Verhext und weggezaubert - Thienemann
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Verhext und weggezaubert - Thienemann
und t x e Verh zaubert e wegg Th i en e m a n n 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 3 26.04.13 08:38 Kapite l1 Lexas Erwachen Alexa Lankenau, die von allen nur Lexa genannt wurde, fuhr mit ihrer Großmutter in einem Pferdeschlitten durch das nächtliche Hamburg. Die ganze Stadt war in tiefem Schnee versunken. So viel Schnee, dass weder Autos noch Busse fuhren und Pferdeschlitten die einzigen Transportmittel waren. Man konnte sie deshalb benutzen wie eine Straßenbahn. Die Fahrkarten, die sie an einem provisorischen Kutschenfahrkartenschalter gekauft hatten, kosteten nur 2 Euro pro Person. Ob das reichte, um den Pferden davon Futter zu kaufen? Lexa wandte sich zu ihrer Großmutter , die wie sie selbst in eine flauschige Decke gehüllt neben ihr saß, und tastete nach ihrer Hand. Die Hand war weg. Erschrocken sah sich Lexa um. Ihre Großmutter war weg. Lexa konnte es nicht glauben. Wohin konnte sie denn nur verschwunden sein? Die Pferdekutsche schwankte bedenklich, als sie sich rüberbeugte und unter der kuscheligen Decke nach ihrer Großmutter suchte. Das war natürlich albern, weil Lexas Großmutter sehr groß und stattlich war. Sie konnte sich nicht unter Decken 5 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 5 26.04.13 08:30 verstecken – das konnte ja nicht einmal Lexa, die für ihr Alter auch schon ziemlich groß war. Lexa setzte sich wieder gerade hin. Sie strich sich ver wirrt die rotblonden Strähnen aus dem Gesicht, die sich unter ihrer Wollmütze hervorgestohlen hatten. Es war sehr kalt – deshalb steckte sie ihre Hand gleich wieder in den warmen Muff aus Kunstfell, den ihr ihre Großmutter vor einem Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Lexa liebte das Märchen von der »Schneekönigin«. Darin gibt es auch einen Muff, den die kleine Gerda geschenkt bekommt. Seitdem hatte sich Lexa immer heimlich einen Muff gewünscht, kam sich aber dumm vor, weil so etwas ja altmodisch war und alle Kinder Handschuhe trugen. Irgendwie hatte ihre Oma es aber doch gewusst und ihr zum letzten Weihnachten einen geschenkt. Ihre Großmutter wusste immer, was Lexa sich wünschte. Nur wo war sie? Immer wieder sah Lexa neben sich, in der verzweifelten Hoffnung, dass sie sich geirrt haben könnte. Die Kutsche sauste vor wärts. Lexa beugte sich nach vorne, zog nun beide Hände aus ihrem warmen Muff und tippte dem Kutscher auf die Schulter. Der Kutscher hatte seine Fellmütze tief in die Stirn gezogen. Dazu trug er einen dicken Pelzmantel, um sich gegen die klirrende Kälte zu schützen. Er reagierte nicht auf ihre Berührung. Das lag bestimmt an dem dicken Mantel. Lexa tippte ihn fester an. Als er sich immer noch nicht reg6 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 6 26.04.13 08:30 te, sah sie sich um, ob nicht vielleicht noch jemand draußen unterwegs war, der ihr helfen konnte. Aber da war niemand. Die Straße war leer. Als Lexa wieder nach vorne sah, fehlte auch der Kutscher . Lexa wurde starr vor Schreck. Eisige Kälte durchfl utete sie – eine so eisige Kälte, wie sie kein Winter zustande bringt. Diese Kälte kennen nur Kinder, die verlassen wurden. Lexa aber wehrte sich dagegen. Sie wollte es nicht glauben. Energisch schüttelte sie den Kopf, sodass sich die rotblonden Strähnen wieder selbstständig machten und um ihren Kopf fl ogen. Die Pferde galoppierten los und nun ergriff Lexa doch blinde Panik. Die Kutsche raste direkt auf den Uferweg zu. Lexa konnte den Verlauf der Außenalster erkennen, die träge unter einer Schicht aus Eis und Schnee floss. Ob das Eis dick genug war, um die Pferde, die Kutsche und sie selbst zu