. Ich habe mir
immer wieder gesagt: Es nützt nichts, sich jetzt
aufzuregen. Was noch dazukam: Normalerweise
bekomme ich durch mein Headset viele Regieanweisungen, doch von dort kam keine Meldung
mehr. Alle waren mit der Situation überfordert.
ziemlich schwierig, solche Fälle zu bewerten. Bei
solchen Situationen sagen sich viele: Ich hätte das
komplett anders gemacht. Wie beim Fußball, wo
der Spieler den Ball neben das Tor schießt und
alle aufschreien: Den hätte ich reingemacht! Doch
wenn du unten auf dem Feld stehst, dir sechszigtausend Menschen zuschauen und nochmal
ein paar Millionen dich im Fernsehen sehen, da
spielen noch viele andere Dinge eine Rolle.
Gibt es Journalisten, die ihr euch zum Vorbild nehmt?
Hinnerk: Eigentlich nicht. Allerdings finde ich ein
paar Menschen großartig, wie zum Beispiel den
Moderatoren Carlo von Tiedemann. Den Showmaster Thomas Gottschalk fand ich auch immer
toll. Ich habe stets sein lässiges Selbstbewusstsein
bewundert. Generell würde ich aber sagen: Es
gibt kein bestimmtes Vorbild, an dem ich mich
orientiere, sondern an bestimmten Charaktereigenschaften.
Yared: Ich habe kein Vorbild, aber finde viele
Kollegen beeindruckend, wie zum Beispiel Hajo
Friedrichs: Ein großartiger Journalist mit einer vorbildlichen Art. Oder Oprah Winfrey, die zugleich
sehr unterhaltsame aber auch sehr ernste Gespräche führen kann.
Eine letzte Frage an euch beide: Rückblickend auf eure bisherige Laufbahn: Was waren eure persönlichen Highlights?
Hinnerk: An ein Highlight kann ich mich sehr gut
erinnern: Jehuda Bacon, ein Jude, der als 15-Jähriger ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert
wurde und den Holocaust überlebt hat.
Yared: Zum Beispiel die Traumhochzeit auf RTL,
die ich moderieren durfte. Auch „Mein Nachmittag“ ist immer wieder ein Highlight: Seit 2010
habe ich die Chance, eine Stunde live zu moderieren. Dafür bin ich sehr dankbar.
Hast du Angst, dass dir so eine Situation nochmal widerfährt?
Hinnerk: Im Gegenteil, ich würde es mir sogar
wünschen (schmunzelt). Wenn du einmal ins
kalte Wasser gesprungen bist, weißt du, wie es
ist. Dann ziehe ich das nächste Mal einfach einen
Badeanzug an (lacht).
Yared: Nein, das nicht. Ich finde es aber auch
43
Medien
Herr, vergib ihnen,
denn sie wissen
genau, was sie tun!
Von der Notwendigkeit der Satire:
Wenn Empathie hinter den gesellschaftskritischen Zweck zurücktritt
44
45
Medien
von Nico Dodoo
Wie so manch guter Witz amüsiert sich auch die
Satire auf Kosten anderer. Bewusst verspottet sie
Personen und Gegenstände des täglichen Lebens
und nimmt dabei keine Rücksicht auf verletzte
Gefühle. Leicht ließe sich Satirikern nun fehlende
Empathie vorwerfen. Und würde nicht mehr dahinterstecken, als dem Publikum einfach nur ein paar
Lacher zu entlocken, dann wäre diese Kritik wohl
sogar gerechtfertigt. Doch die Macher von Satire
wissen nur zu gut, was sie tun.
Der Berliner Journalist Kurt Tucholsky schrieb
bereits 1919 über die Satire: „Sie kann gar nicht
anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden
die Gerechten mit den Ungerechten.“ Wenn sie
also „beißt, lacht, pfeift und trommelt“, werden
emotionale Kollateralschäden in Kauf genommen.
Satire sei in ihrem tiefsten Wesen ungerecht, so
Tucholsky. Und dennoch gab es für den Journalisten und Satiriker auf die Frage „Was darf die
Satire?“ nur eine Antwort: Alles.
Doch wie steht es knapp 100 Jahre nach Tucholsky
um das Verständnis von Satire und ihren vorhandenen oder auch nicht vorhandenen Grenzen?
Das vergangene Jahr 2015 war ein ereignisreiches
und ganz bestimmt kein leichtes Jahr für die Berufsgruppe der Satiriker. Zwölf Menschen starben
beim Anschlag auf die Redaktion des französischen Satire-Magazins „Charlie Hebdo“. Die Welle
der Solidarität mit Schreibern und Zeichnern war
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groß, als sich eine neue Debatte über die Legitimation von Religionssatire anbahnte. Die Worte
„Satire darf alles“ erlebten geradezu eine Renaissance und wo man hinschaut, wird seitdem mit wehenden Fahnen die Meinungs- und Pressefreiheit
verteidigt.
Aber es gibt auch kritische Stimmen, die der Satire
eben keine unbegrenzten Freiheiten zugestehen
und sich keine spöttisch und polemisch provokante Auseinandersetzung mit religiösen Personen
oder Gegenständen wünschen. Und dazu zählen
nicht nur Anhänger der jeweiligen Glaubensgemeinschaften. So zitierte der „Spiegel“ beispielsweise Dean Baquet, Chefredakteur der New York
Times, mit folgenden Worten: „So sehr ich es
liebe Solidarität zu zeigen: (...) Meine erste Aufgabe ist, den Lesern zu dienen und ein großer Teil
unserer Leser sind Menschen, die sich durch Satire
über den Propheten Mohammed beleidigt fühlen
würden.“ Dieser Leser sei eben kein IS-Anhänger,
sondern einfach nur ein streng gläubiger Bürger
New Yorks. Entscheidend sei für Baquet schließlich
auch die Frage gewesen, ob die New York Times
ähnliche Karikaturen über andere Religionen
abdrucken würde, was er mit einem klaren Nein
beantworten könne.
Mit ähnlichen Gedanken hat sich auch Thomas
Schmitt bereits des Öfteren auseinander gesetzt.
Der 26-Jährige ist Autor für diverse Fernsehsendungen, unter anderem für die NDR-Satire-Sendung Extra 3, und studiert parallel Kommunikationsmanagement an der Hochschule Hannover.
„Religion spielt für viele Menschen eine sehr
wichtige Rolle in ihrem Leben. Für einige Gläubi-
47
Medien
Der Zweck heiligt die Mittel: Ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten übt die Satire gesellschaftliche Kritik. Mit ge stehen religiöse Leitfiguren wie der Prophet
Mohammed noch über der eigenen Familie“,
erklärt sich Schmitt die hohe Empfindlichkeit beim
Thema Religion. Ziel von Satire dürfe seiner Meinung nach nicht sein, den Glauben einfach nur zu
verhöhnen. „Meine Erfahrung ist: Wenn der Witz
nicht zu plump ist, sondern intelligent formuliert
wird, dann können die meisten Muslime, auch in
meinem Freundeskreis, durchaus mit Satire umgehen“, so Schmitt.
Um Neues auszuprobieren und Publikumsreaktionen zu testen, veröffentlicht der Nachwuchsautor
neue Gags regelmäßig auf seiner Facebook-Seite
‚Amüsieren mit Tommi Schmitt‘. Dort erhält er
direktes Feedback und holt sich aus den Kommentaren auch neue Inspiration. „Natürlich bekommt
man hier auch am schnellsten zu spüren, wenn
die Leute etwas nicht mehr lustig finden“, sagt
Schmitt. Ein Beispiel, das in den Kommentaren
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sowohl Zustimmung als auch Ablehnung fand, war
ein vom ihm kommentiertes Foto eines Werbeplakats. Darauf war ein dunkelhäutiges Kind in
Kleidung einer großen Modehauskette zu sehen.
Thomas Schmitt postete das Bild mit den Worten:
„Getragen von europäischen Kindern, beworben
von afrikanischen Kindern und hergestellt von
asiatischen Kindern.“
Nicht selten wird Satire zu einem Drahtseilakt. Für
Aufregung sorgte im September 2015 beispielsweise eine neue Ausgabe von Charlie Hebdo,
auf dessen Rückseite eine Karikatur abgebildet
war, die den Körper eines ertrunkenen Kindes am
Strand vor der Reklametafel einer Fast-Food-Kette
zeigte. Die Reklame darauf warb für ein Kindermenü mit dem Slogan: „So nah am Ziel...“. Für diese
Instrumentalisierung des tragischen Schicksals des
Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi gab es sowohl auf
Seite der Leser, als auch aus den Reihen der inter-
direkten und unverblümten Aussagen dringt sie in das Bewusstsein ihres Publikums.
nationalen Presse viele kritische Stimmen. Chefredakteur Gèrard Biard verteidigte die Karikaturen
mit den Worten: „Satire muss einen Schock provozieren.“ Besonders in den sozialen Medien hatte
Charlie Hebdo nach der Veröffentlichung große
Ablehnung bis hin zu Drohungen erfahren. Biard
sagte, Leser müssten mit den Karikaturen nicht
einverstanden sein. Er verurteilte aber Hass-Kommentare, die mitunter sogar zum Mord aufriefen.
Eine Abwägung zwischen dem gesellschaftskritischen Nutzen und der Menschenwürde
Was als zulässige Satire gilt und welche Veröffentlichung zumindest juristisch untersagt gehört, das
entscheidet die Rechtsprechung in Deutschland
von Fall zu Fall. Die Kunstfreiheit der Satire findet
ihre Grenzen unter anderem in den Persönlichkeitsrechten, wo eine Abwägung zwischen dem
gesellschaftskritischen Nutzen der Satire und der
Menschenwürde der dargestellten Person stattfindet. So wie beispielsweise im Fall um ein Coverbild des Satire-Magazins Titanic, auf welchem
das damalige Oberhaupt der katholischen Kirche,
Papst Benedikt XVI., als inkontinent dargestellt
wurde, womit die Enthüllungsaffäre um den
Vatikan verbildlicht werden sollte. Die Überschrift
lautete: „Halleluja Vatikan - Die undichte Stelle ist
gefunden“. Das Landgericht Hamburg sah darin
eine Verletzung der Menschenwürde des Papstes
und ließ die Gestaltung des Covers per einstweiliger Verfügung untersagen. Eigentlich ein Sieg für
den Vatikan, doch der Papst und seine Anhänger
konnten sich nicht so recht über ihren Triumph
freuen, da die prozessbegleitende Berichterstattung in den Medien dem Fall nur zu noch größerer Aufmerksamkeit verholfen hatte. Um den
Medienrummel zu beenden, zog der Papst seinen
Antrag auf Unterlassung letztendlich sogar zurück.
49
Medien
Dennoch bleibt festzuhalten: Geht es nach der
Rechtsprechung, dann werden der Satire durchaus
Grenzen gesetzt.
Und doch sind diese Grenzen weiter gefasst, als
irgendwo sonst im Journalismus. Ein geradezu
notwendiger Umstand, dessen sich Kurt Tucholsky
schon zu Zeiten der Weimarer Republik bewusst
war. „Übertreibt die Satire? Die Satire muss übertreiben (...) Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie
deutlicher wird“, schrieb Tucholsky und erklärte
den satirischen Witz als „boshaft, aber ehrlich“.
Satire sei eben alles andere als feinfühlig, sondern
direkt, überspitzt und bricht gerne vorhandene
Konventionen, weiß auch Extra 3-Autor Thomas
Schmitt aus Erfahrung. Die sehr provokante Art
der Satire auf Probleme aufmerksam zu machen,
erklärt er gerne mit einem Zitat aus dem Hollywoodfilm „Sieben“: „Wenn die Leute einem
zuhören sollen, reicht es nicht, ihnen einfach auf
die Schulter zu tippen. Man muss sie mit dem
Vorschlaghammer treffen. Erst dann kann man sich
ihrer Aufmerksamkeit gewiss sein.“
Der erfahrene Kabarettist und Satiriker Dietmar
Wischmeyer bringt auf den Punkt, was für ihn gute
Satire ausmacht: „Unerschrockenheit gegenüber
ihrem Gegenstand und dessen Verteidigern sowie
Respektlosigkeit gegenüber dem, was eine vorgebildete Urteilskraft der Öffentlichkeit für ange-
50
messen hält.“ Seit über einem Vierteljahrhundert
produziert der heute 58-Jährige bereits Satire für
Print, Hörfunk und Fernsehen in Deutschland. Von
satirefreien Räumen oder Grenzen will er nichts
wissen: „Das Attentat auf „Charlie Hebdo“ hat
vielmehr die Grenzen nicht akzeptabler Intoleranz
aufgezeigt. Satire kann sich schließlich nicht davon
abhängig machen, ob sie ihrem Gegenstand
gefällt.“
„Satire kann auch heute noch Bretter vor den
Köpfen entfernen“
Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit zur
Provokation hat auch der Deutsche Presserat in
der Vergangenheit viele Beschwerden gegen Satirewerke zurückgewiesen. „Satire kann auch heute
Bretter vor den Köpfen entfernen“, sagt Presserat-Specherin Ella Wassink. „Dabei können durchaus Gefühle verletzt werden. Aber gesellschaftliche Kritik an Sachverhalten muss erlaubt sein.“
Das diese Aussage auch bei Kritik an Religionen
zulässig ist, zeigt eine Entscheidung des Deutschen Presserates, in der 198 Beschwerden gegen
die Karikatur „Kirche heute“ der Titanic als unbegründet abgewiesen wurden. Die Karikatur zeigte
einen katholischen Geistlichen, der vor einem
Abbild Jesus Christus kniet, wobei sich Kopf und
Hände des Geistlichen auf Schritthöhe befinden
und das Gesicht des Jesus dunkelrot angelaufen
ist. Den Beschwerden lag ein angeblicher Verstoß gegen Ziffer 10 des Pressekodex zugrunde,
wonach die Presse darauf verzichtet, religiöse,
weltanschauliche oder sittliche Überzeugungen
zu schmähen. Dies wurde jedoch mit folgender
Begründung abgewiesen: „Hier wird nicht Jesus
oder der christliche Glaube verhöhnt, sondern
das Verhalten christlicher Würdenträger kritisiert,
die sich ihren Schutzbefohlenen gegenüber falsch
verhalten haben. Eine Kirche, die dies deckt oder
nicht genügend zur Aufklärung beiträgt, muss
auch mit dieser Art von Kritik leben.“
Für Gesetz und Pressekodex ist die Grenze von
Satire demnach stark vom Einzelfall abhängig.
Eine wirkliche Einschränkung der Meinungsfreiheit
findet jedoch schon viel früher statt: durch den
Satiriker selbst während des Schaffensprozess.
Die sogenannte Selbstzensur erfolgt immer dann,
wenn die Angst des Journalisten vor Repressionen
überwiegt. Und dazu zählen nicht nur strafrechtliche Konsequenzen oder Rufschädigung, sondern
seit einigen Jahren eben auch die nicht mehr ganz
so realitätsferne Angst um Leib und Leben. Von
den erschreckenden Attentaten in Paris einmal
abgesehen, kam es im vergangenen Jahr auch in
Deutschland zu Übergriffen auf Journalisten. Die
zunehmende Zahl der Gewalttaten gebe einem
schon zu denken, resümiert Thomas Schmitt. So
würde er als Antwort auf seine satirischen Facebook-Beiträge manchmal auch Hass-Kommentare
und Drohungen von Anhängern radikaler Gruppen ernten, habe diese bislang aber nie ernst
genommen. „Dann liest du in der Zeitung, wie
rechte Schläger einen Kolumnisten des Tagesspiegel überfallen und denkst plötzlich zweimal über
deine geposteten Gags nach“, erklärt Schmitt.
„Natürlich sagen die Leute, dass man sich von
solchen Vorfällen nicht einschüchtern lassen sollte,
aber es ist eben nochmal etwas anderes, wenn du
selbst die Person bist, die bedroht wird.“
Satiriker kämpfen also nicht nur gegen das eigene
Gewissen, sondern in Zeiten konkreter Bedrohungen immer häufiger auch mit der Angst. Mehr als
je zuvor ist deshalb Unerschrockenheit die Voraussetzung für den Erfolg satirischer Arbeit. Weder
Drohungen noch das Wissen um verletzte Gefühle
im Publikum dürfen den Autor von seinem gesellschaftskritischen Streben abhalten. Satire provoziert gezielt und darf dabei die Grenzen des guten
Geschmacks überschreiten. Sie darf weh tun und
muss keineswegs gefallen. Was Satire aber nicht
darf, ist kein Ideal zu haben. Denn genau darin
besteht ihr gesellschaftlicher Nutzen.
„Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die
Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er
gegen das Schlechte an.“ - Kurt Tucholsky
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Medien
#empa
@C_Holler:
„Der Arbeitskreis „Nächstenliebe
und #Empathie in der CSU“ trifft
sich jeden Freitag im Smart der
Kanzlerin. Rückbank, rechte Seite.“
@1895_Fortuna:
@GerdaTrapp:
„#Empathie ist nicht Fahrrad fahren. Hat man oder hat man nicht.
Kann man nicht lernen oder
kaufen.“
„#Empathie ist keine
Einbahnstraße.“
@schirizzel:
„Ob ich #Empathie habe?
Nee, bin geimpft.“
@wertverstellung:
„Ich mag Gefühls-Vertrudelte, mit #Empathie und Sinneswärme. Die Welt braucht
dringend solche Menschen. Auch wenn sie
es viel zu selten merkt.“
@SoleneDengler:
„Es gibt keine Gebrauchsanweisung für Mitgefühl. #Empathie #Refugeeswelcome“
@einmaliganders:
„#Empathie gibt‘s wohl
nicht im Appstore.“
@JessicaNickrand:
„So viele Dinge, die mich wach halten. Wie können wir den Menschen
mehr #Empathie beibringen?“
@Handron.TV:
„Für jeden Menschen #Empathie
zu haben ist voller Power!“
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@Handron.TV:
„Ärmere Menschen können die Gefühle der
Anderen besser erkennen und verstehen. Psychologen glauben deshalb, dass Geld uns die
#Empathie raubt. Sprich: Je wohlhabender
wir sind, desto weniger Mitgefühl haben wir.“
@KaDoFaible:
„Was läuft denn da nur schief auf
unserem Planeten? Wo bleibt die
#Empathie?“
@jenshealthde:
„Immer, wenn sich jemand neben
mir erbricht, muss ich auch kotzen.
Ist das dieses #Empathie-Dings,
von dem alle reden?“
@MichaelGold:
„#Empathie ist kein Club
auf Ibiza!“
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Gesichter
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Gesichter
„Der Schauspieler muss
voll und ganz an das glauben,
was er auf der Bühne denkt
und sagt.“
Method-Acting ist eine Schauspieltechnik, durch
die der Darsteller so tief in seine Figur eintaucht,
dass er sie nicht mehr spielt, sondern wortwörtlich verkörpert. Viele große Schauspieler nutzen
diese Technik. Manche treiben es allerdings so
weit, dass es lebensgefährlich werden kann.
diesen zu entsprechen. So waren sie nicht sie
selbst und ihr Spiel wirkte nicht natürlich, sondern
künstlich und überhöht. Es war das, was man „theatralisch“ nennt: Gutes Theater im heutigen Sinne
ist das eben nicht, sondern authentisch, obwohl es
gespielt ist.
von Jessica Preuss
Der erste große Meister des Method-Actings war
Marlon Brando. Brando hatte von Stella Adler
gelernt, wie man sich sogar dann in Charaktere
hineinversetzen kann, wenn man sie eigentlich
nicht ausstehen kann. So verkörperte Brando
1951 in dem Film „Endstation Sehnsucht“ Stanley Kowalski mit einer solchen Natürlichkeit und
Authentizität, dass die Zuschauer von dieser
Glaubwürdigkeit überwältigt waren. Sie hatten
Derartiges vorher noch nie in einem Film gesehen. Damals stellten Schauspieler ihre Rollen oft
noch sehr überhöht dar. Umso mehr beeindruckte
Brando, der seine Figur eine pure, rohe Männlichkeit ausstrahlen ließ. Der schreiende, murmelnde
und schroffe Kowalski hätte authentischer nicht
sein können, da sich Brando die dazu passenden,
ursprünglichen Bewegungen der Figur bei Affen
abgeschaut hatte.
DER URSPRUNG
Die Methode, die Brando angewandt hat, lässt sich
auf das „System“ des russischen Schauspielers und
Regisseurs Konstantin Stanislawski im 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Stanislawskis Idee war, dass
gute Schauspielkunst immer eine Reflexion der
Wahrheit sein muss, die nicht vorgespielt werden
kann. Seine Vorstellungen von Wirklichkeitstreue
erforderten eine deutliche Abkehr von den überhöhten Rolleninterpretationen, die für die damalige Zeit üblich waren. Solche Darstellungsweisen
würden heutzutage an Satire grenzen. Stanislawskis
„System“ hingegen ermutigte junge Schauspieler
zur Identifikation mit der jeweiligen Rolle und leitete sie entsprechend an. Sie sollten sich innerlich
und praktisch mit ihrer Figur auseinandersetzen
und sie dann, aufgrund ihres eigenen Erlebens und
Verstehens, menschlich glaubhaft und authentisch
darstellen.
Marlon Brandos Performanz revolutionierte die
Schauspielwelt. Er setzte sich keine Maske auf, er
führte nichts vor. Es wirkte so, als wäre Kowalski
Brando und Brando Kowalski. Vor Brando hatten
Darsteller ihre Rollen angezogen wie Kostüme,
sich fiktive Masken aufgesetzt und sich bemüht,
Lee Strasberg gilt als der eigentliche Geburtshelfer des Method-Actings. Strasberg, durch Stanislawskis „System“ inspiriert, lehrte in den vierziger
Jahren seine Schauspielschüler die „Methode“. So
bezeichnete er seine persönliche Philosophie der
Schauspielkunst und seine Übungstechnik, durch
60
welche die Schauspieler ihre Rolle in sich selbst
erfahren und entwickeln sollten. Das Ziel war die
völlige Identifikation mit der Rolle.
Obgleich sowohl das „System“ Stanislawskis als
auch Strasbergs „Methode“ die Schauspielschüler
ermutigt, ihre persönlichen Erfahrungen in die Rolle
einfließen zu lassen, gibt es doch einen großen
Unterschied zwischen den beiden Konzepten: Die
„Methode“ ermutigt dazu, gezielt neue Erfahrungen zu machen, um diese danach in die Rolle einbringen zu können. Das „System“ hingegen greift
lediglich auf bereits vorhandene Erinnerungen und
Gefühle zurück, um sie für die Rolle zu nutzen. Die
Schauspieler sollen die Situationen ihrer Rollenfigur
aus eigener Anschauung kennenlernen. „Der Schauspieler muss voll und ganz an das glauben, was er
auf der Bühne denkt und sagt“, so Strasberg.
Zu Strasbergs Schülern gehören Hollywoodgrößen
wie Paul Newman, Al Pacino, Marylin Monroe und
Jack Nicholson.
DIE TECHNIK
Method-Acting ermutigt Schauspieler dazu, ihre
Erfahrungen zu nutzen, um sich mit der darzustellenden Figur persönlich zu identifizieren. Sie sollen
lernen, sie emotional und kognitiv zu begreifen.
Wenn sie bereits über entsprechende Erfahrungen
aus dem eigenen Leben verfügen, nutzen sie diese, um sich in das Erleben der Figur hineinzuversetzen. Manchmal müssen sie jedoch eine Situation erst einmal live hervorrufen, um sie persönlich
nachempfinden zu können.
Zum Konzept des Method-Actings gehören außerdem Techniken wie Platzhalter, Stereotypen,
Arbeit mit Tieren oder auch Gedächtnistraining.
Strasberg nutzte Fragen wie „Was würde mich
motivieren so zu handeln, wie die Figur es tut?“ In
Übungssituationen werden die Darsteller angewiesen, die Umstände im Film gegen Umständen aus
ihrem Privatleben auszutauschen, um die Reaktionen natürlicher gestalten zu können. Schauspieler, die mit Method-Acting arbeiten, versuchen
häufig, die äußeren Lebensumstände der Figur
nachzustellen, um mehr Verständnis für ihr Sein zu
bekommen. Das kann sich bis zum Extrem steigern
und kann deshalb auch gefährlich, sogar lebensgefährlich werden. Es kommt vor, dass Darsteller
sich weigern zu essen, zu schlafen oder in irgendeiner Form ihre gewohnten sozialen Kontakte zu
pflegen. Zusätzlich sprechen viele Schauspieler mit
Psychologen, um sogar unbewusste Motive ihrer
Figuren zu entdecken und in ihre Arbeit einzubeziehen.
DIE ERSTEN ADAPTIONEN DER TECHNIK
Aus dem Ursprungssystem von Stanislawski
adaptierten mit der Zeit weitere US-Schauspiellehrer ihren eigenen Stil. Der von Sanford Meisner
gelehrte Ansatz ist sogar von seiner persönlichen
Zusammenarbeit mit Stanislawski geprägt. Er
kommt dem modernen Ansatz zur Schauspielausbildung sehr nahe. Seinen Schülern erklärte er:
„Schauspielen ist die Fähigkeit, wahrhaftig unter
vorgegebenen imaginären Umständen zu leben.“
Strasbergs gefühlsbasierte Schule ließ Meisner jedoch hinter sich, da dieser Ansatz seiner Meinung
nach die Schauspieler zur Selbstfixierung verführte. Das sah er als Hindernis für die Übermittlung
der Geschichte der Figur. Stattdessen lehrte er
die Schüler, sich auf ihre Schauspielpartner zu
konzentrieren und innerhalb der Rolle so natürlich
wie möglich zu handeln, gegebenenfalls auch zu
improvisieren. Er entwarf interaktive Übungen, die
den Darstellern helfen sollten, sich emotional in
die Szene zu versetzen und von dort aus wahrhaftig als der dargestellte Charakter zu reagieren.
Robert Lewis dagegen war ein Verfechter des
Stimmtrainings, das er stärker in das emotionale
Training integriert sehen wollte. Er stellte emotionsbasiertes Sprach- und Körpertraining ins Zentrum und sah darin das eigentliche Method-Acting.
Stella Adler unterrichtete Schauspielgrößen wie
Marlon Brando, Warren Beatty und Robert De
Niro. Auch sie adaptierte das System anders als
Strasberg. Adler studierte direkt unter Stanislawski
- zu einer Zeit, als Stanislawski selbst bereits einige
seiner ursprünglichen Ideen weiterentwickelt
hatte. Adlers Version der Methode basiert auf der
Idee, dass Darsteller Emotionen nicht aus ihrem
eigenen Erleben hervorholen, sondern auf die
gegebenen Umstände am Set reagieren sollten.
Wie auch bei Strasberg basiert Adlers Technik auf
Ausführungsübungen von Aufgaben, Wünschen,
Bedürfnissen und Zielen. Sich nur auf eigene
Erfahrungen zu verlassen, war ihr entschieden zu
wenig, da man sich dabei nur selbst beschränken
würde. Adler ermutigte ihre Schüler daher dazu,
ihre Vorstellungskraft zu nutzen und das emotionale Gedächtnis vollständig auszureizen.
61
Perfektioniert wurde Method-Acting jedoch erst
nach Brando. In den siebziger Jahren intensivierten Schauspieler wie Al Pacino, Robert De Niro
und Dustin Hoffmann die Vorbereitung für ihre
Rollen bis zum Äußersten. Dazu gehörte etwa
Schlafentzug oder auch starke körperliche Transformationen.
WO IST DIE GRENZE?
Method-Acting hat jedoch auch seine Schattenseiten. Viele prominente Schauspieler und Regisseure bezeugen, dass es schwierig ist mit Darstellern
zu arbeiten, die diese Methode anwenden. Einer
der Gründe ist die lange Vorbereitungszeit, wenn
beispielsweise ein Schauspieler vor seinem Einsatz
stark zu- oder abnehmen muss oder aber etwas
Neues lernen, wie etwa Klavierspielen oder eine
neue Sprache. Andere Kritiker bemängeln, dass
die Darsteller nicht einmal in den Drehpausen von
ihrer Rolle abweichen und entsprechend angesprochen werden möchten. Die vielfach preisgekrönte Schauspielerin Lillian Gish spitzte ihre Kritik
scharf zu: Nach dieser Philosophie, so Gish, könne
man den Tod erst spielen, nachdem man ihn selbst
erlebt habe.
Die bedingungslose Hingabe kann zu weit gehen.
Nach dem Tod von Philipp Seymour Hoffman
erschien Anfang 2014 ein Artikel im „New Yorker“
mit der Überschrift „Zerstört Method-Acting die
Schauspieler?“ Hoffman hatte unablässig in sich
selbst nach der Leidenschaft der Charakterrollen
gesucht. Seine Mimik und Gestik veränderten sich
analog zu seinen Rollen und Beobachter stellten
fest, dass sich auch der Mensch Hoffman fortlaufend veränderte. Hatte er zu viel von sich selbst
in seinen Rollen aufgehen lassen und sich schlussendlich darin verloren? Der Artikel beschreibt
eine beständige Grenzüberschreitung bis zu dem
Punkt, an dem Hoffman nicht mehr mit seinen
eigenen Emotionen umgehen konnte.
Separation“ tauchte er 1993 so tief in seine Figur
ein, dass er sich tatsächlich in seine Schauspielkollegin Stockard Channing bzw. in ihre Charakterrolle verliebte. Dies stellte er jedoch erst nach Drehende fest, als er zu Hause saß und Liebeskummer
empfand. Smith bereute sehr, so weit gegangen
zu sein und hält sich seitdem davon fern. Er nennt
es „seinen Kopf umprogrammieren“. Man spiele
dabei mit der eigenen Psyche herum. Smith rät
zur Vorsicht und warnt, dass Method-Acting ein
wirklich gefährliches Gebiet sei, wenn man darin
gut sein wolle.
Der heutige Star des Method-Acting ist Daniel
Day-Lewis. Auch er kam bereits mehrfach an sein
Limit. Im Vorfeld zu den Dreharbeiten zum Film
„Der letzte Mohikaner“ lebte er 1992 mehrere
Monate in der Wildnis und aß nur das Fleisch von
Tieren, die er selbst erlegt hatte. Nach dem Dreh
hielt er es kaum länger als eine Stunde in einem
geschlossenen Raum aus und litt außerdem unter
leichten Halluzinationen. Dennoch ist Method-Acting nach wie vor seine favorisierte Methode.
Beim Dreh zu „Gangs of New York“ im Jahre 2002
weigerte er sich, warme Kleidung anzuziehen, und
erkrankte an einer Lungenentzündung. Während
der Dreharbeiten zu seinem bisher letzten Film
„Lincoln“ fiel er schließlich auf, weil er nicht nur
am Set, sondern auch in den Drehpausen in seiner
Rolle angesprochen werden wollte. Seine Schauspielkollegin Sally Field berichtet, er habe sogar
in der Sprache der Zeit Nachrichten verschickt
und sie habe im gleichen Stil antworten müssen.
„Lincoln“ gewann zwei Oscars. Einer davon ging
an den „Besten Hauptdarsteller“ Daniel Day-Lewis, bereits seine dritte Auszeichnung in dieser
Kategorie. Geschafft hat dies vor ihm kein anderer
Schauspieler.
Der Schauspieler Will Smith hat Method-Acting
nur einmal ausprobiert. In „With Six Degrees of
62
63
Gesichter
7 Schauspieler,
die Method Acting (fast)
zu weit getrieben haben.
von Jessica Preuss
Adrien Brody in „The Pianist“
Adrien Brody nahm 15 kg ab, um den Holocaust-Überlebenden Wladyslaw Szpilman in
“The Pianist” glaubhaft verkörpern zu können. Außerdem nahm er Klavierunterricht und
übte täglich vier Stunden. Damit nicht genug: Brody wollte das Gefühl der Verlorenheit im
Warschauer Ghetto nachempfinden. Deshalb kündigte er seine Wohnung, verkaufte sein
Auto und schaltete alle Telefone aus. Er packte zwei Taschen, nahm sein Keyboard und
zog nach Europa, wo er monatelang unerreichbar war. Für den Film wurde er 2003 mit dem
Oscar für den „Besten Schauspieler“ belohnt.
Nicholas Cage in „Birdy“
Nicholas Cage wollte den gleichen Schmerz spüren, den sein Vietnamveteran-Charakter
fühlen musste. Also ließ er sich einige Zähne ohne Narkose ziehen. Außerdem ließ er sein
Gesicht in einen Verband hüllen und lief fünf Wochen lang damit herum. Auf der Straße
wurde er angestarrt oder ausgelacht. Als er schließlich den Verband wieder abnahm, war
seine Haut voller Pickel und eingewachsener Haare.
Val Kilmer in „The Doors“
TOM HANKS IN „CAST AWAY“
Als Tom Hanks sich auf seine Rolle als Chuck Noland vorbereitete, der wie ein Mann mittleren Alters aussehen sollte, mästete er sich und nahm 22 kg zu. Nach dem Abschluss eines
Großteils der Dreharbeiten speckte er diese 22 kg wieder ab und ließ sich stattdessen einen langen Bart wachsen, um wie jemand auszusehen, der seit Jahren auf einer einsamen
Insel gestrandet war. Doch damit nicht genug: Während der Dreharbeiten auf Fiji lebte
Hanks tatsächlich wie ein einsamer Inselbewohner. Er weigerte sich, eine Beinverletzung
behandeln zu lassen, und bekam eine bakterielle Infektion. Als sich diese unangenehm
bemerkbar machte und er sich doch zu einer Behandlung entschloss, erfuhr er beim Arzt,
dass er kurz vor einer Blutvergiftung stünde.
