Verhext und weggezaubert - Thienemann

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Verhext und weggezaubert - Thienemann
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Kapite
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Lexas Erwachen
Alexa Lankenau, die von allen nur Lexa genannt wurde, fuhr
mit ihrer Großmutter in einem Pferdeschlitten durch das nächtliche Hamburg.
Die ganze Stadt war in tiefem Schnee versunken. So viel
Schnee, dass weder Autos noch Busse fuhren und Pferdeschlitten die einzigen Transportmittel waren. Man konnte sie deshalb
benutzen wie eine Straßenbahn.
Die Fahrkarten, die sie an einem provisorischen Kutschenfahrkartenschalter gekauft hatten, kosteten nur 2 Euro pro Person. Ob das reichte, um den Pferden davon Futter zu kaufen?
Lexa wandte sich zu ihrer Großmutter , die wie sie selbst in
eine flauschige Decke gehüllt neben ihr saß, und tastete nach
ihrer Hand. Die Hand war weg. Erschrocken sah sich Lexa
um. Ihre Großmutter war weg. Lexa konnte es nicht glauben.
Wohin konnte sie denn nur verschwunden sein?
Die Pferdekutsche schwankte bedenklich, als sie sich rüberbeugte und unter der kuscheligen Decke nach ihrer Großmutter suchte. Das war natürlich albern, weil Lexas Großmutter
sehr groß und stattlich war. Sie konnte sich nicht unter Decken
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verstecken – das konnte ja nicht einmal Lexa, die für ihr Alter
auch schon ziemlich groß war.
Lexa setzte sich wieder gerade hin. Sie strich sich ver wirrt
die rotblonden Strähnen aus dem Gesicht, die sich unter ihrer
Wollmütze hervorgestohlen hatten. Es war sehr kalt – deshalb
steckte sie ihre Hand gleich wieder in den warmen Muff aus
Kunstfell, den ihr ihre Großmutter vor einem Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Lexa liebte das Märchen von der
»Schneekönigin«. Darin gibt es auch einen Muff, den die
kleine Gerda geschenkt bekommt. Seitdem hatte sich Lexa
immer heimlich einen Muff gewünscht, kam sich aber dumm
vor, weil so etwas ja altmodisch war und alle Kinder Handschuhe trugen. Irgendwie hatte ihre Oma es aber doch gewusst und ihr zum letzten Weihnachten einen geschenkt. Ihre
Großmutter wusste immer, was Lexa sich wünschte. Nur wo war
sie?
Immer wieder sah Lexa neben sich, in der verzweifelten Hoffnung, dass sie sich geirrt haben könnte.
Die Kutsche sauste vor wärts. Lexa beugte sich nach vorne,
zog nun beide Hände aus ihrem warmen Muff und tippte dem
Kutscher auf die Schulter.
Der Kutscher hatte seine Fellmütze tief in die Stirn gezogen.
Dazu trug er einen dicken Pelzmantel, um sich gegen die klirrende Kälte zu schützen.
Er reagierte nicht auf ihre Berührung. Das lag bestimmt an
dem dicken Mantel.
Lexa tippte ihn fester an. Als er sich immer noch nicht reg6
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te, sah sie sich um, ob nicht vielleicht noch jemand draußen
unterwegs war, der ihr helfen konnte. Aber da war niemand.
Die Straße war leer.
Als Lexa wieder nach vorne sah, fehlte auch der Kutscher .
Lexa wurde starr vor Schreck. Eisige Kälte durchfl utete sie –
eine so eisige Kälte, wie sie kein Winter zustande bringt. Diese Kälte kennen nur Kinder, die verlassen wurden. Lexa aber
wehrte sich dagegen. Sie wollte es nicht glauben. Energisch
schüttelte sie den Kopf, sodass sich die rotblonden Strähnen
wieder selbstständig machten und um ihren Kopf fl ogen.
Die Pferde galoppierten los und nun ergriff Lexa doch blinde Panik. Die Kutsche raste direkt auf den Uferweg zu. Lexa
konnte den Verlauf der Außenalster erkennen, die träge unter
einer Schicht aus Eis und Schnee floss. Ob das Eis dick genug
war, um die Pferde, die Kutsche und sie selbst zu tragen?
Lexa erhielt ihre Antwort schneller, als ihr lieb war.
Die Pferde schlitterten über das Eis, die Kutsche krachte mit
ihren Kufen darauf und es knirschte fürchterlich. Dann gab
es einen lauten Knall und Lexa versank mitsamt Kutsche und
Pferden im eiskalten Wasser.