tragen? Lexa erhielt ihre Antwort schneller, als ihr lieb war. Die Pferde schlitterten über das Eis, die Kutsche krachte mit ihren Kufen darauf und es knirschte fürchterlich. Dann gab es einen lauten Knall und Lexa versank mitsamt Kutsche und Pferden im eiskalten Wasser. Die Pferde wieherten ein letztes Mal verzweifelt auf und ihre Hufe schlugen auf Eisbrocken, bevor sie im kalten Wasser wirbelten. Lexa war sofort ganz nass. Die dicken Decken zogen sie nach unten. Der kleine Muff schwebte nach oben. Tausend eiskalte Nadeln durchfuhren Lexas Körper. Sie hörte das gurgelnde letzte Wiehern der Pferde und das W asser rauschte in ihren Ohren. An der Oberfl äche konnte sie verschwommen 7 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 7 26.04.13 08:30 ein paar Lichter entlang der Uferpromenade erkennen. Dann versank die Kutsche schneller und es wurde ganz dunkel. Es war kalt und still und Lexa wusste, dass sie sterben musste. »Neeeiiin! Bitte nicht! Neeeiiin!« Ein Schrei ließ Lexa hochschrecken. Es dauerte eine Weile, bis sich ihr heftiger Atem beruhigte. Der Schweiß lief ihr über das heiße Gesicht und ihr Herz klopfte laut. Wer hatte da geschrien? Lexa zitterte vor Furcht, bis ihr bewusst wurde, dass sie selbst es war. Es war noch ganz dunkel. Lexa wühlte ihren Arm aus der warmen Bettdecke heraus, tastete nach dem Knopf ihrer Nachttischlampe und knipste sie an. Ihr Schein tauchte Lexas Zimmer in ein warmes gelbes Licht. Es war der 15. Dezember , Lexas zwölfter Geburtstag. Ihre Schulsachen lagen wie immer durcheinandergewürfelt auf dem Boden. Darüber hatte sie die Kleider vom Vortag drapiert. Auf dem Schreibtisch lagen ihre Zeichenutensilien. Lexa sollte für den Kunstunterricht ein Blatt zeichnen. Auf dem bunt bemalten Kleiderschrank saßen ihre Lieblingspuppen und lächelten sie ausdruckslos an. Lexa spielte natürlich nicht mehr mit Puppen, aber wegwerfen wollte sie sie auch nicht. Sie setzte sich in ihrem Bett auf und lauschte. Im Haus war es still. Als kleines Kind hatte Lexa ihre Eltern bei einem Unfall verloren. Seither lebte sie bei ihrer Großmutter Magda Kuhlmann in Hamburg-Finkenwerder. Lexa liebte ihre Großmutter über 8 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 8 26.04.13 08:30 alles. Was für ein Glück, dass es nur ein böser Traum gewesen war. Schon öfter hatte sie diesen T raum gehabt – aber noch nie war er so schlimm gewesen. Es hatte wieder geschneit. Auch wenn es draußen noch dunkel war, konnte sie auf der Fensterbank ihres Zimmers eine dicke Schneeschicht erkennen. Das kleine Fenster war schon fast zugeweht. So viel Schnee hatte es in Hamburg schon lange nicht mehr gegeben. Lexa hatte sich im Schlaf so fest in ihre warme Bettdecke gewickelt, dass sie große Schwierigkeiten hatte, sich wieder herauszuwinden. Ihre langen Arme und Beine schienen überall nur im Weg zu sein. Sie strich sich müde das verschwitzte Haar aus der Stirn. Lexa hatte rotblondes, lockiges Haar , das ihr bis zur Schulter reichte, blaue Augen und Sommersprossen, die im Winter etwas blasser wurden. Im Sommer waren es so viele, dass ihre Haut ganz dunkel wirkte. Sie war außerdem sehr dünn, weshalb manche Mitschüler sie Bohnenstange nannten. Das kränkte Lexa sehr. Sie hätte viel lieber so ausgesehen wie die anderen Mädchen in ihrer Klasse. Nicht so dünn und nicht so groß. Das war auch bestimmt viel praktischer , denn die anderen hatten mit Sicherheit keine so großen Probleme, sich aus dem Bettdeckendickicht zu befreien. Als sie es schließlich geschafft hatte, seufzte Lexa erleichtert auf. Sie schlüpfte in ihre warmen Hausschuhe und warf sich den Morgenmantel über, den sie von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte. Der Morgenmantel war aus warmem Frottee, 9 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 9 26.04.13 08:30 leuchtete in allen Farben des Regenbogens und war über und über mit fremdartigen Symbolen versehen. Diese sahen aus wie Schriftzeichen einer längst vergangenen Kultur. Lexa konnte sie keiner Sprache zuordnen. Als sie ihre Großmutter danach fragte, hatte die nur gesagt: »Das ist halt so.