Wider dem Verschwinden
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Wider dem Verschwinden
WIRTSCHAFT & POLITIK Neuen Schätzungen zufolge droht in Japan die Hälfte der Gemeinden in den nächsten Jahrzehnten zu verschwinden, in einigen Präfekturen weit über 80 Prozent. Einige Lösungsversuche. Von Sonja Blaschke 1 Idyllisch – aber vom Aussterben bedroht: Bis 2040 könnte die Hälfte aller Gemeinden Japans verschwunden sein. E s gab eine Zeit, in der ein Drittel des weltweit geförderten Silbers aus Japan kam, ein großer Teil davon aus der heutigen Präfektur Shimane. 200.000 Menschen lebten damals in der Region und arbeiteten in der Mine Iwami Ginzan. Durch die geografische Nähe blühte der Handel mit dem ostasiatischen Festland. Die Kultur florierte. Doch das ist 400 Jahre her. Heute sind nur ein paar Hundert Menschen in dieser versteckten Ecke des Landes verblieben. Shimane ist mit 707.000 Einwohnern die zweitkleinste der 47 Präfekturen und für viele ein unbeschriebenes Blatt. Bis auf den Izumo Taisha, der als einer der beliebtesten enmusubi-Schreine gilt und göttlichen Beistand bei der Beziehungsanbahnung bringen soll, ist wenig über die Präfektur bekannt. Dazu trägt bei, dass sie nicht ans Shinkansennetz angeschlossen und weit von den großen Industriezentren entfernt ist. Große Unternehmen, berühmte Universitäten, all das sucht man vergeblich. Der größte Arbeitgeber ist die Lokalregierung, der wichtigste Wirtschaftszweig die Landwirtschaft. Aber für letztere eignet sich das Terrain auch nur bedingt, da 87 Prozent der Fläche bergig sind. Schlechte Vorzeichen Mangels Zukunftsperspektiven wandern viele, vor allem junge Menschen, ab, meist nach Osaka oder Tokyo. Die Bevölkerung von Shimane geht seit Jahren zurück, so schnell wie sonst nur noch in Akita und Aomori in Nordjapan. Zurück bleiben vielerorts nur noch Senioren. Satoru Aoki, der für die Entwicklung der Bergregionen in der Präfektur zuständig ist, sagt: „Die 22 J A PA N M A R K T FEBRUAR 2015 Präfektur Shimane erlebt jetzt, was der Rest des Landes in zehn Jahren erlebt.“ In ganz Japan kamen 2014 knapp über eine Million Kinder zur Welt, so wenige wie noch nie. 1,26 Millionen Menschen starben. Die Bevölkerung schrumpfte damit um 268.000 Menschen. Das sind 70.000 mehr als zum Beispiel in der Hauptstadt von Shimane, in Matsue, wohnen. Bis 2040 könnte die Hälfte aller Gemeinden Japans verschwunden sein, sagt Hiroya Masuda, Berater beim Nomura Research Institute. Von 1995 bis 2007 war er Gouverneur von Iwate, im Anschluss bis 2008 Innenminister. Bei seiner Aussage beruft er sich auf Studien des Japan Policy Council, wonach in Shimane und Aomori das Risiko, dass viele Gemeinden verschwinden, also ihre Funktionalität verlieren, bei über 80 Prozent liegt, in Akita bei über 90 Prozent. Betroffen sind nicht nur kleinere Ortschaften unter 10.000 Einwohnern, sondern auch Städte von 200.000 bis 300.000 Einwohnern. Einer der Hauptgründe dafür sei, dass in den betroffenen Orten wenige Frauen im gebärfähigen Alter wohnen. Außerdem würden generell junge Leute aus der Provinz weg und in die Großstädte ziehen. Anzeichen für eine Trendumkehr sehe er nicht. Vorsichtige Konsolidierung „Weil man diese Entwicklungen ohnehin nicht aufhalten kann, muss man sich eben daran anpassen“, sagt Herr Tatsuya Ishibashi, Leiter der Abteilung für Sozialhilfe von der Präfekturverwaltung. Man habe bereits damit angefangen, vor allem in Alle Fotos: Sonja Blaschke Wider dem Verschwinden den Bergregionen, wo insbesondere alte Menschen wohnen, Funktionen zusammenzuziehen. An die völlige Aufgabe kleiner Siedlungen, um eine „kompakte Stadt“ zu schaffen, wie es die Regierung vorschlage, denke man jedoch nicht. Der Gouverneur von Shimane sei dagegen. Yoshitsugu Tsuchiya von der gleichen Abteilung erklärt ein Betreuungssystem, das basierend auf bereits vorhandenen Diensten nun systematisch auf- und ausgebaut werde. Ausgehend von den Mittelschulen in den jeweiligen Bezirken versuche