Lionel Baier: «In der Schweiz gibt es keine Filmindustrie»

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Lionel Baier: «In der Schweiz gibt es keine Filmindustrie»
KULTUR
Architekturmuseum
Basel neu geleitet
Basel. – Das SchweizerischeArchitekturmuseum in Basel erhält interimistisch einen neuen Co-Leiter.
Hubertus Adam übernimmt neben
Museumsdirektorin Sandra Luzia
Schafroth bis 2012 die künstlerische Leitung, wie das Museum gestern mitteilte. Adam, bisher Mitglied des künstlerischen Beirats,
tritt die neue Funktion per sofort
an. Es sei nötig, das Museum «in
programmplanerischer und konzeptioneller Hinsicht möglichst
schnell zu stärken», heisst es in der
Mitteilung. (sda)
Hindemith-Preis für
Sascha Lino Lemke
Reinbek. – Der 33 Jahre alte Hamburger Musiker Sascha Lino Lemke ist mit dem Paul-HindemithPreis geehrt worden. Der mit
20 000 Euro ausgestattete Preis ist
eine der höchstdotierten Auszeichnungen für junge Komponisten.
Lemke erhielt ihn am Montagabend am Schleswig-Holstein Musik Festival bei Hamburg. Zu den
bisherigen Preisträgern zählen Jan
Müller-Wieland, Thomas Adès und
Jörg Widmann. Vergeben wird der
Paul-Hindemith-Preis jährlich seit
1990. (sda)
Joachim Gauck ehrt
David Grossman
Frankfurt/Main. – Der deutsche
Ex-Chefverwalter des Stasi-Nachlasses Joachim Gauck wird bei der
Verleihung des Friedenspreises des
Deutschen Buchhandels die Laudatio auf den israelischen Schriftsteller David Grossman halten. Die mit
25 000 Euro dotierteAuszeichnung
wird Grossman zum Abschluss der
Frankfurter Buchmesse am 10. Oktober für seinen Einsatz zur Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern überreicht. (sda)
30 Nationen am
Concours Haefliger
80 Sänger und Sängerinnen
bestreiten die diesjährigeVorrunde zum Concours Ernst
Haefliger in Gstaad.
Zürich. – Zum dritten Mal geht vom
16. bis 22.August in Gstaad und Bern
der internationale Gesangswettbewerb Concours Ernst Haefliger über
die Bühne. Der Wettbewerb gilt als
wichtige Nachwuchsbörse für das
Opernfach.
Zum Concours zugelassen sind
Sängerinnen und Sänger bis zum Alter von 32 Jahren. Beworben haben
sich heuer 150 Personen. Für die Vorrunden in Gstaad, die vom 16. bis
20. August stattfinden, hat die Jury 80
Sängerinnen und Sänger aus 30 Nationen ausgewählt. Die besten zehn
werden am 22. August im Stadttheater Bern den Final bestreiten.
Es winken 10 000 Franken
Beurteilt werden ihre Beiträge von einer Jury unter dem Vorsitz von Edith
Mathis, Musikprofessorin in Wien,
und von Dominique Mentha, Direktor des LuzernerTheaters. Der 1. Preis
ist mit 10 000 Franken dotiert. Der
beste Schweizer Beitrag gewinnt ein
Stipendium in Höhe von 8000 Franken, wie der Concours in seiner Medienmitteilung schreibt.
Veranstaltet wird der Wettbewerb
vom Stadttheater Bern in Zusammenarbeit mit dem Menuhin-Festival in
Gstaad. Gewidmet ist er dem 2007
verstorbenen Schweizer Tenor Ernst
Haefliger. Die Vorrundenkonzerte in
Gstaad und das Finale in Bern sind öffentlich. (sda)
DIE SÜDOSTSCHWEIZ | MITTWOCH, 11. AUGUST 2010
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Lionel Baier: «In der Schweiz
gibt es keine Filmindustrie»
Er gehört zu jener Generation
junger Regisseure, auf die das
diesjährige Filmfestival Locarno
setzt. Der Lausanner Lionel
Baier tritt in diesen Tagen im
Tessin jedoch primär nicht
als Filmemacher, sondern als
Jury-Mitglied in Erscheinung.
gibt es keine Filmindustrie. Das Filmschaffen in der Schweiz geniesst einen
Künstlerstatus, für einen Industriestatus sind wir ganz einfach zu klein. Das
ist aber überhaupt kein Problem, und
wenn man sich das eingesteht, sieht
man, dass es um den Schweizer Film
gar nicht so schlecht steht. Es gibt viele junge Regisseure im Land, die
durchaus was können. Das bemerken
wir nicht zuletzt hier beim Filmfestival Locarno.