Heath Ledger in „The Dark Knight”
Der australische Schauspieler spielte seine letzte Rolle so überzeugend, dass er dafür
posthum im Jahr 2009 einen Oscar gewann. Er hatte sich vollständig mit Joker, dem bizarren Bösewicht, identifiziert und das Publikum begeistert. Selbst während der Drehpausen
wollte er als Joker angesprochen werden und interagierte als solcher. Wer ihn nicht mit
Joker ansprach, wurde ignoriert. Vor dem Dreh wollte Ledger das Gefühl der Isolation und
Misanthropie selbst erleben, weshalb er sich vier Wochen lang in seiner Wohnung einschloss und für niemanden erreichbar war.
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Val Kilmer gab mehrere Tausend Dollar aus, um ein achtminütiges Musikvideo produzieren zu
lassen, in dem er Songs von Jim Morrison singt und diesen perfekt imitiert. Kilmer lernte 50
Songs auswendig, trug Morrisons Kleidung und verbrachte seine Freizeit dort, wo auch Morrison seine Freizeit verbracht hatte. Kilmer unterhielt sich stundenlang mit Paul Rothchild, dem
Produzenten der Band und Berater des Films. Nach den Dreharbeiten sagte Rothchild über
Kilmer, dass dieser jetzt Morrison besser kenne, als Morrison sich jemals selbst gekannt habe.
ANTONIA CAMPBELL-HUGHES IN „3096 NATASCHA KAMPUSCH“
Die echte Natascha Kampusch wurde acht Jahre lang von dem psychisch kranken Wolfgang Priklopil in einem Kellerverlies gefangen gehalten. Antonia Campbell-Hughes
versuchte, so viel zu leiden, wie Kampusch leiden musste. Infolgedessen nahm sie enorm
an Gewicht ab. Das ging so weit, dass man sie kaum noch wiedererkennen konnte und
Gesundheitsexperten sich einmischten, da sie um ihr Leben fürchteten.
Robert de Niro in „Taxi Driver”
Robert De Niro hat für die Vorbereitung auf seine Rolle tatsächlich seinen Taxischein gemacht. Der Oscar-Gewinner arbeitete anschließend Zwölf-Stunden-Schichten und brachte
in Drehpausen Fahrgäste in New York City zu ihrem Reiseziel.
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Gesichter
„Es gibt Krisen, die kann man
kommen sehen“
Ein Interview mit Dr. Annika Schach
Krisen können jedes Unternehmen treffen. Manche reden sich dann um Kopf und Kragen, andere
behaupten sich und ziehen daraus letztendlich
eine positive Bilanz. Dr. Annika Schach, Dozentin
für Krisen-PR an der Hochschule Hannover, erklärt,
worauf es ankommt.
von Jessica Preuss
Was halten Sie für die Kernkompetenzen in der
Krisenkommunikation?
Es gibt verschiedene Phasen, die bei der Krisenkommunikation wichtig sind. Zum einen natürlich
in der akuten Krise, zum anderen aber muss man
schon in der potentiellen Phase, der latenten Phase,
aufmerksam Kommunikation betreiben. Dasselbe
gilt für die Nachbereitung. Themen, die relevant
werden könnten, sollten aufmerksam beobachtet
werden. Eine der Kernkompetenzen ist deshalb eine
gute Beobachtungsgabe. Man muss genau wissen,
welche Themen sich für ein Unternehmen oder eine
Organisation krisenhaft zuspitzen könnten. Eine weitere Kernkompetenz liegt in einer guten Organisation und Vorbereitung. Wenn es nämlich zum Krisenfall kommt, muss man sehr schnell handlungsfähig
sein. Dann sind Krisentrainings- und Krisenkommunikationshandbücher und alles, was man vorher
planen konnte, von großer Bedeutung. Heutzutage
ist das ja durch den Social-Media-Bereich alles sehr
schnell geworden. Wenn ein Shitstorm anfällt, muss
man blitzschnell reagieren. Daher ist auch die interne Koordination ein wesentlicher Punkt, weil man
dadurch auf den Krisenfall besser vorbereitet ist. Die
dritte Kernkompetenz schließlich ist die sprachliche
Kompetenz. Man muss seine Inhalte rhetorisch und
semantisch gut und treffend vermitteln. Auch in der
Online-Kommunikation kommt es darauf an, dass
man die richtigen Begriffe wählt.
Warum ist Empathie so wichtig?
Die Themen Empathie und Krisenkommunikation
in Verbindung zu bringen ist smart, weil der Begriff „Empathie“ ja eigentlich aus der Psychologie
kommt. Es handelt sich um die Fähigkeit, sich
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in andere Menschen hineinzuversetzen. Bei der
Krisenkommunikation sind das eigentlich verschiedene Ebenen, die da relevant sind. Zum einen
könnte man ja sagen, dass man seine Zielgruppen
möglichst gut verstehen muss. Damit man gerade
auch im Krisenfall einfach weiß, wie sie reagieren,
was sie wissen wollen. Man muss wissen, wie man
da am besten kommunizieren kann. Auf der zweiten Ebene könnte man sich überlegen, ob man mit
einem Unternehmen Empathie haben könnte, das
in einen Krisenfall gekommen ist. Und im dritten
Fall ist es dann wieder auf sprachlicher Ebene, also
wie man sich bestmöglich ausdrücken kann, sodass
man für die unterschiedlichen Zielgruppen die
richtigen Botschaften findet. Wobei da auch das
Juristische beachtet werden muss. Wenn man sich
als Unternehmen entschuldigt, könnte das schon als
Schuldeingeständnis gelten.
Wo liegen die Grenzen?
Empathie ist zunächst einmal unbegrenzt möglich. Die Frage ist, wie man damit umgeht, welche
Schlüsse man daraus zieht und welche Maßnahmen
daraus abgeleitet werden. Die Fähigkeit, sich in
andere hineinzuversetzen, ist die Grundlage für
alles, was man tut und für die nächsten Schritte, die
dann folgen. Wenn ein Unternehmen einen Krisenfall hat, in den Personen betroffen sind, dann gibt
es natürlich Mitgefühl mit den Opfern. Wenn dann
jedoch vor diesem Hintergrund Maßnahmen ergriffen werden sollen, dann gibt es Grenzen. So kann
man etwa sagen, dass man dies zwar verstehen
und nachvollziehen kann, aber aus der Unternehmensperspektive heraus muss irgendwo ein Punkt
gesetzt werden, da muss dann eine Grenze sein.
Kann man das lernen?
Als Kommunikationsmensch sollte man sowieso
ein gehöriges Maß an Empathie mitbringen. Eine
gewisse Sensibilität, bestimmte Techniken, das kann
man sich sicherlich aneignen, aber über ein ordentliches Grundmaß an Empathie sollte man schon
vorher verfügen. Wenn es einer Person sehr schwer
fällt, sich in andere Menschen und deren Kommunikationssituationen hineinzuversetzen, dann wird es
in der Kommunikationsbranche schwierig. Dann sollte diese Person vielleicht doch lieber einen anderen
Beruf wählen.
Gerade in Zeiten der „neuen Medien“ ist es wichtig, schnell zu reagieren. Dabei bleibt Empathie
häufig auf der Strecke. Woran könnte das liegen?
Das liegt zum einen an der Schnelligkeit. Man sieht
das Gegenüber nicht und denkt dann auch nicht
mehr lange nach. Durch die Schnelligkeit kann die
Perspektive verloren gehen, die Sache aus der Sicht
das Anderen zu sehen. Empathie erfordert Zeit, um
sich mit seinem Gegenüber auseinanderzusetzen.
Ein anderer Grund mag darin liegen, dass man im
Social-Media-Bereich relativ „unpersönlich“ kommunizieren kann. Es ist eine andere Dialogsituation
als das persönliche Gespräch. Man sitzt vor einem
Rechner und kommuniziert außerdem mit Nicknames. Vieles ist dann auch nicht wirklich durchdacht,
weil es nie zu einem Dialog gekommen ist. Es wird
zwar immer gesagt, dass wir hier ein Dialogmedium hätten, aber häufig sieht man doch nur einen
Austausch von Statements. Wenn man nicht wirklich
miteinander im Gespräch ist, dann fällt es auch
schwerer Empathie zu empfinden. Stattdessen tut
man häufig nur seine Meinung kund.
Wie kann sich das Unternehmen da verbessern?
Unternehmen setzen häufig auf eine Professionalisierung ihrer Social-Media-Aktivitäten. Heutzutage
ist ein größeres Verständnis dafür da, dass dies ein
eigener Bereich ist. Dafür braucht man dann aber
auch Zeit, dafür braucht man Menschen, die sich
damit auseinandersetzen. Wenn man sich große
Unternehmen anschaut, dann sieht man, dass sie
teilweise ihren kompletten Kundenservice über
Social-Media-Kanäle abwickeln. Wenn man eine
Beschwerde hat, kann es einfacher sein, über Twitter
oder Facebook eine Antwort zu bekommen als
telefonisch. Dann ist es natürlich gut, wenn man
feststellt, dass Unternehmen aktiv kommunizieren.
Das Wichtigste daran ist allerdings, dass wirklich
individuell geantwortet wird, dass die Nutzer also
nicht das Gefühl bekommen, dass immer wieder
das Gleiche geschrieben wird, dass man sie mit
vorgefertigten Textbausteinen abfertigt. Wenn
Unternehmen mit Textbausteinen arbeiten und
sich überhaupt nicht dafür interessieren, was jetzt
wirklich gefragt wurde, dann kann das, zusätzlich
zu dem eigentlichen Anlass der Kritik, einen neuen
Shitstorm auslösen. In solch einem Fall kommt diese
schlechte Erfahrung noch zu dem ersten Anlass hinzu. Hier spielt Empathie wieder eine wichtige Rolle.
Es geht kein Weg daran vorbei, sich mit den einzelnen Belangen der Fragesteller auseinanderzusetzen.
Das erfordert auch Manpower und eine Abteilung
und ein Budget, damit die Ansprechpartner im
Unternehmen überhaupt die Möglichkeit haben,
angemessen zu reagieren.
Wo sollte man grundsätzlich bei der Krisenkommunikation ansetzen?
Es geht zum einen darum, sich auf mögliche Krisen vorzubereiten. Das ist ganz wichtig und das
machen auch viele Unternehmen. Sie erstellen ein
Krisenhandbuch, wo sie gedanklich mögliche Fälle
durchspielen, damit sie vorbereitet sind. Ein solches
Handbuch enthält konkrete Checklisten. Wenn der
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Gesichter
Krisenfall nie eintritt, kann das manchmal ein bisschen merkwürdig wirken, geradezu idiotisch. Man
denkt sich vielleicht, dass man sowas auch ohne
solche Listen hinbekommen würde. Wenn die Krise
aber doch kommt, dann geht es wirklich nur um
wenige Minuten oder maximal eine halbe Stunde,
in der eine Reaktion kommen muss. Dann zeigt sich,
wie wichtig eine solche Vorbereitung auf den möglichen Krisenfall ist. Außerdem muss in die Evaluation
investiert werden. Das bedeutet, dass man sich bestimmte Themenentwicklungen anschaut, damit man
möglichst rechtzeitig eingreifen kann. Es ist keine
gute Idee, erst einmal abzuwarten, weil man etwa
denkt, dass das Thema mein Unternehmen doch gar
nicht betrifft. Ganz plötzlich trifft es dann eben mein
Unternehmen doch und dann rächt sich das. Manche
Krisen kann man kommen sehen. Es gibt natürlich
auch unvorhersehbare Krisen, z.B. bei Fehlverhalten
des Managements oder bei einem Flugzeugabsturz.
Auf akute Krisen dieser Art kann man sich nicht vorbereiten, aber es ist durchaus möglich, Strukturen zu
schaffen, mit denen man sie bewältigen kann.
Burger King hat 2014 mit Online Videos reagiert,
als der Hygieneskandal aufkam. Warum hat diese
Methode besser funktioniert, als einfach nur eine
Pressemeldung als Text rauszugeben?
Das bewegte Bild wirkt einfach ganz anders als reiner Text. Deswegen wird generell sehr viel Bewegtbild in der Kommunikation gemacht. Auch in der
Krisenkommunikation ist das sicherlich gut, weil das
gesprochene Wort und das Bild gemeinsam immer
noch etwas überzeugender wirken als der Text.
Einen Text kann letztlich jeder geschrieben haben,
während man im Video die Person sieht und die Persönlichkeit dahinter. Deswegen empfehlen das viele
Krisenkommunikationsagenturen. Bei Burger King
sind die Macher noch einmal einen Schritt weitergegangen, weil sie eine Kampagne daraus gemacht
haben und die Videos im Fernsehen ausgestrahlt
wurden. Sonst wird häufig nur ein Video auf der
Website veröffentlicht. Die Burger-King-Videos
waren einmalig in der PR-Branche und die Macher
haben dafür auch einen Award gewonnen, weil sie
sehr aktiv geworden sind. Viele Unternehmen sind
dagegen sehr zurückhaltend, vor allem im Lebensmittelbereich. Es gibt dort sehr viele Krisenfälle, die
man als Verbraucher kaum mitbekommt. Da werden
die Unternehmen nicht aktiv und hoffen, dass die
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Medien nicht darauf anspringen. Häufig klappt das
auch und dann wird die Sache einfach unter den
Teppich gekehrt. Deshalb kommt es natürlich immer
gut an, wenn man aktiv mit solch einer Krise umgeht. Bei Burger King ist es am Ende auch nur ein
Franchise-Nehmer gewesen, der viel Mist gebaut
hat. Den gibt es mittlerweile nicht mehr. Ein aktives
und transparentes Vorgehen wird immer honoriert.
„Don’t feed the trolls” heißt es häufig im Bereich
Social Media. Ist ignorieren oder löschen der Beiträge eine Lösung?
Es ist eine große Hilfe, wenn man die Kommentare
kategorisiert. Es gibt ein Schema, womit man die
verschiedenen Kommentare einschätzen kann. Es
handelt sich um eine Typologie mit acht verschiedenen Typen. Ist es eine kritische Frage? Ist es eine
sehr kritische Frage? Ist es jemand, der moderiert?
Ist es jemand, der für das Unternehmen in die
Bresche springt, sich dabei aber im Ton vergreift, ein
sogenannter Fanboy? Das sind Typologien, die man
ganz gut nutzen kann, um verschiedene Gefährdungsgrade abzuchecken. Trolls sind ebenfalls eine
Kategorie. In ihrem Fall würde man eher die Strategie fahren, dass man diese Leute gar nicht speziell
anspricht, sondern sie einfach stehen lässt – eben
nach dem Motto „Don’t feed the trolls“. Bei kritischen Fragen dagegen kann man natürlich darauf
eingehen und sich im Kommentar darauf beziehen.
Man versucht dann, Fürsprecher für sich zu gewinnen. Es gibt verschiedene Strategien, wie man mit
unterschiedlichen Kommentaren umgehen kann. In
Unternehmen wird das häufig als eine Art Ampelsystem dargestellt. Bei Rot muss man unbedingt mit
dem Vorgesetzten sprechen oder weitere Maßnahmen ergreifen, bei Gelb kann man selber antworten
und bei Grün ist alles in Ordnung. So versucht man
abzustufen. In jedem Fall kann man nicht sagen,
dass alle Kommentare gleich sind. Die Abstufung
und Kategorisierung hilft in der Kommunikation.
Nehmen wir mal an der Shitstorm ist bereits
ausgebrochen. Was sollte man jetzt tun?
Dafür gibt es ein gutes Beispiel. Es gab mal einen
Shitstorm bei der ING-DiBa. Die hatten einen TVSpot veröffentlicht, in dem Dirk Nowitzki in eine
Metzgerei gegangen ist und eine Scheibe Wurst
bekommen hat mit dem Spruch: „Damit du groß
und stark wirst“. Darüber haben sich sehr viele
Vegetarier auf der Facebookseite der ING-DiBa
aufgeregt und gesagt, dass Wurst nicht das Mittel sei, um groß und stark zu werden. Auf dieser
Facebookseite ist dann eine riesige Diskussion über
gute Ernährung und Fleischkonsum entbrannt. Die
ING-DiBa hat diese Diskussion erst einmal einfach
laufen lassen, sie haben also den Diskutanten den
Raum dafür auf ihrer Facebookseite geboten. Nach
ein paar Tagen veröffentlichten sie dann jedoch ein
Statement, wonach sie es bei der ING-DiBa zwar
gut fänden, wenn man sich austauscht, dass sie nun
aber ihre Facebookseite wieder für ihre eigenen,
spezifischen Themen nutzen wollten. Sie haben also
auf ihr Hausrecht verwiesen und öffentlich angekündigt, dass sie jetzt, an dieser Stelle, einen Cut
machen. Sobald man dies als Unternehmen offen
kommuniziert, wird es meistens auch gutgeheißen.
Als Betreiber einer Seite hat man durchaus eine
Art Hausrecht. Man sollte allerdings nicht einfach
unkommentiert Kommentare löschen. Dann schreit
die Gemeinde auf und spricht von „Zensur“. Wenn
man jedoch offen kommuniziert, was man als Unternehmen tun wird und warum, dann kommt das
in der Regel gut an. Die Fans einer Seite finden es
meistens blöd, wenn sich viele Trolls auf dieser Seite herumtreiben. Man kann durchaus löschen oder
entfernen und man kann auch auf die Netiquette
verweisen. Viele Redaktionen arbeiten mit einer
Netiquette. Die wird auch akzeptiert.
Die Bundesregierung betreibt aktuell auch Krisenkommunikation in der Flüchtlingsdebatte. Was
könnte sie besser machen?
Grundsätzlich muss man immer unterscheiden
zwischen solchen Problemen, die sich durch Kommunikation lösen lassen und solchen, die zunächst
einmal nicht mit Kommunikation gelöst werden
können. Die Flüchtlingsdebatte ist besonders
vielschichtig. Mit reiner Kommunikation kann man
natürlich nicht die gesamte Problematik beheben.
Eines ist aber ganz gut gelungen: Durch diesen
Satz, den Frau Merkel geprägt hat, „Wir schaffen
das“, ist eine sehr spitze Kommunikation da. Jeder
kennt diesen Satz. Das ist eine sehr klare Aussage
und eine ebenso klare Positionierung. Im zweiten
Schritt geht es jetzt darum, transparent zu machen,
wie dieses Flüchtlingsproblem tatsächlich angegangen werden soll. Besonders schwierig wird es dann,
wenn dieses Thema für parteipolitische Positions-
kämpfe zwischen CDU, CSU und SPD missbraucht
wird. Das kommt natürlich nicht gut an, aber auch
das lässt sich durch Kommunikation allein nicht
lösen. Dafür ist das Problem einfach zu akut. Eine
offene Kommunikation ist jetzt besonders wichtig. Das passiert auch durchaus, man bezieht sich
auf die Fakten. Leider werden durch die Medien
teilweise Zahlen und Fakten falsch wiedergegeben,
das muss man dann auch kritisieren. Da werden
beispielsweise Statistiken über Geschlecht oder
Herkunft der Flüchtlinge nicht nachrecherchiert,
ungeprüft abgedruckt und manchmal sogar von
Qualitätsmedien übernommen. Hier muss man
darauf bestehen, dass wir jetzt wirklich bei den Fakten bleiben und auch transparent kommunizieren,
welche Lösungsvorschläge es tatsächlich gibt.
Würden Sie der Bundesregierung empfehlenn
solche Videos zu machen?
Video ist prinzipiell ein gutes Medium, aber es muss
natürlich auch fundiert sein. Im Moment sind viele
Dinge einfach noch nicht soweit geklärt, dass sie
sich für ein Video eignen. Da sollte man erst einmal
seine inhaltlichen Hausaufgaben machen, bevor
man solch ein Medium wählt.
Was sollte jetzt der nächste Schritt der Bundesregierung sein?
Es wird schon jetzt viel kommuniziert. Es gibt die
klassischen Formate, wie etwa die Bundespressekonferenz. Mit Steffen Seibert hat die Bundesregierung jemanden, der die nötige journalistische
Erfahrung mitbringt und der auch von vielen im
medialen Umfeld anerkannt wird. Vom kommunikativen Standpunkt aus kann man dem momentan
nicht viel hinzufügen. Das, was derzeit zu sagen
ist, wird bereits kommuniziert. Ich empfehle einen
vernünftigen Umgang mit dem Thema. Man muss
sachlich auf die Fakten schauen, danach kann man
die nächsten Schritte angehen. Häufig allerdings
wird den Leuten, die das Flüchtlingsproblem kritischer sehen, vermittelt, sie seien alle dumm, oder
sie seien alle Nazis. Das hilft meiner Meinung nach
auch nicht weiter, weil man diese Leute auch mit ins
Boot holen muss. Hier muss versucht werden, mit
der Faktenlage einen argumentativen und vernünftigen Umgang zu pflegen.
69
Gesichter
NEUN FAKTEN
GENERATIONSWECHSEL
Sara Konrath kam nach der Auswertung von 72 Studien, die zwischen 1979 und 2009 die Empathiefähigkeit
von über 14.000 Studierenden getestet hatten, zu einem
erstaunlichen Ergebnis: Heutzutage sind sie etwa 40 Prozent
weniger einfühlsam als ihre Kommilitonen aus den Siebzigern. Die Sichtweise ihrer Mitmenschen können sie schlechter verstehen und haben weniger Mitgefühl mit Notleidenden.
BESCHLEUNIGER
David Rakel von der Universität von Winsconsin hat
herausgefunden, dass empathische Ärzte ein Genesungsbeschleuniger sein können: Für seine Studie
schickte er Erkältungs-Patienten zu Ärzten, denen
er zuvor Anweisungen für die Behandlung gegeben
hatte. Die einen waren besonders nett und kümmerten sich intensiv um ihre Sorgenkinder, die anderen
speisten sie mit einer Standard-Behandlung ab. Dabei
kam heraus: 84 von 350 Teilnehmern stuften ihren Arzt
als besonders empathisch ein und wurden am schnellsten gesund – im Schnitt sogar einen Tag früher.
ÜBER EMPATHIE
NATURTALENT
Ein Synästhetiker ist ein Mensch, der
einen Sinnesreiz gleich mehrfach
wahrnimmt und somit in der Lage
ist, Geräusche nicht nur zu hören,
sondern dazu auch Formen und Farben
zu sehen. 2007 fanden Wissenschaftler
heraus, dass diese Menschen auch
besonders empathisch sind: Dafür
berührten die Professoren entweder
die linke oder die rechte Wange der
Probanden, während diese Bilder
eines Gesichtes sahen, das ebenfalls berührt wurde. Solange das Bild
und der tatsächliche Kontakt übereinstimmten, hatten die Teilnehmer
keine Probleme mit der Antwort.
Sobald sie jedoch abwich, bekamen
sie Schwierigkeiten und machten Fehler. Die Wissenschaftler schlossen daraus, dass sich die beobachtete Berührung offenbar genauso real anfühlte
wie die tatsächliche.
SPÜRNASE
BETONUNG
Nicht nur für die Pointe einer Geschichte,
sondern auch zum Ausdruck von Empathie ist
Betonung beim Erzählen besonders wichtig.
In einer Studie von der Universität Southern
California wurden Probanden gebeten, den
sinnfreien Satz „Da da da da da“ möglichst mit
verschiedenen Emotionen zu hinterlegen. Die
Forscher bemerkten dabei, dass eine bestimmte Region des Sprachzentrums aktiviert wurde:
das Broca-Areal. Im finalen Empathietest stellten sie dann fest: Die stärksten emotionalen
Gehirnaktivitäten zeigten sich bei denjenigen,
die auch im Alltag ihre Aussprache besonders
betonen.
70
Empathische Menschen haben nicht nur die
Fähigkeit zum Mitgefühl, sondern auch ein
sehr gutes Näschen. Das fanden Forscher
der Universität Houston in einem abenteuerlichen Experiment mit 44 Studenten heraus: Sie sollten dafür zweimal an jeweils
drei unterschiedlichen T-Shirts riechen und
das Shirt erkennen, das ihrem Mitbewohner gehört. Zehn der Probanden haben im
Ergebnis richtig gelegen, 13 schafften es
sogar beide Male. Danach durchliefen die
Studenten einen Empathietest – und am
besten schnitten jene 13 Teilnemer ab, die
zuvor zweimal erfolgreich waren.
SCHMERZRESISTENZ
EINSTELLUNGSSACHE
Eine aktuelle Studie von der
Universität Bologna hat eine
interessante Feststellung gemacht: Gehirne von Rassisten
ticken offenbar anders. In ihrer Studie wurden freiwilligen
Teilnehmern Filmausschnitte
gezeigt, auf denen Hände zu
sehen waren. Diese wurden
entweder mit einer Nadel verletzt oder mit einem Wattestäbchen zärtlich gestreichelt.
Währenddessen maßen die
Wissenschaftler die Gehirnaktivitäten der Probanden: Bei
den neutralen Versuchsteilnehmern wurde ein Hirnareal
aktiv, das für Emotionen und
Schmerzempfinden zuständig
ist. Bei den rassistsich eingestellten Probanden aus blieben diese Reaktionen aus. Offenbar dominieren Vorurteile
also auch das Gehirn - und
verdrängen die Empathie.
Das Gehirn ist von Natur aus empathisch: Weltweit gibt es etwa 100
Menschen, die eine angeborene Unempfindlichkeit für Schmerzen
haben. Nicolas Danziger, ein französischer Neurophysiologe, hat
herausgefunden: Selbst die Gehirne dieser Personen sind empathiefähig. In einem Experiment sahen 13 Betroffene Videos, in denen sich Menschen verletzten oder offensichtlich Schmerz empfanden. Obwohl die Probanden zuvor nie Schmerz gefühlt haben, löste
der Anblick bei ihnen eine Reaktion im Gehirn aus - und zwar in den
Regionen, die für das Schmerzempfinden zuständig snd.
BÜCHERWURM
Laut Raymond Mar steigert das Lesen von Romanen die
Empathie. Für diese Erkenntnis führte er eine Studie durch,
in der 94 Personen in einer Liste mit vielen Autorennamen
sagen sollten, welche sie davon kennen. Danach testete
er die Empathiefähigkeit der Probanden. Und tatsächlich:
Kenner der Roman-Schriftsteller wiesen eine höhere Empathiefähigkeit auf als diejenigen, die sich mehr für Sachbücher interessierten.
GENFORSCHUNG
Empathie hilft gegen Stress: US-Forscher haben herausgefunden, dass empathische Menschen aufgrund einer
bestimmten Genvariante besser mit Stress umgehen
können. Das Gen ist dafür verantwortlich, Gefühle anderer besser zu verarbeiten und störende Eindrücke eher
auszublenden.
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Gesichter
„Eigenarbeit kommt
vor Fremdarbeit“
Was denkt jemand über Einfühlungsvermögen, der sich tagtäglich mit
dem (Arbeits-)Leben anderer Menschen aueinanderetzt über da Thema
Empathie? Und wie gelingt es, sich selbt nicht zu verlieren? empa führte
ein Interview mit Coach Nina Stromann. In Hannover bietet die Rechtsanwältin und gelernte systemische Beraterin und Therapeutin ein Coaching
für Unternehmer und Führungskräfte an.
von Torben Ritzinger
Was bedeutet für Sie
Empathie?
Für mich bedeutet Empathie, sich in andere Menschen einfühlen. Einerseits
kann das kognitiv sein – also rein gedanklich. Andererseits ist es aus meiner
Sicht mit großer Empathiefähigkeit möglich, diese auch im Umgang mit dem
anderen zu zeigen.
Wird Empathie nicht zu
oft mit Mitleid
verwechselt?
Schwierige Frage. Aber ich verstehe unter Mitleid überspitzt gesagt: „Du
arme Sau! Ich bin froh nicht in deiner Position zu sein.“ Demgegenüber ist
dann Empathie eher, sich konkret mit jemandem und seiner Position auseinanderzusetzen. Für ihn da zu sein und das Gefühl auszuhalten.
Wo kommt Empathie in
Ihrem Beruf besonders
zum Tragen?
Als Coach arbeite ich mit Menschen auf Ihrer persönlichen emotionalen
Ebene und versuche, mich bestmöglich darauf einzulassen. Es geht, darum
emotional zu empfinden. Und wenn jemand das nicht kann, dann helfe ich,
indem ich auch Empathie verbal vermittle.
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Was denken Sie, ab
welchem Alter ist der
Mensch empathisch?
Das kann ich zwar nicht genau beurteilen, da ich nicht mit Kindern arbeite.
Aber aus dem Bauchgefühl heraus würde ich sagen, dass gerade Kinder sehr
empathisch sind und sensibel auf ihre Mitmenschen, etwa die Familie, reagieren. Dazu gibt es sicher wissenschaftliche Studien, die sich mit der Frage
konkret beschäftigen.
Kann man größeres
Empathievermögen
erlernen?
Ich denke schon, dass Empathie ein Stück weit verankert ist in uns. Wie sie
sich äußert, ist von Mensch zu Mensch aber wohl tatsächlich unterschiedlich.
Deshalb glaube ich, dass sich Empathie durch Lebenserfahrungen entwickelt.
Wann haben Sie das
letzte Mal Empathie
vermisst?
Ein konkretes Beispiel fällt mir jetzt spontan nicht ein. Ich bin jedoch der
Meinung, dass Menschen überwiegend tun, was sie tun können. Es ist einfach
insgesamt eine starke Leistung, empathisch zu sein und zu fühlen was der Andere fühlt. Das kann sicher nicht jeder. Doch wenn man weniger im Umgang
mit sich und seinen eigenen Problemen zu tun hat, dann hat man auch mehr
Kapazität für die Gefühle Anderer.
Man schaut also zunächst auf sich?
Genau. Ich schaue erst auf mich und gucke, ob es mir gut geht. Denn das ist
die Grundvoraussetzung für Empathie. Dass man selbst gut versorgt ist. Mir
fällt dazu ein: Kooperation ist erst dann möglich, wenn sich zwei unabhängige
Menschen begegnen. Der stammt aus einem Lehrbuch namens dialogsche
Führung der Autoren Kurt Martin Dietz und Thomas Kracht. Denn bei Stress
bin ich logischerweise weniger einlassbar auf fremde Gefühle.
Kann man zu
empathisch sein?
Es wird dann gefährlich, wenn man Empathie damit verwechselt, nur noch für
den Anderen da zu sein. Dann verliere ich mich selbst.
Man braucht also auch
sich selbst gegenüber
Empathie?
Ja, das denke ich schon. Die eigene Arbeit kommt vor der fremden Arbeit.
Das betrifft auch Empathie, weil ich erst dann in der Lage bin, empathisch zu
sein.
73
Berufung
74
75
Berufung
Manches geht einfach zu weit
Pädagogen über Schüler
Jeder Mensch durchläuft im Laufe seines Lebens wichtige Stationen. Wir werden geprägt
durch die Dinge, die wir erleben und durch die
Menschen, denen wir begegnen. Bewusste und
unbewusste Entscheidungen, die wir treffen,
beeinflussen uns, formen unseren Charakter
und machen uns einzigartig. Eines haben die
meisten von uns jedoch gemeinsam: die ersten
Stationen auf dem Weg des Erwachsenwerdens
sind dieselben. Angefangen beim Kindergarten
über den ersten Schultag bis hin zum Tag des
Abschlussballs.
von Mareén Hamann
Die Schullaufbahn ist wichtig für unser Sozialverhalten.
„Die Schule dient, neben den Eltern, als prägende
Erziehungsinstanz“, so Kinder- und Jugendpsychologin Kerstin Kramer*. „Im Kindergarten fangen
wir an, erste soziale Kontakte aufzubauen, in dem
wir mit anderen Kindern spielen. Dabei lernen wir
erste Grenzen des zwischenmenschlichen Agierens kennen. Wenn ich einem anderen Kind ein
Spielzeug wegnehme, werde ich von der Erzieherin ermahnt, dies nicht noch einmal zu tun.
In der Schule geht der Erziehungsprozess weiter.
Ein einfaches Beispiel ist, ich muss lernen, die
Hand zu heben, wenn ich etwas sagen möchte.
Sprich ich lerne, andere ausreden zu lassen. Dabei
lernen Kinder unterbewusst, sich gegenseitig zu
respektieren.“
Die Schule wird schon lang nicht mehr nur als
„Hort des Wissens“ angesehen. Vielmehr geht
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es darum, den Umgang mit anderen Menschen
zu fördern und wichtige Fähigkeiten im Umgang
miteinander zu erwerben.
„Wir beobachten oft, dass Kinder, die keinen
Kindergarten besucht haben, Schwierigkeiten haben, in der Schule Anschluss zu finden und oft im
Begriff sind, ausgegrenzt zu werden“, so Kramer.
Ihnen fehlt die Fähigkeit, sich mit Gleichaltrigen
zu identifizieren. Dies würde sich jedoch meist im
Laufe des ersten Schuljahres schnell ändern, so
Kramer weiter.
Besorgniserregend ist jedoch, dass sich Phänomene wie Mobbing und Ausgrenzung bereits bei den
ganz Kleinen beobachten lässt. Bereits im Grundschulalter bilden sich bestimmt Cliquen. Kramer
sagt, dass oft Kinder aus sozialschwächeren Familien Gefahr laufen ausgegrenzt zu werden, sei es
weil sie beispielweise nicht das neuste Spielzeug
haben oder weniger zu Weihnachten bekommen,
als andere Schüler aus der Klasse.