Die Pferde wieherten ein letztes Mal verzweifelt auf und ihre
Hufe schlugen auf Eisbrocken, bevor sie im kalten Wasser wirbelten. Lexa war sofort ganz nass. Die dicken Decken zogen
sie nach unten. Der kleine Muff schwebte nach oben. Tausend
eiskalte Nadeln durchfuhren Lexas Körper. Sie hörte das gurgelnde letzte Wiehern der Pferde und das W asser rauschte in
ihren Ohren. An der Oberfl äche konnte sie verschwommen
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ein paar Lichter entlang der Uferpromenade erkennen. Dann
versank die Kutsche schneller und es wurde ganz dunkel.
Es war kalt und still und Lexa wusste, dass sie sterben musste.
»Neeeiiin! Bitte nicht! Neeeiiin!«
Ein Schrei ließ Lexa hochschrecken.
Es dauerte eine Weile, bis sich ihr heftiger Atem beruhigte.
Der Schweiß lief ihr über das heiße Gesicht und ihr Herz klopfte
laut. Wer hatte da geschrien? Lexa zitterte vor Furcht, bis ihr
bewusst wurde, dass sie selbst es war.
Es war noch ganz dunkel. Lexa wühlte ihren Arm aus der
warmen Bettdecke heraus, tastete nach dem Knopf ihrer Nachttischlampe und knipste sie an. Ihr Schein tauchte Lexas Zimmer
in ein warmes gelbes Licht.
Es war der 15. Dezember , Lexas zwölfter Geburtstag. Ihre
Schulsachen lagen wie immer durcheinandergewürfelt auf dem
Boden. Darüber hatte sie die Kleider vom Vortag drapiert. Auf
dem Schreibtisch lagen ihre Zeichenutensilien. Lexa sollte für
den Kunstunterricht ein Blatt zeichnen. Auf dem bunt bemalten
Kleiderschrank saßen ihre Lieblingspuppen und lächelten sie
ausdruckslos an. Lexa spielte natürlich nicht mehr mit Puppen,
aber wegwerfen wollte sie sie auch nicht.
Sie setzte sich in ihrem Bett auf und lauschte. Im Haus war
es still.
Als kleines Kind hatte Lexa ihre Eltern bei einem Unfall verloren. Seither lebte sie bei ihrer Großmutter Magda Kuhlmann
in Hamburg-Finkenwerder. Lexa liebte ihre Großmutter über
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alles. Was für ein Glück, dass es nur ein böser Traum gewesen
war. Schon öfter hatte sie diesen T raum gehabt – aber noch
nie war er so schlimm gewesen.
Es hatte wieder geschneit. Auch wenn es draußen noch dunkel war, konnte sie auf der Fensterbank ihres Zimmers eine
dicke Schneeschicht erkennen. Das kleine Fenster war schon
fast zugeweht. So viel Schnee hatte es in Hamburg schon lange
nicht mehr gegeben.
Lexa hatte sich im Schlaf so fest in ihre warme Bettdecke
gewickelt, dass sie große Schwierigkeiten hatte, sich wieder
herauszuwinden. Ihre langen Arme und Beine schienen überall nur im Weg zu sein. Sie strich sich müde das verschwitzte
Haar aus der Stirn. Lexa hatte rotblondes, lockiges Haar , das
ihr bis zur Schulter reichte, blaue Augen und Sommersprossen,
die im Winter etwas blasser wurden. Im Sommer waren es so
viele, dass ihre Haut ganz dunkel wirkte. Sie war außerdem sehr
dünn, weshalb manche Mitschüler sie Bohnenstange nannten.
Das kränkte Lexa sehr. Sie hätte viel lieber so ausgesehen wie
die anderen Mädchen in ihrer Klasse. Nicht so dünn und nicht
so groß.
Das war auch bestimmt viel praktischer , denn die anderen
hatten mit Sicherheit keine so großen Probleme, sich aus dem
Bettdeckendickicht zu befreien.