Mit Lionel Baier
sprach Franco Brunner
Herr Baier, sind Sie ein streitlustiger
Mensch?
«Es steht nicht
schlecht um den
Schweizer Film»
Lionel Baier: Ich streitlustig? Nicht
besonders, denke ich. Wieso fragen
Sie?
Nun, in einem Gremium wie einer Jury,
dessen Teil Sie am diesjährigen Filmfestival Locarno sind, gibt es doch vor
allem eines: Unstimmigkeiten.
Zum Schluss noch die Frage, die kommen musste: Wer gewinnt am Samstag
den Goldenen Leoparden?
Schon, aber deswegen wird – zumindest in dieser Jury hier in Locarno –
nicht gestritten. Es wird vielmehr
konstruktiv diskutiert.
Das kann ich wirklich noch nicht sagen. Wir haben noch nicht alle Wettbewerbsfilme gesehen. So steht uns
zum Beispiel noch dieVorführung des
knapp sechsstündigen chinesischen
Films «Karamay» bevor. Sie sehen, es
gibt noch jede Menge zu tun (lacht).
Ist es ein seltsames Gefühl, als Regisseur über die Arbeit von Ihren Berufskollegen richten zu müssen?
Nein, das ist nicht wirklich ein Problem für mich. Die Problematik als
Teil einer Filmjury besteht vielmehr
darin, die verschiedenen Arbeiten zu
vergleichen und sozusagen eine Rangliste zu erstellen. Schliesslich haben
wir alle in der Jury verschiedene Geschmäcker und verschiedene Ansichten zum Thema Film. Doch genau das
macht wohl auch den Reiz dieser Arbeit aus, einen Konsens aus den unterschiedlichen Meinungen zu finden.
«Die Filme
müssen mich
überraschen»
Wie finden Sie diesen Konsens denn
schlussendlich?
Mit sehr, sehr langen Diskussionen
(lacht). Das ist ja das Tolle daran. Wir
diskutieren hier stundenlang über
das, was wir lieben – Filme. Jeder
bringt dabei seine Ansichten mit ein,
und jeder kann vom anderen etwas
lernen, vielleicht sogar einen neuen
Zugang zu einem Werk erhalten.
Auf was achten Sie persönlich bei der
Beurteilung? Oder anders gefragt, was
macht einen guten Film aus?
Ich möchte einfach etwas sehen, was
Lionel Baier …
In doppelter Mission: Der Lausanner Regisseur Lionel Baier stellt am Filmfestival Locarno einen Film vor und sitzt auch in der Jury.
Bild Franco Brunner
ich noch niemals zuvor gesehen habe.
Die Filme müssen mich überraschen.
Das kann je nachdem nur eine einzelne Szene in einem Film sein, die alles
andere überstrahlt. Die Kategorie
«guter» oder «schlechter» Film mag
ich jedoch nicht. Es geht einfach darum, dieAbsicht des Regisseurs zu erkennen. Dafür genügt je nachdem
eine einzelne Kameraeinstellung oder
eben eine kurze Sequenz.
Mit anderen Worten wird die eigentliche
Handlung eines Films von uns Durchschnitts-Zuschauern schamlos überschätzt?
Nein, natürlich ist die Handlung auch
wichtig. Für mich jedoch nicht entscheidend. Denn es gibt tolle Filme,
die eigentlich nichts erzählen. Zum
Beispiel Federico Fellinis Klassiker
«La dolce vita». Ein fantastischer
Film, der aber rein gar nichts aussagt.
Was sagen Sie als Schweizer Filmema-
cher über die einheimische Filmszene
und die internen Querelen im vergangenen Jahr, mit denen sie in die Schlagzeilen geraten ist? Da waren zum Beispiel die Streitereien unter den Produzenten oder der eher unrühmliche Abgang von Nicolas Bideau als Chef der
Sektion Film im Bundesamt für Kultur.