« Eine so einfache Erklärung war ungewöhnlich für Lexas Großmutter, aber Lexa hatte sie schließlich akzeptiert. Die Schriftzeichen waren aus einem glänzenden Stoff. Das sah auf dem leuchtenden Frottee sehr schick aus. Lexa liebte den Morgenmantel sehr und hoffte, dass sie nicht mehr so schrecklich schnell wachsen würde und ihn noch ganz lange tragen konnte. Am liebsten für immer. Rasch lief Lexa die schmalen Treppen hinunter. Ihre Großmutter war mit Sicherheit längst auf den Beinen. Sie hatte sich schon oft gefragt, ob und wann Magda Kuhlmann eigentlich schlief. Ihre Großmutter hatte ihr nur erklärt, dass sie sehr wenig Schlaf brauchte. Sie war stets noch wach, wenn Lexa ins Bett ging, und immer schon auf, wenn sie aufstand und in die Küche gelaufen kam. Die Küche hatte einen alten Herd, einen Küchenschrank aus dunkler Eiche, eine Anrichte und ein Spülbecken aus Emaille. Das war zwar altmodisch, aber auch sehr schön. Das einzig Moderne war der Heißwasserboiler über dem Waschbecken. Mitten in der Küche stand ein großer, blank gescheuerter Küchentisch aus Eiche, auf dem eine bestickte weiße Adventsdecke lag. In der Mitte des T isches thronte ein Gesteck aus T annenzweigen. 10 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 10 26.04.13 08:30 Davor stand schon das Frühstück für Lexa bereit. Ihre Lieblingsschale war mit Müsli gefüllt, die Milchflasche stand daneben. In einer großen Tasse dampfte heißer Tee. Wie Lexa am Geruch erkannte, war es eine der Kräutermischungen ihrer Großmutter. Magda Kuhlmann hielt nämlich nichts von Teebeuteln aus dem Supermarkt. Sie sammelte ihre Kräuter selber im Wald und auf Streuwiesen. Deshalb waren an der Küchendecke überall Schnüre gespannt, an denen die Großmutter ihre Kräuter in kleinen Bündeln zum Trocknen aufhing. Lexa hatte sich an diese Marotten längst gewöhnt. Der T ee duftete wie immer herrlich. Sie nahm die heiße Tasse in beide Hände, trank einen großen Schluck und machte sich auf die Suche nach ihrer Großmutter. Lexa Lankenau und Magda Kuhlmann bewohnten ein kleines, gemütliches Backsteinhaus im Focksweg auf der Halbinsel Finkenwerder. Finkenwerder konnte man von Hamburg aus mit dem Bus erreichen, aber es war viel schöner, mit der Fähre zu fahren. Die fuhr als Linie 62 genauso wie ein Bus, nur viel interessanter , weil es ja über das Wasser ging. Lexa nutzte jede Gelegenheit, nach Hamburg überzusetzen. Vielleicht wurde sie später Kapitänin. Dann konnte sie das den ganzen Tag lang machen. Das kleine Haus im Focksweg hatte nur vier Zimmer. Unten befanden sich das Wohnzimmer und die gemütliche Küche, im ersten Stock die beiden Schlafzimmer und das Bad. Das Haus besaß einen kleinen Keller und einen geräumigen Speicher , 11 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 11 26.04.13 08:30 auf dem die Großmutter unglaublich viel Krimskrams aufbewahrte. Magda Kuhlmann konnte nämlich nichts wegwer fen. Vom Wohnzimmer führte eine Hintertür in den kleinen Garten hinter dem Haus, der durch Mauern von den Gärten der Nachbarn abgegrenzt wurde. Neben der Haustür gab es noch eine kleine Gästetoilette. Die hatte Lexas V ater damals angebaut, weil er es lästig fand, warten zu müssen, wenn das Bad besetzt war. Als Lexa mit ihrer halb vollen Teetasse davor stand, betrachtete sie die Toilettentür einen Moment lang versonnen. W eil sie bei dem Unfall noch so klein gewesen