Odysseus in der deutschen Literatur vor und nach 1945 - S

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Odysseus in der deutschen Literatur vor und nach 1945 - S
Odysseus in der deutschen Literatur
vor und nach 1945
Günter Häntzschel (München)
Bei der Frage, ob das Jahr 1945 in der deutschen Literatur eine
Veränderung darstellt und wenn ja, wie, könnte eine Analyse der überaus
vielschichtigen Gestalt des Odysseus ergiebig sein. Tatsächlich hat es viele
Autoren in den turbulenten Phasen vor, während und nach dem Zweiten
Weltkrieg gereizt, Odysseus zu adaptieren und ihn in literarischen Texten,
kulturwissenschaftlichen Abhandlungen, Nacherzählungen und Übersetzungen
zu figurieren oder auf ihn anzuspielen. Seine Abenteuer und Irrfahrten, seine
List und Klugheit bei seiner Heimkehr, sein diplomatisches Verhalten,
Verführungs- und Überlebenskünste, die er unter Beweis stellt, kommen den
unruhigen Zeiten entgegen und lassen ihn geradezu zu einer Symbolfigur
werden. Ich möchte an exemplarischen Beispielen diesen heterogenen
Aneignungs- und Wandlungsprozeß in fünf Bereichen skizzieren: 1. in der
nationalsozialistischen Ära, 2. im Feld er sogenannten 'Inneren Emigration', 3.
in der Exilliteratur, 4. in der ostdeutschen Literatur und derjenigen der frühen
DDR und 5. in Westdeutschland und der Bundesrepublik.
1. Die nationalsozialistische Ära
Alfred Rosenbergs Abhandlung Der Mythus des 20. Jahrhunderts ist eines
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jener Konzepte, die sich darum bemühen, Hitlers wiederholt betonte arische
'Rassengemeinschaft' von Griechen und Germanen zu entwickeln und zu
begründen. Eine Probe zeigt, auf welche Weise und auf welchem Niveau die
Argumentation sich bewegt: "Nordisch bedingt wie die bildende Kunst
Griechenlands ist auch Homer und seine Schöpfung. Als Telernachos sich
von seiner Mutter reißt, da sandte 'des Zeus blauäugige Tochter' ihm
'günstigen Fahrwind'. Als dem Menelaos sein Schicksal geweissagt wird,
prophezeit man ihm ein göttliches Leben, das ilm an die 'Enden der Erde'
führen werde, 'zu der elysischen Flur, wo Held Rhadamanthys der Blonde'
wohnt. Nur mit 'goldgelockter Schläfe' konnte sich auch Hölderlin den
Genius
Griechenlands vorstellen.
Und Homer bekennt als
bewußter
Herrenmensch:
'Denn der entschlossene Mann führt stets am besten zu Ende
Jegliches Werk, auch wenn er von fernher nahet als Fremdling.'
In Thersites jedoch entsteht ein dem 'blonden Helden' feindlicher, dunkler,
mißgestalteter Verräter, offenbar die Verkörperung vorderasiatischer Spione
im griechischen Heer. Der Vorläufer unserer Berliner und Frankfurter
Pazifisten [... ]. So hat Horner seelisch-rassische Kunst geschaffen und jene
Bilder mitgeboren, die später zu Ehren der 'blauäugigen Tochter des Zeus'
errichtet wurden, den Malern den Pinsel geführt, aber auch dem fremden,
helden-feindlichen Prinzip seine rassische Form gegeben."I)
Rosenberg, der sich bekanntlich als Vollender der rassischen Theorien
Chamberlains und Lagardes versteht, benutzt die Odyssee zwar als Quelle,
kann aber mit der Figur des Odysseus wenig anfangen. Viel mehr reizt es
ihn, die vermeintliche Ebenbürtigkeit von Ilias und Nibelungenlied zu
beweisen und die beiden Epen "als völkische Kunstgleichnisse" "gleich groß"
1) Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen
Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München 5. Aufl. 1943, S. 283.
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einander gegenüber zu stellen: "Das eine wendet sich nach der inneren
Geburt mehr der klaren Form zu, das andere ringt aus seelischem Kampf
sich hindurch zum tragischen Epos. Homer meistert den Stoff, die Dichter
des Nibelungenliedes - und die Schöpfer aller germanischen Gesänge - den
Gehalt. "2) Wie vieles in Rosenbergs Pamphlet ist auch die behauptete
AffInität zwischen !lias und Nibelungenlied keineswegs originell. Sie hat ihre
Vorläufer im nationalen Klima des deutsch-französischen Kriegs und der
Reichsgrundung, wo man Homer als exemplarischen Nationaldichter feierte
und auch schon eine griechisch-deutsche Schicksalsgemeinschaft konstruierte.
Während bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschen Kultur die
Homerische Überlieferung als unangefochten galt, beginnt man um die
Jahrhundertwende die Gestalten der Ilias und Odyssee, vor allem aber die
Figur des Odysseus, aus ihren originalen Zusammenhängen zu lösen und für
gegenwärtige Belange zu instrumentalisieren. So hören wir zum Beispiel
1895: "Das furchtbare Kriegsleid des Jahres, in dem Troja fiel, kann unsere
Zeit erinnern an die Kriegszeit 1870/71."3) Folgerichtig werden die antiken
Epen in die alte deutsche Form umgeschrno1zen: Homers Odysseuslied. In
der Nibelungenstrophe 4), und Das Lied vom Zorn Achills. Aus unserer Ilias
hergestellt lind in deutsche Nibelungenzeilen übertragen 5). Ihren Lesern
begegnen die griechischen Helden als altdeutsche Recken. Anregung zu
derartigen Nachdichtungen bietet Julius Langbehns kulturkonservative und
zum Völkischen
tendierende
Schrift
Rembrandt
als
Erzieher6).
