14. Lesenlernen mit Sinnbausteinen - Anna-Freud

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14. Lesenlernen mit Sinnbausteinen - Anna-Freud
14. Lesenlernen mit Sinnbausteinen
Ursula Baumann
Sie können sich in die Lage eines „Nicht-Lesers“ oder „Leseanfängers“ versetzen, in
dem Sie z. B. einen spiegelbildlichen Text lesen.
So erkennen Sie, dass Lesen ein Strukturierungsprozess ist, der von gefühlsmäßigen
Reaktionen begleitet wird.
Aufgabe von Lehrerinnen muss es daher sein, Schülern adäquate Strukturierungsmöglichkeiten (Ordnungs- und Einsichtsstrategien) zu eröffnen, die das Lesenlernen
und den Schriftspracherwerb ermöglichen und unterstützen.
Welche Strukturierungsmöglichkeiten gibt es?
- Lautebene (Phonemebene): Gleiche Laute werden erkannt und von ähnlich klingenden unterschieden, z. B. Topf – Kopf.
- Buchstabenebene (Graphemebene): Gleiche Buchstabengestalten werden erkannt und von anderen bzw. ähnlichen unterschieden.
- Verbindungsebene Buchstabe-Laut (Graphem-Phonem-Korrespondenz): Verbindung von Buchstaben und zugehörigen Lauten.
- Sinnbausteinebene (Morphemebene): Die zu lesenden Wörter werden in Teile mit
Sinngehalt (Morpheme) gegliedert, z. B. weg – lauf – en.
- Satz- und Textebene (syntaktische und semantische Ebene): Sprachgefühl, Satzbaumuster und Sinnerwartung unterstützen als Strukturierungshilfen das Lesen, z.
B.: Der Ball ist auf die Straße...
Die Ebenen der Laut- und Buchstabenaneignung sowie der kommunikative Aspekt
auf der Satz- und Textebene werden intensiv und ausführlich in „Lesenlernen mit
Hand und Fuß – Ein mehrdimensionaler Leselehrgang im handlungsorientierten Stationsverfahren“ (U. Marx/ G. Steffen,1992) erschlossen.
Motor für das Strukturierenwollen des Lesers ist die Sinnerwartung. Sie ist die Motivation Lesen lernen zu wollen.
Die methodischen Ansätze praktizierter Leselernverfahren konzentrieren sich auf die
üblichen Strukturierungshilfen (Übungen zur Graphem- und Phonemdiskrimination,
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Übungen zur Graphem-Phonem-Korrespondenz u.ä.). Sie bieten für die Sinnerwartung und Sinnerfahrung in der Regel nur das Ganzwort als kleinste Einheit an. Das
bedeutet aber, dass mit der Vielzahl der Worte eine unüberschaubare Fülle von Sinnträgern angeboten wird, die gedächtnismäßig nicht zu bewältigen ist. Insbesondere
gilt dies für die deutsche Sprache, die in hohem Maße aus zusammengesetzten Wörtern besteht.
Von alters her wird von Leselehrern das silbenweise Erlesen von Wörtern antrainiert.
Angesichts dieser Tatsache bleibt einem Leselernenden beim Erlesen größerer oder
zusammengesetzter Wörter nur die Möglichkeit, Buchstabe für Buchstabe synthetisierend (S-c-h-e-i-b-e-n-w-i-s-c-h-e-r) oder Silbe für Silbe syllabierend (Schei-ben-wischer) nach Sinn zu suchen, was nur selten zu erfolgreicher Sinnerschließung führt,
solange ihm keine weitere Strukturierungsstrategie zur Sinnerschließung zur Verfügung steht.
Hier bringt die Morphemsichtweise (Scheib-en-wisch-er) einen entscheidenden
Durchbruch.
Durch diese Aufteilung in Sinnbausteine werden irreführende Hypothesenbildungen
(Sinnvermutungen) des Lesers vermieden (z. B. morphematisch: lauf-en, syllabierend: lau–fen) und die Wortsinnerwartung wird in eine erfolgreiche Richtung gelenkt.
„Sinnvolles“ Lesenlernen und Rechtschreiben werden somit über die gewachsene
(Morphem-)Struktur der deutschen Sprache grundgelegt und gefördert.
Mit Hilfe der Sinnbausteine kann man Kinder erleben lassen, dass man mit Sprache
spielen kann. Diese Arbeit fördert in hohem Maße Kreativität im Umgang mit Sprache
sowie die Möglichkeit, „hinter die Wörter zu schauen“.