Hier sieht die Psychologin eine wichtige Aufgabe
seitens der Pädagogen. Es sei nicht abzustreiten,
dass sich das Konsumverhalten in den letzten
Jahren rapide verändert hat. Habe man sich früher
noch über Malbücher und neue Buntstifte zum
Nikolaus gefreut, so werden Kinder heutzutage
mit Geschenken nahezu überhäuft.
„Natürlich möchten Eltern ihren Kindern eine
Freude machen und als Lehrer kann man sich in
diesem Punkt nicht einmischen. Es ist jedoch Aufgabe der Pädagogen, den Kindern ein gewisses
Maß an Wertschätzung beizubringen. Ich begrüße
daher die Tradition vieler Grundschulen in der
Weihnachtszeit Päckchen mit kleinen Geschenken
und Süßigkeiten zusammenzustellen, um diese
dann beispielweise Kinderheimen zu spenden.“
Dies ist zudem wichtiger Bestandteil bei der
Ausbildung sozialer Kompetenzen. Etwas Gutes
tun und anderen eine Freude machen mit dem
Wissen, keine Gegenleistung zu erhalten, ist ein
befriedigendes Gefühl. Es lehrt uns zu teilen und
soll zeigen, dass materielle Dinge keine Selbstverständlichkeit sind.
„Kinder lernen dabei auch empathisch zu sein
und whl für andere Menschen zu zeigen. Dies ist
auch später als junger Heranwachsender und im
Erwachsenenalter von enormer Bedetung.“
Empathie als wichtiger Faktor des Zusammenlebens
Soziale Bindungen und Beziehungen begleiten
uns unser ganzes Leben lang, egal ob es sich dabei um Freundschaften, Liebesbeziehungen oder
dem Verhältnis unter Arbeitskollegen handelt.
Empathie hilft uns, sich in bestimmten Situationen
richtig zu verhalten, anderen Menschen beizustehen und zu helfen und Respekt und Wertschätzung entgegenzubringen.
Empathie spielt auch in der Schule eine wichtige
Rolle. Nicht nur was die Beziehungen zwischen
den Schülern angeht, sondern auch in Bezug auf
das Schüler-Lehrer Verhältnis, wie Michael Schulze*, Lehrer an einem Gymnasium, bestätigt.
„Für den täglichen Umgang hier in der Schule ist
Empathie unerlässlich. Ohne Respekt funktioniert
es eben nicht. Es geht dabei nicht nur um Respekt
den Lehrern gegenüber, sondern auch darum,
dass unsere Schüler einander respektieren.“
Leider, so der 46-Jährige, werde dies immer mehr
zu einem Problem. „Wir merken, dass der Umgangston der Schüler untereinander rauer ist, als
noch vor ein paar Jahren. Das fängt bereits bei
den Schülern der fünften und sechsten Klasse an.
Es werden Worte in den Mund genommen, an
die haben wir früher nicht einmal gedacht. Leider
bekommen einige diese Umgangston bereits von
zu Hause mit.
So etwas ist natürlich auch Thema im Lehrerzimmer. Wir können jedoch nicht mehr tun, als die
Schüler zu ermahnen.“
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Berufung
„In Bezug auf den Respekt, der uns Lehrern
entgegengebracht wird, kann ich nur sagen, dass
der Umgang teilweise lockerer geworden ist.
Beispielsweise, was das Essen und Trinken während des Unterrichts angeht. Mich stört es nicht,
wenn meine Schüler trinken. Auch beim Essen
drücke ich noch ein Auge zu, solang es nicht allzu
störend ist. Einige Kollegen sind da sehr streng.
Da darf nur im Sommer getrunken werden. Was
allerdings gar nicht geht sind Kaffeebecher auf
den Tischen!“
Gerade jüngere Pädagogen sind im Umgang mit
ihren Schülern lockerer, als die älteren Kollegen.
Das Smartphone auf dem Tisch ist jedoch nach
wie vor ein rotes Tuch. Schulze betont, man dürfe
nicht vergessen, dass man in der Schule sei. Auch,
wenn das Handy ein alltäglicher Begleiter geworden ist. Im Unterricht habe es nach wie vor nichts
zu suchen.
„Ich und viele andere Kollegen halten auch nichts
von dem Phänomen, dass Lehrer sich mit ihren
Schülern via WhatsApp austauschen. Eine gewisse
Grenze muss bestehen bleiben“, sagt Schulze.
Es sei zwar ganz natürlich, dass man im Laufe der
Jahre ein gewisses vertrautes Verhältnis aufbaut.
Viele Lehrer begleiten ihre Schützlinge vom ersten
Tag an der weiterführenden Schule bis hin zum
Abitur. Dennoch müssen Grenzen eingehalten
werden. Schon allein, um Missverständnissen und
Gerüchten vorzubeugen. „Stellen Sie sich vor, ich
hätte die Handynummern meiner Schülerinnen!
Was meinen Sie, wie schnell es dumme Gerüchte
geben würde.“
Es ginge jedoch nicht nur um die Prävention von
Anschuldigungen, sondern auch um das altbekannte Thema der Objektivität. Als Lehrer müsse
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man alle Schüler gleich behandeln. Ein allzu enges
Verhältnis könnte dazu führen, an objektivem Urteilsvermögen zu verlieren.
Ein schwieriges Thema, so sind sich Schulze und
seine Kollegin Kerstin Kramer einig, sei es, wenn
auffällt, dass es einem Schüler schlecht geht.
„Wenn ein Schüler gemobbt und ausgegrenzt
wird, bekommen wir das natürlich mit. In diesem
Fall können wir leider oftmals nicht viel tun. Wir
sprechen natürlich mit der Klasse und versuchen
zu vermitteln. Ermahnen, wenn ein Schüler beleidigt wird. Freundschaften können jedoch nicht
erzwungen werden.“
Leider sei es auch schon vorgekommen, dass ein
Schüler offensichtlich Opfer häuslicher Gewalt
wurde. In diesem Falle müsse man sich vorsichtig
herantasten. Die Schüler verschließen sich oft
im persönlichen Gespräch mit den Lehrern aus
Angst vor mehr Gewalt im Elternhaus. „ Wenn ein
Schüler Opfer häuslicher Gewalt wird, müssen wir
handeln. Für diese Fälle haben wir jedoch speziell
ausgebildete Pädagogen, an die sich die Schüler
wenden können beziehungsweise an die auch wir
uns wenden, wenn ein solcher Fall auftritt.“
Als Lehrer wolle man in erster Instanz Wissen
vermitteln und die Schüler auf das anstehende
Berufsleben vorbereiten. Ein gewisser Beschützerinstinkt lässt sich jedoch nicht unterdrücken.
Ein offenes Ohr haben, auch nach dem Unterricht,
ist wichtig, um ein gutes Miteinander zu fördern.
Empathie beginnt beim Zuhören und Hinsehen.
Wo ist die Grenze? „Ganz klar bei einem freundschaftlichen Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern! Nach dem Beenden der Schullaufbahn gerne
aber nicht vorher!“
*Namen von der Redaktion geändert
79
Berufung
„Ich bin kein Gutmensch!“
Anschläge, Pöbeleien, Übergriffe. Dresden ist
seit über einem Jahr nun ein besonders heißes
Pflaster. Jeden Montag zieht es „besorgte
Bürger“ auf die Straße, Pegida ist nach wie vor
aktuell. Wie kann man zwischen diesen Nachrichten noch den Mut und die Motivation aufbringen, sich für Flüchtlinge einzusetzen? Ihnen
ein angenehmes Wohnen ermöglichen und
immer ein offenes Ohr für ihre Probleme haben?
Daniel Molitor kann das.
Von ANastasia marie kobisch
Das „Wohnheim Lindenhof“ hat so gar nichts von
einer typischen Flüchtlingsunterkunft mit Feldbetten und Überbelegung. Die Wände im ehemaligen
Hotel sind rot gestrichen, geschmackvoll ausgewählte Deko-Artikel lassen den Eingangsbereich
sehr wohnlich wirken, an einer Pinnwand hängen
Merkblätter, Informationen und Angebote auf
mehreren Sprachen. Ein Hostel für Flüchtlinge.
„Im Krieg ist alles unwichtig.“
Es ist morgens, halb neun. Ein freundlich lächelnder junger Mann, Daniel, kommt hinter dem
Empfangstresen hervor. Er ist der Heimleiter hier
im Lindenhof in Dresden-Stetzsch. Kaffee und Tee
stehen bereit, an einem Tisch im Eingangsbereich
sitzt Yvette Leschke, die bei Euro-Schulen in Dresden arbeitet und den Deutschkurs für Flüchtlinge
plant. Daniel setzt sich zu ihr, sie reden über Organisatorisches, Erfahrungen werden ausgetauscht
und er erklärt das Tagesprogramm. Heute verbringt eine Gruppe von Abiturienten ihren Projekt-
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tag im Lindenhof, es wird gekocht und ein „etwas
anderer“ Deutschkurs gegeben. Ein junger Mann
mit kurzen schwarzen Haaren und Drei-Tage-Bart
läuft vorbei und grüßt freundlich auf Deutsch.
Jwan. Er kommt „Viva Colonia“-singend zum Tisch
und erklärt sich sofort bereit, beim Kochen zu helfen und mit den Schülern einkaufen zu gehen. Der
junge Syrer ist froh, wenn er etwas zu tun hat.
Bei einer Raucherpause im Innenhof erzählt Yvette
Leschke von ihrer Arbeit. Seit acht Jahren arbeitet sie nun schon im Bildungswesen, doch so viel
Dankbarkeit wie jetzt hat sie noch nie erlebt. „Ich
arbeite lieber mit Flüchtlingen als mit Deutschen:
Sie sind extrem herzlich und offen, fragen, wie es
einem geht, bemühen sich und man kommuniziert, egal wie“. Sie möchte nie mehr woanders
arbeiten. Jwan steht daneben und lächelt. Er mag
Deutschland und lernt die Sprache sehr schnell.
Dass die meisten Flüchtlinge nur für Geld hierher
gekommen sind, glaube er nicht. Er selbst nehme
das Geld vom Sozialamt nicht an. „Ich habe in
Syrien BWL studiert und für einen Ölkonzern gearbeitet. Ich hatte ein gutes Leben, aber im Krieg
ist alles unwichtig.“ Den Deutschen gehe es zwar
besser, aber reich seien die meisten auch nicht. Er
wolle ihnen nichts wegnehmen, so der 24-Jährige.
Daniel ruft, die Abiturienten sind da. Während sich
Leschke auf den Weg macht, kommt Leben in den
Lindenhof. Der erste Teil des Deutschkurses ist zu
Ende. Männer aus Syrien, dem Irak und anderen
Krisengebieten hasten durch das Haus, unterhalten sich, dazwischen die Schüler des Hans-Erlwein-Gymnasiums.
Vom Vater nach Europa geschickt
eigenen Tür. Erst floh er nach Ägypten, doch Syrer
waren auch da bald nicht mehr sicher. Also ging
er nach fünf Monaten zurück und studierte und
arbeitete weiter. Dann wurde er 21 und sollte zur
Armee. „Ich hasse Blut und Gewalt, ich konnte das
nicht.“ Der Entschluss stand schnell fest: „Mein
Vater wollte, dass ich gehe, weil ich in Syrien
sterben würde.“ Der einzige Ausweg: Europa! Er
wollte nicht wieder weg von seiner Familie, seinen
Freunden, seinem Leben. Nun ist er seit vier Monaten hier in Deutschland und unendlich dankbar:
„Wenn ich könnte, würde ich jedem einzelnen
Deutschen Danke sagen. Es ist nicht selbstverständlich, so viele Menschen aufzunehmen.“ Auch
deshalb will er jetzt Deutsch lernen. „Es ist wichtig.
Wir leben jetzt hier, da muss man die Sprache
können.“ Und weiter: „Die Leute kommen nicht
für Geld aus Syrien nach Deutschland. Sie kommen für Sicherheit.“ Beide wollen wieder zurück.
Sie vermissen ihre Familien, ihre Freunde, ihr altes
Leben. Sie haben mehr erlebt, als ein Mensch in
einem ganzen langen Leben verarbeiten kann.
Und doch stehen sie hier und reden so reflektiert,
dass es unglaublich erscheint, dass die beiden
jungen Männer erst Anfang 20 sind.
Da unterhalten sich der 22-jährigen Mustafa aus
Syrien und sein Freund Basem. Sie stellen sich den
Schülern auf Deutsch vor, lachend. Basem möchte immer wieder ins Englische umsteigen, er hat
Angst, sich zu blamieren, doch Mustafa schimpft
mit ihm: „Ich habe zwei Geschwister. Das kannst
du auf Deutsch.“ Sie lachen. Basem studierte in
Syrien Tiermedizin und arbeitete auf einer Pferdefarm. Doch plötzlich war dr Krieg auch vor der
Jwan kommt mit einer Gruppe der Abiturienten
vom Einkaufen zurück, die nun in der Küche das
Essen vorbereiten möchten. Die anderen Gymnasiasten sitzen im ehemaligen Speiseraum beim
Deutschkurs. Sie sollen in drei Gruppen zehn
wichtige Sätze auf Deutsch lernen. Max und Caro
lernen mit einigen Flüchtlingen die Artikel. Das
Brot. Ich möchte bitte ein Brot. Bestimmter und
unbestimmter Artikel. Max erklärt, welche Artikel
Daniel zeigt ihnen zuerst das Haus. Im Lindenhof
wohnen 69 Männer und eine Frau. Die Bewohner
sind 18 bis 52 Jahre alt, die meisten noch sehr
jung, haben in ihren Herkunftsländern studiert
oder hatten es vor. In dem ehemaligen Hotel findet man keinerlei religiöse oder nationale Symbole. „Alles, was mit Religionen oder Nationalitäten
zu tun hat, lassen wir weg“, erklärt Daniel. Er wolle
nicht, dass es Streitereien gibt, besonders nicht
über unterschiedliche Religionen. „Die Flüchtlinge bekommen am Anfang von mir die Impfung,
dass das ein Haus voller Freunde ist. Fast alle hier
haben den selben Status, sie warten alle auf ihren
Asylbescheid und wir wollen bis dahin die Tage
friedlich miteinander verbringen. Klappt!“ Manchmal hängen die Bewohner im Gemeischaftsraum
die Deutschlandfahne auf, alles andere geschieht
nur in den privaten Bereichen. Und daran halten
sich alle. Auch Regeln gibt es im Haus. Für die
Küche gibt es einen Putzdienst und im Haus – auf
Wunsch der Flüchtlinge – ein Alkohol- und Rauchverbot. Geraucht wird im Innenhof, den Daniel
auch noch gestalten möchte.
81
Berufung
wann benutzt werden. Sie unterhalten sich auf
Englisch, Deutsch und mit Gesten. Dazwischen
verlegenes Lachen. Irgendwann rücken die Artikel
in den Hintergrund, die jungen Männer erzählen
Erlebnisse aus dem Alltag in Deutschland. Ein
Teilnehmer berichtet, dass sich Dresdner häufig
sträuben, Englisch zu sprechen: „Immer, wenn
ich jemanden nach dem Weg auf Englisch frage,
antworten sie auf Deutsch.“ Das helfe natürlich mit
der Zeit im Alltag, aber am Anfang hat er schon
mal mehrere Stunden gebraucht, um den Bahnhof
Dresden-Neustadt zu finden.
Wohlfühlatmosphäre im Flüchtlingsheim
Dazwischen wuselt Daniel herum. Er redet mit
den Schülern über das Essen, geht mit Jwan zum
Briefkasten und erklärt ihm dabei, wie das Postwesen in Deutschland funktioniert. Eigentlich
müsste Daniel nur kaufmännischer Arbeit nachgehen, die Flüchtlinge ein- und ausbuchen, sich um
die Hausordnung kümmern und nebenbei „ein
bisschen Sozialarbeit“ machen. Doch das kann er
nicht. „Damit werde ich nicht glücklich, weil sich so
niemand um die Menschen kümmert.“ Das passe
nicht zu ihm. „Es ist wichtig, eine Wohlfühlatmosphäre zu schaffen, um das Erlebte zu verarbeiten.
Viele sind wirklich traumatisiert. Verschwinden wird
es nicht, aber man kann das ein bisschen in Schach
halten. Ich versuche, die Leute zu beschäftigen,
damit sie nicht immer wieder in die schlimmen
Gedanken verfallen. Das gelingt mir nicht immer.“
Aber meistens. Die Bewohner des Hauses mögen ihn. Sie lachen, machen Scherze mit ihm und
respektieren ihn dennoch. Daniel will, dass sich die
Leute ein bisschen wie zu Hause fühlen können.
Sie haben hier die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, zu entspannen, zu zocken – „Ich möchte mit
den Menschen in eine schöne Richtung gehen.“
Es ist ein Full-Time-Job. Momentan zieht Daniel
um und renoviert sein neues Haus, weshalb er
weniger da ist. Davor gab es aber viele Tage, an
denen er auch 16 Stunden im Haus war und dann
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hier schlief. „Es ist viel Zeit, die für die Arbeit drauf
geht, aber es lohnt sich. Die Menschen fühlen sich
wohl, lernen Deutsch, integrieren sich. Natürlich
gibt es auch mal Spannungen, die löst man gemeinsam aber ganz schnell.“
setzen uns gerne mal zusammen hin und reden
miteinander. Im Sommer haben wir fast jedes Wochenende Lagerfeuer gemacht. Dieses gemeinsame Beisammensein, das miteinander Sprechen,
sich unterhalten über Gott und die Welt – das ist
das, was am schönsten ist.“
Arabischunterricht beim Mittagessen
Morddrohungen statt Dialog
Mittlerweile riecht es im gesamten Haus nach Mittagessen. Einige Schüler kickern mit den Flüchtlingen, viele stehen daneben und feuern die Spieler
an. Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen deckt
die Koch-Gruppe die riesige Tafel. Alle Plätze sind
belegt, doch einer der Männer steht auf, bringt
etwas zu essen und besteht darauf, dass sich eine
junge Frau hinsetzt. Das Essen stammt aus unterschiedlichen Ländern, die Männer preisen leckeres Hühnchen und eine Art Soße mit Gemüsen
an, dazu gibt es Brot. „Das musst du probieren,
das schmeckt sehr lecker!“ Und er hat Recht. Ein
etwas älterer Mann, Salah, zählt auf Deutsch auf,
was in der Soße ist, nur beim Wort „Zucchini“
muss er überlegen. Er ist aus Aleppo. Ebenfalls auf
Deutsch erzählt er, dass er in Syrien zwei Berufe
ausübte: er war Mechaniker und Kameramann. Er
hatte mit seiner Frau und seinen vier Kindern ein
Haus, doch alles wurde zerstört. Nun ist er hier in
Dresden, seine Familie in Osnabrück. Er holt sein
Handy heraus und zeigt ein Foto vom Busbahnhof
Hannover und lacht: „Vor zwei Wochen habe ich
meine Familie besucht und bin auch durch Hannover gefahren.“ So sehe er viele Ecken Deutschlands. Es ist eine angenehme Atmosphäre. Alle
unterhalten sich, es wird viel gelacht. Besonders
amüsant finden es einige der Männer, den Deutschen Wörter auf Arabisch beizubringen.
Für die Schüler ist heute Feierabend, in der
Flüchtlingsunterkunft wird es leerer, einige der
jüngeren Männer kickern gemeinsam. Ein Mix aus
arabischen Charts und den Backstreet Boys dröhnt
aus den Boxen. „Das schönste an der Arbeit ist
die Arbeit nach der Arbeit“, erzählt Daniel. „Wir
Doch es ist nicht alles positiv. Besonders in Dresden gibt es viele Auseinandersetzungen zwischen
Asylgegnern und -befürwortern. Pegida-Demonstrationen, Übergriffe auf Flüchtlinge, Pöbeleien
auf offener Straße. Auch in der Nachbarschaft
des Lindenhofs gibt es viele Proteste von sogenannten „besorgten Bürgern“. „Ich versuche, als
Brücke dazustehen. Ich will mich da weder auf die
Seite der Flüchtlinge noch auf die der Asylgegner
stellen, ich stehe so dazwischen“, erklärt Daniel.
„Ich bin kein Gutmensch, ich bin Realist. Real ist,
dass Krieg ist und die Menschen Hilfe brauchen.“
Bei ihm bekomme jeder Hilfe, egal, woher er
kommt und was er vorher gemacht hat. „Ich gebe
den Menschen meine Energie, die sie brauchen.
Ich will nicht, dass sie an Personen geht, die sie
missbrauchen.“ Das gelte nicht nur für Flücht-
linge, sondern auch für Asylkritiker. „Wenn ich
merke, das macht Sinn, mit denen kann man sich
beschäftigen, dann will ich den Menschen nicht
bekehren, aber ich versuche, ihm meine Welt zu
zeigen. Einfach das zu zeigen, was Realität ist und
nicht das, was die Medien schreiben oder das,
was der Nachbar behauptet, weil er irgendwo mal
was gelesen hat. Das ist ein hartes Stück Arbeit.“
Oft rede er dabei gegen eine Wand. Daniel gehe
deshalb gerne in Bürgersprechstunden, da man
da die „normale“ Schicht treffe, der man auch mal
den Wind aus den Segeln nehmen könne, wenn
man sie einlade. „Meine Tür steht immer offen und
wer möchte, kann jederzeit vorbeikommen und
sich alles angucken.“
Doch in der Nachbarschaft wird das nicht so gut
angenommen. Seit dem Einzug der Flüchtlinge im
Juli gibt es jeden Donnerstag Demonstrationen
gegen das Heim. Im Vorfeld wurden bereits 1.500
Unterschriften gegen die geplante Flüchtlingsunterkunft gesammelt. Sprengsätze, Stinkbomben,
Steine und Chinaböller wurden schon ins Heim
geworfen, die Scheiben eines Nachts mit einer
Holzplatte eingeschlagen. „Ich habe keine Angst.
Ich habe Respekt vor der Situation. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass ich sterbe, aber
dann wird ein anderer die Sache weitermachen. Es
würde denen nichts bringen, mich tot zu sehen.“
Bisher erhielt Daniel schon drei Morddrohungen.
Morddrohungen, weil er Flüchtlingen hilft. „Wenn
nachts etwas passieren würde, würde ich rausgehen und mich vor das Haus stellen. Und ich bin
mir sicher, dass mindestens 60 Leute aus dem
Haus mitkommen würden. Und dann sieht das Bild
ganz anders aus. Keiner von den Flüchtlingen ist
aggressiv oder möchte Gewalt, hier sind alle so
friedlich. Die einzige Gewalt ist die, die von draußen kommt.“
Friede, Freude, Eierkuchen?
Im Lindenhof klappt das friedliche Zusammenle-
83
Berufung
ben. Nicht zuletzt auch dank des unermüdlichen
Einsatzes von Daniel und den ehrenamtlichen Helfern, wie zum Beispiel Caroline und Michael Hoffmann. Michael gehört zu der Initiative „Gemeinsam in Dresden-West“, die sich um das Wohnheim
Lindenhof kümmert, seine Frau hilft nebenbei mit.
Sie ist die wahrscheinlich beliebteste junge Frau
hier – die Jungs machen mit ihr Unsinn, unterhalten sich und kickern, aber sie wird auch als Autoritätsperson anerkannt. „Die Syrer, Iraker und Iraner
sind sehr offen und besonders die Syrer schon
sehr westlich geprägt“, erklärt Daniel. Probleme
gebe es eher mit Kasachen, Usbeken oder Nordafrikanern, weil da die Kultur doch größtenteils sehr
anders sei.
Doch nicht nur kulturelle Hürden sind zu meistern.
Die meisten sprechen zwar Englisch und lernen
Deutsch, aber dennoch muss gelegentlich auf
Zeichensprache umgestiegen werden. Religiöse
Unterschiede beginnen bereits beim Essen, weshalb hier meist vegetarisch gekocht wird. Heute
hat Daniel den Joghurt vergessen, den die Syrer
auf jedes Essen machen – warum, weiß keiner so
richtig. Doch trotz dieser Unterschiede funktioniert das Zusammenleben im Lindenhof. „Wenn
sie Mist machen und das Haus wieder verlassen
müssen, tragen sie es meist mit Fassung, weil sie
dafür selbst verantwortlich sind. Bei mir startet immer alles locker, die Leute sollen sich ihre Grenzen
selbst setzen.“ Was dann wird, sei von Mensch zu
Mensch unterschiedlich.
Zwischen Nähe und Distanz
Mittlerweile ist es später Nachmittag. Daniels
Handy klingelt fast ununterbrochen, es wird wieder gekickert, manche Flüchtlinge machen ihre
Deutsch-Hausaufgaben, unterhalten sich oder
telefonieren mit ihren Familien oder Freunden, die
teilweise selbst noch auf der Flucht oder irgendwo
in Deutschland untergekommen sind, oder mit
den Zurückgebliebenen, die neuste Informationen
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aus der Heimat übermitteln. Geht es ihnen gut?
Wie groß ist der kleine Bruder geworden? Steht
die Heimatstadt noch? Wann sie sich wiedersehen
ist ungewiss. Es sind Schicksale, die bewegen. Das
spürt auch der Heimleiter jeden Tag aufs Neue.
„Man muss Distanz bewahren. Man kann natürlich
auch die Schicksale an sich heranlassen, wenn es
aber zu nah ist, ist man selber mit betroffen und
das bringt keinem was. Weder dem Flüchtling,
weil man dann keine vernünftigen Ratschläge
mehr geben kann, noch einem selbst, weil es
einen fertig macht.“ Viele Geschichten verfolgen
den gebürtigen Krefelder dennoch. „Gerade Geschichten aus den Kriegsregionen vermischen sich
immer wieder mit den täglichen Nachrichten, mit
Bildern, die sich einprägen. Und ab und zu träume
ich dann davon.“
sachten die Regeln, dann gehen sie wieder. Aber
bei denen, die das nicht machen und bei denen
ich merke, dass sie meine Hilfe brauchen, setze ich
wirklich Berge in Bewegung, um ihnen zu helfen.“
Die Bewohner des Lindenhofs danken es ihm. Die
jungen Männer strahlen eine enorme Herzlichkeit
aus. Und obwohl – oder gerade weil – sie schreckliche Sachen erlebten, die niemand erleben sollte,
sind sie so lebensfroh und dankbar, dass diese
Freude einfach ansteckend ist.
Damit die Flüchtlinge auch mal von ihren Sorgen
abgelenkt werden, gibt es verschiedene Aktionen.
Von der Initiative „Gemeinsam in Dresden-West“
kommen regelmäßig Freiwillige, die Daniel unterstützen, jeden Freitag gehen sie gemeinsam in die
Bücherei, es wird viel unternommen. Seit neustem
gibt es sogar ein Heimkino. Und jeden Donnerstag
und Samstag sind die Türen für das Begegnungscafé geöffnet. Da sei ein Dialog zwischen den
Anwohnern und Flüchtlingen möglich, doch die
Nachbarn kommen nur sehr selten vorbei. „Hier
gibt es einen starken Wunsch nach Aktivitäten
mit den Anwohnern, aber von außen eher nicht.“
Auch in seinem Umfeld wurde der Jobwechsel
mit gemischten Gefühlen angenommen. Daniels
Familie lebt in Krefeld, es gab noch keine Diskussionen zum Thema, aber die Freundesliste bei
Facebook hat er durch seine Arbeit im Lindenhof
stark gekürzt.
Wir sollten dankbarer sein!
Beirren lässt er sich durch Anfeindungen jedoch
nicht. „Ich sortiere mir die Leute hier im Lindenhof
aus. Wenn ich merke, sie wollen nicht oder mis-
Das „Wohnheim Lindenhof“ ist seit seiner Eröffnung im Juli 2015 den Anwohnern ein Dorn im Auge.
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Berufung
„Knast tut gut!“
Die Gesetzeslage ist eindeutig: Kein Mensch darf
in Deutschland in seiner Religionsausübung eingeschränkt werden. Das gilt auch für Menschen,
die in Haft sind. Doch das ist nicht immer machbar. Einblicke in den Arbeitsalltag der Justizseelsorger Kathrin-Susann Winters und Winfried
Wingert.
Von ANastasia marie kobisch
„Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und
die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen
Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte
Religionsausübung wird gewährleistet.“ So beginnt Artikel 4 des Grundgesetzes. Dies gilt auch
für Inhaftierte. „Dem Gefangenen darf religiöse
Betreuung durch einen Seelsorger seiner Religionsgemeinschaft nicht versagt werden“, besagt das
Strafvollzugsgesetz, Artikel 53, Absatz 1.
Ein Tag in der Justizvollzugsanstalt Hannover beginnt für die beiden Justizseelsorger KathrinSusann Winters und Winfried Wingert mit der üblichen Büroarbeit: Anträge der Gefangenen durchsehen, die ein Gespräch beantragen, Koordination
mit deren jeweiligen Arbeitszeiten, E-Mails checken
und die neusten Informationen durchlesen. Anträge für Sicherheitsverfügungen sind an der Tagesordnung, also kurzfristige Maßnahmen für Männer,
die durch Gewalt gegenüber anderen Gefangenen oder den Wärtern aufgefallen sind. In diesen
Fällen werden sie in einen „besonders gesicherten
Raum“ gebracht, eine videoüberwachte Einzelzelle. „Es ist erschreckend, wie sehr das in letzter
Zeit zugenommen hat“, so der katholische Pastor
Wingert. „Es vergeht eigentlich kein Tag, ohne dass
so etwas vorkommt.“ Grund dafür seien vor allem
Verwahrlosungen, die die Seelsorger besonders
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jetzt da, wo ich immer sein wollte.“ Ihr katholischer
Kollege arbeitete früher in der Gemeinde, gab in
den Schulen Religionsunterricht und betreute regelmäßig Jugendgruppen. Danach ging es für ihn in
den Reha-Bereich, er war für die älteren Frauen der
liebe Schwiegersohn, erzählt er schmunzelnd. Dann
wurde er von seiner Vorgängerin gefragt, ob er Lust
auf einen Tapetenwechsel hätte. Die hatte er.
bei Drogenabhängigen sehen. Winters glaubt, dass
Knast da ganz gut tun könnte: „Die Männer werden
medizinisch betreut, können warm duschen und
bekommen warme Mahlzeiten und psychologische
Hilfe.“ Besonders die sei enorm wichtig, da viele Inhaftierte traumatisiert und psychisch auffällig seien,
was eine Auswirkung der unterschiedlichen Drogen
sein könnte.
Durch eine scharfe Kontrolle am Eingang gelangt
man ins Innere der Justizvollzugsanstalt, in der
Platz für 500 Männer ist. Wertsachen, Telefon,
Taschen – alles wird abgegeben. Trostlose Gänge
mit abgeblätterter Farbe und schwere Eisentüren
begleiten den Weg zur kleinen Kirche im Hauptgebäude des Gefängnisses. Ab und zu sieht man
Wachen, die kleine Gruppen mit Häftlingen begleiten. Dann steht man in einem großen Raum. Im
letzten Jahr wurde die Kirche, die weder katholisch
noch evangelisch orientiert ist, von den Häftlingen
von Schimmel befreit und weiß gestrichen. An
den Wänden hängen Plastikkerzen, echte würden
geklaut werden. Wo sonst der Altar ist, hängt eine
weiße Leinwand. Davor steht ein Tisch mit einer Bibel, daneben die Osterkerze. Die Seelsorger setzen
sich in die kleine Küche, zu der eine Tür neben dem
„Altar“ führt.
Der „liebe Schwiegersohn“ von nebenan
Seit 30 Jahren ist Winters nun schon „im Vollzug“.
Nach ihrem Staatsexamen in Theologie und einer
Zusatzausbildung zur Gefängnisseelsorge arbeitete sie zehn Jahre als evangelische Pastorin und
nebenbei im Gefängnis in Emden, bevor sie 2001 in
den Bereich der Abschiebehaft wechselte. Das war
für sie besonders frustrierend, sie hat oft von den
Schicksalen der Menschen geträumt. In der JVA
Hannover geht es ihr besser. Mit einer Tasse Tee
und einer Zigarette in der Hand lächelt sie. „Ich bin
Wie geht man mit ´Kinderfickern` um?
Das Gesetz regelt eindeutig die Religionsfreiheit.
Dennoch geht das in der JVA nicht so einfach: „Wir
können Leute nur in Gruppen aufnehmen, wenn wir
vorher nachgefragt haben, ob sie teilnehmen dürfen“, erklärt Wingert. Wenn nicht, müssen schwerwiegende Gründe vorliegen, wie zum Beispiel
schwere Gewalttaten oder Drogenhandel hinter
Gittern, was durch die Kreativität mancher Insassen
schier unmöglich zu unterbinden sei. Wünschen
Männer ein Gespräch, müssen sie erst einen Antrag
stellen. Wenn dieser genehmigt wird, sprechen sie
mit den Seelsorgern über ihre Probleme oder auch
mal nur über Gott und die Welt. „Viele brauchen
einfach jemanden zum Reden. Wichtig ist dann
das Zuhören und ernst nehmen und nichts einfach
abzutun“, erklärt Winters.
Die beiden Seelsorger machen ihren Job gerne.