Die
2) Ebd. S. 315.
3) August Dühr: Homers Gesänge in niederdeutscher poetischer Uebertragung. Bd. 1: Ilias.
Kiel, Leipzig 1895. S. VIII.
4)
Ernst Johann Jakob Engel: Homers
nachgedichtet. Leipzig 1885.
5) Berlin 1901.
Odysseuslied. In der Nibelungenstrophe
6) Vgl. Giinter Häntzschel: Der deutsche Homer im 19. Jahrhundert. In: Antike du
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nationalsozialistische FortsetzlUlg ist eme 1936 erscheinende im Blut- lUld
Boden-Jargon mit altdeutschen Stabreimen durchtränkte, derb holzschnittartige
lUld mit tatsächlichen Holzschnitten illustrierte Odyssee Deutsch. Leopold
Weber rechtfertigt seine gewaltsam germanisierende Adaption in der
ÜberzeuglUlg
von
dem
"im
tiefsten
GflUlde
wesensverwandten
Schicksalsempfmden der altgriechischen Seele mit der deutschen", die er bei
aller
Verschiedenheit
der
geschichtlichen
EntwickllUlg
letztlich
als
"Geschwister des gleichen nordischen Geistes" begreift))
Die Odyssee Deutsch ist ein Symptom der Zeit, denn im sei ben Jahr 1936
berufen sich die Nationalsozialisten bei den Olympischen Spielen auf die
antike griechische Tradition, die sich auch an der Organisation der
Reichsparteitage zeigt. Als Festaufführung inszeniert man am von Gustav
Gründgens geleiteten Staatlichen Schauspielhaus Berlin die Orestie in
Wilamowitz' ÜbersetzlUlg. Der athletische Körperkult basiert auf griechischer
Vorlage. Hitler schätzte die griechische BauklUlst. In Architektur und Plastik
knüpfen die Nationalsozialisten an die griechische Formensprache an. Hitlers
BeWlUldeflUlg für Griechenland gilt allerdings in besonderer Weise Sparta,
ebenso wie sich das allgemeine Interesse zwischen 1933 lUld 1945 mehr auf
die KampfdichtlUlg der !lias als auf die private Welt des Odysseus
konzentriert.8) Seit Hitlers Bündnis mit Mussolini 1938 tritt auch die
römische Antike in den nationalsozialistischen Gesichtskreis lUld läßt eine
Fülle historischer Trivialromane lUld -dramen entstehen, die die Antike nicht
Abendland 29 (1983), S. 49-89.
7) Leopold Weber: Die Odyssee Deutsch. Mit 10 Abbildungen nach Holzschnitten von
Ludwig von Hofmann. München 1936, S. 367.
8) Vgl. Peter Habermehl, Bemd Seidensticker: Deutschland V. 20. Jahrhundert (ab 1918).
In: Hubert Cancik, Helmuth Schneider, Manfred Landfester (Hg.): Der Neue Pauly.
Enzyklopädie der Antike. Das klassische Altertum und seine Rezeptionsgeschichte. Bd.
13. Stuttgart, Weimar 1999, Sp. 817 f.
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nur aktualisiert, sondern geradezu usurpiert. 9) In solchem Kontext ist es
plausibel, daß die Gestalt des schlauen und listigen Odysseus, des
Umhergetriebenen
und
des
Heimkehrers,
insgesamt
wenig
Identifikationspotential für die nationalsozialistische Literatur bietet, so daß
Odysseus abgesehen von wenigen unterhaltenden Romanen lO ) und der
erwähnten Nachdichtung nur eine Nebenrolle spielt.
2. Innere Emigration
Wenn im bis heute schwer zu überblickenden Bereich der literarischen
Inneren Emigration das Schicksal des Odysseus in Romanform erscheint
so Die Heimkehr des Odysseus von Hermann StahllI)
~
~
oder Odyssee und
Ilias übersetzt, herausgegeben und kommentiert werden- so von Rudolf
9) Die Verschmelzung von NS-Ideologie, Altertumswissenschaften und literarischer
Instrumentalisierung der Antike zeigt sich zum Beispiel in Hans Friedrich Biuncks
Geiserich (1936), Hans Heycks Su/la (1931), in den Romanen Franz Spundas und
Günther Birkenfelds, in den Dramen Eberhard Wolfgang Möllers, Ernst Bacmeisters und
Curt Langenbecks. Thematisiert werden vor allem der Militarismus Spartas, die Kämpfe
zwischen den Griechen und den Persern, die Augusteische Restauration, die Spätantike
und die Völkerwanderung. Vgl. Volker Riedei: Antikerezeption in der deutschen Literatur
vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar
2000, S. 258 f., 302 f.; Reinhart Herzog: Antike-Usurpationen in der deutschen
Belletristik seit 1866 (mit Seitenblicken auf die Geschichte der Klassischen Philologie).
In: Antike und Abendland 23 (1977), S. 10-27; Horst Denkler: Hellas als Spiegel
deutscher Gegenwart in der Literatur des 'Dritten Reichs'. In: Walter Delabar, Horst
Denkler, Erhard Schütz (Hg.): Banalität mit Stil. Zu WiderspTÜchlichkeiten der
Literaturproduktion im Nationalsozialismus (Zeitschrift für Germanistik, N.F., Beiheft 1).