war, konnte sie sich kaum an ihre Eltern erinnern. Da sie aber wusste, dass ihr aVter die Toilette eingebaut hatte, fühlte sie sich ihm nahe, wenn sie diesen Raum betrat. Deshalb benutzte sie immer die Gästetoilette, was ihre Großmutter gut verstehen konnte. Das war das Beste an ihr. Lexa musste Magda Kuhlmann nur wenig erklären. Sie schien fast immer zu wissen, was im Kopf ihrer Enkelin vor sich ging. Lexa lebte nun schon seit neun Jahren bei ihrer Großmutter und es waren die schönsten Jahre ihres Lebens gewesen, wie sie ihrer Großmutter immer wieder versicherte. Dann lachten sie gemeinsam darüber , weil es schon sehr komisch war, wenn ein so junges Mädchen von den schönsten Jahren ihres Lebens sprach. Aber jetzt war Lexa gespannt, welche Geburtstagsüberraschung sie erwartete. Magda Kuhlmann hatte sich bisher in jedem Jahr etwas Besonderes für Lexa ausgedacht. Vielleicht hatte ihre Großmutter sich in der Gästetoilette 12 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 12 26.04.13 08:30 versteckt, um Lexa zu überraschen? Lexa klopfte an die geschlossene Toilettentür. Keine Reaktion. »Oma?« Vorsichtig öffnete sie die Tür . Der Raum war leer . Bis auf einen runden, braunen Ball in der Ecke. Den hatte bestimmt eines der Kinder aus der Nachbars chaft verloren, die nachmittags oft zum Spielen vorbeikamen. Lexas Großmutter war sehr lieb – sie hatte für jedes Kind ein gutes Wort und selbst gebackene Kekse. Das half Lexa, Anschluss zu finden, auch wenn sie in der Schule immer wieder gehänselt wurde. Lexa war nämlich nicht nur ungewöhnlich groß für ihr Alter, sondern auch noch eine ausgezeichnete Schülerin. Nur in Sport war sie schlecht. Das war im Alter von zwölf Jahren keine gute Kombination und machte sie bei den anderen Kindern in ihrer Klasse nicht beliebter. Was sie in der Schule lernen sollte, interessierte sie dabei nicht einmal besonders. Lexa konnte sich einfach alles sehr gut merken. Was sie einmal gelesen oder erklärt bekommen hatte, vergaß sie nicht mehr. Lexa ging zurück in die Küche und sah auf die Uhr, die über dem Herd hing. Es war schon Viertel vor acht. Sie musste sich beeilen, wenn sie bei dem Schnee rechtzeitig zur Schule kommen wollte. Wo ihre Großmutter nur war? Lexa stieg die Treppen hinauf und sah im Schlafzimmer nach. Das Zimmer war wie immer ordentlich aufgeräumt. Die 13 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 13 26.04.13 08:30 alten Holzmöbel rochen nach Politur . Die bunt gemusterte Tagesdecke war über das Bett gebreitet. Der Sekretär mit den vielen kleinen Schubladen stand offen. Sie sah an den Papieren und dem Füllfederhalter, dass ihre Großmutter noch vor Kurzem einen Brief geschrieben haben musste. Magda Kuhlmann schrieb regelmäßig Briefe und er hielt auch sehr viele, wie das kleine Körbchen voller Umschläge mit fremdartigen Briefmarken bewies. In der Ecke war ein kleiner Sessel, auf dem ihr Strickzeug lag. Magda Kuhlmann strickte für ihr Leben gerne. Die meisten Kleidungsstücke bekam Lexa, die sich darüber sehr freute. Die selbst gemachten Pullover und Mützen passten ihr viel besser als die gekauften Sachen. Plötzlich musste Lexa wieder an ihren schlimmen Traum denken. Den musste sie unbedingt ihrer Großmutter erzählen, wenn sie sie gefunden hatte. Magda Kuhlmann hielt viel von Träumen. Sie sagte Lexa oft, dass die Träume der Kompass der Seele wären. Immer wenn Lexa nicht weiter wusste, wurde sie von ihrer Großmutter früh ins Bett geschickt. »Schlaf eine Nacht darüber – dann wirst du wissen, was der richtige Weg ist«, pflegte sie zu sagen. Lexa lächelte bei dem Gedanken und nippte weiter an ihrem Tee. Schließlich lief Lexa die Treppen wieder hinunter, schaltete das Licht über der Hintertür an und spähte