Auswirkungen habe der Beruf aber auch auf ihren
Alltag. „Ich bin genügsamer geworden. Dankbar für
das, was ich habe.“ Täglich sehe Winters Männer,
die oft furchtbare Lebenswege hinter sich haben,
die zum Teil niemanden haben oder niemanden
mehr haben, da sie Kontakte zur Familie oder zu
Freunden beispielsweise durch die Drogenabhängigkeit verloren haben. „Viele haben schon als Kind
in Pflegefamilien oder Heimen gelebt. Und wenn
man dann sieht, mit wie wenig man solche Menschen schon glücklich machen kann, dann ist das
einfach schön.“ Ihr fällt häufig auf, dass die Männer
im Gefängnis sozialer werden, Werte verschieben
sich, man hilft einander. „Die meisten sind nicht diese ‚knallharten Typen‘, die man aus Aktenzeichen
XY kennt. Das sind Menschen, mit denen man hier
zu tun hat. Und auch Menschen, die durch unterschiedliche Verhältnisse echt benachteiligt waren“,
glaubt Wingert. In der Regel seien die Täter früher
Opfer gewesen, was einen Zusammenhang mit der
Haftstrafe hätte: „Bestimmte Handlungsstrategien
werden erlernt und später in ähnlichen Situationen
übernommen, weil man nie wirklich gelernt hat, mit
Konfliktsituationen umzugehen.“
Ihm mache besonders der Gottesdienst Spaß: „Da
ist eine Power, die man teilweise kaum bewältigen
kann.“ Es gehe lautstark zu und – anders als in der
Gemeinde – wird hier diskutiert. Wingert möchte dann nicht dazwischen gehen, der 62-Jährige
provoziert gerne, stellt rethorische Fragen. „Ab und
zu kommen Leute nach dem Gottesdienst zu mir
und sagen: Pastor, das war toll!“ Die Arbeit erinnere ihn an seine Zeit als Religionslehrer: „Ich arbeite
gerne mit Fotos, die zu einem bestimmten Thema
passen, rede mit den Männern darüber und hangle
mich von Stichwort zu Stichwort.“ Die Meinungen
gingen oft in verschiedene Richtungen. Der Pastor provoziere das mit Absicht, ihn interessieren
die unterschiedlichen Ansichten. „Ich habe mal
über den Umgang mit den ‚Kinderfickern‘ geredet. Allein, dass ich dieses Wort im Gottesdienst
in den Mund genommen habe, war schon fast
skandalös“, erzählt er lachend. Winters stimmt mit
ein: „Das war tagelang Gesprächsthema!“ Sie ist
von den Gottesdiensten nicht so begeistert wie ihr
Winters bei einem Gespräch mit Miroslav R.
Kollege. „Ich habe keine Angst, aber ich habe vor
diesen Gottesdiensten Respekt. Respekt vor der
Gefahr, dass etwas passieren kann.“ Früher hatte
sie die nicht, doch dann kam es zu einem Vorfall.
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Berufung
Zwei Gefangene haben angekündigt, sich während
des Gottesdienstes schlagen zu wollen. Winters
erzählte das dem Sicherheitspersonal. Im Gottesdienst passierte nichts, dennoch war sie froh, statt
des einen Beamten, der sonst auf der Empore sitzt,
mehr Unterstützung zu haben. „In der Strafhaft sind
viele Männer, die ich kenne, sodass ich mir sicher
bin, dass mir nichts passiert.“ Bisher. „Wenn mir
irgendwann mal jemand was tun will, dann hör ich
auf“, so Winters.
Bei einem Gottesdienst sei es besonders wichtig,
authentisch zu sein, da die Männer sehr feinfühlig
wären. Hilfe sei für sie nicht selbstverständlich.
„Wenn man im Gottesdienst etwas predigt und im
Alltag anders ist, dann ist man sofort unten durch.“
Essen wie im Krankenhaus
Es ist 12:30 Uhr. Zeit für das Mittagessen. Heute auf
dem Plan: Thunfischsteaks mit Schoko-Chili-Soße
und gebratenen Kartoffelwürfeln. Für die Häftlinge
gibt es Matjesfilet. Von der Kirche zum Speisesaal
geht man durch Eisentüren, die nur mit einem großen Schlüssel, der an dem riesigen Schlüsselbund
der Seelsorger hängt, geöffnet werden können.
Es geht durch einen trostlosen Gang, auf dessen
Boden sich ein HSV-Fan verewigt hat, entlang
des Platzes für den Freigang, auf dem ein großes
Schachbrett steht und über einen Weg an einem
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kleinen Sportplatz und den Häusern zwei und drei
vorbei. Ein altes, fast verblasstes Schild weist den
Weg zum „Restaurant“. Ein Häftling teilt das Essen
auf einem Plastiktablett mit Deckel, wie man es
aus dem Krankenhaus kennt, aus. Auch das Essen
schmeckt so, wie man es aus dem Krankenhaus
gewohnt ist. Aber es macht satt.
Nicht nur Reden hilft
Wieder zurück in der Küche der Kirche ist es Zeit
für den Küster. Torsten S. kommt mit einem Strauß
frischer roter Rosen, Keksen, einer Packung Backmischung und einem Lächeln herein. „Wir sind froh,
dass wir ihn haben. Herr S. ist selbstständig und hilft
uns sehr“, lobt Wingert. Mit seinem gutmütigen
Lächeln und den weißen Haaren sieht er tatsächlich aus wie der ehemalige Religionslehrer aus der
Schule. S. ist verantwortlich dafür, dass in der Kirche
alles ordentlich ist. Doch der Küster macht nicht nur
das. Er räumt auf, bereitet viel für die Gruppen vor
und kümmert sich darum, dass es den Leuten gut
geht. Mit seinen braunen Haaren, dem hellblauen
Pullover und der freundlich-zuvorkommenden Art
wirkt er nicht so, wie man sich einen ‚typischen Gefangenen‘ vorstellt. „Wir haben hier mit Menschen
zu tun“, erklärt Wingert. Ihn interessiere die Straftat
nicht. Er schaue normalerweise nicht in die Akte,
das ergebe sich meist von selbst aus den Gesprä-
chen. „Wenn man unterscheidet, wer welche Straftat begangen hat, dann könnten wir unsere Arbeit
hier nicht machen.“
S. singt im Chor der JVA Hannover. Dieser wurde
vor einigen Jahren von einem ehemaligen Küster
gegründet, der sich Noten-Lesen und Dirigieren im
Gefängnis selbst beigebracht hat und hier wegen
Mordes eine lange Haftstrafe verbüßte. Der Chor
wäre damals qualitativ hochwertiger gewesen als
heute, erzählt Wingert, weshalb ein Konzert „für
draußen“ organisiert wurde. Der Gefangene wollte
aber nicht in seinen „Schlabberklamotten“ auftreten und fragte den Seelsorger nach einem Anzug.
Er lieh ihm einen aus. „Die Leute dachten die ganze
Zeit, er wäre auch einer ‚von draußen‘ und waren
total überrascht, dass er dann doch ein Häftling
war“, lacht Wingert.
„Ich bin so ein bisschen wie ein Fahrlehrer“, erklärt
der Pastor. „Man will nicht immer hinter dem Fahrschüler sitzen, sondern irgendwann auch aussteigen
können. Ich bemühe mich so gut es geht, ihm nicht
ins Lenkrad zu greifen und ihn selber fahren zu
lassen.“ Dann rede er mit ihm darüber, wie verschiedene Situationen gelöst werden können. „Ich
versuche, nicht so sehr zu intervenieren, sondern
erkläre den Gefangenen, wie etwas funktioniert.“
Man müsse die Menschen auf das Leben nach dem
Knast vorbereiten, fügt Winters hinzu. Das bedeute auch, dass man ihnen zeigt, wie man Anträge
ausfüllt oder ihnen begreiflich macht, dass sie sich
an feste Zeiten und Fristen halten müssen. „Wichtig
ist, das Gegenüber Ernst zu nehmen. Das fällt aber
manchmal schwer.“ Manche Gefangenen bauen
sich eine eigene Realität auf und suchen die Schuld
bei anderen: „Da kann man auch mal auf Konfrontation gehen und dem Mann sagen, dass man ihm
die Story nicht glaubt“, sagt Wingert. Doch einzelne Personen könne man nicht mehr erreichen, zu
sehr seien sie in einem Realitätsverlust versunken.
Die insgesamt drei Seelsorger, die in der JVA
Hannover arbeiten, sind für die Häftlinge da – und
das nicht nur zum Reden. Die Gefangenen aus der
Untersuchungshaft dürfen nicht arbeiten, haben
oftmals keine Freunde oder Familien mehr, die sie
unterstützen. Da hilft die Seelsorge auch mal mit
materieller Unterstützung: Tabak, Lesehilfen, Telefonate, Rotwurst, Kerzen - die Wünsche gehen in die
unterschiedlichsten Richtungen. Probleme gibt es
dennoch manchmal. „Manche gehen einem tierisch
auf den Geist“, erzählt der Bad Nenndorfer. Dies
müsse er dann aber auch sagen.
Der Knast verändert Menschen
Mittlerweile ist Torsten S. mit den Arbeiten in der
Kirche fertig, hat den „Wunschzettel“ der Seelsorger abgearbeitet, setzt sich mit in die Küche und
raucht mit Kathrin-Susann Winters. Mit einem Stück
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Berufung
Papier dreht er sich einen Filter, legt ihn auf ein
Blättchen mit Tabak und rollt sich eine Zigarette.
Vor seiner Inhaftierung war der 48-Jährige drogenabhängig. Er führte kein normales Leben mehr, saß
in einem Teufelskreis fest und konnte die Drogen
auf Dauer nicht mehr bezahlen. Daraufhin beging
er Einbrüche und sitzt nun wegen „Beschaffungskriminalität“ seit Mai 2014 in der JVA. „Wenn man in
einem Kreislauf ist, kommt man schwer raus. Da ist
das Gefängnis schon gut.“
Sein Arbeitsalltag fängt hier nach dem Mittag an,
nebenbei ist er der Friseur für die anderen Gefangenen. Andere fangen ihre Arbeit in den verschiedenen Betrieben in der JVA halb 8 Uhr morgens an.
„Es ist sehr stupide, aber man hat Arbeit“, erklärt S.
14:30 Uhr ist Feierabend. Dann haben die Gefangenen eine Stunde Freigang und anschließend Freizeit. „Jeder sucht sich etwas, um klar zu kommen.
Das muss man hier auch.“ Jeden Tag das Gleiche.
Für Menschen außerhalb des Gefängnisses kaum
vorstellbar: „Es ist eine Kopfsache. Am Anfang ist
die Umstellung schwierig, weil man aus seinem
Leben gerissen wird, aber irgendwann gewöhnt
man sich daran.“ Man gehe arbeiten, um Geld zu
bekommen und etwas zu tun zu haben, das bringe
etwas Abwechslung. S. hat erst eine Ausbildung
zum Garten- und Landschaftsbauer gemacht. „Wo
ich schon mal hier bin, will ich so viel mitnehmen,
wie möglich“, meint S. lächelnd. Er singt im Chor,
was ihm sehr viel Spaß mache. „Es hört sich nicht
immer schön an, wenn wir singen, aber man fühlt
sich danach besser, der Kopf wird frei. Das ist ein
schönes Gefühl.“ Darüber ist er auch an die Arbeit
als Küster gekommen. Manchmal sei der Beruf
stressig, aber es bringe ihm gute Gespräche.
Seit dem 5. Mai 2014 ist er im Gefängnis, er hofft,
nach zwei Dritteln der Zeit auf Bewährung entlassen
zu werden. Das wäre im Juni 2016. Er sei dann drei
Jahre auf Bewährung und müsse sich regelmäßig
bei seinem Bewährungshelfer melden. Das sei gut
so. „Dann kann ich hoffentlich einen geraden Weg
gehen.“ In sein altes Leben möchte er nicht zurück,
Drogen sollen Geschichte sein. „Man muss seine
Ansprüche herunterfahren für das Leben nach dem
Knast. Man fängt wieder von vorne an.“ Winters
nickt. S. hat sich verändert. Die Seelsorger schätzen
ihn. Das merkt man besonders an dem Vertrauen,
das sie sich entgegenbringen und den Gesprächen,
die sie miteinander führen. Es geht um die Anschläge in Paris im November 2015, die Arbeit mit den
Gruppen der Kirchenvertreter, aktuelle Nachrichten.
Wingert muss los. 16 Uhr beginnt die nächste Gruppensitzung. S. bereitet sie vor. Heute sollen Gebetsketten gebastelt werden, er sortiert die Perlen und
verteilt sie gleichmäßig in Papierschachteln. Bevor
es für Winters weitergeht, holt sie Pakete aus einer
Abstellkammer an der Seite der Kirche. Es sind die
Adventskalender, die in der Väter-Gruppe gebastelt wurden. Diese ist Winters Steckenpferd. Dabei
treffen sich jeweils sechs Männer mit ihren Kindern,
meist Söhnen, die oft jünger als 12 Jahre alt sind.
Sie sind meist schon selbst stark auffällig oder gehen in eine Kindertherapie. „Es ist nicht nur der Vater, der hier sitzt. Eine Inhaftierung beeinflusst auch
das Leben der Angehörigen. Dann machen sich die
Männer Sorgen.“ Häufig werden in der Schule Geschichten erzählt. Der Vater ist auf Montage. Beim
Militär. Arbeitet im Ausland. Oft werden die Kinder
verprügelt oder gemobbt, wenn die Wahrheit ans
Licht kommt.
Nenndorf ist bunt‘, den er gerade geschrieben hat.
Veröffentlicht wird er vermutlich nicht, er wäre zu
politisch. Es sei schwierig, gut recherchierte Artikel
zu schreiben, erklärt er. Die einzigen Möglichkeiten,
an Informationen zu kommen, sind die Nachrichten
oder Tageszeitungen.
Der Mediengestalter schätzt an der Arbeit besonders, dass er freie Arbeitszeiten hat. „Abends
schreibe ich meine Ideen auf und morgens um
6 stürze ich mich gleich drauf und fange an, zu
schreiben.“ Später schreibt er dann die nötigen
Nachrichten oder beschäftigt sich mit dem Layout.
Gerade hatte er ein Disput mit der Sozialarbeiterin, seiner Vorgesetzten, über das nächste Cover.
Die Weihnachtsausgabe. Das „Fest der Liebe“ sei
hier ein sehr schmerzhaftes Thema. „Man vermisst
seine Familie zu Weihnachten besonders. Es ist so
was wie ein Tabuthema.“ Deshalb wolle er darüber
nur wenig berichten, die Weihnachtsgeschichte
aufschreiben und die erste Seite der Drehscheibe
ohne Weihnachten gestalten. „Ich habe eigentlich viele Freiheiten, doch hier war meine Chefin
dagegen.“ Der Kompromiss: Ein Tannenbaum aus
Schlagworten, die den Vollzug betreffen, kommt
auf die letzte Seite, das Cover ziert das Foto einer
Winterlandschaft.
Das kleine Büro befindet sich genau neben seiner
Zelle, es ist dekoriert mit Fotos seiner Familie und
Bildern und Basteleien seines jüngsten Sohnes,
der acht Jahre alt ist und ihn heute, gemeinsam
„Drehscheibe“ - Unterhaltung für die Häftlinge?
Nicht nur mit den Seelsorgern. Oft erzählen ihm
Mitinsassen Geschichten aus deren Leben, die
er eigentlich gar nicht hören will, aber er lässt sie
reden. „Manche brauchen das einfach. Das ist nicht
mein Job, aber ich mache es gerne, wenn die Leute
mit einem besseren Gefühl wieder gehen.“ Er versuche, dass es allen gut geht, möchte die Seelsorge
entlasten. Wenn er dazu beigetragen hat, dass es
einen Ruhepol gibt, wenn andere Häftlinge ihre
Sorgen eine Zeit lang vergessen und sich ein paar
Stunden wohlfühlen können, dann sei er zufrieden.
92
Torsten M. ist Chefredakteur der ‚Drehscheibe‘,
der „Knastzeitung“, die hier einmal im Quartal
erscheint. Themen sind neue Informationen aus
der JVA, Gesetzesänderungen aus allen Bereichen, um Mithäftlinge auf ihre Leben ‚draußen‘
vorzubereiten, ein bisschen Politik. M. macht das
hauptberuflich, eine Gruppe der Insassen schreibt
nebenbei. Er sitzt mit einer Zigarette vor einem alten Computer, der seine besten Jahre schon hinter
sich hat und überarbeitet einen Artikel über ‚Bad
Weihnachten ist ein „Tabuthema“ für den Chefredakteur.
mit der Frau von M. und seinem Bruder, besucht.
Während der Besuchszeit malen er und der Kleine
füreinander Bilder. „Er ist dann beschäftigt, man
hat parallel aber auch die Möglichkeit, miteinander
Zeit zu verbringen.“ Im Monat haben die Häftlinge
drei Stunden Besuchszeit, manche dürfen auch
einmal im Monat Langzeitbesuche bekommen.
Man hat einen separaten Raum für sich, ohne
Wachen. Theoretisch. Doch seit vier Jahren wird
dieser 20 Quadratmeter große Raum nun schon
gebaut. Warum es so lange dauert, ist ein Rätsel.
„Ich vergleiche das immer mit dem Berliner Flughafen oder der Hamburger Elbphilharmonie“, scherzt
der Chefredakteur. Sein persönliches Highlight sei
deshalb die Väter-Gruppe. Die Kinder haben dabei
drei Stunden Zeit, mit den Vätern zu spielen, jeder
kann sich dabei auch in eine Ecke zurückziehen.
„Man verbringt Zeit miteinander und beim Spielen
spricht man auch mal über Sachen, die sonst eher
in den Schatten geraten.“ Er lächelt Winters an. Es
ist eine gute Sache.
„Wem würden Sie glauben?“
Ein Stockwerk tiefer wohnt Miroslav R. Er hat einen
Antrag auf ein Gespräch mit Winters gestellt. In
den Gängen trifft man Häftlinge, die zusammen
das Abendessen kochen, miteinander Tischtennis
spielen oder sich in den einzelnen Zellen unterhalten. Winters grüßt sie persönlich beim Namen, gibt
ihnen die Hand. Dies bedeute den Gefangenen
sehr viel, erklärt sie, denn oft ist diese kleine Geste
ein Zeichen von Freundlichkeit, die manche der
Insassen längst vergessen oder teilweise sogar nie
erlebt haben. Gemeinsam mit einem Wachmann
holt sie R. ab und sie ziehen sich in ein Büro der
Seelsorge zurück. Gleich am Anfang erzählt er, was
er sich wünscht. Eine CD mit serbischer Musik. Am
besten von Kristina Ivanovic. Das sei entspannend.
Sie würde den Serben mit seiner Heimat, seiner
Familie verbinden. Der 31-Jährige wurde mit 14
Jahren wegen schwerer Körperverletzung zu 6,5
Jahren Haft verurteilt. Wegen guter Führung durfte
er nach zwei Dritteln der Zeit auf Bewährung wieder
raus. Seinen Bewährungshelfer fragte er, ob er
zurück nach Serbien dürfe, dieser willigte ein, sagte
aber, er solle ihn anrufen, wenn er wieder nach
Deutschland komme. Zehn Jahre später war es so-
93
weit. Doch genau an dem Tag war der Bewährungshelfer schon außer Haus. Keine zwei Stunden später
wurde er von der Polizei kontrolliert. Es stellte sich
heraus, dass er gegen die Bewährungsauflagen
verstoßen habe und nun den Rest seiner Zeit absitzen müsse. Er hat wenig Kontakt zu seiner Familie,
Telefonate nach Serbien sind sehr teuer und das
Geld für lange Gespräche reiche nicht aus. Eine
Minute kostet 1,40 Euro – viel Geld bei einem Taschengeld von 30 Euro pro Monat, wenn man keine
Möglichkeit hat, Arbeiten zu gehen. Seine beiden
Kinder, 14 und 16 Jahre alt, wissen nicht, dass er im
Gefängnis sitzt. Winters redet mit ihm. Sie fragt ihn
nicht aus. Geht mit ruhiger Stimme auf seine Erzählungen ein. „Ich bin normalerweise immer ruhig,
aber die Wärter haben gesagt, ich sei zu aggressiv.
Aber wenn ich weiß, dass ich im Recht bin, dann ist
mir egal, wer vor mir steht.“ R. will zurück in Haus
drei, die Aufnahme. „Da ist was los, da lernt man
Leute kennen, sieht, wer so kommt.“ Hier werde er
von manchen Mithäftlingen unfair behandelt, auch
wenn er anderen helfe. Letzte Woche hat er Freispruch bekommen, für eine Schlägerei, die er nicht
angefangen habe. „Im Affekt kann alles passieren,
deshalb sitze ich auch lieber alleine in meiner Zelle.
Ich habe Angst, die Beherrschung zu verlieren.“
Ein Beamter hat im Internet herausgefunden, dass
er Kampfsport gemacht hat und es einem Häftling
erzählt. Das habe die Runde gemacht, weshalb er
jetzt in Ruhe gelassen werde. Er finde das nicht so
schlimm. „Ich will nicht noch mal einsitzen.“ Er wolle zurück zu seiner Familie. Zurück nach Serbien.
6,5 Jahre Haft im Alter von 14 Jahren. Es war eine
Schlägerei. Drei der Opfer lagen danach im Koma,
die anderen hatten gebrochene Knochen. Der
älteste war 19. Er habe seine Kampfkunst missbraucht. „Das hätte nicht passieren dürfen“, sagt
er heute leise. „Ich bereue es auch, ich hätte das
nicht tun sollen. Aber sie hätten mich einfach in
Ruhe lassen sollen.“ Er lief durch einen Park, vorbei
an einer Gruppe Jugendlicher. Einer griff ihn leicht
an, sie wechselten ein paar drohende Worte und R.
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ging weiter. Doch der andere stellte ihm ein Bein,
er fiel und sah Blut. Seine Grenze war erreicht. Er
gab dem anderen eine Ohrfeige, dessen Freunde
kamen dazu. „Ich habe nur gedacht: ‚Oh Gott,
wenn einer davon kämpfen kann, bin ich erledigt.‘“
Sie konnten es nicht. „Wahrscheinlich waren sie
betrunken.“ Vor Gericht gaben sie ihm die Schuld.
„Ich war allein, sie zu sechst. Wem würden Sie glauben?“ Winters schlägt ihm eine Antiaggressionstherapie vor. R. habe sich bereits bei der Sozialarbeiterin erkundigt, doch die erzählte ihm, dass es sie nur
im Block C gibt. Im Block C sitzen Sexualstraftäter
und Männer, die Kindesmissbrauch begangen
haben. Da gehe er nicht hin. Er habe selbst Kinder,
er könne nicht in einer Gruppe sitzen und „diesen“
Menschen zuhören. „Die Leute sollen ihren Weg
gehen und ich meinen Weg. Die sitzen ihre Zeit ab
und ich meine. Aber mit ihnen an einem Tisch über
ihre Probleme reden, das kann ich nicht.“ Er gehe
zur Sozialarbeiterin der JVA und der Justizseelsorge, das helfe ihm. Und Musik.
Von der Trostlosigkeit in die Freiheit
Winters bringt ihn zurück in die Zelle und begleitet M. in den Besucherraum. Der weißgestrichene
Raum wirkt kalt, es gibt wenige Fenster, am Rand
steht ein Snackautomat, viele Tische reihen sich
aneinander, an denen Häftlinge mit ihren Familien
oder Freunden sitzen. Hinter einem Empfangstresen wacht ein Beamter. Durch einige Gänge und Eisentüren geht Winters in ihr Büro, wo noch ein paar
Telefonate und E-Mails auf sie warten. Halb acht
macht sie sich auf den Weg zurück zur Kirche, trifft
dasWingert. Gemeinsam holen sie ihre Taschen,
laufen durch die kalten und verlassenen Gänge,
vorbei am Sicherheitspersonal und den Pförtnern.
Draußen ist es schon lange dunkel, Licht kommt
von wenigen Straßenlaternen, die vor der JVA Hannover stehen. Das Gitter schließt sich hinter ihnen
und sie machen sich auf den Weg zur Straßenbahn.
Nach Hause. In die Freiheit.
Das aufrichtigste Mitgefühl empfindet,
wer den Schmerz
aus eigener Erfahrung kennt.
John Gay
Berufung
Wir arbeiten mit dem Ergebnis,
das der Täter produziert
Olaf Hieber (54) ist der Leiter der Operativen
Fallanalyse des Landeskriminalamts Niedersachsen in Hannover. „Profiler“ möchte er lieber
nicht genannt werden, denn der Schlüssel zur
Aufklärung eines Verbrechens ist nicht allein der
Täter.
von Katharina brecht
Herr Hieber, braucht man eine spezielle Ausbildung, um Fallanalytiker zu werden?
Ja. Ich muss vorwegnehmen, dass in Niedersachsen nur sechs Beamtinnen und Beamte diesen Job
machen, bundesweit gibt es keine 90. Das ist ein
sehr kleiner Kreis von Personen. Unsere Ausbildung erfolgt in mindestens sechs Modulen. Um
dafür zugelassen zu werden, muss man wissen,
wie bestimmte Ermittlungsverfahren funktionieren.
Das heißt, man muss als kriminalpolizeilicher Sachbearbeiter Sexualdelikte oder Tötungsdelikte bearbeitet haben, spurentechnisch versiert sein oder
im Kriminal-Dauerdienst gearbeitet haben. Nur
dann kann man sich auf entsprechende Stellen bewerben. Das ist schon eine große Einschränkung
hinsichtlich des Interessentenkreises. Hat man es
zu uns geschafft, setzt die Ausbildung „learning by
doing“ ein. Der Kollege geht sofort in die Analyse
und lernt aus dem, was andere machen, seinen
eigenen Weg und seine eigenen Methoden. Am
Ende steht dann die Zertifizierung zum operativen
Fallanalytiker. Dieser Ausbildungsprozess kann
durchaus drei bis vier Jahre umfassen.
Was sind die Hauptaufgaben der Operativen
Fallanalyse?
Der methodische Kern unserer Arbeit ist die
Analyse des Tatorts und die Tathergangsanalyse.
Einen Tatort muss man sich als riesige Datenbank
vorstellen, die diverse Informationen bereithält.
Diese interpretieren und bewerten wir anhand bestimmter Raster. Jede Art von Spuren - am Opfer,
am Tatort, Blutspuren und der Obduktionsbericht erzählen uns eine Geschichte über den Ablauf der
96
Olaf Hieber, Leiter der Operativen Fallanalyse im Landeskriminalamt
Niedersachsen
Tat. Dadurch sind wir in der Lage, das Vor-Tatverhalten, das Tatverhalten und das Nach-Tatverhalten aus den Spuren heraus zu analysieren und zu
beschreiben. Dass wir die Tat wie kleine Puzzlestücke zusammenfügen und rekonstruieren, ist unsere
Aufgabe.
Bei welchen Fällen werden Sie von der Mordkommission angefordert?
In den meisten Fällen sind Morde Beziehungstaten. Sie ergeben sich aus dem Kontext häuslicher
Gewalt oder durch Streitigkeiten, die eskalieren.
Dann ist der Weg zum Täter nicht weit und die Kollegen ermitteln ihn relativ schnell. Nicht umsonst
haben wir bei Tötungsdelikten eine Aufklärungsrate von etwa 99 Prozent. Doch es gibt auch Fälle,
wo das anders ist. Da haben wir zum Beispiel die
Joggerin, die ihre Runden dreht und dann auf ihren Mörder trifft. Es gibt keine Beziehung zwischen
den beiden, außer dass sie im selben Ort oder der
selben Region zu Hause sind. Das sind die Fälle,
die wir mit unserem Wissen unterstützen können.
97
Berufung
„WIE NAH IST DER TÄTER AM OPFER DRAN?“
Wenn der Täter also nicht „auf der Hand liegt“,
kommen Sie ins Spiel?
Richtig. Wenn der Beziehungskontext von Täter
und Opfer nicht von vornherein offensichtlich ist,
fragen wir uns: „Wie nah ist der Täter am Opfer
dran?“. Wir denken dann an die sozialen Räume, in denen wir uns bewegen: Die Freunde, die
Discos, die Hobbys, die Einkaufsgepflogenheiten.
Der Täter hat genau so seine sozialen Räume. Vielleicht ist die Schnittmenge zwischen dem Opfer
und dem Täter der Kiosk, der Supermarkt oder die
gleiche Straße, die gleiche Bushaltestelle oder die
gleiche Strecke, die sie mit dem Fahrrad fahren.
Diese Schnittmengen zu finden und zu beschreiben ist eine unserer Aufgaben.
Gewährt die Fallanalyse einen anderen Blick
auf die Tat?
Genau darum geht es: Um den Perspektivwechsel, den anderen Blick. Die Kollegen rufen oft bei
uns an, weil sie das Gefühl haben, dass sie sich
in ihren Ermittlungen in einem Tunnel befinden,
der andere Informationen nicht mehr zulässt.
Das ist ein ganz logischer Effekt. Man neigt dazu,
neue Informationen immer im Licht der bisherigen Hypothesen zu interpretieren. Dass man sie
auch anders bewerten kann, dafür ist der Blick gar
nicht mehr frei. Wir sind diesem Tunnel aber nicht
verpflichtet. Wir betrachten die Fälle aus allen
Perspektiven, wodurch sich viel mehr Ansätze er-
geben. Wenn durch unser Aufbrechen ein neuer
Ermittlungsweg angeschoben wird, dann ist das
schon ein Erfolg, selbst wenn der Weg nicht zum
Täter führt. Somit werden wir gern als „externe
Klugscheißer vom LKA“ hinzugeholt.
„VON MIR AUS LASSEN WIR UNS IN DEN SACK
STECKEN“
Wie viel Profiler steckt wirklich in einem
Fallanalytiker?
(lacht) Der Begriff „Profiling“, also die Erstellung
eines Täterprofils, wird total überbewertet. Aber
selbstverständlich wird die OFA - der Polizei-Begriff für die operative Fallanalyse - medial in
einen Topf mit Profiling geworfen. Nun haben
wir den Medien wie Don Quijote, der gegen die
Windmühlen kämpft, erklärt, dass wir keine Profiler sind. Doch je mehr wir das gemacht haben,
desto mehr gerieten sie zu der Annahme, dass
wir doch welche sind. Wenn die Polizei der Presse etwas ausreden will, muss ja etwas Wahres
dran sein. Ich muss auch ehrlich sagen, dass ich
das verstehe. Der Begriff polizeilicher Fallanalytiker ist medial spröde und wird sich nie in
irgendeiner „Bild“-Zeitung finden. Das sind halt
die Profiler. Von mir aus lassen wir uns in den
Sack stecken. Wen es noch interessiert, dem
erklären wir, wie es eigentlich funktioniert. Aber
tatsächlich sind die Aussagen, die wir über den
Täter treffen, sehr grob. Es ist ja nicht so, dass
wir mit einem anerkannten psycho-analytischem
Operative Fallanalyse ist harte methodische Arbeit. Tatorte werden genaustens beschrieben und analysiert. Auf Basis dieser Analysen kann der
Mordkommission erklärt werden, wie die Tat vor sich ging.
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Testverfahren einen Probanden untersuchen, der
vor uns sitzt und den wir abfragen können, um uns
dann ein Bild über seine psychische Befindlichkeit
zu machen.
Wie schaffen Sie es dennoch, Aussagen über
den Täter zu treffen?
Wir arbeiten mit dem Ergebnis, das der Täter
produziert: Mit der Tat. Und die Tat dauert in der
Regel drei bis 30 Minuten. Somit haben wir ein
Verhaltensspektrum von drei bis 30 Minuten, das
wir betrachten und analysieren können. Dass das
Ergebnis dieser Analyse nur sehr grob und mosaikhaft ist, ist zwangsläufig so. Dennoch gibt es bei
manchen Taten markante Verhaltensweisen, die
uns erlauben, den Täter ein wenig zu beschreiben.
„ICH KENNE AUS DER SCHRIFTLAGE ALLE
SEXUALMÖRDER DER LETZTEN 20 JAHRE“
Was hilft Ihnen dabei, den Tätertyp einzuschätzen?
Ich arbeite seit 2001 als Fallanalytiker und schaue
mir jeden Tag so genannte Lagebilder an. Darauf
sind alle Sexual- und Tötungsdelikte verzeichnet,
die sich in Niedersachsen ereignet haben. Deshalb
kenne ich aus der Schriftlage alle Sexualmörder
der letzten 20 Jahre, erkenne ihre Handschriften
und weiß, was sie getan haben. Wenn ich dann
andere Fälle lese, tauchen hin und wieder Verhaltensaspekte auf, die ich bei dem einen oder anderen Täter auch schon gefunden habe. Das hilft
zumindest, den Tätertypen in etwa einzuschätzen.
Darum geht es der Mordkommission jedoch nicht
primär. Es geht ihr darum, dass wir die Ermittlungen unterstützen, indem wir aufarbeiten und
erklären, wie der Fall eigentlich abgelaufen ist. So
setzen wir das Fundament für die Ermittlungen:
Das Fallverständnis.
Aus welchen Merkmalen der Tat ziehen Sie
Rückschlüsse auf den Täter?
„Wenn er zuerst das Opfer ersticht und hinterher
zerhackt, muss er bei seiner Mutter leben“ - solche
Dinge funktionieren nicht, es sind immer Einzelfallanalysen. Es gibt keine Wenn-Dann-Konstellationen. Jeder Fall ist grundverschieden. Beim
Sexualmord geht es zunächst um den erzwungenen Sexualakt, der sich nach den Fantasien und
Bedürfnissen des Täters richtet. Das Töten des
Opfers ist dann ein Verdeckungsmord, um den
Zeugen oder die Zeugin, die ihn identifizieren
kann, auszulöschen und die Tat für sich zu sichern.