Bern u.a. 1999, S. 11-27.
10) Zum Beispiel Friedrich Lorenz: Odysseus und Penelope: Der Liebesroman des
homerischen Helden. Berlin, Wien, Leipzig 1936.
11) Hermann Stahl: Die Heimkehr des Odysseus. Jena: Diederichs 1940. 2. Auflage
Düsseldorf 1949.
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Alexander Schröder12 )
-
,ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob damit eher
Distanz zur offiziellen nationalsozialistischen Literatur oder Anpassung 13 ) an
sie praktiziert ist.
3. Exil
Die
andere
Seite
der
Odysseus-Rezeption,
die
intellektuelle
und
künstlerische Art, mit der antiken Figur umzugehen, bieten die Autoren des
Exils. Bei allen Unterschieden im einzelnen ist ihnen gemeinsam, nicht das
gesamte Schicksal des Odysseus zu thematisieren, sondern sich Einzelheiten
herauszugreifen, um diese in eigenen Konzepten um- oder neuzudeuten. Sie
arbeiten an ihnen, sie setzen sich kritisch mit ihnen auseinander, indem sie
die antike Überlieferung partiell in Frage stellen oder sie in eigenen
Entwürfen aktualisieren. Bertolt Brechts Aufsatz Berichtigungen alter Mythen
von 1933 erweist sich schon von seinem Titel her als Programm. In seinem
12) Rudolf Alexander Schröder: Homers Ilias übersetzt. Berlin 1943; neue Ausgabe in: ders.:
Gesammelte Werke. Bd. 4. Berlin, Frankfurt a. M. 1952; ders.: Einleitung zu Homers
Ilias und Odyssee in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß. Berlin 1940; ders.:
Homer. Ein Brief aus dem Frühjahr 1918. In: ders.: Die Aufsätze und Reden. Bd. 1.
Berlin 1939, S. 9-13, hier S. 11: "Was mich überhaupt bei gereifter Einsicht in die
Verworrenheit alles Gegenwärtigen bedenklich macht, ist einerseits das ständig
wachsende Gefühl der ungeheuren Verantwortung, die auf den Wenigen ruht, die sich
heute zu literarischer Prodnktion berufen fühlen und die in dieser Berufung etwas
anderes erblicken als den Freibrief zur Befolgung irgend welcher phantastischer
Tageslaune. Auf der andern Seite ist es die - vielleicht nur vermeintliche - Erkenntnis,
daß in dem fürchterlichen Zerfall des Gedankens und der Kunst, den wir um uns her
erleben, der jämmerlich erkrankten Zeit mit einem genügsam auf sich selber ruhenden
Schafen eigentlich wenig gedient ist, weil ihr vor allem die Organe abhanden gekommen
sind, mit denen sie solches an sich Heilsame aufnehmen könnte."
13) Vgl. Michael Philipp: Distanz und Anpassung. Sozialgeschichtliche Aspekte der Inneren
Emigration. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 12 (1994), S. 11-30.
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ersten Teil, Odysseus und die Sirenen, knüpft er an Franz Kafkas 1917
entstandene Umdeutung des Mythos von Odysseus und den Sirenen, an, die
1931 unter dem Titel Das Schweigen der Sirenen im Nachlaßband Kafkas
erschienen war.
Kafkas Version geht auf die bekannte Sirenen-Episode im zwölften Gesang
der Odyssee zurück, in der Odysseus den verlockenden Gesang der Sirenen,
der jeden Vorbeifahrenden anlockt und in den Tod treibt, übersteht, indem er
auf Rat der Zauberin Kirke seine rudernden GeHihrten sich Wachs in die
Ohren stopfen und sich selber am Mast des Schiffes festbinden läßt, so daß
er als der einzige Sterbliche gilt, der diesen Gesang je gehört und überlebt
hat. Abweichend von der Vorlage hat sich Kafkas Odysseus selber die Ohren
verstopft und fährt an den Schiffsmast gekettet "in unschuldiger Freude über
seine Mittelchen ... den Sirenen entgegen".l4) Diese jedoch haben "eine noch
schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen". Odysseus, im
Glauben, sie sängen, nimmt wohl ihre verlockenden Gebärden, ihre Mimik
und Gestik, wahr, da ihre Bewegungen aber seinem Gehör gelten, bleiben die
Erscheinungen für ihn wirkungslos. "Die Sirenen verschwanden fdrmlich vor
seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er
nichts mehr von ihnen." Es entsteht eine paradoxe Situation: Während
Odysseus, stolz über seine kalkulierende Vernunft und im
Gefühl "alles
fortreißender Überhebung" , meint, "aus eigener Kraft sie besiegt zu haben",
hat er sich tatsächlich mit seiner List um den Genuß des Gesangs gebracht
und eine "echte Begegnung mit all ihren Möglichkeiten von Verführung und
Widerstand, von Sieg und Niederlage von vornherein ausgeschlossen und
vereitelt." 15) Nicht Sieger ist der modeme Odysseus, sondern Verlierer. Er
14) Franz Kalb: Das Schweigen der Sirenen. In: F. K.: Sämtliche Erzählungen. Hg. von
Paul Raabe. Frankfurt a. M. 1990, S. 304 f. Daraus auch die folgenden Zitate.