Durch die Strukturierung nach Morphemen reduziert sich gleichzeitig die Menge der
zu lernenden Wörter unserer Schriftsprache im Verhältnis 40 : 1, d.h. um 40 000
deutsche Wörter zu bilden, bzw. zu schreiben, reichen 1 000 Morpheme aus. Dies ist
ein entscheidender Durchbruch im Schriftspracherwerb. Die Quantität des zu Erlernenden wird überschaubar, begrenzt, zählbar und handhabbar gemacht.
Was sind Morpheme?
„Das Morphem ist die kleinste Bedeutung tragende Einheit der Sprache“ (Pilz, Schubenz, 1979, S.245). Deshalb verwenden wir auch „Sinnbausteine“ als synonymen
Begriff.
Morpheme lassen sich einteilen in:
- Grundmorpheme, die den eigentlichen Sinn eines Wortes bestimmen, z. B.:
- -spiel-, -lauf-, -fahr-.
- Anfangsmorpheme (Präfixe), die vor das Grundmorphem geheftet werden und dadurch die Wortbedeutung verändern, z. B. vor-, nach-, be- usw. (-spielen oder
- -fahren). Es gibt ca. 25 Anfangsmorpheme.
- Endmorpheme (Suffixe), die an das Grundmorphem angeheftet werden, das Wort
somit einer bestimmten Wortgruppe zuordnen und über Groß- und Kleinschreibung bestimmen, z. B. -en, -er, -bar, (spiel – en, Spiel – er, spiel – bar). Es gibt ca.
50 Endmorpheme.
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- Die meisten deutschen Wörter sind komplex, d.h. sie sind aus mehreren Morphemen zusammengesetzt, z. B. be – spiel – bar, Vor – spiel – er.
Eine weitere Kategorie in der Arbeit mit Sinnbausteinen sind die „Strukturwörter“.
Dies sind alle Wörter, die nicht Substantive, Verben oder Adjektive sind (Artikel, Pronomen, Präpositionen u.ä.). Es gibt ca. 150 Strukturwörter. Sie allein bilden 40-60%
eines jeden geschriebenen Textes (vgl. S. Finkbeiner, 1979, S.42 ff). Für Kinder ist
dies sehr motivierend. Wenn sie diese kleinen Wörter beherrschen, können sie schon
die Hälfte eines jeden Textes richtig schreiben (bei Kindereigentexten und Briefen bis
zu 80%).
Wie sieht die praktische Unterrichtsarbeit mit Morphemen aus?
Mit der Strukturierung von zu lesenden oder zu schreibenden Wörtern kann auf jeder
Klassen- und Altersstufe begonnen werden. Die Erfahrung mit 50 Analphabeten in
einem Projekt zeigt, dass auch 60-jährige durch diese Einsicht Lesen und Schreiben
gelernt haben. Der geeignete Einstieg ist, wenn die Kinder Laute kennen und zu synthetisieren beginnen.
Im handelnden Umgang werden einfache Wörter immer wieder in ihre Sinnbausteine
zerschnitten und die Puzzles in Partnerarbeit wieder zusammengefügt (z. B. Zeit–
ung, Bild–er–buch, Heft–chen, Früh–stück, les–en, mal–en, kauf–en, spiel–en). Die
Kinder erfassen danach im Spiel (Pantomime u. a.), dass Grundbausteine Sinnträger
sind. Die Lehrerin zeigt das Puzzleteil „mal“ oder „kauf“ einem Kind und das Kind
führt die dazugehörende Handlung vor. Das passende Wort wird von den anderen
Kindern erraten. Die sinntragenden Einheiten werden danach jeweils als „Edelsteine“
bezeichnet und rot eingefärbt.
Im weiteren Verlauf lernen die Kinder Kombinationsmöglichkeiten mit Hilfe der Anfangsbausteine: Alle 25 Anfangsbausteine (Präfixe: ab-, an-, auf-, aus-, usw.) sind
auf grünen Kärtchen untereinander ausgelegt. Zwei „Edelsteine“ (z. B. spiel – und
mal - ) machen einen Wettbewerb. Der Endbaustein (Suffix) – en spielt am Rande
mit. Die Kinder schieben nun den „Edelstein“ entlang der Präfixkärtchen und erfahren
die Sinnveränderung durch verschiedene Kombinationen: abspielen („ Ich kann eine
Kassette abspielen.“), anspielen („Das gibt´s beim Fußball. Mein Bruder hat schon
mal angespielt.“), aufspielen („Doch das gibt´s. Die Mama sagt: Spiel dich nicht so
auf!“), ausspielen („Des gibt´s glaub ich net, oder doch, beim Katespiel?“). So wird
der „Edelstein“ bis zum letzten Präfix der ausgelegten Reihe geschoben. Die sinnhaften Kombinationsmöglichkeiten werden gezählt. Demnach hat entweder >spiel< oder
>mal<- an diesem Tag gewonnen. Es eignen sich natürlich für diese z.T. auch amüsanten wortschöpferischen Übungen, bei denen die Kinder regelmäßig heftig miteinander diskutieren, gut kombinierbare Verben.