Das ist eine traurige Geschichte. Ich
glaube, wir ziehen uns selber runter
mit solchenAktionen.Viele Schweizer
Filmemacher und Filmfachleute –
wie zum Beispiel Nicolas Bideau –
wollten und wollen sich immer mit
Deutschland oder Frankreich vergleichen. Das ist doch Blödsinn. Denn das
ist ein komplett anderer Markt und
somit eine komplett andere Filmwelt.
Wir sollten uns vielmehr mit kleineren Filmländern wie Irland, Ungarn
oder Portugal vergleichen.
Die einheimische Filmindustrie überschätzt sich also? Wie unschweizerisch.
Welche Filmindustrie? In der Schweiz
… ist am 13. Dezember 1975 in
Lausanne geboren. Zum Film kam
er 1992 als Verantwortlicher für
die Programmgestaltung und Verwaltung des Kino Rex in Aubonne
im Kanton Waadt. Von 1995 bis
1999 studierte er Geisteswissenschaften an der Universität Lausanne. Seit 2002 steht Baier der
Kinoabteilung der Kunstschule
Lausanne (Ecal) vor. Heute lebt
und arbeitet er in Frankreich. Baiers erste Spielfilme «Garçon stupide» (2004) und «Comme des
voleurs» (2006) wurden international verliehen und in Kinos zahlreicher europäischer Länder sowie
in den USA gezeigt. Eigens für das
Filmfestival von Locarno hat er mit
«Low Cost (Claude Jutra)» einen
neuen Film gedreht, der morgen im
Rahmen der Sektion Fuori concorsoWeltpremiere feiert.Als Mitglied
der fünfköpfigen Jury vom Filmfestival von Locarno entscheidet
Baier mit, welcher von den im
Wettbewerb angetretenen Filmen
am Samstag mit dem Goldenen
Leoparden und somit als bestes
Werk des Festivals ausgezeichnet
wird. (fbr)
Das Filmfestival Locarno wartet auch mit schwerer Kost auf
Am Filmfestival Locarno
herrschten gestern ernste Themen vor – die Tonlage wurde
zumindest auf der Piazza gegen Ende etwas versöhnlicher.
von Magali schon lange nicht mehr
geliebt, sondern von ihr und ihrer unterbelichteten Schwester nur noch
aufs Brutalste kaputtgemacht wird,
harrt aus, obwohl sie als Einzige Arbeit und eine Zukunft hätte. Ein aus
Locarno. – Mit Isild Le Bescos «BasFonds» hat gestern in Locarno ein
verstörender Wettbewerbsfilm Weltpremiere gehabt: Erzählt wird von einer von Gewalt, Demütigung und
schliesslich Verbrechen geprägten
weiblichen Ménage à trois.
Zwei Schwestern und die Geliebte
der Älteren vegetieren in einer heruntergekommenen Wohnung. Pornos, Büchsenravioli und der Kampf
um die tägliche Ration Alkohol prägen den Alltag, Geschrei und Geprügel die Kommunikation. In einer völlig überdrehten Überfallaktion erschiesst die Anführerin Magali versehentlich einen Bäcker. Barbara, die
Verstörende Geschichte: «Bas-Fonds» erzählt vom Alltag dreier junger Frauen,
die in einer von Gewalt und Misere gezeichneten Ménage à trois leben.
dem Off eingespieltes Gerichtsverfahren enthüllt schliesslich sparsam
die Familien- und Vorgeschichte der
drei Frauen. Gleichzeitig findet das
Monster Magali zu Gott – ein etwas
gewöhnungsbedürftiges Happy End.
Der abendliche Piazza-Film «The
Human Resources Manager» des Israelis Eran Rikli hat zwar ebenfalls
ein ernstesThema, weiss es aber zum
Schluss hin immer wieder aufzulockern. Der Titelheld, Personalchef einer israelischen Grossbäckerei, soll
die Leiche einer ehemaligen Angestellten in ihre osteuropäische Heimat überführen. Nachdem die Frau
ungerechtfertigt entlassen worden
war, riss sie bei einem Selbstmordattentat 16 Menschen mit in den Tod.
Der Manager soll nun den guten Ruf
seines Unternehmens wieder herstellen. Vom schrottreifen Konsulatsbus bis zu absurden Formalitäten –
auf demWeg in die postsozialistische
Provinz reissen die Probleme nicht
ab.Aber die Lösungen sind nicht minder bizarr als die Schwierigkeiten.
Das Ganze mündet in den Einzug des
auf ein gigantisches Militärfahrzeug
geschnallten Sargs ins Dorf. (sda)

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