15) Heinz Politzer: Das Schweigen der Sirenen. Stuttgart 1968, S. 14.
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selber hat sich mit seiner Erfmdung unempflinglich gemacht. Indem die
Sirenen schweigen und Odysseus, im Glauben, sie sängen, ihr Wesen
wahrzunehmen scheint, tatsächlich aber nichts hört, täuscht er sich über sich
selbst. Noch komplizierter wird die Lage, wenn KatKa seinen Erzähler in
einem "Anhang" berichten läßt, Odysseus habe "vielleicht" das Schweigen der
Sirenen bemerkt und "ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur
gewissermaßen als Schild entgegengehalten." Die Mehrdeutigkeit dieses
Textes wird nicht aufgelöst. Der Leser ist sich nicht im klaren, ob Odysseus
so naiv gewesen ist, auf seine "Mittelchen", die Undurchlässigkeit des
Wachses und die Festigkeit der Ketten am Mast, zu vertrauen, oder ob er
schlauer und listiger war, als bisher überliefert wurde, indem er das
Schweigen zwar bemerkte, aber seine Erkenntnis für sich behielt. In der
Forschung gilt die Sirenen- Episode als Schlüssel für KatKas Werk und
Beispiel der ihm eigenen Strategie der Verfremdung.1 6) Walter Benjamin
nennt KatKa "einen andern Odysseus".I 7) "Wie Odysseus der Verlockung
durch die Sirenen, der doch unbezwinglichen Gewalt des Mythos, kraft seiner
List standhält, so widersteht auch KatKa dem falschen Glücksversprechen
einer nach wie vor mythisch beherrschten Welt."18) KatKa entmythisiert die
Figur des Odysseus, beläßt aber die Sirenen in ihrer sich selber unbewußten
mythischen Aura.
16) Vgl. Uta Olivieri· Treder: Geziemendes über Brecht und Kafka. In: Brecht·Jahrbuch
1977, S. 100-110. Vgl. auch Frank Dietrich Wagner: Brechts antike Mythen. In:
Heinrich Mann-Jahrbuch 16 (1998), S. 89-114.
17) Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages. In: W. B.:
Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adomo und Gershorn
Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 2. Frankfurt a.
M. 1972, S. 415.
18) Rolf-Peter Janz: Mythos und Modeme bei Walter Benjamin: In: Kar! Heinz Bohrer
(Hg.): Mythos und Modeme. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a. M.
1983, S. 363-381, hier S. 365.
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Brecht dagegen rationalisiert im Rekurs auf Homer und Kafka die
Sirenen-Episode, bringt sie in einen konkreten geschichtlichen Kontext und
deutet den Gesang der Sirenen als "Kunst": "... aber den Ruderern verstopfte
er mit Wachs die Ohren, so daß sein Kunstgenuß durch ihr Wachs und seine
Stricke ohne schlimme Folgen bleiben konnte. In Hörweite an der Insel
vorbeirudemd, sahen die tauben Knechte, wie unser Held sich am Mastbaum
wand, als strebte er davon loszukommen, und wie die verführerischen Weiber
ihre Hälse blähten. Es verlief also scheinbar alles nach Verabredung und
Voraussage. Das ganze Altertum glaubte dem Schlauling das Gelingen seiner
List. Sollte ich der erste sein, dem Bedenken aufsteigen? Ich sage mir
nämlich so: alles gut, aber wer- außer Odysseus
sagt uns, daß die
Sirenen wirklich sangen, angesichts des angebundenen Mannes? Sollten diese
machtvollen und gewandten
Weiber ihre
Kunst wirklich
an Leute
verschwendet haben. die keine Bewegungsfreiheit besaßen? Ist das das Wesen
der Kunst? Da möchte ich doch eher annehmen, die von den Ruderern
wahrgenommenen geblähten Hälse schimpften aus voller Kraft auf den
verdammten vorsichtigen Provinzler und unser Held vollführte seine
(ebenfalls bezeugten) Windungen, weil er sich doch noch zu guter letzt
genierte."19)
In Brechts Version wendet Odysseus seine List an, um den Gesang ohne
die mit ihm verbundenen Gefahren beziehungsweise um Kunst ohne
Wirkungen aufzunehmen oder "die Kunst zum folgenlosen Erlebnis zu
verkürzen".20) Die Sirenen, denen Brecht Bewußtheit verleiht, durchschauen
seinen listigen Versuch und verhalten sich wie in ihrer Eitelkeit verletzte
19) Bertolt Brecht: Odysseus und die Sirenen. In: B.B.: Werke. Große kommentierte
Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. Von Wemer Hecht, Jan Knopf, Wemer
Mittenzwei, Klaus Detlef Müller. Bd. 19. Berlin, Weiruar, Frankfurt a. M. 1997, S. 340.
20) Klaus-Detlef Müller: Brecht-Kommentar zur erzählenden Prosa. München 1980, S. 92.
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Menschen.
Der vermeintliche
"Schlauling" elWeist
sich als
dummer
"Provinzler", auf den die Sirenen mit Beschimpfung reagieren und dem sie
ihren Gesang velWeigern. Odysseus wiederum traut sich nicht, seine
Demütigung zuzugeben, und erzählt die bekannte überlieferte Version, die mit
der erlebten Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Die mythische Größe des
Listenreichen wird somit als Fälschung und Täuschung entlarvt.
Auch in anderen Texten rekurriert Brecht auf Odysseus. Walter Benjamin
zufolge kehrt der Listenreiche in der Figur des
'Herrn Keuner' wieder.