Als sie es schließlich geschafft hatte, seufzte Lexa erleichtert
auf. Sie schlüpfte in ihre warmen Hausschuhe und warf sich den
Morgenmantel über, den sie von ihrer Großmutter geschenkt
bekommen hatte. Der Morgenmantel war aus warmem Frottee,
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leuchtete in allen Farben des Regenbogens und war über und
über mit fremdartigen Symbolen versehen. Diese sahen aus wie
Schriftzeichen einer längst vergangenen Kultur. Lexa konnte
sie keiner Sprache zuordnen. Als sie ihre Großmutter danach
fragte, hatte die nur gesagt: »Das ist halt so.« Eine so einfache
Erklärung war ungewöhnlich für Lexas Großmutter, aber Lexa
hatte sie schließlich akzeptiert.
Die Schriftzeichen waren aus einem glänzenden Stoff. Das
sah auf dem leuchtenden Frottee sehr schick aus. Lexa liebte
den Morgenmantel sehr und hoffte, dass sie nicht mehr so
schrecklich schnell wachsen würde und ihn noch ganz lange
tragen konnte. Am liebsten für immer.
Rasch lief Lexa die schmalen Treppen hinunter.
Ihre Großmutter war mit Sicherheit längst auf den Beinen.
Sie hatte sich schon oft gefragt, ob und wann Magda Kuhlmann
eigentlich schlief. Ihre Großmutter hatte ihr nur erklärt, dass
sie sehr wenig Schlaf brauchte. Sie war stets noch wach, wenn
Lexa ins Bett ging, und immer schon auf, wenn sie aufstand
und in die Küche gelaufen kam.
Die Küche hatte einen alten Herd, einen Küchenschrank aus
dunkler Eiche, eine Anrichte und ein Spülbecken aus Emaille.
Das war zwar altmodisch, aber auch sehr schön. Das einzig Moderne war der Heißwasserboiler über dem Waschbecken. Mitten
in der Küche stand ein großer, blank gescheuerter Küchentisch
aus Eiche, auf dem eine bestickte weiße Adventsdecke lag. In
der Mitte des T isches thronte ein Gesteck aus T annenzweigen.
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Davor stand schon das Frühstück für Lexa bereit. Ihre Lieblingsschale war mit Müsli gefüllt, die Milchflasche stand daneben. In einer großen Tasse dampfte heißer Tee. Wie Lexa am
Geruch erkannte, war es eine der Kräutermischungen ihrer
Großmutter. Magda Kuhlmann hielt nämlich nichts von Teebeuteln aus dem Supermarkt. Sie sammelte ihre Kräuter selber
im Wald und auf Streuwiesen. Deshalb waren an der Küchendecke überall Schnüre gespannt, an denen die Großmutter ihre
Kräuter in kleinen Bündeln zum Trocknen aufhing.
Lexa hatte sich an diese Marotten längst gewöhnt. Der T ee
duftete wie immer herrlich. Sie nahm die heiße Tasse in beide
Hände, trank einen großen Schluck und machte sich auf die
Suche nach ihrer Großmutter.
Lexa Lankenau und Magda Kuhlmann bewohnten ein kleines, gemütliches Backsteinhaus im Focksweg auf der Halbinsel
Finkenwerder.
Finkenwerder konnte man von Hamburg aus mit dem Bus
erreichen, aber es war viel schöner, mit der Fähre zu fahren.
Die fuhr als Linie 62 genauso wie ein Bus, nur viel interessanter
,
weil es ja über das Wasser ging.
Lexa nutzte jede Gelegenheit, nach Hamburg überzusetzen.
Vielleicht wurde sie später Kapitänin. Dann konnte sie das den
ganzen Tag lang machen.
Das kleine Haus im Focksweg hatte nur vier Zimmer. Unten
befanden sich das Wohnzimmer und die gemütliche Küche, im
ersten Stock die beiden Schlafzimmer und das Bad. Das Haus
besaß einen kleinen Keller und einen geräumigen Speicher ,
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auf dem die Großmutter unglaublich viel Krimskrams aufbewahrte. Magda Kuhlmann konnte nämlich nichts wegwer fen.
Vom Wohnzimmer führte eine Hintertür in den kleinen
Garten hinter dem Haus, der durch Mauern von den Gärten
der Nachbarn abgegrenzt wurde. Neben der Haustür gab es
noch eine kleine Gästetoilette. Die hatte Lexas V ater damals
angebaut, weil er es lästig fand, warten zu müssen, wenn das
Bad besetzt war.