Ähnliche Spiele kann man mit den Endbausteinen (Suffixe) machen. Endbausteine
erhalten die blaue Farbe. Es reicht vollkommen aus, das Wortmaterial aus den gegenwärtigen klassenspezifischen Sachtexten zu entnehmen. Dabei wird immer wieder mit der Schere, später mit dem Stift segmentiert und wieder zusammengefügt.
Kinder erkennen dabei, dass Anfangs- und Endbausteine wiederkehren und dass ih79
re Anzahl begrenzt ist. Und vor allem, dass sie immer gleich geschrieben werden (ung: Zeitung, Heizung, Werbung, Mitteilung). Es gibt eben kein „-tung“, „-zung“, „bung“, „-lung“. In Zeitung steckt „Zeit“, in Heizung „heizen“,
Sobald die Morpheme wiederkehrend auftauchen, werden sie gesammelt. Präfixe
werden auf grüne Karteikarten geschrieben, Grundbausteine auf rote, Suffixe auf
blaue Karten. Es werden nur gut kombinierbare Grundbausteine aus den Sachtexten
aufgenommen. Sonst wird die Anzahl für die Grundschule unübersichtlich. Jetzt kann
mit den drei Kartenstapeln unendlich kombiniert werden. Die drei obersten werden
aufgedeckt und wenn das Wort sinnvoll ist, darf das Kind die Karten behalten
(An - geb - er, ein - kauf - en, ...). Nicht kombinierbare Karten werden unter den Stapel geschoben.
Achtung: Voraussetzung ist, dass die Lehrerin in ihrer Vorbereitung genügend Kombinationsmöglichkeiten auswählt. Sonst ist das Spiel schnell zu Ende!
Die oben genannten Strukturwörter (150 Wörter) üben wir mit Hilfe von Wortkarten
(Sätze dazu bilden lassen) und durch Lückentexte, Partnerdiktate, Wortlisten.
Hier bietet sich die Möglichkeit der inneren Differenzierung. Leistungsstarke Kinder
schreiben den kompletten Diktattext. Leistungsschwächere Kinder erhalten einen Lückentext, in dem bekannte Präfixe, Suffixe oder Strukturwörter eingesetzt werden.
Gerade für stark beeinträchtigte Kinder ist es ein großes Erfolgserlebnis, wenn sie
anfangs einfache Wörter wie der, die, das, und, ist,.... in einen Lückentext einfügen
oder Verben durch ihre Suffixe ergänzen (mal-, malt, Tier-, Tiere), und nach und
nach auch bekannte Präfixe vor das Wort schreiben (-flug, Ausflug) können. Trotzdem bleibt allen Kindern der gesamte Text als Arbeits- und Leistungsergebnis persönlich erhalten. Auch wenn sie unterschiedliche Leistungen erbracht haben.
Die hier beschriebene Arbeit ist eine kleine Auswahl von spielerischen Übungen zum
Schriftspracherwerb durch die Segmentierung in Morpheme. Sie ist unabhängig von
Grundwortschätzen und Leselernverfahren. Sie macht allen Beteiligten Freude durch
den spielerischen Umgang mit Sprache, fördert Sprachkreativität und Sprachgefühl.
Für den Rechtschreibunterricht ist besonders förderlich, dass ein überschaubares
Material zur Verfügung steht, das schwächeren Schülern erlaubt, sich handelnd
Schriftsprache erfolgreich anzueignen.
Literatur:
Baumann, U./Börtzler, A., Lesenlernen und Rechtschreibung mit Sinnbausteinen – Morphemsichtweise von Sprache – In: Zeitschrift für Heilpädagogik, Beiheft 12 1985
Bergk, M., Leselernprozeß und Erstlesewerke, Bochum 1980
Finkbeiner, S., Minifatz – Morfeme im Deutschunterricht, Schönmünzach: Eigenverlag 1979
Marx, U. und Steffen, G., Lesenlernen mit Hand und Fuß, Horneburg/Niederelbe 1992
Pilz, D./Schubenz, S. (Hrsg.), Schulversagen und Kindertherapie, Köln 1979
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