Benjamin sieht in dieser Figur des 'Denkenden' "einen 'schwäbischen Utis',
ein Gegenstück zu dem griechischen 'Niemand' Odysseus, der den einäugigen
Polyphem in der Höhle aufsucht. So dringt Keuner ... in die Höhle des
einäugigen Ungetüms 'Klassenstaat'. Listenreich sind sie beide, ebenso
leidgewohnt, viel bewandert; beide sind weise." Dieser Deutung zufolge einer unter mehreren - birgt der Name Keuner List und Tarnung. Keuner
paßt sich scheinbar an, um tatsächlich den von den Nationalsozialisten
bedrohten und korrumpierten 'Klassenstaat' von innen auzuhöhlen und einen
subversiven Umsturz vorzubereiten.
Der Nüchternheit, mit der Brecht Odysseus in den Berichtigungen alter
Mythen darstellt, entspricht die Kargheit des 1936 im Exil entstandenen
Gedichts
Heimkehr des Odysseus:
Dies ist das Dach. Die erste Sorge weicht.
Denn aus dem Haus steigt Rauch, es ist bewohnt.
Sie dachten auf dem SchitTe schon: vielleicht
Ist unverändert hier nur mehr der Mond2l )
21) Brecht: Heimkehr des Odysseus. In. B.: Werke (Anm.l9). Bd. 14. 1993, S. 339.
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Brecht bezieht sich auf die bekannte Passage aus dem ersten Gesang der
Odyssee, in der die Göttin Athene von dem bei der Nymphe Kalypso im
Exil festgehaltenen Odysseus berichtet, der sich heimweh krank nach Hause
sehnt: "Aber Odysseus/ Sehnt sich, auch nur den Rauch von Ithakas
heimischen Hügeln! Steigen zu sehn und dann zu sterben!"22) Nicht mehr der
listige Odysseus, sondern der Heimkehrer oder der sich nach Heimkehr
Sehnende ist in der erzwungenen Heimatlosigkeit des Exilanten Brechts und
vieler anderer Autoren Leitbild, und Ithaka, das Brecht in seinem Text nicht
namentlich nennt, die Chiffre flir 'Heimat', in der die Schrecken und
Gefahren des Umherirrens ein Ende fmden. Das Bild des aufsteigenden
Rauchs, hier die bewohnte Heimat bezeichnend, wird nahezu zitatartig im
ersten Text der BuckolVer Elegien zum Symbol friedlichen Lebens stilisiert:
Der Rauch
Das kleine Haus unter Bäumen am See
Vom Dach steigt Rauch
Fehlte er
Wie trostlos dann wären
Haus, Bäume und See. 23 )
Dieses Gedicht, das die Vielfalt der Odysseus-Rezeption Brechts belegt,
stammt schon aus der Zeit nach 1945 in der DDR. Bevor die OdysseusRezeption in der DDR näher in den Blick gerät, zunächst noch einmal
zurück in die Exiljahre nach 1933.
Auch wenn der bekannte Exkurs Odysseus oder Mythos und Aufklärung in
22) Odyssee. In der Übersetzung von Johann Heinrich Voß. I, 57-59.
23) Brecht: Der Rauch. In: B.: Werke (Anm. 19), Bd. 12. 1988, S. 308. Vgl. Michael
Rohrwasser, Michael von Engelhardt: Mythos und DDR-Literatur. In: Michigan
Germanic Studies 8 (1982), S. 13-50, hier S. 27.
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Max Horkheimers und Theodor W. Adornos im amerikanischen Exil
zwischen 1939 und 1944 entstandenen Dialektik der Aufklärung sich nicht
direkt auf Brecht bezieht, wie man erwogen hat,24) zeigen Gemeinsamkeiten,
wie aktuell im Exil das Verfahren der kritischen Mytheninterpretation und
hier besonders die Figur des Odysseus gewesen ist. Schon im Eingangskapitel
über den Begriff der Aufklärung kommen Adorno und Horkheimer auf die
Sirenen-Episode der Odyssee zu sprechen: "In einer homerischen Erzählung
ist die Verschlingung von Mythos, Herrschaft Fund Arbeit aufbewahrt. Der
zwölfte Gesang der Odyssee berichtet von der Vorbeifahrt an den Sirenen.
Ihre Lockung ist die des sich Verlierens im Vergangenen. Der Held aber, an
den sie ergeht, ist im Leiden mündig geworden. In der Vielfalt der Todes
gefahren, in denen er sich durchhalten mußte, hat sich ihm die Einheit des
eigenen Lebens, die Identität der Person gehärtet. Wie Wasser, Erde und Luft
scheiden sich ihm die Bereiche der Zeit. Ihm ist die Flut dessen, was war,
vom Felsen der Gegenwart zurückgetreten, und die Zukunft lagert wolkig am
Horizont. Was Odysseus hinter sich ließ, tritt in die Schattenwelt: so nahe
noch ist das Selbst dem vorzeitlichen Mythos, dessen Schoß es sich entrang,
daß ihm die eigene erlebte Vergangenheit zur mythischen Vorzeit wird.
Durch feste Ordnung der Zeit sucht es dem zu begegnen."25) Die Lockung
der Sirenen erscheint den Autoren das Symbol flir die Gefährdung, der das
Subjekt im Prozeß der Subjektwerdung und in dem der zivilisatorischen
Entwicklung ausgesetzt ist.