Das ist oft die Kausalkette in solchen Delikten,
die gewisse Rahmenbedingungen hat. Alles, was
der Täter darüber hinaus anstellt - Abdecken des
Opfers, Umlagerung des Opfers, postmortale Aktivitäten - sagt etwas über die Lage des Täters aus.
Hier zeigt er etwas von sich, hier lässt er mental
ein wenig die Hosen runter und wird dadurch
beschreibbarer. Das heißt nicht, dass ich daraus
ableiten kann, dass er bei Mama wohnt, doch ich
kann psychologische Störungsbilder erkennen.
Darf man Mitgefühl mit einem Täter haben?
Nein. Beim besten Willen nicht. Mein Mitgefühl
gilt immer den Opfern. Es gibt immer einen Vorlauf, der zur Tat führt. In dieser Zeit hat jeder Täter
die Chance zu sagen: „Ich will jetzt aufhören, ich
mach es nicht“. Diese Chance bleibt aber ungenutzt, er begeht die Tat. Insofern kann ich kein Mitgefühl für den Täter aufbringen. Und er verdient es
auch nicht.
Generell gefragt: Welche Rolle spielt das Opfer
in Ihrer Arbeit?
Das Opfer spielt eine wesentliche Rolle. Es gibt
nur wenige Fälle, bei denen es überhaupt keine
Beziehung zwischen Opfer und Täter gibt. Ein Beispiel: Der Täter kommt aus Hamburg, fährt nach
Hannover, hat dort überhaupt keinen Kontakt. Er
kennt sich nicht aus, ist das erste Mal dort oder
nur über die Autobahn durchgefahren. Er fährt
mit der Absicht in die Stadt, eine Frau zu vergewaltigen und gegebenenfalls zu töten. Hält sich
irgendwo nachts im Großraum Hannover auf und
der absolute Zufall will es, dass ein potentielles
Opfer ihm über den Weg läuft. Er setzt seine Tat
um. Dann fährt er wieder zurück nach Hamburg.
Diese Fallkonstellationen gibt es, aber sie sind
extrem selten. Nur im Promillebereich zu finden.
In der Mehrheit aller Fälle gibt es einen Berührungspunkt zwischen Opfer und Täter. Und wenn
sich beide nur den gleichen sozialen Nahraum
teilen, wenn sie im gleichen Dorf wohnen oder
der Täter früher mal dort gewohnt hat. So kennt er
sich zumindest in dem Ort aus und fühlt sich dort
subjektiv sicher, sodass er sein eigenes Risiko einschätzen kann. Das Risiko ist etwas, was der Täter
sehr intensiv empfindet und dem er sich aussetzt.
Wenn man in einen Ort fährt, in dem man noch nie
in seinem Leben war - wie kann man da ernsthaft
abwägen, an bestimmten Stellen sicherer zu sein
als an anderen? Das ist schwierig. In dem Maße,
wo wir uns auf das Opfer konzentrieren und sein
Umfeld kennenlernen, finden wir vielleicht auch
99
Berufung
habe die Details des Falls immer noch präsent,
bin aber nicht mehr emotional involviert. Doch der
nächste Fall wird leider nicht erfreulicher. Jeder
muss für sich entscheiden, wie viel er sich davon
zumuten kann. Ich persönlich habe entschieden,
mich ein bisschen zurückzunehmen. Ich bearbeite
seit 1994 Gewaltdelikte. In diesen 20 Jahren ist
meine emotionale Firewall löchriger geworden.
Ich wurde sensibler. Darum widme ich mich nun
Fällen mit geringerem Gewaltpotential: Branddelikte oder Raubdelikte. Wir haben Gott sei Dank
Leute im Team, die robuster sind und besser damit
umgehen können, also können wir die Rollen tauschen. Für mich ist ein Rückzug im Augenblick die
beste Wahl. Das ist aktuell mein Weg, mit diesen
Dingen klarzukommen.
Verbrechen in Niedersachsen, die mithilfe der
Operativen Fallanalyse aufgeklärt wurden
Olaf Hieber (54) setzt sich Tag für Tag damit auseinander, was Menschen anderen Menschen antun. Ist es überhaupt möglich, diese Abgründe zu
verarbeiten?
eine Hinleitung zum Täter. Wir bitten die Mordkommissionen deshalb immer, uns umfassend
über das Opfer aufzuklären und die Informationen
möglichst maximal zu verdichten: Vereine, Freunde, Netzwerke, Facebook. Wo hat sich die Person
aufgehalten und wo finden sich Schnittmengen,
die der Täter für sich nutzen kann?
Wie zeigen sich solche Schnittmengen?
Ein Beispiel: Das Opfer hat eine mehrjährige Erfahrung als Straßenprostituierte. Diese Lebenserfahrung prägt die Verhaltensweisen der Frau,
selbst wenn es schon lange her ist. Der Täter kann
diese Verhaltensweisen ganz sensibel auffangen,
denn auch Täter sind manchmal sehr empathisch.
Sie haben eine immense Wahrnehmung dafür, potentielle Opfer zu erkennen. Eine Lebenserfahrung
als Straßenprostituierte kann in der Sprache, im
Ausdruck, in der Bewegung, im Habitus für Täter
von Interesse sein. Nehmen wir an, er tritt deswegen an das Opfer heran, um so ein spezielles Geschäft anzubahnen. Das Opfer wird aggressiv, weil
das Thema für sie längst abgeschlossen ist. Daraus
wird eine Situation, die außer Kontrolle gerät und
in einem weiteren Schritt zur Tat führen kann. Hier
stellen wir uns einen Täter vor, der Erfahrung mit
Straßenprostituierten hat. Schon haben wir einen
ersten Ansatz, der sich vom Opfer aus in Richtung eines Täterumfeldes ergeben kann. Es gibt
viele dieser Anknüpfungspunkte. Insofern ist das
Wissen um das Opfer für unsere Arbeit wichtig.
Allerdings sind das Fakten, es ist nicht der empa-
100
thische Bezug. Der wird deutlich, wenn wir den
gerichtsmedizinischen Befund betrachten. Hier
wird das Leid des Opfers für uns deutlich.
„AN EINEM BESTIMMTEN PUNKT GELANGT MAN ZU DER
FRAGE, OB ES NOCH SINNVOLL IST, DIESEN JOB ZU
MACHEN“
Wie schaffen Sie es, sich davon emotional abzuschotten?
Ich selber schaffe es leider nicht im wünschenswerten Maße. Das muss ich ganz offen sagen. Es
ist für mich mit einem großen Kraftakt verbunden,
die Fälle aufzubiegen. Ich kompensiere das durch
Sport, durch Musik, durch Hobbys. Wenn der Fall
mich zu sehr belastet, suche ich Hilfe in der Supervision und wenn es gar nicht mehr geht, muss ich
über therapeutische Hilfe nachdenken. An einem
bestimmten Punkt gelangt man zu der Frage, ob
es noch sinnvoll ist, diesen Job zu machen.
Können Sie Fälle überhaupt vergessen?
Ja, ich kann sie vergessen. Wenn ich an einem aktuellen Fall arbeite, verfolgt mich dieser mitunter
bis in die Träume. Da kann ich mich nicht gegen
wehren. Das intensive Analysieren wirkt nach.
Das Unterbewusstsein verarbeitet im Schlaf das
Erlebte und packt es in Schubladen: Was darf ich
vergessen und was muss ich behalten. Und dieser
Sortierprozess sorgt mitunter für heftige Albträume. Das endet aber, wenn der Fall abgeschlossen
ist. Da wird ein Gedächtnisschalter umgelegt. Ich
Seit 16 Jahren gibt es nun die Operative Fallanalyse im Landeskriminalamt Niedersachsen. Mithilfe spezieller analytischer Methoden helfen
Olaf Hieber und sein Team, Täter zu finden. Diese und weitere Fälle
wurden mithilfe der Operativen Fallanalyse gelöst:
2007: Siebenfacher Mord im ChinaRestaurant
In der Nacht zum 5. Februar 2007
werden sieben Menschen im China-Restaurant „Lin Yue“ in Sittensen
erschossen. Ein Raubüberfall, der
zum Massaker wird. Im Laufe des
Jahres werden fünf Tatverdächtige
festgenommen. Zwei von ihnen
erhalten eine lebenslange Haftstrafe.
Die drei anderen werden zu Freiheitsstrafen bis zu 14 Jahren verurteilt. Auch heute sind noch etliche
Details der Tat ungeklärt.
2010: Sexualmorde an der 13-jährigen
Nina und dem 15-jährigen Tobias in
Bodenfelde
Mitte November 2010 werden im
niedersächsischen Bodenfelde die
13-jährige Nina und der 15-jährige
Tobias ermordet. Der Doppelmörder
Jan O. gesteht die Tat vor Gericht
und wird zu lebenslanger Haft,
Unterbringung in der Psychiatrie und
Sicherheitsverwahrung verurteilt.
Dieser Fall wird auch in der NDR-Dokumentation „Denken wie ein Mörder“ (2011) thematisiert. Hier kann
man unter anderem Olaf Hieber und
seinem Team bei der Analyse und
Rekonstruktion der Tat zusehen.
2012: „Maschsee-Mord“ an Andrea B.
Ende Oktober 2012 finden Spaziergänger Leichenteile der 44-jährigen
Andrea B. im Maschsee. Eine Zeugin
führt die Polizei auf die Spur des
mutmaßlichen Täters, im August
2013 wird Alexander K. der Prozess
gemacht. Das Urteil: 12 Jahre Haft
und Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Der „Maschsee-Mörder“ sei nur vermindert
schuldfähig.
2014: Schwerer sexueller Kindesmissbrauch eines fünfjährigen Jungen durch
einen Kinderarzt
Ein ehemaliger Kinderarzt der
Medizinischen Hochschule Hannover entführt im August 2014 einen
fünfjährigen Jungen in Garbsen und
missbraucht ihn. Zwei Monate später
fasst die Polizei den Augsburger. Im
November 2015 legt Harry S. ein umfassendes Geständnis ab. Insgesamt
soll er 21 Jungen missbraucht haben.
101
Berufung
von Dennis Schmitt
Dr. Sohm, was ist Ihr
genauer Beruf und die
Aufgaben dabei?
Ich bin ärztlicher Leiter eines ambulanten Palliativteams, der spezialisierten
ambulanten Palliativversorgung (SAPV) Landshut. Meine Fachrichtung ist die
Hämatoonkologie. Ich bin also Facharzt für Blut- und Krebserkrankungen.
Dadurch arbeite ich mit Krebspatienten im oft fortgeschrittenem Stadium
und gebe anteilig feste Sprechstunden in einer Praxis. So ca. einen Tag in der
Woche oder alle zwei Wochen. Außerdem bin ich Psychoonkologe. Das ist eine
Ausbildung, die ich aus eigenem Antrieb gemacht habe. Ich finde das rundet
das Gesamtbild ab. Zur Hämatoonkologie und Palliativmedizin gehört Psychoonkologie einfach dazu. Psychoonkologische Mitbetreuung und Gespräche
biete ich auf Privatbasis an. Sie sind aber natürlich auch wichtiger Bestandteil
meiner ambulanten Tätigkeit in der SAPV. Bei den Hausbesuchen sage ich den
Patienten gern, wir seien die fahrende Palliativstation.
2007 hat der Gesetzgeber festgelegt, dass jeder Krankenversicherte einen Anspruch auf diesen ambulanten Dienst haben soll. Das Problem war anfangs nur,
dass es bundesweit fast keinen gab, der diesen Dienst angeboten hat. Mittlerweile existieren fast keine weißen Flecken mehr in Deutschland. Überall decken
neu gegründete Teams festgelegte Landkreise ab. Eine tolle Entwicklung, wie
ich finde.
Was ist das Besondere
an der spezialisierten
ambulanten Palliativverorgung (SAPV)?
Die SAPV ist noch relativ neu. Sie ist weiterhin im Aufbau und hat noch keine
traditionelle Linie. Die Arbeit setzt sich zum Ziel, dass man Menschen begleiten möchte, die eine fortgeschrittene und in näherer Zeit zum Tode führende
Erkrankung haben. Ich sag mal so, das sind immer noch 80% Tumorpatienten.
Andere Patienten leiden unter Organinsuffizienzen wie z.B. Herz-, Lungen- und
Nierenschwäche. Das Ziel ist es, dem Wunsch vieler Patienten nachkommen
zu können, dass sie zuhause bleiben und sterben können. Wir wollen eben die
Lebensqualität sichern und halten. Das findet auf medizinischer, aber auch auf
psychosozialer Ebene statt. Wir haben letztes Jahr knapp über 600 Patienten
behandelt, davon sind etwa 300 verstorben, die meisten davon im eigenen
Zuhause. Das kann ein Qualitätsmerkmal sein, woran man sich misst.
Ganz generell:
wie definieren Sie
Empathie?
Empathie ist für mich, einen Patienten wirklich zu verstehen, ein ZwischenDen- Zeilen-Lesen. Damit meine ich, dass man nicht nur aufnimmt, was der
Patient wortwörtlich sagt und was er gerade vor Augen hat, sondern, dass man
sich bemüht, die Tragweite der Erkrankung und deren Entwicklung zu verstehen. Und, dass man versucht, sich anzunähern an die Situation in der sich ein
betroffener Mensch befindet. Ich verstehe darunter nicht Mitleid, dass ich da
mit ihm tiefe Traurigkeit empfinde und mitheule. Man kann mal mitheulen,
aber das wäre falsche Solidarisierung. Sondern, dass ich versuche zu verstehen,
was das mit dem Patienten macht und wie es ihm damit geht. Das ist für mich
Empathie.
Empathie mit Patienten - eine wichtige Aufgabe in der Palliativmedizin.
„Empathie ist, wie einen
Stein ins Wasser zu werfen.“
Wie geht man mit Menschen um, die nur noch wenig Lebenszeit übrig haben? Welche Worte wählt man? Wie tritt man
auf?
Im Interview spricht empa mit Dr. Michael Sohm, einem
Psychoonkologen aus Landshut in Niederbayern, über das
Thema „Empathie mit Krebspatienten“.
102
Klingt nach einem hohen Stellenwert für Sie.
Inwiefern wurde Empathie in Ihrer Ausbildung
gefördert?
Also wenn ich ehrlich sein darf, im Medizinstudium habe ich den Begriff nie
gehört. Ich habe ohne das Wissen, dass Empathie ein Schwerpunkt in meiner
Arbeit sein wird, abgeschlossen. Also es war offiziell nur so ein Randbegriff,
der mal angesprochen wurde, aber kein Teil einer Schulungsmaßnahme oder
Ähnlichem. Empathie kam erst im späteren Verlauf meines Berufslebens auf.
103
Berufung
Und, dass man ebenso auch an sich arbeitet und Möglichkeiten findet, dass
man genau dahin kommt. Denn man kann nicht erwarten, dass der Patient von
sich aus alles offenlegt.
Mein übergeordnetes Ziel ist, das wahre Wesen eines Menschen zu verstehen und dazu bedarf es eines empathischen Vorgehens.
Bei der Psychoonkologieausbildung oder in der Onkologie und Palliativmedizin - da spielt sie dann ja zwangsläufig eine Rolle. Aber Fakt ist tatsächlich: ich
kam aus dem Studium raus, vielleicht den Begriff kennend, aber nicht wirklich
wissend, was ich damit anfangen soll.
Sie sagten gerade, dass
speziell bei der Ausbildung zum Psychoonkologen Empathie wichtig
wurde. Warum erst da?
Da war Empathie auf jeden Fall ein Begriff. Das war auch der Zeitpunkt, wo es
einem dann bewusst wurde. Wo man sagt, man redet auch in dem Bereich von
Empathie. Es wurde mehr als ein Wort, das man gehört haben musste. Man
wusste es nun mit Inhalt zu füllen. Und wo ich mich dann fragte: was heißt das
für mein konkretes Handeln, wie kombiniere ich das und bin ich denn überhaupt empathisch oder kann man das lernen? Eine natürliche Fähigkeit vielleicht und doch komplettes Neuland.
Sie sagen ambulante
Palliativversorung und
Psychoonkologie seien
noch recht neu. Denken
Sie, den Menschen ist
überhaupt bewusst, was
Sie und Ihre Kollegen
täglich leisten?
Die Resonanz ist positiv. Wir haben mal eine Hausarztbefragung gemacht.
Und dabei ist herausgekommen, dass erst einmal die Bekanntheit unserer
Dienstleistung viel größer ist als noch vor 5 Jahren. Auch die Zusammenarbeit
zwischen Hausärzten und solchen Diensten verlaufen sowohl regelmäßiger
als auch reibungsloser. Also im professionellen Umfeld hat sich da schon eine
Menge getan.
Was hat das für Folgen,
wenn die Leute das nicht
wissen?
Was bedeutet das für
Ihre tägliche Arbeit, wie
begegnen Sie
Ihren Patienten bei
Hausbesuchen?
104
Wie nehmen die
Patienten es auf, wie Sie
mit ihnen umgehen?
Für mich ist es eine positive Rückmeldung, wenn die Leute sagen: „Wissen
Sie, das war seit Langem mal wieder ein richtig gutes Gespräch.“ Obwohl man
das als Behandelnder vielleicht als gar nicht so gut empfunden hat - man hat
eigentlich sehr schlimme Sachen besprochen, vielleicht einen ungünstigen
Befund oder dass es keine sinnvolle Möglichkeit einer weiteren Chemotherapie
mehr gibt. Wo gibt es da den Anhaltspunkt zu sagen, das sei ein gutes Gespräch gewesen?
In der Bevölkerung ist das Ganze, dank Internet und Mundpropaganda, auch
sehr wohlwollend aufgenommen worden. Also ich habe nie negative Stimmen
gehört oder gelesen. Allerdings gibt es noch das Missverständnis, dass der Begriff „palliativ“ in den Köpfen vieler noch sehr negativ besetzt ist und mit Tod
und Sterben verbunden wird. Dem ist zwar nicht zwingend so, aber der Grund
dürfte in mangelnder Information und Aufklärung liegen.
Neulich wollte uns ein Patient aus diesem Grund wegschicken. Er hatte Angst
und war dem Thema emotional nicht gewachsen. Da fragte ich ihn auf der
Türschwelle: „Bevor wir gehen, wieso denken Sie denn, dass Sie uns nicht brauchen? Wissen Sie überhaupt was Palliativdienste tun oder haben sie schlechte
Erfahrungen gemacht?“ Am Ende waren wir zwei Stunden bei ihm und haben
ein gutes Gespräch geführt. Ein Stück weit konnten wir ihm die Angst nehmen
und ihm schon mal etwas helfen. Das war ein spürbarer Erfolg für mich und
meine Kollegen.
Wenn ich einem Patienten erstmals begegne, ist es wie der Anblick eines
Eisbergs im Wasser. Zuerst sehe ich nur dessen Spitze, aber ich weiß, dass ich
auch unter die Wasseroberfläche tauchen muss, um ihn wirklich zu verstehen.
Ich darf mich dabei nur nicht bloß auf das gesagte Wort verlassen, sondern
muss den Blick auch für das Verborgene öffnen. Das, finde ich, ist eine schöne
Metapher. Das Entscheidende ist, dass man dem Patienten bei den Gesprächen auch Raum bietet, damit er einem diesen Einblick gewähren kann.
Empathie ist für eine gelingende Arzt-Patienten-Beziehung entscheidend. Wir
hatten einmal das Beispiel, dass ein Patient zu einem anderen Kollegen meinte: „Ich möchte von Dr. XY nicht mehr betreut werden.“ Dann fragt man nach
dem WARUM und bekommt als Antwort: „Der hat mich nicht richtig verstanden. Der hat zwar gemerkt, dass ich Probleme oder Angst habe vor der Therapie, aber die Tragweite hat er eigentlich gar nicht erfasst. Er hat auch gar nicht
die Bereitschaft gezeigt, diese zu verstehen - was heißt das für meine Familie,
für meinen Beruf, für meine Zukunft. Der hat sich nur zurückgezogen hinter
einen Röntgenbefund und nicht gefragt, was das jetzt mit mir gerade anstellt.“
Das ist so ein Beispiel für ein misslungenes Gespräch und wo Empathie nicht
wirklich Raum gefunden hat.
Man reflektiert das dann und fragt sich wie das Gespräch für einen selbst war.
Ist es uns gelungen an den Patienten heranzukommen? Wie war es wohl für
ihn?
Es gibt erfüllende Momente, in denen man merkt, dass das Gegenüber einem
sehr viel von sich, erzählt und das verbuche ich als persönlichen Erfolg. Vor
allem, weil man sich das am Anfang wohl nie erdacht hat.
Klingt nach einer sehr
engen Bindung zu Ihren
Patienten.
Ja absolut! Da fragen mich die Kollegen dann auch manchmal: „Sag mal, woher weißt du denn, dass der Grießbrei mag, oder früher Jäger war, oder gern
Modellautos gesammelt hat?“ Man schaut sich ja auch in der Wohnung um.
Da stehen Bilder oder Figuren etc. Und über simple Beobachtung kommt man
dann ganz schnell ins Gespräch und nähert sich an.
Und besonders über die Hobbys wird dann die Tragweite der Erkrankung
deutlich: Patienten, die beispielsweise gern in den Bergen waren, sind nun
natürlich umso härter getroffen, weil sie ans Bett gefesselt sind. Angler können
nie wieder Fische fangen. Reisebegeisterte nie wieder reisen. Nur über das
Persönliche kommt man an die Patienten heran, kann zwischen den Zeilen lesen. Und erst auf diesem Wege kann ich auch mein Verständnis von Empathie
wirklich anwenden. Im Gespräch oder durch bewusste Wahrnehmung - Empathie funktioniert genau so.
105
Berufung
Wie gut muss das alles
organisiert sein, wenn
Sie bereits so viele
Informationen im Kopf
haben?
Wir haben ein großes Einzugsgebiet mit etwa 300.000 Einwohnern, das sind
zweieinhalb Landkreise. Es kann schon mal vorkommen, dass wir zwischen zwei
Patienten 1,5 Stunden mit dem Auto unterwegs sind. Niederbayrisches Land
und etwas Stadtgebiet. Das ganze wird Anfang der Woche dann aber geplant,
damit wir bestenfalls nicht so weit fahren müssen.
In der Regel ist immer noch eine ausgebildete Pflegekraft dabei und dann setzt
man sich in die Küche oder ins Wohnzimmer bei den Patienten und schaut
einfach mal was tagesaktuell ist. Also alles erst mal Routinebesuche.
persönliche Schutzbarriere einrichten, einen imaginären Korridor, der einen
von den täglich erlebten Erfahrungen abschirmt. Man sollte nicht zu viel an sich
heranlassen.
Gibt es da Ausnahmen?
Natürlich gibt es die. Ich habe zwischenzeitlich gelernt, Einzelschicksale, insbesondere junger Patienten, gut für mich gedanklich zu sortieren und in der
Arbeit zu lassen. Was mich aber auch nach Feierabend oft nicht loslässt, sind
wuterfüllte oder vorwurfsvolle Gespräche mit oder zwischen Angehörigen.
Wenn die Personen überfordert sind und sich dies in stark emotionaler Weise
entlädt. Reaktionen, die unangenehm und oft schwer zu ertragen sind und alles
eigentlich nur verschlimmern… Solche Fälle nehme ich mit nach Hause und
frage mich selbst: „Was lief falsch? Lief überhaupt etwas falsch? Wo hat die
Empathie versagt?“ Da muss man sich wirklich tief in die Psyche dieser Leute
hineinversetzen und ergründen, was sie wohl umtreibt. Und das zerrt schon
sehr an den Nerven. Vielleicht auch, weil man mitunter Zweifel an der eigenen
Kompetenz verspürt.
Wo liegt dann Ihre
Motivation für den Job?
Wissen Sie, wenn mir mal ein ähnliches Schicksal bevorstehen sollte, wäre ich
auch froh, wenn es jemanden gibt, der den Job aus Überzeugung tut. Zum
anderen bestätigt es mich, wenn Angehörige sagen: „Das war jetzt zwar ein
schlimmes Kapitel für uns, aber Sie und Ihre Kollegen haben uns sehr geholfen
und viel abgenommen.“
Dann gibt es aber auch Situationen, da werden wir notfällig angefordert, weil
etwas nicht stimmt. Zum Beispiel ruft ein Angehöriger an, weil seine Frau starke
Schmerzen, Atemnot, Übelkeit oder ähnliches hat. Das sind Krisensituationen.
Angefordert werden wir von Krankenhäusern oder Hausarztpraxen, die solche
Patienten versorgen und uns dann um Mitbetreuung bitten. Wenn sie beispielsweise selbst an ihre leistbaren Grenzen stoßen.
Und wenn wir da sind, geht es, wie gesagt, erst einmal darum, wie es dem
Patienten an diesem Tag so geht. So auch, ob er die Medikamente gut verträgt, es Nebenwirkungen gibt oder auch, wie die Angehörigen mit der Pflege
zurechtkommen. Überforderung der Angehörigen und insuffiziente häusliche
Versorgung sind keine Seltenheit. Dann muss über eine intensivere Pflege
unsererseits oder mittels weiterer Familienmitglieder oder sogar über eine Unterbringung im Krankenhaus, einer Palliativstation oder im Hospiz nachgedacht
werden.
Klingt als müssten Sie
sich auch um die
Angehörigen der
Patienten kümmern.
Stellen Sie sich vor Sie werfen einen Stein ins Wasser. Das ist wieder so eine
Methapher. Dabei bilden sich Wellen, die sich immer weiter ausbreiten. Werfen
Sie einen zweiten Stein, gibt es wieder Wellen und diese treffen sich mit den
ersten. Die Kreise, die die verschiedenen betroffenen Bereiche eines Patienten ziehen, überschneiden sich auch oft mit denen der Angehörigen. Und da
nehmen wir auch eine Art Vermittlerrolle ein. Denn einige Patienten sagen
auch: „Herr Doktor, ich leide eigentlich weniger unter der Krankheit, sondern
viel mehr unter der Tatsache, dass es meiner Frau damit so schlecht geht. Ich
falle ihr so sehr zur Last.“ Und so überlegen wir dann auch, wie wir diese Frau
entlasten können, damit auch der kranke Mann ein besseres Gefühl hat.
Und als Letztes muss ich sagen, dass mich diese Schicksale doch immer sehr
erden. Also, dass ich mir denke: Hey, mir geht es im Grunde sehr gut. Ich bin
gesund, habe ein schönes Zuhause und gute Freunde. Diese Dinge tragen
dazu bei, dass ich mich mit dem Job arrangieren kann und ihn gern mache,
auch wenn es Tage gibt, die sehr anstrengend sind. Ich helfe gern und das
macht mich zufrieden.
Wollten Sie schon immer
in die Palliativmedizin?
Ich bin da mit der Zeit einfach reingewachsen. Ich finde es sehr beeindruckend,
wenn Menschen schon am Anfang ihres Medizinstudiums wissen, in welchem
Bereich sie später arbeiten wollen. Für mich hat sich erst mit der Zeit herausgestellt, was ich für ein „Medizinmensch“ bin. Manche haben vielleicht den rauen
Ton und die handwerkliche Tätigkeit im OP lieber. Ich bin halt immer schon
eher der Redner gewesen, der sich um das seelische Wohl der Menschen
kümmert. Und irgendwann wird man vielleicht durch jemand anders mal darauf
gebracht „Hey, Onkologie und Palliativdienst, das wäre doch bestimmt was für
dich“. Und so läuft das dann.
Blicken wir in eine ganz
andere Richtung. Für wie
empathisch halten Sie
die Gesellschaft?
Ich würde sagen, dass Empathie eher etwas Professionelles ist, was mit dem
Beruflichen zusammenhängt und im privaten Umfeld nicht so präsent ist. Soll
heißen: wirklich empathisch finde ich die Gesellschaft nicht.
Deswegen bedeutet Empathie hier auch, nicht nur den Blick auf den Patienten
richten, sondern auch nach links und rechts schauen, wer denn noch so betroffen sein könnte. Und da ist das Verhalten dann wieder ähnlich: fragen wie
es denn so geht, was Kummer macht und überlegen, wie man das zusammen
lösen kann.
Die Fülle an Emotionen
kann sicherlich auch mal
belasten. Wie viel von
Ihrem Beruf nehmen Sie
mit nach Hause?
106
In der Ausbildung zum Psychoonkologen hatten wir regelmäßige Übungen: jeder stellte einen Fall aus der Praxis vor, der ihn besonders berührt, aufgewühlt
oder sonst irgendwie beschäftigt hat. Dies wurde dann in der Gruppe diskutiert. Und im Zuge dieser Fallbeispiele habe ich gelernt, Grenzen zu ziehen.
Und zwar in dem Sinne, dass man lernt, sich nicht für die Erkrankung oder
deren Verlauf verantwortlich zu fühlen. Man ist aber sehr wohl verantwortlich
für den Umgang mit dem Patienten. Nichts desto trotz sollte man sich eine
107
Berufung
Warum? Woran machen
Sie das fest?
Öfter kommt es vor, dass Patienten auf meine Frage „Wie geht es Ihnen
heute?“ etwas ausholen möchten, um sich das Ganze leichter zu machen.
Dann kann es vorkommen, dass ihre Angehörigen, die meist mit dabei sitzen,
einschreiten, um das sofort zu unterbinden. „Nein, das ist so negativ. Darüber
wollen wir jetzt gar nicht sprechen. Wir müssen jetzt positiv denken und stark
sein.“ Das setzt die Patienten unter Druck. Es werden Erwartungen formuliert,
die nicht eingehalten werden können.
Wie haben Sie sich im
Laufe Ihrer Karriere
verändert?
Allerdings mache ich den Leuten keinen Vorwurf. Sie haben es in der Regel
nicht gelernt, bei solch persönlichen Situationen entsprechend konstruktiv
zu reagieren. Es ist eine Art Schutzmechanismus, der die Laien entschuldigt.
Außerdem kenne ich die Verhältnisse in der Familie ja nicht wirklich. Ich arbeite
ja nur in einem kleinen Zeitausschnitt, der dazu noch eine Extremsituation darstellt. Und doch sind das die Gründe, die mein Urteil untermauern.
Sie halten auch Vorträge
zum Umgang mit Patienten. Was ist Ihnen dabei
wichtig?
Gerade gestern hatte ich einen solchen Vortrag. Da bin ich mit dem Bild von
dem Eisberg eingestiegen. Damit wollte ich darauf hinaus, dass man den Blick
zu allen Seiten hin offen halten soll. Man sich nicht engstirnig hinter Befunden
und Diagnosen versteckt. Denn, wie ich bereits sagte, es gibt so viele Möglichkeiten, an den Patienten heranzutreten und mit ihm in Dialog zu treten, der
einem Vieles offenbaren kann. Und nur, wenn ich auch schaue, was unter der
Oberfläche ist, kann ich Erfolg haben. Alles, was oben schwimmt, verraten mir
die Akten, aber für das Andere bin ich verantwortlich, um ein ganzheitliches
Bild zu zeichnen und dem Patienten so besser helfen zu können.
Auf der anderen Seite ist es uns nie möglich, die komplette Tragweite zu erfassen. Wir sprechen mit den Patienten und engsten Angehörigen und hier kann
man schon viel erfahren und hinter die Kulissen blicken. Aber voll und ganz
kann man die Situation nie greifen. Und das ist auch okay. Aber bei dem, was
wir tun, müssen wir stets aufmerksam sein und unseren Blick öffnen. Je eher
man das verinnerlicht, umso früher und besser kann man helfen. Das ist das
Wichtigste und das müssen alle zukünftigen Ärzte und Pfleger wissen.
Sie unterweisen Mediziner und medizinisches
Personal von morgen.
Wie ist Ihr Auftreten bei
diesen Vorträgen?
Auf dem Papier bin ich zwar „ärztlicher Leiter“, aber gefühlt bin ich es nicht. Es
ist mir nicht wichtig. Ich sehe mich eher als Teil eines Teams, das nur gemeinsam etwas schaffen kann, weil jedes Mitglied spezielle Stärken hat und somit
die Gruppe bereichert. Also sehe ich eine eher flache Hierarchie. Trotzdem bin
ich mir meiner Verantwortung bewusst, denn das Wohl der Patienten ist mir in
jedem Fall wichtig.
Ich denke, dass ich mit allem auf eine positive Weise routinierter geworden bin.
Damit will ich sagen, dass ich mir Vorgehensweisen zurechtgelegt habe, die ich
erst einmal bei bestimmten Patientengruppen einsetzen kann. Zum Beispiel,
wenn jemand direkt aggressiv ist, versuche ich zunächst einmal zu ergründen,
woher das rührt und ggf. aufzuklären. Meine Art des Umgangs mit Patienten ist
über die Jahre gereift und ich schleife stetig daran. Aber jedes Vorgehen kann
scheitern, daraus muss man dann eben lernen und etwas Anderes versuchen.
Und so feilt man immer wieder an sich und probiert Dinge aus. Diese gebe ich
auch bei Vorträgen gern weiter, wenn es die Leute interessiert.