man sicherzustellen, dass essentielle Dienstleistungen wie die Altenpflege, Prävention oder medizinische Behandlung innerhalb von maximal 30 Minuten erreichbar sind. Aber auch ohne Anweisung „von oben“ habe vor etwa zehn Jahren eine Konsolidierung eingesetzt, sagt Satoru Aoki. Kleinbauern hätten angefangen, teure Maschinen zusammen zu kaufen und zu nutzen, weil sich für sie alleine die Anschaffung nicht lohne. Viele sind im Rentenalter und haben keine Nachfolger. Es gibt immer mehr ungenutzte Flächen. Daher versucht das Landwirtschaftsministerium, große Einzelhandelsketten wie AEON anzuziehen, die auf den freien Nutzflächen Gemüse anbauen können. Der Trend gehe laut Aoki weg vom Reis- und hin zum Gemüseanbau. Gelegentlich kämen Mitarbeiter der Zentralregierung zu Besuch, um sich die Maßnahmen vor Ort anzusehen, sagen die Beamten. Die Präfektur Shimane sieht sich als Impulsgeber und Vorreiter beim Thema Überalterung und gibt eigener Aussage nach viele Wünsche und Ideen an die Zentralregierung. Basierend auf ihrer Erfahrung, nimmt sich die Präfektur aber auch die Freiheit, Ideen „von oben“ abzulehnen. Vorzeigemodell mit Sport für Rentner In der zentraljapanischen Präfektur Toyama setzt man auf die „kompakte Stadt“, um den demografischen Trends zu begegnen. Toyama hat 1,08 Millionen Einwohner und findet sich damit im untersten Viertel der Präfekturen nach Größe. Im Vergleich zu Shimane gibt es relativ viel Industrie, darunter mehrere Medikamentenhersteller. Vom Anschluss an den Shinkansen, der im Frühling 2015 erfolgen soll, erhofft sich die gleichnamige Prä- fekturhauptstadt eine spürbare Belebung. Bürgermeister Masashi Mori arbeitet seit über zehn Jahren daran, Toyama zu einer seniorenfreundlichen Stadt umzuwandeln. Aktuell sind 26 Prozent der Bürger über 65 Jahre alt, bald 30 Prozent. Toyama als „kompakte Stadt“ gilt als Vorzeigemodell für eine OECD-Studie zu nachhaltiger Stadtgestaltung in alternden Gesellschaften. Eine der ersten Maßnahmen war, den öffentlichen Nahverkehr durch den Bau eines Tramsystems zu stärken, da Toyama bis dahin als „Autogesellschaft“ galt. Bürgermeister Mori hofft, dass die Tram älteren Leuten, die sonst vielleicht den ganzen Tag zuhause bleiben würden, einen Anlass bietet, einmal vor die Tür zu gehen und zum Beispiel mit ihren Enkeln in die Innenstadt fahren, um etwas zu unternehmen. 2011 wurde in Toyama als erstes dieser Art in Japan ein Sportzentrum in Kombination mit ärztlichen Diensten eingerichtet, dass sich auf die Prävention von Krankheiten spezialisiert hat. Es soll die Anzahl an älteren Leuten, die Pflege bedürfen, verringern. Anfangs stand es nur Bürgern ab 60 offen, seit zwei Jahren auch Bürgern ab 40, wenn sie bestimmte medizinische Probleme haben. Das Zentrum ist gut besucht. Es finden regelmäßig Kurse im Pool und im Gymnastiksaal statt. „Am Anfang schaffte ich es kaum vom Parkplatz herein, weil ich so schlecht gehen konnte“, erinnert sich die 68-jährige Kazuko Ishikuro. Inzwischen könne sie dank des Trainings, etwa bei der Wassergymnastik, wieder relativ lange Strecken ohne Hilfsmittel zurücklegen. Für die, die damit weiter Schwierigkeiten haben, hat die Stadt im Zentrum einen Verleih von Gehhilfen eingerichtet. Um den möglichen Benutzern die Scheu zu nehmen, finden regelmäßig gemeinsame Spaziergänge statt. Das Design wurde von der örtlichen Universität entwickelt. Licht und Schatten in Akita Die am schnellsten schrumpfende Präfektur Japans ist Akita, ähnlich klein wie Toyama. Dort drohen laut der Studie des Japan Policy Council alle Städte und Gemeinden in den nächsten Jahrzehnten zu verschwinden. Mit einer Ausnahme: Das Dorf Ogatamura, das Ende der 1950er, Anfang der 1960er auf einem zugeschütteten See gegründet wurde, hat die zweit- 1 Längst vergangener Reichtum: Die Gegend um die historische Silbermine Iwami Ginzan war einst ein blühendes Handelszentrum. Heute sind nur ein paar Hundert Menschen in dieser versteckten Ecke des Landes verblieben. 