Als Lexa mit ihrer halb vollen Teetasse davor stand, betrachtete sie die Toilettentür einen Moment lang versonnen. W eil
sie bei dem Unfall noch so klein gewesen war, konnte sie sich
kaum an ihre Eltern erinnern. Da sie aber wusste, dass ihr aVter
die Toilette eingebaut hatte, fühlte sie sich ihm nahe, wenn sie
diesen Raum betrat. Deshalb benutzte sie immer die Gästetoilette, was ihre Großmutter gut verstehen konnte. Das war das
Beste an ihr. Lexa musste Magda Kuhlmann nur wenig erklären.
Sie schien fast immer zu wissen, was im Kopf ihrer Enkelin vor
sich ging. Lexa lebte nun schon seit neun Jahren bei ihrer
Großmutter und es waren die schönsten Jahre ihres Lebens
gewesen, wie sie ihrer Großmutter immer wieder versicherte.
Dann lachten sie gemeinsam darüber , weil es schon sehr
komisch war, wenn ein so junges Mädchen von den schönsten
Jahren ihres Lebens sprach.
Aber jetzt war Lexa gespannt, welche Geburtstagsüberraschung sie erwartete. Magda Kuhlmann hatte sich bisher in
jedem Jahr etwas Besonderes für Lexa ausgedacht.
Vielleicht hatte ihre Großmutter sich in der Gästetoilette
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versteckt, um Lexa zu überraschen? Lexa klopfte an die geschlossene Toilettentür. Keine Reaktion.
»Oma?«
Vorsichtig öffnete sie die Tür . Der Raum war leer . Bis auf
einen runden, braunen Ball in der Ecke. Den hatte bestimmt
eines der Kinder aus der Nachbars chaft verloren, die nachmittags oft zum Spielen vorbeikamen.
Lexas Großmutter war sehr lieb – sie hatte für jedes Kind
ein gutes Wort und selbst gebackene Kekse. Das half Lexa, Anschluss zu finden, auch wenn sie in der Schule immer wieder
gehänselt wurde.
Lexa war nämlich nicht nur ungewöhnlich groß für ihr Alter, sondern auch noch eine ausgezeichnete Schülerin. Nur in
Sport war sie schlecht. Das war im Alter von zwölf Jahren keine
gute Kombination und machte sie bei den anderen Kindern in
ihrer Klasse nicht beliebter.
Was sie in der Schule lernen sollte, interessierte sie dabei
nicht einmal besonders. Lexa konnte sich einfach alles sehr
gut merken. Was sie einmal gelesen oder erklärt bekommen
hatte, vergaß sie nicht mehr.
Lexa ging zurück in die Küche und sah auf die Uhr, die
über dem Herd hing. Es war schon Viertel vor acht. Sie musste
sich beeilen, wenn sie bei dem Schnee rechtzeitig zur Schule
kommen wollte.
Wo ihre Großmutter nur war?
Lexa stieg die Treppen hinauf und sah im Schlafzimmer
nach. Das Zimmer war wie immer ordentlich aufgeräumt. Die
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alten Holzmöbel rochen nach Politur . Die bunt gemusterte
Tagesdecke war über das Bett gebreitet. Der Sekretär mit den
vielen kleinen Schubladen stand offen. Sie sah an den Papieren und dem Füllfederhalter, dass ihre Großmutter noch vor
Kurzem einen Brief geschrieben haben musste. Magda Kuhlmann schrieb regelmäßig Briefe und er hielt auch sehr viele,
wie das kleine Körbchen voller Umschläge mit fremdartigen
Briefmarken bewies.
In der Ecke war ein kleiner Sessel, auf dem ihr Strickzeug
lag. Magda Kuhlmann strickte für ihr Leben gerne. Die meisten
Kleidungsstücke bekam Lexa, die sich darüber sehr freute. Die
selbst gemachten Pullover und Mützen passten ihr viel besser
als die gekauften Sachen.
Plötzlich musste Lexa wieder an ihren schlimmen Traum
denken. Den musste sie unbedingt ihrer Großmutter erzählen,
wenn sie sie gefunden hatte.
Magda Kuhlmann hielt viel von Träumen. Sie sagte Lexa oft,
dass die Träume der Kompass der Seele wären.
Immer wenn Lexa nicht weiter wusste, wurde sie von ihrer
Großmutter früh ins Bett geschickt. »Schlaf eine Nacht darüber – dann wirst du wissen, was der richtige Weg ist«, pflegte
sie zu sagen.
Lexa lächelte bei dem Gedanken und nippte weiter an ihrem
Tee.