Ebenso habe ich erfahren, was die Arbeit mit einem machen kann. Um in
einem weiteren Bild zu sprechen, habe ich einen Topf voller Energie. Dieser
ist jeden Tag wieder gefüllt und ich kann daraus schöpfen. Nun gibt es Tage,
an denen ist dieser Topf schnell verbraucht, manchmal schon nach wenigen
Hausbesuchen. Dann geht einfach nichts mehr. Das sind dann auch Tage, an
denen ich mich mit dem Abschalten schwerer tue. Aber es gibt auch Tage, an
denen ich auch nach Feierabend noch eine Menge Energie übrig habe. Ich
suche mir meine Kontakte bewusster aus. Quasi Qualität vor Quantität in Beziehungen und Freundschaften. Der Beruf kann durchaus emotional auslaugen.
Das kommt vor. Dann ist man für banale Probleme im privaten Umfeld weniger
empfänglich.
Passend dazu die Frage:
sind Sie im Privaten
ähnlich empathisch wie
im Berufsleben?
Schwierig. Ich denke, dass es im Gespräch mit einem Freund, der Sorgen hat,
immer komisch wirkt, wenn man neutral nach dessen Gemütslage fragt. Also
sich anhört wie ein Therapeut. Da hat schon so mancher komisch geschaut und
war fast peinlich berührt. Als Arzt habe ich eine fachliche Legitimation, da muss
ich fragen, weil es hilft und das schafft Vertrauen. Im Freundeskreis gelten andere Regeln. Und wie ich schon sagte, ist Empathie für mich eher etwas für den
professionellen Bereich. Nicht weil sie im privaten Rahmen keine Anwendung
findet, sondern, weil die meisten Leute nicht wissen, wie sie damit umgehen
sollen.
Vielen Dank
für Ihre Zeit, Dr. Sohm.
Bei Vorträgen ist das etwas anders. Da bin ich mir meiner Kompetenzen durchaus bewusst und lege Wert auf Praxisnähe, möchte aus meinem Erfahrungsschatz berichten. Auch in Gremien bin ich nicht scheu zu zeigen, dass ich weiß,
wovon ich rede. Natürlich lasse ich mich korrigieren, wenn ich falsch liege, aber
durch die jahrelangen Erfahrungen auf meinem Spezialgebiet habe ich schon
ein gewisses Selbstbewusstsein entwickelt. Sollte man meiner Meinung nach
aber auch haben, wenn man Verantwortung für bestimmte Bereiche übernimmt.
108
109
Berufung
5.) Der Klassiker: Eine alte Dame – schwer
bepackt mit Einkaufstüten – kommt in die
Bahn und sucht einen Platz. Allerdings ist
die Bahn so voll, dass sie Dich durch die
Menge gar nicht sieht. Was machst Du?
... Und wie empathisch bist Du?
1.) Du stehst an der Kasse. Vor Dir bezahlt
gerade ein alter Mann. Doch die Kassiererin ist genervt: Ihm fehlen noch zwei Euro…
a) Ich würde ihm ja helfen, aber zwei Euro
sind dann doch etwas viel... (5 Punkte)
b) Er braucht mich gar nicht so beschämt
anschauen – ich helfe ihm da nicht.
(0 Punkte)
c) Der Arme! Sofort zücke ich meinen Geldbeutel und reiche ihm das fehlende Geld
– schon wieder eine gute Tat vollbracht! (10
Punkte)
2.) Deine Universität macht auf ein Projekt
aufmerksam, bei dem die Studierenden
einigen Flüchtlingen helfen können – eine
gute Gelegenheit, Menschen zu helfen,
oder?
a) Auf jeden Fall! Ich trage mich sofort in
die Listen ein, stachle auch meine Freunde
an. Ich möchte den Menschen helfen! (10
Punkte)
b) Falls es nicht allzu viel Zeit beansprucht,
bin ich natürlich dabei. (5 Punkte)
c) Eine einzelne Person kann da eh nichts
bewirken - ich bin raus. (0 Punkte)
3.) Klausurstress! Nach sechs Folgen „How
I Met Your Mother“ schaffst Du es endlich,
dein Buch aufzuschlagen und zu lernen.
Da ruft Deine beste Freundin an, die sich
kürzlich von ihrem Freund getrennt hat.
Und jetzt?
a) Nerv nicht! Habe gerade meine eigenen
Sorgen… Ich muss lernen, das ist mindestens genau so schlimm. (0 Punkte)
b) Natürlich! Für sie lasse ich alles stehen
und liegen! (10 Punkte)
c) Sie macht im Moment eine schwere Zeit
durch – ich muss da rangehen, versuche
aber, mich kurz zu halten. (5 Punkte)
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a) … schnauze ich sie an, wieso das so lange
gedauert hat!? Ich habe Hunger! (0 Punkte)
b) ... frage ich Sie höflich, mit dem Koch zu
sprechen. Denn die Bedienung ist nicht
dafür verantwortlich, sondern die Küche. (5
Punkte)
c) … bedanke ich mich für das Essen und
schweige. Die Arme ist so schon nervös, da
muss ich mich nicht auch noch beschweren.
(10 Punkte)
a) Ich lasse sie weinen, gehe danach auf sie
ein. Das wird schon wieder… (5 Punkte)
b) Ich fahre sofort zu ihr – natürlich mit
reichlich Schokolade und Sekt im Gepäck.
(10 Punkte)
c) Ach bitte! Andere Mütter haben auch
schöne Söhne. (0 Punkte)
Y
A
GW
W
6.) Du bist mit deinen Freunden im Restaurant und bestellst. Mehr als zwei Stunden
müsst ihr warten, bis das Essen kommt.
Nachdem die Kellnerin euch das Essen
serviert…
4.) Jetzt kommt es noch schlimmer: Deine
beste Freundin konnte ihren Heulkrampf
nicht unterdrücken und weint ununterbrochen am Telefon.
W
N
O
R
a) Ich stehe sofort auf und wedle mit meinen Armen, rufe nach ihr, damit sie sich
setzen kann. (10 Punkte)
b) Die Alte sieht mich sowieso nicht, ich
kann also getrost sitzen bleiben. (0 Punkte)
c) Ich beobachte sie mit mitleidigem Blick,
aber es würde nichts nützen, jetzt aufzustehen. Unverständlich, warum keiner neben
ihr einen Platz anbietet! (5 Punkte)
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TW
7.) Folgendes Szenario: Die Eltern Deines
besten Freundes haben sich getrennt. Er
ist total verzweifelt und steht vor deiner
Haustür. Allerdings ist es gerade mal eine
Woche her, dass sich auch Deine Eltern
trennten. Wie reagierst du?
Y
A
TW
a) Ich lasse ihn sofort rein und tröste ihn
– um mich geht es jetzt einfach nicht! (10
Punkte)
b) Sorry, aber ich habe genug eigene Probleme! (0 Punkte)
c) Natürlich helfe ich ihm, verweise jedoch
auch auf meine Probleme – so können wir
uns beide trösten und helfen. (5 Punkte)
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8.) Du liegst im Bett und kannst nicht schlafen. Der Grund dafür…
a) … kann nur sein, dass ich zu viel Kaffee
getrunken habe. (0 Punkte)
b) … sind oft Sorgen, Selbstzweifel, der Terror und der Krieg in der Welt… Manchmal
wird mir einfach alles zu viel. (10 Punkte)
c) … ist wahrscheinlich etwas Stress, aber oft
passiert mir das eigentlich nicht. (5 Punkte)
9.) Dein Schatz findet sich zu dick. Den
Spruch hörst Du allerdings nicht das erste
Mal. Es ist auch völlig unberechtigt, denn
sie/er ist total sportlich! Deine Reaktion?
a) Ich sage ihm/ihr, wie falsch diese Aussage
ist! „Du bist schön, so wie du bist!“ ist meine
etwas unausgefallene, aber ehrliche Antwort. (5 Punkte)
b) Ja, dann nimm halt ab und lass mich in
Ruhe! Ganz ehrlich, wer sich zu dick findet,
soll einfach abnehmen. (0 Punkte)
c) Natürlich stimmt es nicht. Ich beschwichtige meinen Schatz und überlege, wie ich
sein/ihr Selbstbewusstsein steigern kann.
Was für ein verdrehtes Selbstbild… (10
Punkte)
10.) Du bist auf einer Party und lernst ein
nettes Mädchen kennen. Bei einem längeren Gespräch erfährst Du, das vor Kurzem
ihr Vater gestorben ist.
a) Ich zeige mein tiefes Mitgefühl, teile ihr
das mit. Ich möchte mehr darüber erfahren, denn obwohl ich sie noch nicht richtig
kenne, bin ich wirklich sehr betroffen. (10
Punkte)
b) Ich richte mein Beileid aus, habe allerdings Angst, näher darauf einzugehen. Lieber muntere ich sie ein wenig auf. (5 Punkte)
c) Ach herrje… Themenwechsel! Das ist mir
jetzt ziemlich unangenehm. (0 Punkte)
Zähle nun die Punkte Deiner Antworten zusammen und blättere um für Dein persönliches Ergebnis!
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Auswertung
Der Mitfühlende (100 bis 71
Punkte)
Der Normalo (70 bis 26 Punkte)
Der Gefühlsphobiker (25 bis 0
Punkte)
Wenn andere weghören, hörst
Du genau hin. Du hast nicht nur
für Freunde und Bekannte, sondern sogar für Fremde ein offenes Ohr. Deine Freunde suchen
Dich stets auf, um Deinen Rat
zu erfragen. Du bist sehr empathisch, was Dich allerdings auch
dazu veranlasst, Deine eigenen
Probleme in den Hintergrund zu
stellen. Darauf solltest Du aufpassen, denn sonst sind schnell
die Probleme anderer Personen
wichtiger als Deine eigenen.
Schließlich sollst Du kein „Gefühls-Mülleimer“ sein.
Du machst Dir Sorgen um Deine
Mitmenschen, weißt aber, wann
genug ist: Schließlich hast Du
auch ein Leben, das Du bewältigen musst. Du bist zufrieden
mit deinem Freundeskreis und
weißt, wenn Du Probleme hast,
sind sie da – und umgekehrt.
Allerdings übernehmen Gefühle nicht die Überhand in Deinem Leben – dafür bist Du dann
doch zu rational.
Empathie? Ist das eine Geschlechtskrankheit? Mit diesem
Wort kannst Du nichts anfangen.
Sorgen oder Probleme belasten Dich, so wie Deine eigenen
auch. Deswegen verdrängst Du
lieber Emotionen, um Dich um
wichtigere Dinge zu kümmern.
Die Folge: Wahrscheinlich wirst
Du nicht gerade den größten
Freundeskreis haben. Aber das
ist Dir auch egal. Du hast ein
für Dich ausgefülltes Leben und
keinen Platz für Herzschmerz
oder zu viele Gedanken.
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Jeder kann für die Leiden eines Freundes
Mitgefühl aufbringen. Es bedarf aber eines wirklich edlen Charakters, sich über
die Erfolge eines Freundes zu freuen.
Oscar Wilde
113
Seele
114
115
Seele
Vorsicht, ansteckend!
Bei diesen Gefühlen fiebern wir automatisch mit.
Wenn ein Lachen Freude weckt, eine traurige Filmszene Tränen hervorruft oder der Schmerz
eines anderen wehtut, dann spricht man von „Gefühlsansteckung“. Und davon kann (fast) jeder
betroffen sein.
von Johanna C. Klein
Der erste, der von „Gefühlsansteckung“ sprach,
war der Soziologe Max Scheler. Damit beschrieb
er Anfang des 20. Jahrhunderts erstmalig die
zwischenmenschliche Übertragung von Gefühlen.
Erst siebzig Jahre später sollte sich diese Beschreibung in der Wissenschaft verfestigen: Mit der
Übersetzung des Buchtitels „Emotional Contagion“ erschienen im Jahr 1994 von Elaine Hatfield,
amerikanische Psychologin und Professorin an der
University of Hawaii.
Wie das genau funktioniert ist bis heute noch
weitestgehend unklar. Welche Gefühle sind besonders ansteckend? Was passiert im Gehirn während
des Vorgangs? Und welche Faktoren begünstigen
eine „Ansteckung“? In den letzten zwanzig Jahren
wurde viel darüber geforscht, Einigkeit unter den
Wissenschaftlern ist jedoch selten.
Ein Einblick in die Studien-Landschaft.
„AUA, DAS TUT WEH“
Heute gilt die „Gefühlsansteckung“ als affektive
Form der Empathie und beschreibt die emotionale Übernahme von „fremden“ Gefühlen. Dabei
werden Gefühlszustände, wie z.B. ein Lachen des
Gegenübers, unbewusst imitiert und als eigene
Stimmung, in diesem Fall Freude, übernommen.
116
Die deutsche Neurowissenschaftlerin Tania Singer
vom Max-Planck-Institut erforscht seit 2003 die
Gefühlsansteckung zwischen Menschen. Und
glaubt, mit ihrer Schmerzstudie die Grundlage
für Empathie entdeckt zu haben. Im Jahr 2003
117
Seele
untersuchte das Forscherteam um Singer die
Schmerzansteckung von Liebespaaren mittels
Stromschlägen. Die Reaktion im Gehirn wurde mit
der sogenannten funktionalen Magnetresonanztomografie (fMRT) gemessen.
ebenfalls aktiv. Und zwar nicht nur der Bereich, der
Schmerz als Schmerz identifiziert, sondern auch
das Endgefühl von Schmerz, das Gefühl „Aua, das
tut weh“. Dies sei, so Singer, die Grundlage für
Empathie.
Forscher an der Universität Göttingen fanden außerdem heraus, dass
Die funktionale Magentresonanztomografie ist ein bildgebendie Schmerzempathie auf Dauer
des Verfahren zur Messung von Gehirnaktivität. Durch Veränabnehmen kann. Sie zeigten Proderungen des Sauerstoffverbrauchs sind gedankliche Prozesse
banden Fotos von Schmerz und
und die zuständigen Gehirnareale erkennbar.
untersuchten die Reaktionen beim
wiederholten Betrachten.
Das Ergebnis: Erhielt die Frau einen Stromschlag,
Ihr Fazit: Obwohl die Schmerzeinschätzung gleich
waren die Hirnbereiche für Verarbeitung und Emp- blieb, nahm die Reaktion auf den Schmerz ab. Das
findung von Schmerz aktiviert – ein Netzwerk aus
Gefühl von „Aua, das tut weh“ war nicht mehr so
sensorischem Kortex und Insula. Erhielt der Partstark ausgeprägt wie bei der ersten Betrachtung
ner den Stromschlag, waren Teile des Netzwerkes
der Fotos.
SCHMERZMATRIX NACH SINGER
Der vordere Teil der Insula, auch Inselkortex/
-rinde genannt, steuert willkürliche Bewegungen und verarbeitet Informationen.
Der limbische Kortex ist Teil des limbischen
Systems und für Emotionen, Antrieb und Gedächtnisbildung zuständig. Neuronen im limbischen System reagieren
auf eigenen Schmerz, Beobachtung von Schmerz
und potentiell vorhersehbaren Schmerz.
Der Hirnstamm, ältester
Teil des Gehirns, übernimmt lebenswichtige
Bereiche wie Atmung
und Herzschlag und
dient als Umschaltkern
zwischen Groß- und
Kleinhirn sowie als Brücke
zwischen vorderen und hinteren Bereichen.
Das Kleinhirn ist das wichtigste Integrationszentrum für Erlernen, Koordination und
Feinabstimmung von Bewegung.
118
Neben Schmerzempfinden sind auch Angstreaktionen im Gehirn messbar.
Forscher an der Harvard-Universität in Charlestown
fanden heraus, dass bei Angstempfinden neben
Emotionszentren auch Hirnareale für Motorik aktiv
sind.
WER ANGST ERKENNT,
STELLT SICH UNBEWUSST AUF FLUCHT EIN
Bei der Studie sahen sich Probanden Bilder mit
verschiedenen Körperhaltungen an. Dabei war
im Gehirn erkennbar: Bilder, die Angst zeigten,
aktivierten auch den motorischen Kortex. Der
Grund dafür sei, bei Gefahr schneller reagieren zu
können. Dies könnte erklären, warum sich Angst in
einer Menschenmasse so schnell ausbreitet, so die
Wissenschaftler. Ihre Studie veröffentlichten sie in
der Fachzeitschrift PNAS.
Hilfsbedürftigkeit signalisieren. Dadurch stiege die
Chance auf Hilfe und Unterstützung.
Wieso uns Filme zu Tränen rühren, untersuchten
Forscher der Universität Tilburg und zeigten ihren
Probanden den bewegenden Film „Hachiko“.
Eine Geschichte über die Freundschaft zwischen
Mensch und Hund. Ihre Ergebnisse: Rund die
Hälfte der Teilnehmer weinte während der Vorstellung. Die schlechte Stimmung hielt an, bis sie sich
nach 90 Minuten besserer Stimmung fühlten. Die
Forscher glauben, dass Mitgefühl eine therapeutische Wirkung hat.
DIE ENTDECKUNG DER SPIEGELNEURONEN
Anfang der 90er Jahre entdeckten Forscher der
Universität Parma eher zufällig die Nervenzellen, mit denen viele Forscher Empathie erklären. In ihrer Studie untersuchten die Forscher
Giacomo Rizzolatti und Pier Francesco Ferrari,
welche Handlungen im Gehirn geplant und
umgesetzt werden.
Ihr Versuchsaufbau: Ein
Affe greift nach einer Nuss,
während die Forscher seine
Gehirnströme messen. Als
einer der Forscher nach der
Nuss griff und der Affe die
Handlung zufällig beobachtete, stellten die Forscher
fest, dass dieselben Hirnströme wie zuvor messbar
waren. Entdeckt waren die
Spiegelneuronen – Nervenzellen im Gehirn die
das Spiegeln von Verhalten
ermöglichen. Ob die Zellen auch im menschlichen Gehirn existieren, ist bisher nicht
erwiesen.
Auch Angstschweiß ist ansteckend: Wissenschaftler der Stony-Brook-Universität in New York untersuchten die Reaktionen auf Schweißproben von
Fallschirmspringern. Die im Angstschweiß befindlichen Pheromone übertrugen Angst- und Stressgefühle auf die schnüffelnden Testpersonen.
Wieso wir überhaupt fühlen was wir fühlen, darüber sind sich die Forscher größtenteils uneinig.
Besonders für die Frage „Welchen Zweck haben
Tränen?“ gibt es aus wissenschaftlicher Sicht
verschiedene Antworten. Der israelische Forscher
Noam Sobel stellt in der Fachzeitschrift Science
seine Studienergebnisse über Tränen vor.
FRAUENTRÄNEN BESÄNFTIGEN MÄNNER
Sobel glaubt, Tränen dienen der Kommunikation.
In seiner Studie fand er heraus, dass der Geruch
von Frauentränen das Testosteronlevel und die
sexuelle Erregung der Männer senkt. Und schloss
daraus: Chemische Botenstoffe werden durch Tränen transportiert, um Kommunikation zu ermöglichen.
Der Evolutionsbiologe Oren Hassen stellt in der
Fachzeitschrift Evolutionary Psychology eine
ähnliche These auf: Der Zweck des Weinens
bestehe seiner Ansicht nach darin, andere an
sich zu binden und aggressivem Verhalten vorzubeugen. Denn Weinen würde Verletzlichkeit und
So leicht ist es jedoch nicht, sich in andere hineinzufühlen und sich von ihren Gefühlen anstecken zu
lassen. Viele Studien haben gezeigt, dass Ähnlichkeit und Identifikation vorhanden sein müssen, um
unser Mitgefühl zu wecken.
119
Seele
JE ÄHNLICHER, DESTO ANSTECKENDER
These, dass Gähnen in der Urzeit zur
Abstimmung von Gruppenaktivitäten diente und beispielweise eine
Aufforderung zur gemeinsamen Jagd
darstellte.
Die Erklärung: Bei Mitgliedern der
gleichen Gruppe sei die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie sich für das
Mitfühlen revanchieren. So sei es
wahrscheinlicher, dass ein Europäer
mit einem anderen Europäer mitfühlt
als mit einem Asiaten. Und Verwandten mehr Mitgefühl entgegengebracht werde als Fremden.
Und wie steht es um körperliche
Gefühle? Der Neuropsychiater Neil
Harrison und sein Team sind der
Frage nachgegangen, ob auch physische Gefühle wie Frieren ansteckend
sein können.
Eine mögliche Begründung dafür sei
Stress, der das Einfühlungsvermögen
hemmt, glauben die Forscher von
der McGill University in Montreal, die
eine Studie zum Thema „Empathie
unter Fremden“ durchgeführt haben.
Ein Proband wurde dabei von Freunden und Fremden beobachtet, wie
er eine Hand in Eiswasser taucht. Das
Fazit: Die Fremdengruppe brachte
dem Probanden weniger Mitgefühl
entgegen als die Freundesgruppe.
Ihre Forschung veröffentlichten sie in
der Fachzeitschrift Current Biology.
Die folgenden zwei evolutionsbiologischen Thesen unterstützen diese
Erklärung.
KANN AUCH DER KÖRPER MITFÜHLEN?
Die Forscher der Medizinischen
Hochschule Brighton und Sussex
zeigten den Probanden Videoszenen
von heißem Tee und Eiswürfeln und
haben ihre Reaktionen in Form von
Temperaturunterschieden gemessen.
Das Ergebnis: Nach der Eiswürfel-Szene zeigten die Probanden
einen leichten Temperaturabfall. Die
Forscher vermuten deshalb, dass
auch physische Gefühle wie Frieren
ansteckend sind. Die Studie erschien
in der Fachzeitschrift Plos One.
„LACHEN IST WIE SOZIALER KLEBSTOFF“
Die Forscher von der University of
Porthmouth haben herausgefunden,
dass Lachen die Gruppenzugehörigkeit stärkt – und das nicht nur beim
Menschen. In ihrer Verhaltensstudie
mit Schimpansen haben die Wissenschaftler um Marina Davila-Ross
herausgefunden, dass ein Neuling
deutlich häufiger mitlacht, als bereits
etablierte Gruppenmitglieder. Sie
gehen davon aus, dass bereits die
gemeinsamen Vorfahren von Mensch
und Schimpanse Lachen als Kommunikation genutzt haben. Ihre Ergebnisse haben sie in der Fachzeitschrift
Emotion veröffentlicht.
In einem Gespräch werde durchschnittlich sechs Mal in zehn Minuten
gelacht – das fand die Verhaltensfor-
120
Die sogenannte Affektansteckung zwischen Mutter und Kind ist die Basis
scherin Julia Vettin heraus. Der häufigste Lacher
sei allerdings nicht das laute „Ha“, sondern das
leisere „He-he-he“, das zur Bestätigung ausgedrückt werde.
Doch woran erkennt man echtes Lachen? Der Psychologe Guillaume-Benjamin Duchenne erkannte
im 19. Jahrhundert: Nicht nur die Mundwinkel
sind nach oben gezogen, in den Augenwinkeln
sind auch kleine Fältchen zu sehen. Damit beschrieb er das nach ihm benannte Duchenne-Lächeln.
Und weil es so schön ist, wird jeden ersten Sonntag im Mai dem Lachen ein ganzer Tag gewidmet!
der Gefühlsansteckung. Durch Imitation werden Gefühle und Ausdrücke erlernt.
MITGÄHNER SIND EMPATHISCHER ALS
NICHT MITGÄHNER
Forscher der Universität New York in Albany
fanden heraus, dass sich mitgähnende Personen
besser in andere hineinversetzen können. Für den
Versuch zeigten sie Probanden Videoszenen mit
gähnenden Menschen und verglichen die Ergebnisse mit weiteren Tests zu Empathie und Einfühlungsvermögen. Dabei stellten sie fest: Mitgähner
konnten sich besser in die Stimmungslage anderer
hineinversetzen. Daher vermuten sie, dass Gähnen
ein Weg ist, sich unbewusst mit anderen zu verbünden. Das stützt auch die evolutionsbiologische
Schmerz, Angst oder Freude - im
Grunde kann jedes Gefühl eine
ansteckende Wirkung haben. Auch
körperliche Reaktionen wie Gähnen
oder Frieren lassen sich von Mensch
zu Mensch übertragen. Bedingungen
wie Mitgefühl, Identifikation und
Ähnlichkeit müssen jedoch vorhanden sein, um „Gefühlsansteckung“
zu ermöglichen, darin sind sich die
Forscher einig. Wie genau diese
Ansteckung von Gefühlen jedoch
funktioniert und was während des
Vorgangs im Gehirn passiert, ist
bisher nicht eindeutig erforscht.
Die Schmerzmatrix von Singer legt
jedoch nahe, dass im Gehirn eine
gewisse Spiegelung stattfindet,
indem nicht nur die Hirnareale für
Gefühlsbeobachtung aktiv sind,
sondern auch jene für tatsächliches
Empfinden. Ob Spiegelneuronen
daran beteiligt sind, ist unklar.
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Seele
122
123
Seele
Eine Kleinstadt im Ausnahmezustand: Haltern am See war nach der Flugkatastrophe am 24. März 2015 wie gelähmt.
Geteiltes Leid
Germanwings-Flug 4U9525 stürzt am 24.
März 2015 in den Alpen ab. Alle 150 Insassen
sterben. Das westfälische Haltern am See
erreicht die Nachricht, dass auch sechszehn
Schüler und zwei Lehrerinnen von einem
Schüleraustausch nicht wiederkehren werden.
Unfassbarer Schmerz, der für die Familien
kaum zu verkraften ist. In ihrer Trauer sind sie
jedoch nicht allein.
von Johannes Giewald
„WARUM?“: Die unfassbare Katastrophe zu begreifen ist nahezu unmöglich. (Symbolfoto)
Hunderte Meter weit entfernt hallt das laute Rufen und Schreien zahlreicher
Kinder vom Schulhof. Ein paar Mädchen spielen Fangen zwischen Hecken
und Bäumen. „1, 2, 3, los“ rufen sie. Mehrere Jungen laufen im Kreis um
eine Tischtennisplatte, schlagen einen Tennisball mit der Hand hin und her.
Um die Ecke an der Bushaltestelle steht eine Gruppe Teenager. Sie rauchen.
Zwei Lehrer halten Aufsicht und beobachten das wilde Treiben, während sie
sich miteinander unterhalten. Große Pause am Joseph-König-Gymnasium in
Haltern am See.
Der Schulhof gibt an diesem Tag im November kein außergewöhnliches
Bild ab. Ein buntes Treiben, wie es jeder aus eigener Schulzeit kennt. Wie es
jeden Morgen tausendfach in Deutschland von Schülern und Lehrern erlebt
wird. Und doch unterscheidet ein bestimmtes Merkmal diesen Schulhof von
anderen Schulhöfen.
Von weitem ist es nur eine Tafel aus Metall, die sich durch ihren rostbraunen
Farbton von dem grauen Beton im Hintergrund absetzt. Knapp anderthalb
Meter hoch und zwei Meter breit. Rechts daneben steht eine ebenso hohe
Säule aus dem gleichen Material. Eine weiße Kerze leuchtet an ihrer Spitze
hinter Glasscheiben. Davor wurde ein Kiesbett angelegt, Blumen und Kerzen
stehen darin.
Es sind keine bedeutenden Worte, die in diese Tafel aus rostig braunem Stahl
eingelassen sind. Keine tiefsinnigen Zitate. Es stehen achtzehn Namen auf
dieser Tafel. Zwei männliche, sechzehn weibliche. Und doch erzählen diese
Namen die Geschichte davon, was diese Schule und all seine Schüler und
Lehrer am 24. März 2015 und in den Wochen darauf erlebt haben. Und woran
sie durch die Tafel auf dem Schulhof jeden Tag erinnert werden.
24. März 2015
„Wir erinnern an“, steht über den achtzehn Namen. „Die durch die Flugzeugkatastrophe am 24.03.2015 aus dem Leben gerissen wurden“, steht
124
125
Seele
Auf dem Schulhof wurden 18 Bäume gepflanzt, die an die Verstorbenen erinnern sollen.
darunter. Auf diesem Schulhof war an diesem Datum auf einmal alles anders.
Auf einmal hallten nicht mehr fröhliche Kinderrufe über das Gelände. Niemand rannte mehr oder spielte miteinander. Auf einmal standen dort, wo
sonst Schüler fröhlich nach Schulschluss die Treppenstufen herunter springen,
Menschen, die sich in den Armen hielten. Weinende Menschen, Kinder wie
Erwachsene.
Binnen weniger Stunden baute sich vor dem Haupteingang des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern am See ein Meer aus Kerzen auf. Blumen sammelten sich auf den Treppenstufen vor der Eingangstür. Daneben lagen viele
Zettel. Einige mit Worten, andere nur mit Namen darauf.
Die Nachricht verbreitete sich rasch in der Kleinstadt am Rande des Ruhrgebiets. Von dem Absturz des Germanwings-Fliegers in den französischen
Alpen hatten viele schon im Radio gehört oder im Internet gelesen. Doch
als bekannt wurde, dass eine Gruppe von sechszehn Schülern und zwei
Lehrerinnen des Gymnasiums von einem Austauschprogramm aus Spanien
nicht mehr zurückkehren würde, nahm die Botschaft für Haltern eine andere
Dimension an und traf die Menschen dort ins Mark.
Zuwendung durch Seelsorger
Unter die vielen Menschen vor dem Gymnasium in Haltern mischten sich am
Tag des Absturzes und in den Tagen darauf einige, die mit lilafarbenen Westen aus der Menge rausstachen. „Notfallseelsorger“ war in Großbuchstaben
auf ihrem Rücken zu lesen. Sie standen an diesem und den folgenden Tagen
den Menschen in Haltern am See bei.
„Von unserer Seite ist das ein Begleiten zu einer Zeit, in der die Menschen
sich nicht mehr selber halten können, den Boden unter den Füßen verloren
haben, entscheidungsunfähig sind, wahrnehmungseingeschränkt sind“, erzählt Pfarrer Ralf Radix. Er ist der Beauftragte für Notfallseelsorge der evangelischen Kirche von Westfalen und half an dem Tag in Haltern, den Bürgermeister Bodo Klimpel später als „den schwärzesten Tag der Stadtgeschichte“
126
Ewiges Licht: Tag und Nacht brennt neben der Gedenkwand eine Kerze.
bezeichnen wird.
Als der Schulleiter Ulrich Wessel den Unterricht nach der sechsten Stunde für
alle beendete und die Nachricht vom Absturz sich verbreitete, gingen viele
Schüler nicht nach Hause. Andere kamen später wieder zurück und legten
Kerzen und Blumen nieder. Und so dauerte es nicht lange, bis der Haupteingang zum Gymnasium zum zentralen Ort der Trauer wurde. Schüler und Menschen aus der Stadt begaben sich zur Schule, um das Unfassbare zu verarbeiten. Als die Notfallseelsorger nach Haltern kamen, standen bereits zahlreiche
Menschen vor dem Gymnasium. Die Angehörigen der Verunglückten waren
längst da. Von der Öffentlichkeit abgeschottet wurden sie in der Schule betreut. Die Seelsorger leisteten Beistand beim Verarbeiten der Situation.
Dasein wichtiger als Worte
Die Nachricht vom Tod des eigenen Kindes zu erfahren, sei für die Eltern
kaum zu verkraften. Worte hätten in dieser Phase keine große Wirkung,
erklärt Ralf Radix. Einfach nur da zu sein, sei wichtiger als Worte und Gespräche. „Notfallseelsorge arbeitet nicht mit Gesprächsmethoden. Um die
akuten Belastungsreaktionen zu reduzieren sind andere Dinge wirksamer als
ein Gespräch“, sagt der Seelsorger. Trauernde würden die Anwesenheit eines
neutralen Menschen, der nicht betroffen ist, als stabilisierend erfahren. Ein
kurzer Spaziergang, frische Luft schnappen in Begleitung eines stützenden
Menschen.
„Dann ist es wichtig, dass die Leute einfach auch erzählen, was passiert ist.
Wir fragen an bestimmten Stellen einfach mal nach, so dass sie die Ereignisse
wieder in eine Chronologie bekommen“, sagt Radix. Die Trauernden selbst
zu Wort kommen lassen sei wirksamer, als auf sie einzureden. Wenn sich die
Emotionen aufstauen, können sie gemeinsam mit den Notfallseelsorgern den
Druck, der sich sammelt, kontrolliert lösen. Wie ein Ventil.
„Wichtig ist für die Betroffenen aber grundsätzlich Klarheit und Wahrheit,
statt das Unaussprechliche zu verschweigen, zu verharmlosen“, sagt Radix.
127
Seele
Ein Ort des Erinnerns: Blumen und Kerzen stehen vor der Gedenktafel mit den 18 Namen der Opfer.
Erst wenn die Menschen angefangen haben, das Geschehene wahrnehmen
zu können und mental in der Realität angekommen sind, dann hört die Notfallseelsorge auf und es beginnt der Trauerprozess. „Dann kommt eben der
nächste Schritt der Trauerbewältigung: Lernen mit dem Verlust, den sie erlitten haben, über einen längeren Zeitraum zu leben“, erklärt Ralf Radix. Das zu
schaffen, sei von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Das Wahrnehmen könne
unmittelbar nach der Tatsache schon erfolgen, aber manchmal auch erst nach
Jahren - oder nie.
„Das Geschehen ist nach wie vor äußerst brutal und grausam. Es hat für die
Eltern von seiner Fürchterlichkeit nichts verloren“, sagte Schulleiter Ulrich
Wessel der „Halterner Zeitung“ im Oktober. Der Tod eines eigenen Kindes begleite Eltern ein Leben lang, erklärt der Ralf Radix. Die Seelsorger
raten Angehörigen, an Trauergruppen teilzunehmen und mit anderen über
die eigenen Empfindungen zu reden. In Haltern haben sich die Eltern der
verstorbenen Kinder in ihrer Trauer zusammengeschlossen und treffen sich
regelmäßig.