1 Überalterung: In Städten wie Toyama sind rund 26 Prozent und mehr der Bürger über 65 Jahre alt. Teils wird versucht, über Freiwilligenprogramme den Bedarf and Betreuungsprogrammen zu decken. FEBRUAR 2015 J A PA N M A R K T 23 WIRTSCHAFT & POLITIK Bevölkerungsrückgang: Japans am schnellsten schrumpfende Präfekturen. Shimane: 2005: 742.223 2012: 707.000 2035: Bevölkerungsrückgang 4-6% Akita: 2005: 1.145.501 2012: 1.063.000 2035: Bevölkerungsrückgang < 6% Ogatamura Kamikoani Oki-Inseln Iwami Ginzen Toyama-Stadt Yamaguchi: 2005: 1.492.606 2012: 1.431.000 2035: Bevölkerungsrückgang > 6% Aomori: 2005: 1.436.657 2012: 1.350.000 2035: Bevölkerungsrückgang > 6% Wakayama: 2005: 1.035.969 2012: 988.000 2035: Bevölkerungsrückgang > 6% Quelle: National Institute of Population and Social Security Research höchsten Zuwachsraten des Landes. Der Grund ist die örtliche Landwirtschaft, die aus recht großen Höfen besteht. Daher gibt es einen hohen Bedarf an Verwaltungsarbeiten im Büro, die häufig junge Frauen übernehmen. Sie machen 15,2 Prozent der Dorfbevölkerung aus. 3.200 Einwohner leben in Ogatamura, Tendenz steigend. Zugleich beherbergt Akita aber auch eine der am schnellsten schrumpfenden Gemeinden in Japan: Kamikoani. Dort versucht man zum Beispiel über ein Freiwilligenprogramm, das junge Leute für mehrere Jahre als „Mädchen für alles“ an den Ort holt, Probleme ad hoc zu lösen. Sie helfen den alten Menschen zum Beispiel, indem sie sie zum Arzt fahren, ihnen im Winter beim Schneeschippen zur Hand gehen oder für sie einkaufen. Eine weitere Idee, die zumindest zeitweise Touristen anlockt, ist ein Kunst- und Kulturfestival. Die Präfektur von Akita versucht über eine eigene Heiratsvermittlung, ihre Bürger unter die Haube zu bringen, und hofft im zweiten Schritt auf mehr Kinder. Immerhin haben sie in gerade fünf Jahren über 500 Menschen zur Ehe verholfen. Zur Verjüngung der Präfektur trägt auch die Akita International University bei, eine der wenigen japanischen Hochschulen, die ihre Kurse auf Englisch anbietet. 5 Die Bücherei „Nakajima Library“ der Akita University (l.). Bürgermeister Hiroto Takahashi (r.) freut sich: Sein Dorf Ogatamura hat die zweithöchsten Zuwachsraten des Landes. Regionale Drehkreuze Bei allen praktischen wie kreativen Ideen, die Trends verlangsamen, ist das größte Problem, dass es an qualifizierten Arbeitsplätzen für junge, gut ausgebildete Menschen fehlt. Wer einmal seine Heimatpräfektur zum Studium verlassen hat, hat relativ wenig Anreiz, danach wieder zurückzukehren. Bis auf Firmen wie Komatsu und Otsuka, die bewusst ihre Zentrale weg von Tokyo in die Provinz verlegt haben, konzentriert sich die Industrie auf die großen Ballungszentren. Während es kurz nach dem Jahrhundertbeben 2011 eine Dezentralisierungsbewegung gab und Osaka vorübergehend mehr ausgebaut werden sollte, ist davon jetzt nicht mehr viel zu spüren. Der frühere Innenminister Masuda regt an, Provinzstädte als „regionale Drehkreuze“ auszubauen, mehr Arbeitsplätze auf dem Land zu schaffen und Stadtbewohner dazu anzuregen, aufs Land zu ziehen. Ein Ort an dem dies bereits geklappt hat, ist der abgelegenste Teil von Shimane, 60 Kilometer vom Festland entfernt. Die Oki-Inseln freuten sich in den letzten zehn Jahren über 300 Leute zwischen 20 und 40, die auf die Inseln zogen. Die einen lockte die Natur, andere besuchten ihre Freunde und blieben, begeistert von den vielen Aktivitäten zur Stärkung der Gemeinschaft. Junge Familien begrüßen, dass die örtliche Schule massiv verbessert wurde, um die Kinder bereit für die Aufnahme in Japans Spitzenuniversitäten zu machen. Für wieder andere war es der Arbeitsplatz in einem neu gegründeten Betrieb für die Verarbeitung von Fisch und Meeresfrüchten von den Oki-Inseln, die mit modernster Technik tiefgefroren werden. Er gibt 30 Menschen Arbeit und ist seit fünf Jahren profitabel. ■ Sonja Blaschke ist freie Journalistin und Producerin in Tokyo. www.sonjablaschke.de 24 J A PA N M A R K T FEBRUAR 2015