hinaus. Der Garten lag ganz still und verschneit da. Das V ogelhäuschen mit dem 14 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 14 26.04.13 08:30 grünen Dach war gut mit Sonnenblumenkernen und Meisenknödeln gefüllt, sodass sich seit dem ersten Schnee viele Vögel im Garten tummelten und sich für Magda Kuhlmanns Fürsorgemit lautem Gezwitscher bedankten. Ihre Großmutter war vielleicht schon einkaufen gegangen. Seit einigen Wochen gab es am Hafen einen Supermarkt, der von 7 bis 22 Uhr geöffnet hatte. Lexa setzte sich an den Tisch und goss Milch über ihr Müsli. Da entdeckte sie unter der Müslischale einen weißen Umschlag. Der war ihr vorher gar nicht aufgefallen, weil auf dem Küchentisch eine weiße Tischdecke lag. Sie vergaß das Müsli und zog den Umschlag vorsichtig unter der Schale hervor. Darauf stand in der schön geschwungenen Schrift ihrer Großmutter ihr Name – sonst nichts. Lexa öffnete den Umschlag. Darin fand sie einen Brief und einen sehr alten Bartschlüssel, der vom Alter ganz schwarz angelaufen war und feine Verzierungen hatte. Lexa faltete den Brief auseinander und las: Meine liebe Lexa, seit heute bist Du zwölf Jahre alt. Alles Liebe zum Geburtstag! Es ist nun an der Zeit, dass Du Deinen eigenen Weg findest. Dabei darf ich Dir leider nicht helfen. Das Schloss zu dem Schlüssel wirst Du finden, wenn Du genau hinsiehst. Hinter dem Schloss befindet sich alles, was Du für die nächste Zeit brauchst. 15 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 15 26.04.13 08:30 Denke auch immer daran, dass Deine Träume Dir weiterhelfen. Außerdem habe ich dafür gesorgt, dass Du Deinen Weg nicht ganz alleine gehen musst. Wir sehen uns wieder. Tausend Küsse Deine Großmutter Trotz der Wärme in der Küche wurde es Lexa auf einmal eiskalt. So kalt wie in ihrem schrecklichen T raum. Sie ließ den Brief sinken. Träumte sie etwa noch? Lexa hatte schon als kleines Kind eine todsichere Methode entwickelt, um zu testen, ob sie träumte oder wach war. Sie kniff sich einfach selbst in den Arm. Wenn es nicht wehtat, träumte sie, und wenn es wehtat, war sie wach. Sie kniff fest zu. »Au!« Lexa starrte auf die Müslischale mit dem bunten Muster. Sie konnte es einfach nicht glauben. Sie war wirklich verlassen worden. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie war nun alleine auf der Welt. Ganz alleine. Lexa schob die Schüssel zur Seite, legte den Kopf auf ihre Arme und begann verzweifelt zu schluchzen. Sie wusste nicht mehr weiter. Ihre Großmutter hatte zwar geschrieben, dass sie sich wiedersehen würden, aber das hatte Lexa auch geglaubt, als ihre Eltern sich damals von ihr verabschiedet hatten. Sie 16 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 16 26.04.13 08:30 sah die Szene plötzlich ganz klar vor sich. Sie stand in der Tür des Hauses ihrer Großmutter und ihre Eltern umarmten sie abwechselnd. Dann flüsterte ihre Mutter ihr ins Ohr: »Montag sind wir wieder da, kleine Lexa.« Aber sie waren nie wiedergekommen. Und ihre Großmutter? Sie hatte sie zum ersten Mal verlassen. Würde sie jemals zurückkehren? Lexa glaubte nicht daran. Niemand kam zu ihr zurück – das wusste sie ja aus Erfahrung. Was sollte sie nur tun? Lexa schluchzte immer heftiger . Da hörte sie ein Scharren. Es kam aus dem Flur . Lexa hob den Kopf und starrte auf die offene Küchentür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Wer oder was scharrte da an der Toilettentür? War es am Ende doch ihre Großmutter , die sie versehentlich eingeschlossen hatte? So ein Blödsinn, schalt Lexa sich selbst. Ihre Großmutter war nicht da. Sie hatte es doch schwarz auf weiß. »Kapier es endlich, Lexa«, sagte sie laut. »Oma hat dich im Stich gelassen.