Odysseus aber zeigt in dieser Situation
"Möglichkeiten des Entrinnens". Im Odysseus-Exkurs werden die einleitenden
Gedanken wieder aufgenommen und mit anderen Motiven aus der Odyssee,
24) Franco Buono: Odysseus, Kandaules, Ödipus und Brecht. In: F. B.: Zur Prosa Brechts.
Aufsätze. Frankfurt a. M. 1973, S. 61-91, hier S. 72.
25) Max Horkheimer und Theodor W. Adomo: Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente. Frankfurt a. M. 1969, S, 38 f. Die folgenden Zitate ebd. S. 40, 52, 50, 57,
66, 64, 87.
Odysseus in der deutschen Literatur vor und nach 1945
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dem "Grundtext der europäischen Zivilisation", verbunden. "Wie die
Erzählung von den Sirenen die Verschränktheit von Mythos und rationaler
Arbeit in sich beschließt, so legt die Odyssee insgesamt Zeugnis ab von der
Dialektik der Aufklärung." Horkheimer und Adorno sehen in Odysseus das
"Urbild '" des bürgerlichen Individuums" und im "Moment der Lüge", im
"Moment des Betrugs" das "Urbild der odysseischen List". "List aber ist", so
die folgende Argumentation, "der rational gewordene Trotz. Odysseus
versucht nicht, einen andern Weg zu fahren als den an der Sireneninsel
vorbei. Er versucht auch nicht, etwa auf die Überlegenheit seines Wissens zu
pochen und frei den Versucherinnen zuzuhören, wähnend, seine Freiheit
genüge als Schutz. ... Er hält den Vertrag seiner Hörigkeit inne und zappelt
noch am Mastbaum, um in die Arme der Verderberinnen zu stürzen. Aber er
hat eine Lücke im Vertrag aufgespürt, durch die er bei der Erfüllung der
Satzung dieser entschlüpft." Weitere Beispiele aus Odysseus' Schicksal - das
Polyphem - Abenteuer, die Erzählung von den Lotophagen, die Begegnung
mit Kirke, die Hadesfahrt
~
demonstrieren erneut "das Schema der
odysseischen List", "Naturbeherrschung durch '" Angleichung", und führen
vor Augen, wie neben Odysseus, dem "Urbild des bürgerlichen Individuums"
Penelope, die entmachtete Ehefrau, Kirke die hetärische Verführerin und die
Sirenen als unterworfene Natur in unterschiedlicher Weise den Preis für den
Zivilisationsprozeß zahlen. 26 ) Indem Horkheimer und Adorno an einer Fülle
von Beispielen zu beweisen suchen, wie in der Odyssee Mythos und Magie
abgelöst werden durch List und Ratio, setzen sie ihre kritische und durch die
Exilsituation geschärfte Methode der Interpretation von jenen Schriften ab,
die
ihrer Ansicht nach
wie
diejenigen von
Wilamowitz
"zu den
26) Inge Stephan: Odysseus und die Sirenen. Zur Dialektik der Aufklärung von Horkheirner
und Adomo. In: I.S.: Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des
20. Jahrhunderts. Köln, Weimar. Wien 1997, S. 106-132, hier S. 130.
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eindringlichsten Dokumenten der deutschen Verschränkung von Barbarei und
Kultur" gehören und die "auf dem Grunde des neueren Philhellenismus"
liegen, womit sie auf die aktuelle Begeisterung der Nationalsozialisten für
Griechenland
im
Sinne
jener
suggerierten
griechisch-deutschen
Schicksalsgemeinschaft zielen.
In seinem ebenfalls im amerikanischen Exil 1938 bis 1947 entstandenen
Werk Das Prinzip Hoffnung bezweifelt Ernst Bloch, daß Odysseus in Ithaka
gestorben sei und wendet sich gegen die seiner Ansicht nach "läppischen
Auslegungen", "daß ein redlicher Hausvater durch alle Gefahren hindurch
immer wieder danach strebe, zu den Seinen zurückzukehren". Indem er
spätere Versionen der Odysseussage
heranzieht, die "in einer Art von
Fliegendem- Holländer-Motiv über Odysseus weiterarbeiteten", und dem
Fahrenden nicht nur "die Ungeduld, die Welt zu sehen", zuschreibt, sondern
ihn als "diese Ungeduld" selbst bezeichnet, hält er nur "die Ferne" als "der
Kühnheit lUld GrenzüberschreitlUlg angemessen" lUld betont die "Gefahren
und Verderbungen" der Heimkehr "gleich denen der Ruhe", denen Odysseus
auch ausgesetzt war,27) obwohl diese Seite bisher nicht beachtet wurde. Jetzt
aber gerät sie in den Blick.
Die
Situation des heimgekehrten Odysseus ist Gegenstand zweier
Erzählungen von Exil-Autoren. Während Anna Seghers in ihrem 1940
entstandenen kurzem Text Der Baum des Odysseus zeigt, wie List der Frau
lUld List des Mannes sich beim Wiedererkennen nach der langen
Abwesenheit ergänzen28 ) und zu einem glücklichen Ausgang fUhren - der
27) Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffuung. In. E. B.: Gesamtausgabe. Bd. 5.. Frankfurt a.M.
1959, S. 1201-1206: Odysseus starb nicht in Ithaka, er fuhr zur unbewohnten Welt, hier
S.1202, 1206, 1205.