Ein Ort der Begegnung: Der Eingang zur Schule wurde nach dem Absturz zum Ort der gemeinsamen Verarbeitung des Schrecklichen.
Innenstadt herrschte eine Totenstille nach dem Absturz“, erzählt Tobias. Viele
Menschen gingen immer wieder zum Eingang des Gymnasiums, hielten inne
und gedachten der Opfer. Die Wochen darauf, jeden Tag. „Egal zu welcher
Uhrzeit man da vorbeigefahren ist, da standen immer welche“, erinnert sich
Sebastian. An jedem der folgenden Tage fanden Trauergottesdienste statt.
„Die Liebe bleibt“ stand auf einem Schild, das in diesen Tagen an einer Laterne vor der Kirche lehnte.
Schüler und Lehrer des Joseph-König-Gymnasiums hielten einen gemeinsamen Gottesdienst in der Schule ab. Für Kinder und Jugendliche sei der Tod
eines Bruders oder einer Schwester, eines Freundes oder eines Mitschülers
schwieriger einzuordnen, als für einen Erwachsenen, erklärt Radix. „Es ist etwas Unbekanntes.“ Für kleinere Kinder sei es dadurch schwieriger die Bedeutung zu verstehen, dass jemand nicht mehr da ist. Jugendliche erleben den
Tod eines Menschen gefühlsmäßig heftiger, weil bei ihnen das Verhältnis von
Verlust vorhanden ist.
„Da denken Menschen an uns“
Eine Kleinstadt wie gelähmt
Sind die Angehörigen nach wie vor täglich mit dem Schmerz des Verlustes
konfrontiert, so ist in das öffentliche Leben in Haltern wieder Normalität eingekehrt. „In der Öffentlichkeit ist der Absturz kaum noch ein Thema“, erzählt
eine Einwohnerin, „was aber nicht heißt, dass keiner mehr darüber reden
will.“ Vielmehr sei es die Rückkehr zu der Normalität, nach der sich die Menschen in den Wochen nach dem Unglück so sehr gesehnt haben. Normalität,
die jedoch aufgrund der Schrecklichkeit der Ereignisse nicht einkehren konnte und an die sich, wie einige meinen, kaum einer getraut habe, zu denken.
In Schockstarre sei die Stadt gewesen, so erzählen die Menschen aus Haltern
von den Geschehnissen nach dem Flugzeugabsturz. Jeder sei wie gelähmt
gewesen. Das öffentliche Leben stand still. Sportveranstaltungen, Jahreshauptversammlungen, Vereinstreffen, alle Termine wurden abgesagt. „In der
128
Viele Menschen drückten in den sozialen Netzwerken ihr Mitgefühl aus. Sie
änderten ihr Profilbild, um symbolisch ihre Anteilnahme auszudrücken. Darunter einige, die längst von dort fortgezogen sind. Da wo sonst das eigene
Konterfei zu sehen war, war nun eine Kerze mit dem Halterner Stadtwappen
zu sehen. „Haltern trauert“ stand auf den Titeln vieler Facebook-Profile.
Nicht jeder aus Haltern kannte eines der Opfer. Dennoch machten die Verstorbenen Haltern wie Bindeglieder zu einer gemeinsam trauernden Stadt. In
einer durch Vereine und Gemeinschaften vernetzten Kleinstadt, in denen die
Kinder und ihre Familien ein Teil sind und waren, sei wirklich jeder betroffen.
So erklären es die Menschen aus Haltern. „Das tut den Angehörigen schon
gut, zu spüren, da denken Menschen an uns“, sagt Seelsorger Radix. Jeden
Tag stand nach dem Absturz mindestens eine Traueranzeige in der Zeitung,
in der ein Verein oder eine Organisation um den Tod eines Mitglieds trauert.
129
Seele
Zwei der verstorbenen Mädchen wären eigentlich wie im Jahr zuvor im Sommer in ein Ferienlager gefahren. Ihre Plätze wurden frei gelassen, obwohl die
Warteliste an Nachrückern voll war. Die Eltern eines der Opfer betreiben ein
Gasthaus in einem Vorort von Haltern. Als Gerüchte entstanden, dass er wegen der emotionalen Belastung seine Gastronomie aufgeben wolle, räumte er
in der Lokalzeitung damit auf. Am nächsten Tag sei die gesamte Dorfgemeinschaft in seinem Lokal eingekehrt, erzählt ein Halterner.
Die schwere Rückkehr zur Normalität
Zeichen der Trauer findet man auf
dem Weg zum Gymnasium.
Es ist schwierig, irgendwann den Schritt zu wagen, das normale Leben wieder
Einkehr finden zu lassen. Besonders kontrovers wurde in der Stadt diskutiert,
dass Anfang Juni, zweieinhalb Monate nach der Katastrophe, das örtliche
Schützenfest stattfinden sollte hat, obwohl einige Tage zuvor die Leichen der
Verstorbenen nach Haltern zurückkehrten. An dem Festwochenende wurden
jeden Tag Kinder beerdigt. Das Fest wurde dennoch gefeiert, jedoch nicht
von allen. Einige sagten, ihnen sei nicht zum Feiern zu Mute gewesen. Andere
fanden, es hätte aus Rücksicht auf die Angehörigen gar nicht stattfinden dürfen. Die meisten Schützen aber feierten ihr Schützenfest.
„Bei all dem, was Haltern durchgemacht hat, musste das Leben in der Stadt
irgendwann wieder seinen normalen Gang gehen“, meint ein Schütze. Die
Organisatoren sprachen im Vorfeld mit den Angehörigen und einigten sich
mit ihnen, dass das Schützenfest stattfinden sollte, jedoch sollten einige
Programmpunkte in der Stadt ausfallen oder verändert durchgeführt werden.
Und so begann mit dem Schützenfest wieder so etwas wie Normalität in das
Kleinstadtleben zurückzukehren.
„Das kollektive Anteilnehmen ist in einem zeitlich begrenzten Rahmen wirklich
gut“, findet Seelsorger Radix. Im öffentlichen Leben der Stadt die Katastrophe
und die Trauer dauerhaft in den Mittelpunkt zu stellen, sei jedoch falsch.
Erinnerung als Teil des Schulalltags
Um Normalität im Schulalltag hat sich auch das Joseph-König-Gymnasium
bemüht. Vieles hat sich verändert. Die große Tafel, die achtzehn Bäume. Im Innern der Schule hängen Fotos der Verstorbenen. Ein Gedenkraum wurde eingerichtet. Jeden Tag werden Lehrer und Schüler an die Katastrophe erinnert.
Die Erinnerung soll bleiben und zum Alltag dazugehören, erklärt die Schule.
Ende Oktober kam Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Schule in Haltern. Ein
Ausdruck der Anteilnahme sollte ihr Besuch sein. Sie sprach mit Eltern, Schülern und Lehrern über das schreckliche Ereignis. Über das Verarbeiten des
tragischen Verlustes sagt sie: „Das Leben gestalten kann man nur hier vor Ort
gemeinsam, in dem jeder jeden auch wahrnimmt, auf seine Gefühle eingeht
und Verständnis hat“.
Haltern hat den Weg zum normalen Leben zurückgefunden, ohne damit aufzuhören, sich an die Flugzeugkatastrophe und die Opfer zu erinnern. Das Leben
der Familien der Opfer wird der erlittene Verlust noch eine lange Zeit prägen,
womöglich für immer. „Die Wunde bleibt“, sagt Ralf Radix, „über Jahrzehnte
wird es immer wieder Situationen geben, die einen wieder an den Verlust erinnern. Jahrestage oder Weihnachten. Und dann tut es wieder weh.“
130
131
Seele
Hunde bellen, Katzen miauen, Hühner gackern – und wir? Hinter die Fassade eines Menschen zu
blicken, bringt so manchen an seine Grenzen. Tiere aber vermögen es, menschliche Maskeraden zu
durchschauen. Mit dieser tierischen Fähigkeit arbeitet Ingrid Stephan. Die Diplom-Sozialpädagogin
ist Leiterin des Instituts für soziales Lernen mit Tieren in Lindwedel.
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Wortlose Menschenkenner
von Leonie Gebhard
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Seele
Das Institut
Tiere
Mitarbeiter
Unterstützt wird die Diplom-Pädagogin dabei von zwei Fachleuten, einem
technischen Mitarbeiter, zwei Bürokräften, zwei Mitarbeitern für Tierpflege- und Training und einem Gärtner.
Angebote
Ein Teil des Angebotes ist die mobile Arbeit. Zusammen mit verschiedenen Tierarten besucht Stephan dann Einrichtungen in Hannover und
Region und im Heidekreis. Zum Angebot gehören auch sogenannte Kurzzeittherapiewochen für Menschen mit schweren Kommunikationsstörungen. Da werden die Klienten und ihre Familien intensiv betreut. Seit etwa
einem Jahr bietet das Institut zusammen mit der Militärseelsorge Familienurlaubswochen für Soldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung
an. Vor Ort gibt es außerdem eine ergo-therapeutische Praxis.
Weiterbildung
134
Im Institut für soziales Lernen mit Tieren arbeitet Leiterin Ingrid Stephan
mit insgesamt 65 Tieren. Dazu gehören Pferde, Katzen, Sittiche, Ziegen,
Schwäne, Hunde, Kühe, Esel, Hühner, Gänse, Schafe und Minischweine.
Pro Jahr betreut Stephan rund 100 Studentinnen und Studenten in vier
Kursen, zusammen mit 30 Dozenten aus Praxis und Wissenschaft. Die
Studierenden verbringen 15 bis 16 Wochen in der Wedemark.
Das Institut bringt außerdem die Zeitschrift „tiergestützte“ für Wissenschaftler und Praktiker aus der tiergestützten Szene heraus.
Frau Stephan, wie lange
gibt es Ihre Einrichtung
bereits?
Das Institut habe ich vor etwa 20 Jahren gegründet. Davor habe ich für eine
Einrichtung mit meinen eigenen Tieren gearbeitet, dann für einen Verein. In
dem Beruf bin ich jetzt seit 24 Jahren tätig, davor war ich Jugendheimleiterin. Da hatte ich aber schon eine Gruppe, mit der ich einmal die Woche ins
Tierheim gefahren bin, um Katzen zu zähmen, damit sie eine bessere Vermittlungschance bekommen. Da war das Thema Tiere schon da. Ich hatte auch
schon meinen ersten Hund, einfach, weil ich hier in die Wedemark gezogen
bin und sich das hier dann angeboten hat.
Hat der Hund Sie auch
im Beruf schon unterstützen können?
Der war in der Arbeit für mich immer wichtig, zum Beispiel mit straffälligen
Jugendlichen. Ich komme mit ihnen leichter in Kontakt, wenn ich einen Hund
an meiner Seite habe. Sie haben dadurch die Möglichkeit, mich besser einzuschätzen. Sie können dann sehen: „Wenn die so nett mit ihrem Hund ist,
dann ist die wahrscheinlich auch ganz okay zu mir.“ Das kann man sonst nicht
so erleben: „Wie wird derjenige sein, mit dem ich da jetzt gleich zusammenarbeite, wie ist der Sozialarbeiter, der mich betreut?“ Mit den Tieren kriegen
sie das von mir schon mal mit.
Wenn Sie eine der Einrichtungen besuchen,
wie sieht dann so ein
Tag aus?
Wir sind drei Stunden vor Ort. Je nachdem, wo wir hinfahren, kommen
ausgewählte Tierarten und Tiercharaktere mit. Das sind eigentlich immer
Meerschweinchen, Kaninchen und Hühner als Kleintiere, die in einem transportablen Gehege untergebracht werden. Es ist in der Regel immer ein Hund
mit dabei und bei den anderen Tieren kommt es darauf an, wo wir hinfahren.
Das könnten zum Beispiel ein oder zwei Esel sein oder zwei Schafe, sodass
man dann auch eine gewisse Auswahl hat. Zum Konzept gehört diese Arten-
135
Seele
vielfalt, weil einfach jede Tierart andere Zugangsmöglichkeiten hat, und es
gehört ebenso zum Konzept, dass der Klient das Tier frei wählt, damit eine
große Affinität zwischen Klient und Tier herrscht.
Sie sprachen von verschiedenen Zugangsmöglichkewiten. Was
zeichnet Ihre Tiere da
besonders aus?
Das ist bei diesen vielen verschiedenen Tierarten natürlich ganz unterschiedlich. Es sind einfach Tiere, die durch meine Mitarbeiter und mich hier auf
dem Hof einen sehr achtsamen Umgang erfahren und mit denen man einfach
umsichtig umgeht, die den Menschen freundlich kennengelernt haben und
somit sehr menschenbezogen sind.
Tiere aus dem Tierheim
kommen nicht in Frage?
Doch, natürlich, wir machen auch ganz viel Biographie-Arbeit. Es gibt im
Tierheim wunderbare Tiere, absolute Schätze. Es ist mir völlig klar, dass sich
natürlich nicht alle Tiere aus dem Tierheim eignen, dass manche Tiere so
belastet sind, dass sie das überfordern würde, was wir da von ihnen erwarten. Aber es gibt auch ganz viele Tiere, die noch so viel Schönes anbieten.
Wenn man sieht, dass es eine ähnliche Biographie gibt, der Klient hat vielleicht auch Heimerfahrung gehabt und eine Vergangenheit, die durch Gewalt
geprägt war, und das Tier genauso. Dann kommt der Klient in eine positive
Versorgerrolle für das Tier und fängt meistens auch an, wieder für sich selbst
besser zu sorgen. Das hat schöne Rückkopplungseffekte. Zum anderen kann
der Klient auch sehen, dass ein Tier, dem es eigentlich schlecht ging, sich so
erholt hat, dass es ein fröhliches Wesen geworden ist. Ihm kann das auch gelingen, es kann einfach wieder einen anderen Lebensabschnitt geben, auch
nach einer sehr schwierigen Zeit.
136
Gibt es Tierarten, die
besonders geeignet
sind?
Wenn das Tier den Menschen freundlich kennengelernt hat, wenn es sehr
zahm ist und in der Sozialisierungsphase sehr viel kennenlernen durfte, sind
erst mal alle Haus- und Nutztierarten großartig für diese Arbeit. Wichtig ist
immer, dass der Mensch in der Lage ist, zu sehen, was die angeborenen
Talente des Tieres sind, was für Kernkompetenzen es mitbringt und ob man
überhaupt einen Arbeitsbereich hat, wo das Tier diese auch zeigen kann. Das
ist wichtig. Sonst hat man am Ende die Situation, dass der Border Collie brav
am Rollstuhl im Altersheim sitzen soll, obwohl er doch eigentlich gerne eine
ganz andere Aufgabe hätte.
Würden Sie sagen, dass
Tiere Empathie
empfinden?
Ich bemerke ein hohes Maß an Empathie. Wer ein Tier hat, wird das mit
Sicherheit schon erlebt haben. Wenn man sehr niedergeschlagen ist, wenn
etwas Trauriges passiert ist, kommt das Tier einfach, setzt sich dazu, bleibt
bei einem. Das Tier fragt nicht, das Tier bewertet nicht nach menschlichen
Maßstäben.
Ich habe ja selbst zwei sehr verschiedene Hunde, beide aus dem Tierschutz.
Hannibal ist jetzt elf, die Hündin Linda ist neun und erst seit zwei Jahren bei
mir, der ältere Hund seit sechs Jahren. Der hat einen unglaublich fröhlichen
Charakter. Er sieht, wenn jemand niedergeschlagen ist. Dann ist er derjenige, der sich nicht nur still dazusetzt, sondern der versucht, das zu ändern.
Er ist albern, er schmeißt sich hin, er zeigt ganz viel Aufmunterndes für den
Klienten, das ist einfach ansteckend. Hannibal ist eher so der Hund für große
Gruppen, er findet es toll, wenn viele Leute da sind. Die Hündin ist etwas
ruhiger und arbeitet im Eins-zu-eins-Kontakt super. Für mich ist es schön, zwei
verschiedene Charaktere zu haben.
137
Seele
Woher kommt diese
Verbundenheit zwischen Mensch und
Tier?
Die Verbindung, mit
der Sie arbeiten, geht
aber über artgerechte
Haltung hinaus, oder?
Wie wirkt sich denn der
Umgang mit Tieren auf
das menschliche
Verhalten aus?
138
Wir haben alle eine uns innewohnende Hinwendung zur Natur und allem
Lebenden, das besagt die sogenannte Biophilie-Hypothese. Von daher sind
wir angelegt auf den Kontakt mit Tieren. Wir haben eine jahrtausendealte Geschichte mit unseren Haus- und Nutztierarten. Deshalb gibt es auch
keinen Grund, mit Wildtierarten zu arbeiten. Der Delfin zum Beispiel ist zwar
erst mal exklusiv neu für Kinder, aber nachteilig daran ist, dass man zu einer
Delfin-Therapie weit fliegen muss. Das ist dann ein einmaliger Input, den
man hier nicht fortsetzen kann. Mit Haus- und Nutztieren kann man auch nach
einer intensiven Therapie jederzeit weiterarbeiten und diese Tiere kann man
hier auch artgerecht halten.
Es gibt sogenannte Social Tools, die überhaupt begründen, dass Menschen
und Tiere miteinander kommunizieren können, dass sie ähnliche oder identische Gefühle haben. Tiere können uns perfekt lesen. Genauso ist aber der
Mensch gefordert, das Ausdrucksverhalten von seinen Tieren kennenzulernen
und zu wissen, wie die Sprache der Tiere ist. Wir besprechen zum Beispiel mit
unseren Klienten, wie man höflich aufeinander zugeht. Und was sie da lernen,
an sozialer Kompetenz, an Respekt, das wird dann auch auf andere Lebensbereiche übertragen. Das ist das Wertvolle für die Lehrer in der Schule oder
andere Pädagogen in den Einrichtungen.
Mittlerweile gibt es sehr viele Studien, die zeigen, dass und wie Tiere wirken.
Zum Beispiel gibt es eine Studie, in der man zwei Gruppen von Jugendlichen
miteinander verglichen hat. Die einen sind mit einem Tier aufgewachsen, die
anderen nicht. Die, die mit dem Tier aufgewachsen sind, haben von klein auf
gelernt, auf mimische, kleine Zeichen zu achten. Sie sind einfach gut in analoger Kommunikation, die kriegen schon bei Kleinigkeiten mit, auch im Umgang mit Kindern oder Gleichaltrigen, ob sich da Stress anbahnt, ob sie sich
vielleicht ein bisschen zurücknehmen sollten. Andere Jugendliche bemerken
das erheblich später. Genauso gibt es eine Studie, die jetzt bewiesen hat,
dass das Glückshormon Oxytocin beim Streicheln eines Tieres ausgeschüttet
wird. Man hat es beim Hund erforscht, aber ich denke, das ist absolut übertragbar auf Meerschweinchen oder Katzen.
Sind Tiere dann nicht
fast die besseren
Therapeuten?
In der Fachsprache bezeichnen wir Tiere als pädagogische oder therapeutische Begleiter. Die Tiere ersetzen nicht den Therapeuten oder Pädagogen,
aber sie unterstützen mich bei meiner Arbeit in bestimmten Situationen. Wie
ich schon sagte, sie urteilen nicht nach menschlichen Maßstäben, sie gehen
vorurteilsfrei auf jeden Menschen zu, egal, was er für ein Handicap hat. Sie
sprechen unsere tiefen Schichten an. Sie erspüren bestimmte Schwingungen,
eine bestimmte Atmosphäre.
Wie genau kann ein
Tier Ihnen die Arbeit
erleichtern?
Tiere sind ganz oft der Türöffner. Sie schlagen Brücken für mich, um mit Klienten emotional gefärbte Themen anzusprechen. Man hat ja schon oft gehört,
dass Hunde bei Befragungen bei der Polizei dabei sind, wenn Klienten zum
Thema Missbrauch oder Gewalt befragt werden. Sie erzählen es dann einfach
dem Hund in dem Moment. Das fällt viel leichter, als es zum Beispiel dem
Bezugsbeamten zu erzählen.
139
Seele
Empfehlen Sie Ihren
Klienten ein eigenes
Haustier?
Wenn die ganze Familie das auch wirklich möchte. Das geht nicht aus einer
Kopfentscheidung heraus, nur weil man gehört hat, dass das zum Beispiel für
autistische Kinder gut ist, ein Tier zu haben, obwohl man selbst keine Tiere
mag. Man kann sie nicht instrumentalisieren. Sie gehören zur Familie. Sie sind
Partner. Man muss sie inständig mögen und das wollen. Sonst ist es besser,
einen mobilen Tierbesuchsdienst zu nehmen und den Kontakt so zu suchen.
Aber es muss für die ganze Familie nicht nur in Ordnung sein, dass so ein Tier
einzieht. Man muss es wollen, es mögen und sich drauf freuen! Das betrifft
die Menschen, die mit Tieren arbeiten, ganz genauso. Wenn ich keine Affinität zu den Tieren habe, wenn ich selbst nicht das Blitzen in den Augen habe
und mich die Tiere nicht begeistern, wird das Tier es auch merken. Da ist ja
dann wieder das große Plus der Tiere, dass sie den Menschen durchschauen:
Wer ist authentisch und wer nicht?
Also darf man von den
Tieren nichts erwarten,
was man nicht selbst
mitbringt?
Man darf von den Tieren sicherlich etwas erwarten, aber man muss eben
auch authentisch sein. Wenn ich zu einem Hund sage: „Ach was bist du denn
für ein Süßer!“ und in Wirklichkeit denke „Du blödes Vieh, komm mir nicht
zu nahe!“, dann wird der Hund das zweite hören und lesen. Mir erzählen die
Tiere ganz viel über die Menschen, die gerade bei uns zu Gast sind. Wenn
ein Praktikant zum Beispiel den Esel nicht vorwärts kriegt, schaue ich, warum
es immer so schief geht. Warum der Kontakt nicht freundlicher ist. Da nützt
es mir nichts, wenn die Praktikantin höflich erzählt, dass sie das doch versucht
hat. Da kommt man anfangs sicherlich an seine Grenzen, besonders wenn
man so eine höfliche Form des Umgangs auf Basis von Floskeln gewohnt ist
und nicht sehr authentisch ist.
140
Sind Tiere dem Menschen empathisch dann
nicht überlegen?
Ja, wenn man das so nennen möchte. Man kann sich nicht auf der Ebene von
Höflichkeiten mit ihnen unterhalten. Sie sind da einfach eine ganze Ecke authentischer und ehrlicher. Das ist ja genau das, was wir in der pädagogischen
Arbeit nutzen und was wir dann auch besprechen können. Warum ist der Esel
nicht vorwärts gegangen? Weil man vielleicht vorwärts gesagt, aber nicht
gemeint hat. Weil man keinen ersten Schritt macht. Wenn man es mit seiner
Körpersprache nicht deutlich macht, dann wartet so ein Esel zum Beispiel darauf, dass ein deutliches Kommando kommt. Die Tiere werden darauf reagieren, was die Körpersprache aussagt, und nicht auf das gesprochene Wort.
141
Seele
Empathische Momente der
Geschichte
9. November 1989
Nach dem Mauerfall in
Berlin begrüßen Deutsche
Deutsche in der neuen
Freiheit.
ca. 334
St. Martin von Tours teilt im
Winter seinen Mantel
mit einem nackten Bettler.
Angeblich.
1. Januar 1863
Die Regierung unter Präsident Abraham Lincoln
schafft die Sklaverei in den USA ab.
Im Gesetz steht, dass „alle Personen, die in einem
Staat oder dem bestimmten Teil eines Staates, (...)
als Sklaven gehalten werden, fortan und für immer
frei sein sollen.“
1992-1993
Nach Brandanschlägen auf Wohnhäuser von
Migranten gehen zehntausende Menschen mit
Kerzen auf die Straße und setzen ein Zeichen
gegen den rechtsextremen Hass.
1990 - 1994
In Südafrika wird die Apartheid
abgeschafft.
Die schwarze Bevölkerung
erhält Bürgerrechte.
1933 - 1945
Empathie als Missbrauch
für Nazi-Propaganda
Joseph Goebbels:
„Weil wir die Sprache
des Volkes sprachen,
haben wir das Volk erobert.“
6. September 1997
2,5 Mrd. Menschen nehmen weltweit an den
Fernsehbildschirmen Anteil an der Trauerfeier
von Prinzessin Diana, die am 31. August
in einem Pariser Tunnel starb.
1939 - 1945
Während des Holocausts in Europa gibt es wenige
Menschen, die Juden vor der Verfolgung verstecken. So wie Miep Gies, die 1942-44 der Familie
der Anne Frank und anderen Menschen half,
unterzutauchen.
2014 - 2015
Willkommenskultur:
Hunderte Menschen
begrüßen an Bahnhöfen und
Grenzübergängen Flüchtlinge,
die nach Deutschland kommen.
26. Juni 1963
„Ich bin ein Berliner“: US-Präsident
John F. Kennedy bekundet bei einer Rede in
West-Berlin seine Solidarität mit den Menschen
der geteilten Stadt.
7. Dezember 1970
Willy Brand geht vor dem Warschauer Ghetto-Ehrenmal in die Knie und drückt damit repräsentativ
für alle Deutschen das Mitgefühl für das Leid, das
Nazi-Deutschland Polen angetan hat.
142
7. Januar und 13. November 2015
„Je suis Charlie“ und „Nous sommes unis“:
Nach Terroranschlägen in Paris drücken
Menschen weltweit ihr Mitgefühl aus.
143
Bewegung
144
145
bewegung
146
147
bewegung
Der Weg des Kriegers
Wie man durch Ninja-Kriegskunst emphatischer wird
von DENNIS SCHMITT
Es ist Nacht. Ein Straßenzug im Japan des 8. Jahrhunderts. Der Ninja konzentriert sich auf seinen Auftrag. Er soll das Oberhaupt einer mächtigen Familie
töten, um seinem Lehnsherrn politische Vorteile zu sichern. Er schleicht durch
das Haus, klettert in den Dachstuhl und sucht sich einen Platz direkt über
seinem Opfer.
Der Ninja platziert einen langen Faden knapp über dem geöffneten Mund
des Schlafenden und lässt wenige Tropfen Gift daran hinabrinnen. Mit einem
letzten Husten stirbt der Mann in seinem Bett. Auftrag erfüllt.
So wie er ins Haus gelangt ist, stielt sich der Attentäter wieder hinaus ins
Dunkel. Er setzt weitab vom Haus über eine Mauer und ist verschwunden.
Was bleibt, ist eine Leiche und das Rätsel um ihren Tod.
Eine Szene wie aus einem Kinofilm oder einem Roman. Das Bild des Westens
vom Ninja ist sehr einseitig: „Der mysteriöse Schattenkämpfer aus dem fernen Osten und sein tödliches Geschäft - kalt, skrupellos und effektiv.“ Dabei
haben Romantisierung und Wahrheit nur wenig mit einander zu tun.
Es wird oft ausgeblendet, dass diese Menschen mehr waren als Hollywood
ihnen zugesteht. Die jahrelange Ausbildung bezog sich nicht nur auf das
Schleichen und Kämpfen. Die Ninja, auch Shinobi genannt, waren in vielen
Disziplinen versiert: Flucht, Tarnung, Heilkunde, Geographie, strategische
Planung; aber vor allem waren sie hochgradig empathisch geschult. Es mag
paradox klingen, einem der gefährlichsten Elitekämpfer der Zeitgeschichte
hochgradige emphatische Kompetenzen zusprechen zu wollen. Und doch ist
es so. Kampfkunst und Respekt gehören seit jeher zusammen, wie Tag und
Nacht. Denn da wo es Schatten gibt, muss auch immer ein Licht leuchten.
148
Ein Lehrer für Körper und Geist
Donnerstagnachmittag in Hannover. Die Luft ist frisch, der Herbst überrascht
diesen November mit herrlicher Milde und bestem Wetter. Ein Mittvierziger
geht an diesem Tag wie so viele andere auch mit seinem Hund spazieren und
genießt die letzten Sonnenstrahlen des Jahres. Sein Name ist Hayong Yun.
Der Mann mit asiatischen Wurzeln trägt die Haare kurz geschoren, die dicke
Fjällräven-Jacke am Revers etwas geöffnet und die Jeans locker. Er wirkt
entspannt und die Nachmittagssonne beleuchtet sein Gesicht, verleiht ihm
ein Strahlen.
Keiner der Passanten weiß, dass der so unscheinbar wirkende Herr mit der
Labradorhündin ein Meister der Ninja-Kampfkünste ist. Er trägt den 10. Dan,
also 10 Schwarze Gürtel, im Bujinkan Budo Taijutsu und besitzt jahrzehntelange Kampferfahrungen. Yun studierte schon viele Kampfkünste. Bereits mit
zwölf Jahren begann er damit. Taekwondo, Judo, und Jujutsu sind nur einige
Beispiele und auch hier errang er bereits diverse Titel und Auszeichnungen.
Heute ist der Diplom-Ingenieur Gründer und Leiter des Bujinkan Eiryu Dojo
in Hannover. Er unterrichtet Vollzeit eifrige Schüler im Budo Taijutsu, der
„zeitlosen Kampfkunst der Ninja“.
Viel mehr aber als seine sportlichen Erfolge schätzt der 45-Jährige die Selbsterkenntnis, die er über die Jahre sammeln durfte. „Ich erlebe, dass ich viel
friedvoller mit meiner Umwelt umgehen kann. Das ist für mich der Wert der
Kampfkunst: du lernst einerseits etwas auf der körperlichen Ebene zu akzeptieren, sei es ein Schlag oder ein Tritt. Du musst erst einmal lernen, nicht einfach nur dagegenzuhalten und sehen, wie man angemessen reagieren kann.
Andererseits kann ich das auf mein Inneres übertragen und studieren, was
z.B. ein aufkommendes Gefühl von Ärger mit mir macht. Welchem Bedürfnis
ist das geschuldet, warum ärgere ich mich? Und das lässt mich insgesamt
besser mit meinen Emotionen und denen anderer umgehen.“
149
bewegung
Die drei Schulungsschritte
„Für mich ist Empathie in drei Schritte aufgeteilt, die alle nacheinander gegangen werden müssen, um ans Ziel zu kommen“, betont Yun.
Der erste Schritt, ein empathisches Gespür in der Kampfkunst zu entwickeln,
ist also der Bezug zu sich selbst. Diese spezielle Form der Empathie wird
auch Selbstempathie genannt. Hier vermittelt das Training dem Schüler, dass
es Situationen gibt, die man erst einmal geschehen lassen muss. Oft ist die
erste Reaktion Ernüchterung und ein Teil Machtlosigkeit. Im späteren Verlauf
wird die Botschaft aber immer klarer: Beobachten, ohne zu werten. Ergründen, warum ein Gefühl ausgelöst wird. Lernen, wie man damit umgehen kann
ohne es zu unterdrücken.
Kampfkunst als innere und äußere Schulung. Im Hinblick auf Empathieentwicklung ist dieser Weg nicht sofort erkennbar, für manche sogar widersprüchlich. Kritikern seines Lebensweges begegnet Hayong Yun mit
Gelassenheit. „Ich treffe manchmal auf Leute, die einen spirituellen und
pazifistischen Lebensstil pflegen und immer nur mit Gleichgesinnten zu tun
haben wollen - denen kann ich nur sagen: das Leben ist nicht so! Wir haben
täglich mit Gewalt zu tun. Sei es verbale, physische oder psychische Gewalt.
Es gibt ständig Konfrontationen. Statt ihnen aus dem Weg zu gehen, bietet
Kampfkunst die Möglichkeit, auf eine spezifisch kanalisierte Form der Gewalt
konstruktiv zu reagieren.“
Die letzte Ebene ist die der Synchronisation. Sprich: wie kann ich meine
Gefühle und die des anderen zusammenführen und eine Win-Win-Situation
schaffen? Es geht darum, die entgegengebrachten Emotionen konstruktiv zu
nutzen. Und das nicht auf einer manipulativen, sondern einer wertschätzenden Ebene.
Der chinesische Philosoph Sunzi schrieb bereits vor 2500 Jahren in seinem
Buch „Die Kunst des Krieges“ folgende Lehre: „Wenn du dich und den Feind
kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten.
Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg,
den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch
dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.“ In dieser Kriegsmetapher steckt ein empathisches Prinzip. Weiß man sich und sein Gegenüber richtig einzuschätzen, kann ein Sieg in Form von erfolgreicher Kommunikation gefeiert werden.
Für Yun lautet das Stichwort in verschiedenen Konfliktsituationen: Fremdempathie. „Diese baut sich von der vorherigen Lektion der Selbstempathie auf.
Hierbei ist wichtig, darauf zu achten, was für eine Botschaft das Gegenüber
sendet. Was möchte es mir sagen? Und welche Signale sendet es? Passen
diese Signale zur Botschaft und deute ich diese richtig? Auch hier soll wieder
möglichst wertfrei beobachtet werden. In der Kampfkunst bildet ein haptisches Feedback einen weiteren Lernfaktor. Passe ich nicht auf und achte nicht
auf die kleinen Zeichen des Gegners, werde ich getroffen“.
