KÖRPERKRISE – Zwischen Körperkult und Schönheitswahn

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KÖRPERKRISE – Zwischen Körperkult und Schönheitswahn
FEMAIL Kolumne
KÖRPERKRISE – Zwischen Körperkult und Schönheitswahn
Bei den schönheitschirurgischen Eingriffen haben Genitalkorrekturen eine der höchsten
Wachstumsraten. Wussten Sie das?
In den USA verzeichnen die Eingriffe Zuwachsraten von 30 %. In Großbritannien stellt der
Eingriff den am schnellsten wachsenden Bereich innerhalb der plastischen Chirurgie dar1;
die Nachfrage nach einer Schamlippenverkleinerung stieg im Jahr 2008 gegenüber dem
Vorjahr um 300 %, seit 2005 sogar um 700 %.2 Allein im Jahr 2009 wurden in Deutschland
geschätzte 20.000 Eingriffe an den Schamlippen vorgenommen.3
Ein Grund für diesen Trend sind Beschwerden oder Befindlichkeitsstörungen, die durch
vergrößerte oder asymmetrische Schamlippen hervorgerufen werden können. Hier zu
nennen sind z.B. Schmerzen oder Beeinträchtigungen beim Sex, beim Urinieren, beim Sport,
Fahrradfahren oder Reiten. In diesen Fällen kann eine Schamlippenverkleinerung
medizinisch indiziert sein.
Eine andere und weitaus häufigere Begründung für den Wunsch nach einer Labioplastik sind
ästhetische Gründe.
Manche Frauen scheinen sich heute durch solche OPs extrem emanzipiert zu fühlen und
gehen seit 1984 mit dem Trend der „Intimverschönerung“. Zu einem Mainstreamphänomen
entwickelte sich die Labioplastik erst Ende der 90er Jahre, in denen Körpermodifikationen
gesellschaftliche Akzeptanz fanden.
Es muss hinterfragt werden, was es für Beweggründe für diesen Trend gibt, der angeblich
das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl der Frauen heben und auch noch das
Sexualleben verbessern soll?
Es scheint, dass sich eine allgemeingültige, verbindliche Intimästhetik in unseren Köpfen
entwickelt und festgesetzt hat. Ein wesentlicher Faktor hierfür ist sicher die große Popularität
der Intimrasur. Viele Frauen bevorzugen heute eine Teil- oder Vollrasur im Genitalbereich.
Laut einer kürzlich erschienenen Dr.Sommer-Studie in der Zeitschrift Bravo rasieren sich
bereits 65% der 11- bis 17jährigen Mädchen. Als Hauptgrund dafür wird angegeben, dass es
schöner aussieht.4
Weiters hat die „Pornografisierung der Gesellschaft“ einen wesentlichen Beitrag zu dieser
Entwicklung geleistet. Die jugendliche Scham (verzerrt durch Grafikbearbeitung, Retusche)
etablierte sich als neues Idealbild des weiblichen Intimbereichs.5 Dabei werden Straffheit und
Glattheit als wünschenswert erachtet.6 Die vollständige Entfernung der inneren Schamlippen
wird mitunter als Youth-Look oder Barbie-Look beworben.7 Die idealisierte Vulva ist haarlos
und ohne vorstehende Hautpartien; sichtbar heraushängende Schamlippen werden mit Alter
und Schlaffheit assoziiert.8 Aus feministischer Sicht stellt die Ausrichtung an diesem
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Schönheitsideal eine Form männlicher Dominanz über den weiblichen Körper dar – Der
Trend geht auf Kosten einer weiblichen Vielfalt hin zu einer unrealistischen „Einheitsvulva“.9
In anderen Kulturkreisen wird die Vulva sogar als unrein definiert und damit das Ritual der
Beschneidung (Female Genital Mutilation) legitimiert.10
Abgrenzung gegenüber der kulturell motivierten Genitalverstümmelung
Die wohl wichtigste Argumentation hier ist die „Freiwilligkeit“ dieses Eingriffes und das
sogenannte Selbstbestimmungsrecht der westlichen Frau. Befürworter der Labioplastik
argumentieren, dass die Autonomie jeder Frau in ihrem Wunsch nach einem, in ihren Augen,
gefälligen Erscheinungsbild zu respektieren sei und jeder Mensch ein „Recht auf Schönheit“
habe.11 Dies sei auf jeden Fall gültig, solange medizinische Standards eingehalten würden
und offen über Risiko und mögliche Komplikationen dieser Operationen informiert werde.
Ob die Entscheidung von Frauen zu chirurgischen Veränderungen am Genital auf
irregeleiteten Annahmen über die Normalmaße der Vagina beruhen, die uns hauptsächlich
durch Medien und Pornografie gezeigt werden oder Frauen hier autonom und
selbstbestimmt handeln, sei der weiteren Diskussion überlassen …
Was auf jeden Fall von Nöten ist, ist eine sehr frühe Wissensvermittlung über die natürliche
Beschaffenheit der Genitalien im Rahmen der Sexualpädagogik und die Vermittlung eines
realistischen Körperbildes.12
Quellenangaben
1 http://www.metro.co.uk/metrolife/268439-the-privates-sector-is-shown-up-in-the-perfect-vagina
2 http://news.bbc.co.uk/newsbeat/hi/health/newsid_7676000/7676108.stm
3 http://kurier.at/nachrichten/gesundheit/2005214.php
4 http://www.bravo.de/dr-sommer/koerper-gesundheit/scheide-vulva-das-zentrum-der-lust
5 Emma Winter 2010: Kein Grund zur Scham. (Sabine zur Nieden), Seite 110 f
6 http://www.zeit.de/2010/34/A-Schoenheit
7 http://www.huffingtonpost.com/angela-bonavoglia/cosmetic-vaginal-surgeons_b_475929.html
8 http://www.newviewcampaign.org/media/pdfs/Bust%20article.pdf
9 http://deepblue.lib.umich.edu/bitstream/2027.42/64608/1/ruthcnm_1.pdf
10 Emma Winter 2010: Kein Grund zur Scham. (Sabine zur Nieden), Seite 110 f
11 http://www.rhm-elsevier.com/article/S0968-8080(10)35495-4/abstract
12 http://www.psychologytoday.com/blog/great-sex/200806/labiaplasty-when-less-is-more
Weiterführende Literatur
13 What about female genital mutilation? Richard A. Shweder,
http://humdev.uchicago.edu/publications/shweder/whataboutfgm.pdf
14 http://de.wikipedia.org/wiki/Beschneidung_weiblicher_Genitalien#Gegenbewegung
Fran Hosken (1993): The Hosken Report: Genital and Sexual Mutilation of Females. Lexington, MA:
Women’s International Network News.
15 http://www.bravo.de/dr-sommer/koerper-gesundheit/scheide/vulva-galerie
16 http://sex.sagepub.com/content/8/4/407
17 http://www.time.com/time/health/article/0,8599,1859937,00.html
18 http://assets.unicef.ch/downloads/UNI_Rechtsgutachten_WGV_de.pdf
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19 http://assets.unicef.ch/downloads/UNI_Rechtsgutachten_WGV_de.pdf
20 http://www.expert-reviews.com/doi/pdf/10.1586/17474108.4.2.101
21 http://content.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2164491_0_6134_-intimchirurgie-im-trend-nacktetatsachen-unter-der-guertellinie.html
22 Johnsdotter S, Essén B: Genitals and ethnicity: the politics of genital modifications. Reproductive Health
Matters, 2010, Volume 18, Issue 35, Pages 29-37, Volltext
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