Schließlich lief Lexa die Treppen wieder hinunter, schaltete
das Licht über der Hintertür an und spähte hinaus. Der Garten
lag ganz still und verschneit da. Das V ogelhäuschen mit dem
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grünen Dach war gut mit Sonnenblumenkernen und Meisenknödeln gefüllt, sodass sich seit dem ersten Schnee viele Vögel im
Garten tummelten und sich für Magda Kuhlmanns Fürsorgemit
lautem Gezwitscher bedankten. Ihre Großmutter war vielleicht
schon einkaufen gegangen. Seit einigen Wochen gab es am
Hafen einen Supermarkt, der von 7 bis 22 Uhr geöffnet hatte.
Lexa setzte sich an den Tisch und goss Milch über ihr Müsli.
Da entdeckte sie unter der Müslischale einen weißen Umschlag.
Der war ihr vorher gar nicht aufgefallen, weil auf dem Küchentisch eine weiße Tischdecke lag.
Sie vergaß das Müsli und zog den Umschlag vorsichtig unter
der Schale hervor. Darauf stand in der schön geschwungenen
Schrift ihrer Großmutter ihr Name – sonst nichts.
Lexa öffnete den Umschlag. Darin fand sie einen Brief und
einen sehr alten Bartschlüssel, der vom Alter ganz schwarz angelaufen war und feine Verzierungen hatte.
Lexa faltete den Brief auseinander und las:
Meine liebe Lexa,
seit heute bist Du zwölf Jahre alt. Alles Liebe zum
Geburtstag! Es ist nun an der Zeit, dass Du Deinen
eigenen Weg findest. Dabei darf ich Dir leider nicht helfen.
Das Schloss zu dem Schlüssel wirst Du finden, wenn
Du genau hinsiehst. Hinter dem Schloss befindet sich alles,
was Du für die nächste Zeit brauchst.
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Denke auch immer daran, dass Deine Träume Dir
weiterhelfen. Außerdem habe ich dafür gesorgt, dass Du
Deinen Weg nicht ganz alleine gehen musst.
Wir sehen uns wieder.
Tausend Küsse
Deine Großmutter
Trotz der Wärme in der Küche wurde es Lexa auf einmal eiskalt.
So kalt wie in ihrem schrecklichen T raum. Sie ließ den Brief
sinken. Träumte sie etwa noch? Lexa hatte schon als kleines
Kind eine todsichere Methode entwickelt, um zu testen, ob
sie träumte oder wach war. Sie kniff sich einfach selbst in den
Arm. Wenn es nicht wehtat, träumte sie, und wenn es wehtat,
war sie wach.
Sie kniff fest zu. »Au!«
Lexa starrte auf die Müslischale mit dem bunten Muster.
Sie konnte es einfach nicht glauben.
Sie war wirklich verlassen worden. Tränen liefen ihr übers
Gesicht.
Sie war nun alleine auf der Welt. Ganz alleine.
Lexa schob die Schüssel zur Seite, legte den Kopf auf ihre
Arme und begann verzweifelt zu schluchzen. Sie wusste nicht
mehr weiter. Ihre Großmutter hatte zwar geschrieben, dass sie
sich wiedersehen würden, aber das hatte Lexa auch geglaubt,
als ihre Eltern sich damals von ihr verabschiedet hatten. Sie
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sah die Szene plötzlich ganz klar vor sich. Sie stand in der Tür
des Hauses ihrer Großmutter und ihre Eltern umarmten sie
abwechselnd. Dann flüsterte ihre Mutter ihr ins Ohr: »Montag
sind wir wieder da, kleine Lexa.« Aber sie waren nie wiedergekommen. Und ihre Großmutter? Sie hatte sie zum ersten Mal
verlassen. Würde sie jemals zurückkehren? Lexa glaubte nicht
daran. Niemand kam zu ihr zurück – das wusste sie ja aus Erfahrung. Was sollte sie nur tun? Lexa schluchzte immer heftiger
.
Da hörte sie ein Scharren. Es kam aus dem Flur . Lexa hob
den Kopf und starrte auf die offene Küchentür. Das Herz schlug
ihr bis zum Hals. Wer oder was scharrte da an der Toilettentür?
War es am Ende doch ihre Großmutter , die sie versehentlich
eingeschlossen hatte? So ein Blödsinn, schalt Lexa sich selbst.
Ihre Großmutter war nicht da. Sie hatte es doch schwarz auf
weiß.
»Kapier es endlich, Lexa«, sagte sie laut. »Oma hat dich im
Stich gelassen.«
Was sollte nun werden? Dicke Tränen liefen über Lexas Gesicht.