28) Vgl. Wolfgang Frühwald: Odysseus wird leben. Zu einem leitenden Thema in der
deutschen Literatur des Exils 1933-1945. In: Werner Link (Hg.): Schriftsteller und
Politik in Deutschland. Düsseldorf 1979, S. 100-1I3.
Odysseus in der deutschen Literatur vor und nach 1945
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Wunschtraum während des Krieges - , geht es Lion Feuchtwanger in seiner
nach dem Krieg, 1947, erschienenen Erzählung Odysseus und die Schweine
oder Das Unbehagen an der Kultur im Sinne Blochs um die Problematik des
Heimgekehrten. Schon bald wird ihm der Genuß der Heimat schal, er sehnt
sich wieder zurück "in den tückischen Wirbel"29), auch nach Nausikaa; er
fahrt ein zweites Mal nach Scheria, wird dort von Alkinoos jedoch eher
zurückhaltend
empfangen,
weil
die
Phäaken
sich
aufgrund
von
Kriegserfahrungen künftig noch mehr vor Fremden hüten wollen. Zwar stellt
Alkinoos Odysseus frei, zu bleiben, als dieser jedoch erfahrt, daß die
Phäaken mittlerweile auf einer fortschrittlicheren Kulturstufe stehen- sie
stellen Waffen aus Eisen her und ftihren die Schrift ein - , wird ihm
unbehaglich, und er kehrt nach Hause zurück, wobei er erlebt, daß die von
seiner Irrfahrt berichteten Geschichten nicht immer mit der Wahrheit
übereinstimmen.
4. Ostdeutsch land und DDR
Feuchtwangers Werke wurden zunächst nicht in der Bundesrepublik,
sondern in der DDR veröffentlicht. Und das ist in unserem Zusammenhang
symptomatisch, denn viel intensiver als im Westen wenden sich die Autoren
im Osten der Antike und damit auch dem Odysseus-Thema zu.3 0) Neben
Bertolt Brecht, Anna Seghers und Johannes R. Becher, die schon im Exil
Odysseus-Texte geschrieben haben, treten jetzt Stephan Hermlin und Louis
29) Lion Feuchtwanger: Odysseus und die Schweine und zwölf andere Erzählungen. Berlin
1950, S. 7-32, hier S. 12.
30) Vgl. Riedei: Antikerezeption (Arun. 9), S. 318 ff.; Theodore Ziolkowski: The Odysseus
Thellle in Recent German Fiction. In: Comparative Literature 14 (1962), S. 225-241.
70
Günter Häntzschel
Ffunberg mit neuen Gedichten hervor, die nicht nur wie im Westen vage an
die Vorlage erinnern, sondern die ganz bewußt das Schicksal des Odysseus
mit der eigenen Situation in Verbindung bringen.3I) Hier entsteht eine feste
Tradition, die sich in der DDR-Literatur fortsetzt und ausweitet. Von diesem
Komplex, der bereits von der Forschung viel beachtet ist,32) kann ich hier
nur die wichtigsten Namen nennen: Erich Arendt, Georg Maurer, Peter
Huchel. Das Spektrum ist breit und reicht von der identifizierenden Haltung
dem antiken Erbe gegenüber in der Ideologie des Siegs über den Faschismus
und des neuen Aufbaus bis hin zu distanzierenden Reflexionen, die den
Heimkehrer Odysseus mit Zweifel, Irritation, Schmerz, Verrat und Scheitern
konnotieren und mit seiner Gestalt auf die neue Gegenwart der sich
etablierenden DDR skeptisch reagieren. Die literarische Mythentransformation
wurde im Zeichen der 'Erbepflege' von Anfang an kontinuierlich praktiziert,
und sie verlor trotz der Bemühungen, die Literatur auf die sozialistische
Gegenwart zu verpflichten, wie etwa im 'Bitterfelder Weg', nie an Prestige,
sondern intensivierte sich seit den sechziger Jahren noch erheblich.
5. Westdeutschland und Bundesrepublik
Im Westen entstehen nur wenige Texte, denen die Homerische Welt die
Folie liefert. Hans Erich Nossack hat in seinem 1943 geschriebenen und
1947 veröffentlichten Bericht von der Bombardierung Hamburgs, Der
Untergang, das konkret erlebte Unheil durch Zitate aus der Odyssee und
31) Vgl. Riedei: Antikerezeption (Anm.9), S. 332 ff.
32) Vgl. neben Riedel: Antikerezeption (Anm. 9) Rüdiger Bernhardt: Odysseus' Tod Prometheus' Leben. Antike Mythen in der Literatur der DDR. Halle, Leipzig 1983;
Engelhardt, Rohrwasser: Mythos und DDR-Literatur (Anm. 23).
Odysseus in der deutschen Literatur vor und nach 1945
71
Anspielungen auf die Hadesfahrt zu existentiellem Unheil transparent
gemacht; und sein Bericht eines Überlebenden, Nekyia, von 1947 erinnert
ebenfalls vage an die Unterweltsfahrt des Odysseus. In Hennann Kasacks
1947 erschienenem Roman Die Stadt hinter dem Strom bereist der
Protagonist als einziger noch Lebender die Schatten- und Unterwelt des
Dritten Reichs und seiner verheerenden Folgen im Stil des magischen
Realismus. Wolfgang Borchert spielt in seinem Heimkehrerdrama Draußen
vor der Tür 1947 auf die Heimkehr des Odysseus an)3) Doch bleiben solche
Beispiele vereinzelt.
