Dicke Luft - Theater für alle Fälle

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Dicke Luft - Theater für alle Fälle
Speyerer Rundschau
Die Rheinpfalz – Nr. 42
Samstag, 19. Februar 2005
07_LSPE
Thema am Samstag: Seit 20 Jahren
auf der Bühne – Theater „Dicke Luft“
Viele skurrile Charaktere zum Leben erweckt
Vor und Hinter
den Kulissen
Laienschauspieler mit Hang zu humorvoll-hintergründigen Stücken – Anfangs Veranstalter von Kleinkunst-Festivals
þ Wenn Siegfried in der Badewanne
ein „Blutbad“ nimmt, wenn Currywurst und Brötchen ein Fachgespräch
führen oder wenn der Staatspräsident
von Ugalumpa in der Krypta des Domes ermordet wird – dann ist die
Speyerer Theatergruppe „Dicke Luft“
nicht weit. Seit 20 Jahren erwecken
die Laienschauspieler im Alten Stadtsaal skurrile Charaktere zum Leben
und unterhalten ihr Publikum mit humorvoll-hintergründigen Inszenierungen. Schon seit geraumer Zeit ist der
Verein mit seinen Produktionen eine
feste Größe im kulturellen Leben der
Stadt, und das will er auch bleiben.
So ganz frisch sind die Erinnerungen
nicht mehr, wenn Gründungsmitglieder vom Debüt der Gruppe berichten.
Beim Speyerer Kulturspektakel im
Hof des Rathauses stellte sich „Dicke
Luft“ im Juni 1985 erstmals der Öffentlichkeit vor – mit einem ungewöhnlichen Programm, nimmt man heutige
Aufführungen zum Vergleich. Auf einer Art Jahrmarktbühne präsentierten
Gaukler und Artisten allerlei Attraktionen, vom Seiltanz des Ludovico bis
hin zu „Erwins argentinischer StuhlNummer“. Das damalige Konzept entsprach dem Grundgedanken, den Vereinsgründer Matthias Folz verfolgte:
„Dicke Luft“ sollte ein „Theater für
alle Fälle“ sein, wie der offizielle Vereinsname noch heute lautet. Dahinter
verbarg sich die Absicht, überall einsatzbereit zu sein: mit Theater auf der
Straße, mit Pantomime, Improvisation
oder Kabarett – das alles traute sich
die muntere Schar der jungen HobbySchauspieler zu. Und wie kam es zum
Namen „Dicke Luft“? Folz: „Wenn
man das noch wüsste...“
Erfahrung auf der Bühne brachten
sie alle mit, die sich am 17. Februar
Wo die Pommes tanzen: In der Imbissbuden-Komödie „Cörry-Schwein, wir kriegen dich!“ präsentierte sich das „Dicke-Luft“-Ensemble 1998 auch als fröhliche Balletttruppe.
—FOTOS: PRIVAT
1985 im Alten Stadtsaal zur Vereinsgründung trafen. Die meisten waren
Schüler und Studenten, im Schnitt
etwa 25 Jahre alt. Viele hatten zuvor in
der einstigen Theatergruppe der Pfarrei St. Joseph agiert, die seit einer aufwändigen Inszenierung des MolièreKlassikers „Scapins Streiche“ oder
Mundartstücken wie „Bleiwe losse“ unter Speyerer Theaterfreunden ein Begriff war.
Matthias Folz, damals 26 Jahre alt
und gerade erst mit dem Abschluss als
Diplom-Pädagoge von der Uni Mainz
nach Speyer zurückgekehrt, erkannte
1985 die Möglichkeiten, die der vom
Künstlerbund zu neuem Leben erweckte Alte Stadtsaal für Theatermacher bot. Das Ende des 19. Jahrhun-
derts erbaute Ziegelstein-Gebäude im
Rathaushof sollte fortan das feste Domizil von „Dicke Luft“ werden. Der
Erdgeschoss-Saal, wo sich früher die
Garderobe befand, wurde mit seinen
markanten, gelegentlich störenden
gusseisernen Säulen der bevorzugte
Raum für Kleinkunst und Musik.
Schon im ersten Jahr seiner Gründung
zog der Verein alle Register und präsentierte im Winter ein umfangreiches Programm mit eigenen Darbietungen und Auftritten eingeladener
Gruppen. Zu den Gästen des Festivals
(Motto „Alles Theater!“) zählten das
Klapsmühl-Theater Mannheim, das
Mobile Einsatztheater Mainz oder die
Theaterbande der Anna Else H. aus
Bielefeld. Mit dem zehntägigen Spekta-
kel stellte sich „Dicke Luft“ nicht nur
als neue Theatergruppe, sondern auch
als Kulturveranstalter vor – eine Aufgabe, die der Verein wegen des großen
Organisationsaufwands heute nur
noch selten wahrnimmt.
Mit seinen Kontakten in die Kleinkunst-Szene gelang
es Matthias Folz zusammen mit den
Vereinsmitgliedern,
zahlreiche
Künstler nach Speyer zu holen, die damals noch Geheimtipps waren. Der
saarländische Kabarettist Gerd Dudenhöffer („Heinz Becker“), die Berliner
Haarige Probleme (v.l.): Andrea
Braun, Ilo Hoffmann, Annette Reis
in „Zwischen allen Stühlen“ (2003).