Da war es wieder – dieses Scharren aus dem Flur . Sie umklammerte ängstlich ihre Teetasse. Sollte sie nachsehen? Normalerweise war Lexa nicht feige, aber im Moment war ihr nicht
nach Abenteuern zumute. Sie wollte nur, dass ihre Großmutter
wieder hereinkam, mit ihr einen Kräutertee trank, ihr zum
Geburtstag gratulierte, sie dann wie jeden Morgen zum Schulbus brachte und sich dort von ihr mit einem Kuss auf die Stirn
verabschiedete.
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Das konnte sie tun, weil sie ihre große Enkelin noch um
Haupteslänge überragte. Magda Kuhlmann war die größte Frau
in Finkenwerder.
Der Schulbus, schoss es Lexa durch den Kopf. Sie musste ja
den Schulbus kriegen!
Da hörte sie ihn schon auf der Straße. Lexa sah an sich herab.
Sie war noch in Schlafanzug und Morgenmantel. Das schaffte
sie nie.
Der Bus bremste seufzend an der nächsten Hauptstraße. Nur
wenige Meter vor Lexas Tür. Deutlich konnte sie das Lachen der
Kinder hören, die in den Bus stiegen. Dann schlossen sich die
Türen mit einem lauten Quietschen und der Bus fuhr davon.
Sie würde zu spät zur Schule kommen.
Egal.
Heute war alles anders.
Das Kratzen aus dem Flur wurde immer heftiger.
Lexa stand wie in Trance auf und ging durch die Küche in
den Flur. Das Scharren kam wirklich aus der Gästetoilette. Lexa
schluckte. Dann fasste sie sich ein Herz und öffnete die Tür.
»Arriba! Na endlich!«, rief ein braunes Etwas, schoss an ihr
vorbei in die Küche, sprang mit einem Satz auf ihren Stuhl,
versenkte seine braune Schnauze in der Müslischale und begann gierig und sehr geräuschvoll zu fressen. Dann verzog es
seine Schnauze. »Milch ist gut, aber warum bekomme ich kein
Fleisch?«
Vor Überraschung stand Lexa wie angewurzelt da. Das braune Ding, das sie für einen Ball gehalten hatte, war ein Gürtel18
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tier. Lexa war sich sicher, weil sie im Biologieunterricht gerade
exotische Tiere durchnahmen. Da kamen Gürteltiere auch vor.
Allerdings keine, die sprechen konnten.
Lexa zweifelte an ihrem V erstand. Zuerst der schlimme
Traum, dann die verschwundene Großmutter und jetzt auch
noch ein sprechendes Gürteltier, das ihr Müsli fraß und Fleisch
verlangte. Nun musste sie sich erst einmal wieder an den Küchentisch setzen. »Wer bist du denn?«
»Floyd«, kam die kurze Antwort, dann versenkte das Gür teltier seine Schnauze wieder in ihrer Schale und schmatzte
zufrieden. Müsliflocken flogen auf die weiße Tischdecke, den
Stuhl und den sauberen Küchenboden. Milch spritzte quer
über den Tisch.
»Floyd? Was ist das denn für ein Name? Wo kommst du überhaupt her?«
Das Gürteltier kaute heftig und schluckte geräuschvoll, bevor es sprach. »Deine Großmutter hat mich auf einem Markt
in Mexiko gekauft und hergebracht.«
Lexa strahlte. »Du hast meine Großmutter gesehen? Wo ist
sie?«
Floyd sah sie erstaunt an. »Woher soll ich das wissen? Sie ist
doch deine Großmutter, nicht meine! Aber sag mal, ist es bei
euch immer so dunkel und kalt? Dann möchte ich morgen
zurück. Arriba! Meine Familie wartet auf mich.«
Lexa wurde schwer ums Herz. Auf sie wartete niemand. »Hast
du Eltern?«
»Natürlich, wer hat die nicht?«
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»Ich«, sagte Lexa leise.
Floyd hörte auf zu fressen und sah sie neugierig an. »Oh,
das tut mir leid – vielleicht können dich ja meine Eltern adoptieren.«
Bei dem Gedanken, von Gürteltieren adoptiert zu werden,
musste Lexa dann doch lächeln.
Es half ja alles nichts. Sie holte eine weitere Schale aus dem
Schrank, füllte sie mit Müsli und Milch und setzte sich neben
Floyd.
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