Und
in
der
frühen
Bundesrepublik
bildet
trotz
Beachtung
der
Mythendramen des westlichen Auslands von Cocteau, Giraudoux, Anouilh,
Sartre, O'Neill und Wilder die Antike und mit ihr die Figur des Odysseus
nur eine Spielart unter vielen anderen. In Wolfgang Koeppens Roman
Tauben im Gras von 1951 erscheint eine der Hauptfiguren, ein farbiger
amerikanischer Besatzungssoldat, als "Odysseus Cotton" und seine Freundin
Susanne verkörpert "Kirke die Sirenen und vielleicht Nausikaa" zugleich) 4)
Ernst Schnabels Roman Der sechste Gesang von 1956 basiert auf den
Erlebnissen des Odysseus bei den Phäaken und der Begegnung mit Nausikaa,
wo Schnabel Homer selber auftreten und Odysseus mit seinem eigenen
Mythos begegnen läßt. Walter Jens Roman Das Testament des Odysseus
(1957) gibt dem Helden Gelegenheit, seinem Enkel Prasidas gegenüber Bilanz
seines Lebens zu ziehen und ein pazifistisches Vennächtnis abzugeben. Emil
33) Vgl. Manfred Karnick, Fonnen der Fremdheit und Wandlungen der Odysseus-Rezeption
in der frühen deutschen Nachkriegsliteratur. In: Eijiro Iwasaki (Hg.): Begegnung mit dem
Fremden. Achter Internationaler Gennanisten-Kongreß. Bd. 9. München 1991, S.
422-432.
34) Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. In: W. K.: Gesammelte Werke in sechs Bänden.
Hg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und
Hans-Ulrich Treichel. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1990, S. 152, 215.
Günter Häntzschel
72
Barth verarbeitet in seiner Prosa Enkel des Odysseus (1951) Erinnerungen an
Kriegserlebnisse. Mehr als in der fiktionalen Prosa wurde die Odyssee in der
Prosaübersetzung von Wolfgang Schadewaldt von 1958 rezipiert.
6. Resümee
Um
die
Eingangsfrage
aufzugreifen:
Konfrontiert
man
die
nationalsozialistische mit der westdeutschen Nachkriegs-Literatur, so bildet
1945 einen Einschnitt; im Verhältnis von Exil- und DDR-Literatur zeigt sich
dagegen
Kohärenz.
Abschließend
bleibt
zu
fragen,
wie
sich
die
unterschiedliche Gewichtung der Antike und damit auch der Odysseus-Figur
in der DDR und der Bundesrepublik erklärt. Für die DDR sind mehrere
Grüne zu nennen. Einmal die Tatsache, daß die Klassiker des Sozialismus,
Marx und Engels, aber auch Lenin, sich intensiv mit Geschichte, Mythos und
Literatur der Antike beschäftigten und vor allem die Bedeutung der Griechen
für die Entwicklung des sozialistischen Humanismus betont haben, so daß die
Gründer der DDR ihr Programm des 'Kulturellen Erbes' hier anschließen
konnten. Zweitens kommt dem entgegen, daß die führenden Autoren wie
Brecht, Johannes R. Becher, Georg Maurer, Anna Seghers und Erich Arendt
sich der Antike zugewandt haben. Drittens war die antike Tradition beliebt,
weil die kreative Arbeit an ihr es ermöglichte, die thematischen und
stilistischen Verengungen des sozialistischen Realismus zu vermeiden. Hinzu
kommt, daß über den Mythos
kritische Analysen von Vergangenheit und
Gegenwart und gesellschaftskritische Utopien gestaltet und mit ihnen die
Zensurmaßnahmen umgangen werden konnten,35) Sicherlich bildeten auch die
35) Vgl. Bemd Seidensticker: DDR. In: Der Neue Pauly (Anm. 8), Sp. 681-699, hier Sp.
689 f.
Odysseus in der deutschen Literatur vor und nach 1945
weitgehende
Abschaffung
des
Humanistischen
Gynmasiums
und
73
die
Reduktion der Klassischen Philologie Anreize, die Antike in der Literatur
weiter zu kultivieren. Und schließlich steht zu vermuten, daß die
Abschirmung von der Kultur der westlichen Welt in den Anfängen der DDR
dazu beigetragen hat, sich auf die gerade noch bekannte Antike zu
konzentrieren.
In der Bundesrepublik könnte dagegen gerade die offene und intensive
Rezeption der Klassischen Modeme sowie der gegenwärtigen europäischen
und amerikanischen Kultur - "Odysseus Cotton" - der Grund gewesen
sein, die Antike angesichts der vielen anderen Möglichkeiten literarischen
Gestaltens als weniger attraktiv in den Hintergrund treten zu lassen.
Außerdem bot die im Vergleich zur DDR gemäßigte Zensurpraxis weniger
Anreize, Kritik in antikes Gewand zu kleiden, weil vieles auch direkt oder in
anderen Bezügen ausgesprochen werden konnte. Schließlich steht zu
vermuten, daß die starke Dominanz des Humanistischen Gymnasiums in den
fünfziger Jahren in der Bundesrepublik den Bedarf an Antike schon gesättigt
hat, so daß der Drang, sie auch in der Literatur zu entwerfen, geringer war.
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Schlüsselbegriffe: Odysseus, das Jahr 1945 in der deutschen
Literatur, Odysseus-Rezeption
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2005. 1l. 25, {JAt'?-l: 2005. 1l. 30, ~JAl~.B..~: 2005. 11. 30.