Stark, aber verwundbar: Bugs Steffen als Siegfried im gleichnamigen
Nibelungen-Stück (1997).
Musical-Truppe „College of Heart“,
der Travestiekünstler Georgette Dee
oder der mitterweile bekannten TV-Serienstar Axel Pape zählen dazu.
1986, ein Jahr nach der Gründung,
listet das Vereinsprotokoll 23 Gastspielveranstaltungen mit insgesamt 2620
Zuschauern auf, das Ensemble von
„Dicke Luft“ selbst spielte die Kinderstücke „Pustekuchen“ und „Max“. Wieder ein Jahr später ging „Dicke Luft“
auf die Straße: Zwischen Dom und Altpörtel veranstaltete die Gruppe ein
Freiluft-Festival mit 15 Theatergruppen, Musikern und Artisten.
Eine Zäsur in der noch kurzen Geschichte von „Dicke Luft“ bildete das
Jahr 1990, in dem Matthias Folz den
Vorsitz des Vereins abgab und sein eigenes Theater – das „Kinder- und Jugendtheater Speyer“ – gründete. „Ich
wollte mein Hobby zum Beruf machen und mich auch auf die Zielgruppe Kinder und Jugendliche konzentrieren“, erinnert er sich an die damalige
Entscheidung. Für „Dicke Luft“ begann eine Phase der Neuorientierung.
Unter den Vorsitzenden Christel
Harsch, Carolin Löcher und Birgit
Hoffmann-Jaberg wandte sich der
Theaterverein in den folgenden Jahren vor
allem
abendfüllenden Eigenproduktionen
zu. Es entstanden
unter anderem die
„Dicke-Luft“-Klassiker „RotkäppchenReport“ und „Kein
Pardon für Siegfried“. Seit fünf Jahren steht der gebürtige Aachener Norbert Franck an der
Spitze der Schauspiel-Truppe. Dem gelernten Grafik-Designer, der beruflich
Veranstaltungen für Unternehmen organisiert, gelang es, das Bühnenspiel
mit moderner Technik zu verbinden.
Video-Sequenzen wie bei „Detlev Detzel“ oder ausgefeilte Lichtkompositionen wie bei „Harold und Maude“ gehen auf Francks langjährige Theaterund Berufserfahrungen zurück.
Als Schauspieler, Regisseur und Autor ist das Multitalent bei manchen
Produktionen in dreifacher Funktion
im Einsatz. Auf seine Initiative hin rief
„Dicke Luft“ die „Speyerer KrimiNächte“ ins Leben, die in diesem Jahr
zum dritten Mal veranstaltet werden,
diesmal mit Eifel-Autor Jacques Berndorf (26. und 27. November). Und
auch dazu fühlt sich „Dicke Luft“ als
Speyerer Verein verpflichtet: Mit einem eigenen Motivwagen ist die Truppe häufig beim Brezelfestumzug dabei. (wif)
theater Online
Geschichtslektion nach Art der „Dicken Luft“ (von links): Franz Geenen
und Stefan Schmitt als kaiserliche Hoheiten verkünden beim Straßenspektakel 1991 die „Wahrheit über die Salier“.
— Mehr über „Dicke Luft“ im Internet
unter www.dicke-luft.de
„Dicke-Luft“-Gründungsmitglieder
am 17. Februar 1985 (von oben
nach unten): Dieter Herrmann,
Stefan Schmitzer, Frank Sager,
Winfried Folz, Ralph Kocher, Caren Drees, Bernhard Kling, Matthias Folz, Susanne Freisberg, Marion Stegner, Susanne Köchling.
Umfangreiches Repertoire
in zwei Jahrzehnten
1985: „Kleines Hof-Theater“, VarieteProgramm im Hof des Rathauses.
1986/87: „Pustekuchen“, Kinderstück von F. K. Waechter.
1988/89: „König Kloss“, ein historisches Panoptikum.
1991: „Die Wahrheit über die Salier“,
Straßentheaterstück über die verschobene Salier-Ausstellung in Speyer.
1992: „Deadline“, kriminalistisches
Szenenprogramm, und „Poller 75
meldet sich nicht“, Kabarett über
Speyerer Verkehrsführung.
1993/94: „Der Rotkäppchen-Report“,
Revue von Angelika Bartram.
1995: „Arsen und Spitzenhäubchen“,
abgestaubte Krimi-Komödie.
1997: „Kein Pardon für Siegfried – Dicke Luft bei den Nibelungen“.
1998: „Cörry-Schwein, wir kriegen
dich!“, das Imbissbuden-Stück.
1999: „Polterabend“, Szenen von Gerhard Polt.
2000: „Ein ungleiches Paar“, Komödie von Neil Simon.
2001: „Detektiv Detlev Detzel und
der Würger vom Woogbach“, Kriminelle Heimat-Satire.
2002: „Kunst“, Komödie von Jasmin
Reza.