„Bei jeder Interaktion mit anderen muss ich beobachten - eine Art entspannte Achtsamkeit verwirklichen. Denn Gestik und Mimik verraten mir schnell, ob
die verbale Botschaft ernst gemeint ist oder nicht.“, meint Yun. Für ihn fängt
Zuhören auf der non-verbalen Ebene an und erst in zweiter Instanz geht es
um das Gesagte an sich. „Und das trainiert die Kampfkunst sehr, sehr gut: du
lernst das Unterscheiden von Täuschung und Realität. Denn dazu gehört ein
vorurteilsfreier Geist.“ Bei dieser Aussage wirkt der Meister sehr überzeugt.
Er spricht die Lehre locker aus, ist sich über deren Kern jedoch genau bewusst.
„Ein hoher Baum bricht, eine Weide gibt nach“
heißt ein japanisches Sprichwort.
150
151
bewegung
„Don´t push the river, …“
„Eine tiefere Ebene jenseits von Empathie“
„… it flows by itself!“, sagte einst George Tabori. Und auch dieser Satz trifft
auf die Geistesschulung im Budo Taijutsu zu. Gemeint ist die Entwicklung
nicht zwanghaft beschleunigen zu können, da sie ihr eigenes Tempo besitzt.
Vertrauensperson in Entwicklungsfragen ist in der Kampfkunst, anders als
in der alltäglichen Entwicklung, der Trainer. Er hat durch seine jahrelangen
Erfahrungen mit eben seinem eigenen Trainer ein Auge für die Stärken und
Schwächen der Schüler. Sein Wort hat das größte Gewicht und holt den Lehrling oft zurück auf den Boden der Tatsachen.
Und genau dieser Aspekt macht die Kampfkunst zu solch einer guten Lehrinstitution: ein unabhängiger Blick über die Schulter ermöglicht ein direktes und
klares Feedback. Das Lob oder die Maßregelung zu verinnerlichen und daran
zu wachsen, stellt somit den wahren Schatz des Trainings dar.
Wo die asiatische Lebensweise also von Bescheidenheit und kontinuierlicher
Entwicklung geprägt ist, setzt der Westen andere Maßstäbe. Für Hayong
Yun ist diese andersartige Geisteshaltung an eine Kriegsmetapher geknüpft:
„Mit der Einführung der Feuerwaffe in Europa wurden die Schwertkünste
dort abgelöst. Das hat den Grund, dass es nun ein probateres Mittel in der
Kriegsführung gab. Der Westen ist da sehr pragmatisch. Der asiatische Geist
hingegen war gar nicht in diesem Maße interessiert. Man erkannte vielmehr
ein bestimmtes Prinzip. Und zwar die Wechselwirkung des Handelns auf äußerer und innerer Ebene. Und das hatte einen höheren Stellenwert als bloße
Effektivität und konnte somit bis heute perfektioniert werden.“
Im Japanischen ist diese Erkenntnis bereits so alt wie die Sprache an sich.
Graduiert der Schüler seinen ersten schwarzen Gurt, ein Zeichen für Fortgeschrittene, erhält er den Titel „Shodan“. Das Wort setzt sich aus den Worten
„Sho“ für „Anfang“ und „Dan“ für „Stufe“ zusammen. Was für Außenstehende nach einem formvollendeten Meister aussieht und jahrelange harte
Arbeit voraussetzt, ist in Wirklichkeit lediglich der Status des „Anfängerstufe“. Besonders zur Geltung kommt diese Lehre, wenn man schaut wohin die
Graduierungstreppe führt. Der letzte Auszeichnungsstufe im Budo Taijutsu ist
der 15. Dan. In der Spanne vom 11. bis zum 15. Schwarzgurt bewegt sich der
Trainierende auf der Ebene „Dan Jin“. Im Japanischen wird „Jin“ übersetzt
als „Mensch“.
152
So sehr die asiatische Kampfkunst den Spagat zwischen körperlicher und
geistiger Schulung auch vollführt, hat auch sie, genau wie die Empathie, ihre
Grenzen. Denn weder das eine, noch das andere Feld garantieren, dass wir
uns emotional nicht doch manchmal hinreißen lassen und alles Gelernte für
einen Augenblick vergessen. Yun sieht die Grenzen beider Bereiche auf der
Bedürfnisebene. „Gefühle und Körper sind nur Teilaspekte unseres Daseins. Und auch Empathie bildet lediglich ein Medium, mit dem ich Gefühle
wahrnehmen und richtig einordnen kann. Eine Stufe tiefer liegt die seelische
Ebene. Auf ihr spiegeln sich die verschieden starken Ausprägungen unserer
Bedürfnisse wider und diese gehen weit über die Empathie hinaus. So ist es
auch in körperlicher Hinsicht: greift mich jemand an, wird gleichzeitig der
Überlebensinstinkt aktiv. Es ist nie vorauszusehen, was geschehen wird. Danach kann man das Ganze wieder versuchen zu ergründen, aber erst einmal
sind andere Faktoren wichtig. Und das ist insofern legitim, als das ich für jede
Situation eben andere Bewältigungsstrategien anwenden muss, um daraus
erfolgreich hervorzugehen.
153
Hayong Yun, Leiter des Bujinkan
Eiryu Dojo in Hannover
Den Panzer auflösen
An diesem Punkt wird klar: weder Empathie noch Kampfkunst für sich bilden
die Universalmittel eines erfolgreichen Lebensweges. Die Kombination verschiedener charakterstärkender Erfahrungen, wie z.B. das Budo Taijutsu und
die somit gesteigerte empathische Kompetenz, machen das Leben leichter
und bieten Halt in angespannten Situationen jeglicher Art. „Im Laufe unseres Lebens stoßen wir auf viele Blockaden, werden verletzt und verwundet.
Wir fangen also an uns zu schützen und bauen eine Art inneren Panzer auf.
Und ein Aspekt der Kampfkunst ist es, diesen Panzer wieder aufzulösen, um
zu unserer Ursprünglichkeit zurückzufinden. Von daher glaube ich, dass die
Kampfkunst uns auf ganz natürliche Weise lehren kann, uns zu entwickeln.“
Der große Kernaspekt, den der Westen vom Osten lernen kann und bis heute
Bestand hat, ist, dass der Mensch sein ganzes Leben dazulernt und nie damit
fertig ist.
Wie sieht nun das anfangs gezeichnete Bild der Ninja des 8. Jahrhunderts
aus? So wie auch heute mehrere Steinchen zusammenkommen müssen, um
ein großes Mosaik zu ergeben, war es auch früher im feudalen Japan. Die
Ninja waren nur so gut, wie ihr Wissensstand und ihre Fähigkeiten. Bei aller
Kaltblütigkeit, die sie in ihrem Handwerk an den Tag legten, so waren es doch
nur Menschen mit antrainierten Fähigkeiten. Ausgebildet für den Kampf, geschult in sozialer Kompetenz. Eine erfolgsversprechende Wechselbeziehung,
die sie so einzigartig in der Zeitgeschichte macht - und die bis heute Bestand
hat.
In der Satzung des Dojos von Hayong Yun ist eine Textzeile hervorgehoben,
die den Schülern ein Leitstern auf ihrem Weg sein soll: „Im Wissen zum Frieden liegt das Geheimnis des Taijutsu. Das zu lernen ist der Weg zu Fudoshin.“
Der Begriff „Fudoshin“ wird als „unbewegtes Herz“ übersetzt. Dabei ist er
jedoch nicht gleichbedeutend mit fehlender Anteilnahme. Vielmehr geht es
um Lebensbejahung und bildet in seiner Vollendung den Ausdruck einer vorurteilsfreien Liebe für das Leben. Dieses Wort hat die Jahrhunderte überdauert. Und auch seine Bedeutung ist heute noch genauso wichtig wie damals.
Für einen friedlicheren Umgang mit sich selbst und seiner Umwelt. Dafür
steht Bujinkan Budo Taijutsu.
154
Alle denken nur darüber nach,
wie man die Menschheit ändern könnte,
doch niemand denkt daran,
sich selbst zu ändern.
Leo Nikolajewitsch Graf Tolstoi
bewegung
Integration in Braunschweig:
156
Als Team in die neue Heimat
157
bewegung
Leben gerufen wurde. Es bezieht Fördermittel von
der Bundesligastiftung und dem Bundesamt für
Migration, Flüchtlinge und Integration. Klubs aus
der Bundesliga oder dem Unterhaus kooperieren
hierbei mit lokalen Bildungsträgern, Bürgerinitiativen und Amateurvereinen. Nach dem FSV Mainz
und Hertha BSC ist Eintracht Braunschweig zum
Projektstart der dritte Profiverein, der sich in einem
Willkommensbündnis für Flüchtlinge einsetzt. Ziel
ist die erleichterte Integration der jungen Flüchtlinge in Deutschland mit Hilfe vom Fußball. Miriam
Herzberg, Leiterin Medien und Kommunikation
von Eintracht Braunschweig, erläutert: „Das Projekt
„Willkommen im Fußball“ ist für zwei Jahre mit
einer bestimmten Summe ausgeschrieben. Wir
haben den Antrag auf Fördergelder gestellt, übernehmen dafür aber die komplette Organisation
und finanzieren etwa die Trainingsutensilien für die
Jugendlichen oder den Trainer.“
Es gibt sie auch im Profifußball: Vereine, die sich um Menschen kümmern
und somit ihre gesellschaftliche Verantwortung annehmen. Eintracht
Braunschweig zum Beispiel. Der Zweitliga-Club hat jüngst ein Projekt auf
den Weg gebracht und engagiert sich stark für minderjährige, unbegleitete
Flüchtlinge in der Region Braunschweig.
von Torben Ritzinger
Der Startschuss für das Willkommensbündnis für Flüchtlinge fällt an einem
nasskalten Oktobertag in der Braunschweiger Weststadt. Genauer gesagt auf
dem Sportplatz des VfB Rot-Weiß 04. Aus der Umkleidekabine ertönen lachende Stimmen von Jugendlichen. Doch hier beginnt keine Trainingseinheit der
Jugendabteilung vom VfB Rot-Weiß. Denn die jungen Fußballer erscheinen
nach und nach in gelb-blauem Outfit mit Löwenemblem auf der Brust – Eintracht Braunschweig. Kaum sind ein paar von ihnen auf dem Platz, wird der
Ballsack entleert. Zwar steht der ein oder andere noch etwas unsicher mit
den Händen in den Taschen auf dem Rasen, doch kicken will hier jeder. Bunt
durcheinander auf dem Platz verteilt wird sich warmgespielt. Und bunt ist das
Stichwort. Die Jugendlichen kommen nämlich von überall her, nur nicht aus
Deutschland. Doch egal ob von der Elfenbeinküste, aus Syrien oder Bangladesch: Hier sind sie alle gleich.„Jungs die Fußball spielen wollen“, wie es
der Trainer Murat Korkmaz treffend formuliert. Einer von ihnen ist Mohamad
Saboori. Er kam vor einigen Wochen aus Afghanistan nach Braunschweig und
fühlt sich bereits pudelwohl. In einer Mischung aus Deutsch und Englisch mit
bemerkenswert vielen Vokabeln aus der neuen deutschen Sprache sagt er:
„Ich möchte in Braunschweig bleiben.“ Er habe zwar noch nie in seiner alten
Heimat gekickt, doch sagt er: „I enjoy it to play“.
Das Willkommensbündnis für Flüchtlinge in Braunschweig ist Teil des Konzepts
„Willkommen im Fußball“, welches von der Kinder- und Jugendstiftung ins
158
Training ist zweimal in der Woche. Derzeit tummeln
sich meist zwischen zwanzig und dreißig fußballbegeisterte Teenager auf dem Feld. Der erfahrene
Coach Murat Korkmaz leitet die Übungseinheiten.
Und die sind besonders: Neben dem klassischen
Aufwärmen oder dem Torschuss gibt es auch Übungen zum Sprachverständnis. Der Trainer erklärt:
„Ich probiere, auch sprachliche Bausteine einzubauen. Felder nach Farben oder Zahlen, wo sie
hinlaufen müssen. Elemente, wo sie die deutsche
Sprache einfach anwenden müssen.“ Dass sich die
fußballerischen Fähigkeiten der 13 bis 17-Jährigen
stark unterscheiden, spielt keine Rolle. „Einige
haben aber bereits in der Heimat öfters gekickt“,
weiß Korkmaz. Nach gut einer Stunde gibt es das
obligatorische Trainingsspiel. Als der Ball nach
zwei schönen Pässen im Angriffsdrittel bei einem
schmächtigen Jungen aus Eritrea landet, fackelt er
nach einer Körpertäuschung nicht lange und drischt
den Ball aufs Tor. Der machtlose Torhüter kann nur
noch den Ball aus den Maschen holen. Laut jubelnd
stürmen seine Teamkollegen auf den Torschützen
zu – der 1:1-Ausgleich. Fast wie einstudiert.
Zwei Monate später. Inzwischen hat das Training
bei Dutzenden der jungen Flüchtlinge einen festen
Platz im Alltag. Und der ist abseits vom Fußball
anspruchsvoll. Murat Korkmaz sagt: „Schule,
Sprachförderung, die Vermittlung der europäischen
Werte: Wie verhalte ich mich im Alltag, was bedeutet welches Handeln von uns Deutschen und wie
kann ich das einschätzen.“ Die Stadt Braunschweig
als Bündnispartner engagiert sich. Sie öffnet den
jungen Fußballern viele Türen, um sich in der
Löwenstadt wohlzufühlen – genauso wie natürlich
allen der knapp 250 minderjährigen Flüchtlinge die
in der Stadt und dem Umland derzeit leben. Marc
Arnold, Teammanager der Profis, ist zuversichtlich:
„Wir leben jeden Tag vor, dass es möglich ist, Menschen mit unterschiedlicher Herkunft zusammenzubringen und sie zu einer Einheit zu formen. Mit
unserem Engagement für Flüchtlinge hoffen wir, ein
Stück weit als Vorbilder aufzutreten.“
Initiative Eintracht-Stiftung
Das Fußballtraining mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen die in Braunschweig aufgenommen wurden, ist als Projekt initiiert von der Eintracht
Braunschweig-Stiftung. Die zugehörigen Gremien
nahmen am 22. September 2015 ihre Arbeit auf.
Schwerpunkt ist die Unterstützung und Förderung
von Kindern und Jugendlichen im Braunschweiger
Land. „Wir verankern mit der Stiftung unser jahrelanges gesellschaftlich-soziales Engagement“,
sagt Miriam Herzberg. Die Leiterin der Vereinsabteilung Medien und Kommunikation übernimmt
gemeinsam mit BTSV-Vizepräsident Rainer Cech
und Geschäftsführer Soeren Oliver Voigt die Vorstandsarbeit. Die gesellschaftliche Verankerung der
Stiftung zeigt sich im Kuratorium: Hier sind neben
Eintracht-Präsident Sebastian Ebel auch Rüdiger
Becker (Direktor und Vorstandsvorsitzender Evangelische Stiftung NeuErkerode), Rifat Fersahoglu-Weber (Vorstandsvorsitzender Arbeiterwohlfahrt
Bezirksverband Braunschweig e.V.), Dr. Andrea
Hanke (Dezernentin für Soziales, Schule, Gesundheit und Jugend der Stadt Braunschweig) und Dr.
Regina Olshausen (Vorsitzende Deutscher Kinderschutzbund, Ortsverband Braunschweig e.V.) tätig.
Um den widrigen deutschen Witterungsbedingungen in den Wintermonaten aus dem Weg zu gehen,
rollt der Ball für die Weltbürger zweimal wöchentlich in einer angemieteten Soccerhalle. Aufgrund
der vielen Akteure teilt Trainer Murat Korkmaz die
jungen Fußballer meist in Mini-Teams – heute in
fünf fünfköpfige – ein. Schon rollt der Ball auf dem
Kunstrasen, der für alle ebenso neu ist wie ein
geregelter Alltag mit Verpflichtungen. „Ich glaube,
dass ist ein ganz wichtiger Punkt, dass an bestimmten Tagen zu bestimmten Zeiten etwas stattfindet.
Die meisten kennen das nicht. Das war anfangs ein
ziemliches Gewusel, weil viele später gekommen
sind.“
159
bewegung
Weltbürger im Team
Der Ball läuft gut durch die Reihen. Egoistische Alleingänge, die gerade für
technisch starke Spieler in der Halle durchaus Charme besitzen, sind kaum zu
sehen. Michael aus der Elfenbeinküste – erst zwei Wochen in Braunschweig –
ist sich trotz des Miteinanders der verschiedensten Kulturen sicher: „They are
my friends“. Während des Spiels sehe man Fortschritte, meint der Coach. Anfangs hätten einige der Jugendlichen einfach unangekündigt das Spielfeld verlassen, um beispielsweise etwas zu trinken. Jetzt werfen sich alle mit Feuereifer
in die Zweikämpfe und wissen, dass ein Spiel eine vorgegebene Länge hat. Als
plötzlich ein Ball von einer anderen Fußballtruppe auf dem Deckennetz des
Spielfeldes landet, ruft Korkmaz zwar: „Jackie Chan, it is your time!“ Doch der
asiatische Junge hätte wohl auch ohne den Zuruf weitergespielt. „Das mussten
sie lernen. Am Anfang musste ich da sehr viel nachsteuern“, so Korkmaz.
Der türkischstämmige Jugendtrainer wurde ganz bewusst für das Training
der minderjährigen Flüchtlinge ausgewählt. Schließlich beherrscht er neben
Deutsch und Türkisch auch die Hauptkommunikationsplattform Englisch fließend. „Inzwischen haben wir in diesem Pulk von Menschen einige, die schon
sehr gut Deutsch können. Die etwa in die Stadt gehen könnten um sich etwas
zu kaufen oder um sich frei zu bewegen. Und die übersetzen dann auf Arabisch
oder Französisch. Und wenn der eine eben etwas besser kann, dann bringt er
sich ein, um dem anderen zu Helfen.“
Die Hoffnung beim langjährigen Trainer ist groß, dass der Fußball den Start in
ein neues Leben in der Region Braunschweig erleichtert: „Deswegen ist das
Training immens wichtig. Damit der ein oder andere den Schritt in einen Verein
mit regulärem Trainingsbetrieb schafft. Dann heißt es, sie dort vernünftig zu
integrieren, damit sie auch ihre Anknüpfungspunkte im Alltag haben.“ Dass es
funktionieren kann, zeigt sich schon in Ansätzen beim Hallentraining. Als vier
deutsche Jungs in ähnlichem Alter für ein Schulprojekt einen kleinen Film über
das Flüchtlingsteam drehen wollen, ermöglicht es Korkmaz ihnen, sich in den
Turniermodus einzugliedern. Und zwar nicht als eigenständige Mannschaft,
sondern jeder in einem anderen Mini-Team.
160
Und die Verknüpfung mit Eintracht Braunschweig?
Die anfangs gespendete Vereinsausrüstung und die
finanzielle Realisierung über die Stiftung ist nicht alles. Auch mit den Profis gibt es Berührungspunkte.
„Wir laden sie im April gegen Duisburg ins Stadion
ein. Sodass sie sich hier auch mal ein Heimspiel von
uns angucken können“, verrät Miriam Herzberg bereits erste Planungen. Auch der umgekehrte Besuch
fand schon statt: Der bosnische Ersatztorwart Jasmin Fejzic, der selber einen Flüchtlingshintergrund
hat und vor dem Bosnienkrieg floh, war Augenzeuge einer Trainingseinheit. Weitere Besuche anderer
Spieler sind angedacht. Im Optimalfall entdecken
die Teenager so neue Vorbilder - unabhängig davon, ob sie es tatsächlich in den bezahlten Fußball
schaffen. Miriam Herzberg sagt: „Einige von den
Jugendlichen trainieren bereits regelmäßig bei
Rot-Weiß mit. In Mannschaften, die im gewohnten
Trainingsbetrieb sind.“ Erste Integration über den
Sport hat also schon funktioniert. Etwas träumerischer sieht es Eintracht-Fan Holger Thönessen:
„Wenn es die Eintracht langfristig schlau anstellt,
hat sie eventuell gar etwas von der Aktion - wobei
es dabei natürlich nicht in erster Linie darum geht,
den syrischen Flüchtlingsjungen zum Torjäger von
übermorgen zu machen. Allerdings wäre das auch
eine schöne Geschichte…!“
Tatsächlich aber ist der Gedanke des Willkommensbündnisses aus Vereinssicht komplett uneigennützig. Das bekräftigt Miriam Herzberg: „Wir
machen das definitiv nicht, um unseren Nachwuchs
zu rekrutieren. Es geht darum, die Jungs in der
Stadt zu integrieren und in den Amateurvereinen.“
Aufgrund der Regularien sei die Aufnahme bei der
Eintracht auch schwierig, so die Öffentlichkeitsarbeiterin. Trotzdem bietet der Verein seine Hilfe zur
Integration auch neben dem Organisatorischen
an: „Wenn jemand etwa gerne Trainer werden will,
begleitet er unsere Coaches dann vielleicht mal mit.
Oder er macht eine Ausbildung im Fanshop.“ Doch
hauptsächlich gehe es darum, den Jugendlichen
ein Stück weit den Alltag zu erleichtern und ihnen
die Möglichkeit zu geben, sich sportlich auszutoben.
Momentan klappt das bestens. Auch bezüglich
des syrischen Torjägers würde wohl zarte Hoffnung
beim BTSV-Fan keimen. Denn Tore fallen beim
Turnier in der Soccerhalle reichlich. Sie sind dankbar
für die Abwechslung und die sportliche Betätigung.
Konflikte gibt es keine. Egal, ob der Syrer mit dem
Kurden spielt oder der Junge von der Elfenbeinküste mit dem Afghanen. Auf dem Platz sind alle gleich
– fußballbegeisterte Teenager. „Mir ist unheimlich
positiv aufgefallen, dass eine sehr große Dankbarkeit und Demut bei den Jungs vorhanden ist“, hat
Korkmaz schon bei den ersten Trainingseinheiten
im Frühherbst erkannt.
Erfolgsfaktor Nachhaltigkeit?
Nicht nur das Training, auch Schule oder Sprachförderung sind positiv stimmende Signale. Doch befindet sich das Vorzeigeprojekt tatsächlich auf dem
optimalen Weg für die Zukunft? In diesem Punkt ist
derzeit noch einiges offen. Marc Arnold formuliert
die Perspektive des Ganzen derzeit so: „Das Projekt
ist auf 24 Monate angelegt. Wenn es uns weiterhin
gelingt, Spaß zu vermitteln und die Jugendlichen
in die Vereine zu integrieren, dann sind wir meiner
Meinung nach auf dem richtigen Weg.“ Miriam
Herzberg spricht eine vereinsorganisierte Informationsveranstaltung an: „Gemeinsam mit dem
NFV (Niedersächsicher Fußballverband) erläutern
wir Vertretern von kleineren Vereinen, wie es für
Amateurvereine möglich ist, Flüchtlinge zu integrieren. Was das Thema Spielerpass oder Versicherung
angeht beispielsweise.“
Doch das Geschäft Profifußball bleibtHauptaufgabenfeld des Vereins Eintracht Braunschweig. Kann
dann wirklich Empathie für Flüchtlinge dauerhaft
vorgelebt werden? „In unserem Vereinsleitbild steht
auch das Thema Völkerverständigung mit drin. Es
ist für uns wichtig, Toleranz, Vielfalt und Respekt zu
fördern und zu leben“, erwähnt Miriam Herzberg
die sozial ausgerichtete Vereinsphilosophie.
Gemeinsam mit den Kooperationspartnern in der
Eintracht-Braunschweig-Stiftung hätte der Verein
laut der Medien und Kommunikationschefin das
Projekt ein halbes Jahr vorbereitet. „Wir haben
seit Anfang des Jahres Sachen für die Flüchtlinge
organisiert, wie Geld und Schuhe an die Landesaufnahmebehörde gespendet, sodass da ganz klar ist,
dass Empathie ein Grund ist, in dem Bereich tätig
zu werden“, sagt Miriam Herzberg.
Zwar unterstützt die Stiftung Kinder und Jugendliche in der Region Braunschweig generell, nicht nur
Flüchtlinge. Trotzdem hat das Willkommensbündnis
eine herausragende Position für den Verein und die
Stadt.
Die Braunschweiger Sozialdezernentin Dr. Andrea
Hanke sagt: „Das Engagement der Eintracht
Braunschweig Stiftung ist ein Signal an die jungen
Menschen. Sportliche Aktivitäten helfen, dass sie in
unserer Stadt ankommen und sich integriert fühlen
161
bewegung
– das gilt insbesondere, wenn sie unsere Sprache noch nicht gut beherrschen.“
Und auch Eintracht-Fan Holger Thönessen meint: „Der Verein in der Stadt hat
sicher eine besondere Verantwortung, der er sich bewusst ist. Wenn sie Gutes
tun und darüber reden, gehört das zu ihrer Vorbildfunktion, die sie ja annehmen, dazu.“ Gleichwohl dürfe man solche Aktionen auch kritisch hinterfragen,
fügt er an. Die große Strahlkraft des Willkommensbündnis untermauert die
Aussage von Ralf Schultze, Sachgebietsleiter Sozialdienst in der Landesaufnahmebehörde Braunschweig. Er hat täglich mit geflüchteten Menschen und ihren
Problemen zu tun. „Fußballspielen ist für unsere Flüchtlinge die beliebteste
Freizeitbeschäftigung, um für kurze Zeit das Erlebte im Heimatland und die
Flucht zu vergessen“, behauptet er.
Fußball, Alltag und ein neues Zuhause
„In den ersten zwei, drei Trainingseinheiten im Herbst hatte ich schon das Gefühl, dass der ein oder andere mental noch nicht so weit war, um auf dem Platz
zu stehen“, so Kokmaz. Denn gezwungen wird keiner, beim wöchentlichen
Fußballtraining dabei zu sein. Dennoch nimmt die Teilnehmerzahl tendenziell
weiter zu. Gerade auch für diejenigen, die erst in den letzten Wochen in Braunschweig angekommen sind, helfe das Training, zur schnelleren Eingewöhnung
in der Stadt. „Sie lachen viel mehr als wenn man sie in ihren Heimen lässt. Das
ist auch das Feedback, das ich von den Therapeuten erhalte“, fügt Korkmaz an.
Die drei Wochenstunden Fußball seien zum festen Anker geworden, der ihnen
helfe, über schlimme Erlebnisse hinwegzukommen.
Die Jugendlichen sollen nach derzeitigen Planungen der Stadt Braunschweig
und dem zugehörigen Fachbereich Kinder, Jugend und Familie alle dauerhaft
in der Region bleiben. Martina Müller aus dem Dezernat: „Zumindest bis zum
18. Lebensjahr und darüber hinaus bis zum Ende einer Erziehungshilfe.“ Werde
das Asylverfahren positiv entschieden, dann auch dauerhaft. Jugendliche ohne
Asylstatus in Ausbildung, die sich gut integrieren, werden zunächst geduldet.
Der Start in ein neues Leben erfolgt für die Teenager aus etwa 20 Nationen in
mehreren im Stadtgebiet verteilten Unterkünften der betreuenden Einrichtungen Remenhof-Stiftung, Kinder und Jugendhilfe St. Nikolaus, dem Verbund
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Sozialtherapeutische Einrichtungen (VSE) und der
Arbeiterwohlfahrt (AWO).
Auch bei den Trainingseinheiten sind Betreuer
anwesend. Diese übernehmen auch die Vormundschaft für viele der jungen Menschen. Beim Hallentraining Ende des Jahres sind beispielsweise eine
Frau und ein Mann der Kinder und Jugendstiftung
St.Nikolaus als Zuschauer dort. Bei Fragen oder
Problemen haben die Jugendlichen also einen
Ansprechpartner abseits vom Trainer vor Ort. Murat
Korkmaz ist für einige der Weltbürger durch die Art
seines Coachings in freundlichem Ton und seine
Offenheit für Dinge abseits vom Spielfeld bereits
eine Vertrauensperson: „Der ein oder andere hat
mich schon privat angeschrieben und gefragt, bei
welchem Verein er anfangen könnte. Da passiert
schon einiges. Schreitet die Integration mit diesem
Tempo fort, ist der Trainer optimistisch: „Ich denke
spätestens nächste Saison werden wir die meisten
im regulären Spielbetrieb und Mannschaftsumfeld
wieder finden, da bin ich sehr, sehr sicher.“
Die nötige Empathie bringt er seinen Schützlingen
entgegen und glaubt an den Verein: Ich finde es
bemerkenswert, dass ein Verein, der im Tagesgeschäfts Profifußball schon sehr viel zu tun hat, die
Aufgabe noch dazu genommen hat, den sozialen
Part zu unterstützen.“ Deshalb glaubt er auch an
den schnellen Erfolg: „In ein zwei Jahren werden
wir ganz klar sehen, dass die Jungs eben nicht auf
der Straße rumlungern und irgendeinen Blödsinn
machen, sondern viel besser und leichter zu integrieren sind über den Fußball.“
Vor dem letzten Mannschaftswechsel des Turnieres zieht Murat Korkmaz ein Fazit: „Mit Empathie,
Sensibilität und einer gesunden Basis hat die Arbeit
viel zu tun. Natürlich ist es anstrengender mit den
Jungs zu trainieren weil ich mich intensiver als bei
einem deutschen Jugendteam mit den einzelnen
Persönlichkeiten beschäftigen muss. Ein Dreizehnjähriger der gerade aus der Elfenbeinküste hergekommen ist, tickt natürlich komplett anders als ein
Siebzehnjähriger aus dem Balkangebiet. Aber im
Grunde sind es nur Jungs, die dankbar sind, sich
auf dem Platz zu präsentieren.“
Und auch als die 90 Minuten am heutigen Abend
in der Halle beendet sind, bleibt es beim harmonischen Miteinander. In der Kabine wird getobt und
gegrölt, ganz wie bei einem monatelang zusammenspielenden Jugendteam. Ein Selfie hier, ein
Selfie dort – und zum Schluss ein Mannschaftsfoto.
In Kleingruppen verlassen die neuen Braunschweiger Weltbürger nach und nach die Soccerhalle. In
der kalten, dunklen und unbekannten Abendluft
braucht keiner alleine zu sein.
Kommentar
Auf den ersten Blick passen Fußball und Empathie wohl so gut zusammen wie eine Fanfreundschaft zwischen Borussia Dortmund und
dem FC Schalke. Denn im knallharten Profizirkus geht es um eines: größtmöglichen Kommerz. Die Bundesliga scheint immun gegenüber empathischen Hilfsmaßnahmen zu sein.
Zuletzt glich die Kampagne der „Bild“-Zeitung
mit Trikotwerbung unter dem Namen „Ein Herz
für Flüchtlinge“ nur einem: PR.
Doch auf den zweiten Blick tut sich einiges.
Eintracht Braunschweig steht als Profiklub stellvertretend für zahlreiche kleinere Vereine, die
Flüchtlinge in ihre Vereinsstrukturen aufnehmen
und in ihren Jugend- und Seniorenmannschaften integrieren. Der ambitionierte Zweitligist
zeigt, dass der Verein eine kräftige soziale Ader
und dementsprechende öffentlichkeitswirksame Verantwortung in der Region hat, an der
sich weitere Amateurklubs orientieren können,
was letzlich das entscheidende Ziel ist.
Das Willkommensbündnis für Flüchtlinge ist auf
einem guten Weg, unseren neuen Mitbürgern
die Integration in einem unbekannten und
in der Alltagskultur völlig unterschiedlichen
Land zu erleichtern. Denn im global populären
Fußball entscheidet die Teamfähigkeit über
Sieg oder Niederlage. Sprache oder Herkunft
spielen kaum eine Rolle. Bei jeder Trainingseinheit – ob draußen oder in der Halle – spürt
man eine unglaubliche Freude. Das Strahlen in
den Gesichtern ist unverkennbar. „Es ist eine
riesen Demut und ganz große Dankbarkeit von
den Jungs.“ Diese Aussage vom Coach Murat
Korkmaz lässt hoffen, dass diese positive Stimmung auch im (Schul)alltag Früchte trägt. Und
da ist dank der Kooperation von dem BTSV mit
der Stadt und seinen sozialen Einrichtungen
vieles möglich. Denn die Weltbürger sollen
und wollen in der Löwenstadt heimisch werden. Dass der Fußball dafür genau richtig ist,
zeigt sich bereits nach wenigen Monaten: Die
ersten Teenager integrieren sich in deutschen
Jugendmannschaften. Und finden so neue
Freunde – haben somit eine neue Heimat, in
der sie sich wohl fühlen.
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Impressum
UND DAS SIND WIR.
Natürliche Fähigkeiten sind wie
natürliche Pflanzen: sie benötigen Kompetenten Schnitt durch Studie.
Arnold Jacob Auerbach
Dennis Schmitt, Nico Dodoo, Arne Böwig, Torben Ritzinger, Mareén Hamann, Bolor-Erdene Narankhuu, Leonie Gebhard, Johanna C. Klein,
Pia Schulte, Katharina Brecht, Anastasia Marie Kobisch, Jessics Preuss, Karina Hörmann, Selina Göckler, Johannes Giewald (v.l.o.), Lydia Tittes (fehlt).
HERAUSGEBER Hochschule Hannover
Faktultät III Expo Plaza 12, 30539 Hannover
STUDIENGANG Bachelor of Arts Journalistik
SEMINAR Abschlussprojekt Print/Online
LEITUNG Prof. Gabriele Kunkel, Prof. Stefan Heijnk
1. Auflage 2016
© BJO 5 Bachelor Journalistik 2016
Verbleibt bei den Autorinnen und Autoren.
Alle Rechte vorbehalten.
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Klar sieht, wer von Ferne sieht und
nebelhaft, wer Anteil nimmt.
Laotse
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