« Was sollte nun werden? Dicke Tränen liefen über Lexas Gesicht. Da war es wieder – dieses Scharren aus dem Flur . Sie umklammerte ängstlich ihre Teetasse. Sollte sie nachsehen? Normalerweise war Lexa nicht feige, aber im Moment war ihr nicht nach Abenteuern zumute. Sie wollte nur, dass ihre Großmutter wieder hereinkam, mit ihr einen Kräutertee trank, ihr zum Geburtstag gratulierte, sie dann wie jeden Morgen zum Schulbus brachte und sich dort von ihr mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedete. 17 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 17 26.04.13 08:30 Das konnte sie tun, weil sie ihre große Enkelin noch um Haupteslänge überragte. Magda Kuhlmann war die größte Frau in Finkenwerder. Der Schulbus, schoss es Lexa durch den Kopf. Sie musste ja den Schulbus kriegen! Da hörte sie ihn schon auf der Straße. Lexa sah an sich herab. Sie war noch in Schlafanzug und Morgenmantel. Das schaffte sie nie. Der Bus bremste seufzend an der nächsten Hauptstraße. Nur wenige Meter vor Lexas Tür. Deutlich konnte sie das Lachen der Kinder hören, die in den Bus stiegen. Dann schlossen sich die Türen mit einem lauten Quietschen und der Bus fuhr davon. Sie würde zu spät zur Schule kommen. Egal. Heute war alles anders. Das Kratzen aus dem Flur wurde immer heftiger. Lexa stand wie in Trance auf und ging durch die Küche in den Flur. Das Scharren kam wirklich aus der Gästetoilette. Lexa schluckte. Dann fasste sie sich ein Herz und öffnete die Tür. »Arriba! Na endlich!«, rief ein braunes Etwas, schoss an ihr vorbei in die Küche, sprang mit einem Satz auf ihren Stuhl, versenkte seine braune Schnauze in der Müslischale und begann gierig und sehr geräuschvoll zu fressen. Dann verzog es seine Schnauze. »Milch ist gut, aber warum bekomme ich kein Fleisch?« Vor Überraschung stand Lexa wie angewurzelt da. Das braune Ding, das sie für einen Ball gehalten hatte, war ein Gürtel18 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 18 26.04.13 08:30 tier. Lexa war sich sicher, weil sie im Biologieunterricht gerade exotische Tiere durchnahmen. Da kamen Gürteltiere auch vor. Allerdings keine, die sprechen konnten. Lexa zweifelte an ihrem V erstand. Zuerst der schlimme Traum, dann die verschwundene Großmutter und jetzt auch noch ein sprechendes Gürteltier, das ihr Müsli fraß und Fleisch verlangte. Nun musste sie sich erst einmal wieder an den Küchentisch setzen. »Wer bist du denn?« »Floyd«, kam die kurze Antwort, dann versenkte das Gür teltier seine Schnauze wieder in ihrer Schale und schmatzte zufrieden. Müsliflocken flogen auf die weiße Tischdecke, den Stuhl und den sauberen Küchenboden. Milch spritzte quer über den Tisch. »Floyd? Was ist das denn für ein Name? Wo kommst du überhaupt her?« Das Gürteltier kaute heftig und schluckte geräuschvoll, bevor es sprach. »Deine Großmutter hat mich auf einem Markt in Mexiko gekauft und hergebracht.« Lexa strahlte. »Du hast meine Großmutter gesehen? Wo ist sie?« Floyd sah sie erstaunt an. »Woher soll ich das wissen? Sie ist doch deine Großmutter, nicht meine! Aber sag mal, ist es bei euch immer so dunkel und kalt? Dann möchte ich morgen zurück. Arriba! Meine Familie wartet auf mich.« Lexa wurde schwer ums Herz. Auf sie wartete niemand. »Hast du Eltern?« »Natürlich, wer hat die nicht?« 19 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 19 26.04.13 08:30 »Ich«, sagte Lexa leise. Floyd hörte auf zu fressen und sah sie neugierig an. »Oh, das tut mir leid – vielleicht können dich ja meine Eltern adoptieren.« Bei dem Gedanken, von Gürteltieren adoptiert zu werden, musste Lexa dann doch lächeln. Es half ja alles nichts. Sie holte eine weitere Schale aus dem Schrank, füllte sie mit Müsli und Milch und setzte sich neben Floyd. 20 18340_Friedl-Stocks_Lexa.indd 20 26.04.13 08:30