2003: „Zwischen allen Stühlen“, Revue mit neun Sitzgelegenheiten, und
„1. Speyerer Krimi-Nacht“.
2004: „Harold und Maude“, Schwarze Kult-Komödie von Colin Higgins,
und „2. Speyerer Krimi-Nacht“.
Vom Zauberwald über den Rhein nach Hollywood
Drei Beispiele aus dem Repertoire: Inszenierungen, die typisch für „Dicke Luft“ sind – Theaterchef Norbert Franck: Gegenpol zum klassischen Theater
þ Weder Shakespeare noch Schiller
sind für „Dicke Luft“ das Maß aller
Dinge. Die Gruppe versteht sich nach
den Worten von Vereinschef Norbert
Franck eher als Gegenpol zum klassischen Theater. Dabei gehen die Mitglieder manchmal auch einen mühsamen Weg, wenn etwa Texte selbst geschrieben oder einzelne Szenen zu einem Programm zusammengestellt
werden sollen. Das Motto „Hauptsache grotesk und humorvoll“ ist für die
Gruppe Ansporn und Anstrengung zugleich: In den Stücken sollen die individuellen Stärken jedes einzelnen der
Mitglieder ausgereizt werden. Als typisch für „Dicke Luft“ – obwohl doch
in ihrer Machart höchst unterschiedlich – sind die folgenden drei Produktionen zu sehen:
1993 knöpfte sich „Dicke Luft“ den
romantisch verbrämten Märchenstoff
der Gebrüder Grimm vor. In zeitgemäßem Gewand kam der „RotkäppchenReport“ daher (Regie: Carolin Löcher),
eine musikalische Revue von Angelika
Bartram. Die Autorin hatte die Geschichte der bekannten Figuren – neben Rotkäppchen natürlich auch Hänsel und Gretel oder Goldmarie – weitergestrickt und war zu teils ernüchternden Erkenntnissen gekommen:
Da wäre zum Beispiel Gretel, die den
drögen Jäger geheiratet hat und nicht
gerade ein Beispiel trauter Zweisamkeit vermittelt. Oder das tapfere
Schneiderlein, das sich nach seinem
legendären Sieg über die Fliegen gegenüber den Frauen als geradezu unwiderstehlich aufspielt. Die Schauspieler
wurden unterstützt von einer eigens
für das Stück zusammengestellten
Band, die sich – wie könnte es anders
sein – „Bremer Stadtmusikanten“
nannte. Bis heute haben die Zuschauer noch nie so viele „Dicke-Luft‘ler“
bei einer Produktion auf der Bühne gesehen. Bei Live-Musik übten sich die
Darsteller auch in gesanglichen Darbietungen. Vorsorglich war im Pro-
Rührten die Herzen der Zuschauer: Moritz Erbach und Ilo Hoffmann in der
Liebeskomödie „Harold und Maude“ (2004).
grammheft vermerkt worden: „Bitte
bleiben Sie auf Ihren Plätzen, auch
wenn gesungen wird!“
Vom Staub befreit wurde auch ein
anderer historischer Stoff: die Nibelungen-Sage. Dabei folgte „Dicke Luft“
streng dem überlieferten Handlungsstrang, setzte aber eigene, durchaus
skurrile Akzente. Während der Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Heldenepos der Burgunder wurde den Darstellern bald klar, dass unmittelbar neben tiefgreifender Tragik
auch Witz und Komik zu finden sind.
Auf der Grundlage von Improvisationen formte die Gruppe 20 Szenen, die
Wenn doch nur der Ring passen würde: Norbert Franck und Theodora Hauser im Märchen-Spekakel „Rotkäppchen-Report“ (1993).
unter der Leitung von Christel Harsch
und Thomas Kölsch („Chawwerusch“-Theater) inszeniert wurden.
„Kein Pardon für Siegfried – Dicke
Luft bei den Nibelungen“ wurde 1996
ein Spektakel über tollpatschige Helden und vermeintlich abgebrühte Recken.
Auch gegenüber Leinwand-Klassikern zeigte die Theatercrew keine Berührungsängste: Mit „Arsen und Spitzenhäubchen“ und „Ein ungleiches
Paar“ hatten die Darsteller bereits
zwei Glanzlichter des Hollywood-Kinos auf die Stadtsaal-Bühne gebracht,
bevor sie sich im vergangenen Jahr
dem Stück „Harold und Maude“ zuwandten. Als Film erlangte die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe
in den 70er Jahren Kult-Charakter.
Der junge Harold, von der Belagerung
seiner Mutter gänzlich genervt, verliebt sich in die 80-jährige Maude, beide entflammen in heftiger Leidenschaft zueinander. Für Regisseur Marco Heinen war die Inszenierung eine
Gratwanderung zwischen Komik und
Tragik. Es sei „ein Stück mit Tiefgang
und Humor, später auch mit wohldosierter Traurigkeit und grenzenloser
Liebe“, hieß es in einer Zeitungskritik.
Mit 16 Aufführungen ist „Harold und
Maude“ die bisher meistgespielte Produktion der Theatergruppe. (wif)