Georg-Büchner-Schule: Vorsicht, Pausenlärm stört die Totenruhe!

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Georg-Büchner-Schule: Vorsicht, Pausenlärm stört die Totenruhe!
08. September 2010 | Von Klaus Honold
Georg-Büchner-Schule: Vorsicht, Pausenlärm stört die Totenruhe!
Der langwierige Weg zu einem Meisterbau: Vor fünfzig Jahren wurde die Georg-Büchner-Schule eingeweiht –
Neues Buch beschreibt die zehnjährige Bauzeit
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Landeplatz des Lernens: Die Georg-Büchner-Schule im Jahr der Einweihung, 1960. Am unteren Bildrand sind Nieder-Ramstädter Straße,
Roquetteweg und Erlenberg erkennbar, oberhalb der GBS das von Jan Hubert Pinand 1957 errichtete Studentendorf, das Hochschulstadion
und die ansonsten noch völlig unbebaute Lichtwiese. Foto: Walter Ludwig
Es war ein Tag, auf den Darmstadt lang gewartet hatte. Am 19. April 1960 begann der Umzug
der Schüler des Alten Realgymnasiums. Sie zogen von der Justus-Liebig-Schule, die fünfzehn
Jahre lang ihre provisorische Unterkunft gewesen war, in die neue Georg-Büchner-Schule.
Eine Woche später begann dort der Unterricht - damals währte das Schuljahr noch von Ostern
bis Ostern. Als alles saß, wo es sitzen sollte, wurde die feierliche Einweihung nachgeholt. Am
5. September 1960 gratulierten einander die Honoratioren, und das Schulorchester spielte,
unter Leitung des langjährigen Musiklehrers Günter Koschig.
Ein Schulorchester gibt es heute nicht mehr. Und nach Feiern steht der Schule ohnehin nicht
der Sinn. Was sind schon fünfzig Jahre? Einerseits zu viele, um noch frisch und
erinnerungsgetränkt auf den Anfang zurückzublicken. Andererseits zu wenige, um mit der
Würde gediegenen Alters Bilanz zu ziehen. Die Büchnerschule ist in der Schwebe - zwischen
gestern und morgen.
Und da befand sie sich seit je. Nicht jung, nicht alt, halb in der Stadt und halb schon vor ihren
Toren. Ja, viele Halbheiten - was ein wenig schon dem reichlich verstolperten Beginn
geschuldet sein mag, dessen Chronik sich jetzt trefflich in einer Broschüre des früheren GBSLehrers Dietrich Plehn nachlesen lässt; »fast ein Krimi«, wie er sagt.
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1959: Der Klassensaaltrakt der Büchnerschule mit den charakteristischen Gartenhöfen im Rohbau. Foto: Archiv
Viererlei kam da zusammen. Erstens die traditionsbewusste Schulgemeinde des Alten
Realgymnasiums, die ihr prächtiges Haus zwischen Kapellplatz und Kirchstraße in der
Bombennacht des 11. Septembers 1944 verloren hatte. Zweitens die Nachkriegsschüler-
Generation, die das Ausweichquartier im Schichtunterricht mit anderen Schulen teilen
mussten, und ihr unermüdlich nach einem Neubau rufender Direktor Wilhelm Liepelt.
Zum dritten die Bürokratie von Stadt und Land, die den Neubau mit Bedenken jeder Art
sowie immer neuen Etatkürzungen bekämpfte. Und viertens die wie stets hochfliegenden
Visionen Darmstadts, das sich im Zuge des Wiederaufbaus als Weihestätte neuer Architektur
inszenierte.
»Meisterbauten«, so hieß der werbeträchtige und dann in der Tat bundesweit Aufmerksamkeit
erregende Begriff: Orchideen blühen in einer Trümmerwüste. Namhafte Baumeister sollten
Darmstadts Mühe adeln, wieder Dächer über den Kopf zu kriegen. Wie man sich das so
dachte, geistig, moralisch, mythisch, zeigte Darmstadt 1951 in einer Ausstellung auf der
Mathildenhöhe.
Naturgemäß wurde dann alles anders. Als die Pläne aus der Höhe der Kultur hinabsanken in
die Tiefe der Darmstädter Bauverwaltung, ins Revier des zänkischen und herrischen
Baudirektors Peter Grund, begann das Säbeln und Häckseln. Von elf Meisterbauten wurden
schließlich nur fünf gebaut, und keiner so, wie ursprünglich entworfen. Als letztes, nach zehn
Jahren tristen Ringens, war die Georg-Büchner-Schule fertig.
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1927: Verkehrsflughafen Darmstadt, im Hintergrund der Alte Friedhof und das Paulusviertel. Foto: stadtarchiv darmstadt
Plehn hat in seiner Schrift die Protokolle der Magistratssitzungen ausgewertet, ebenso wie die
Zeitungen ECHO und »Tagblatt«. Eine Fleißarbeit, angesichts des Dauerthemas, das in immer
neuen Anläufen zur Verwirklichung drängte und doch immer wieder gestoppt wurde. Nur
eine Pointe: 1956 wurde der Grundstein gelegt, doch da die Stadt ernsthaft gar nicht ans
Bauen dachte, klauten ihn alsbald vorwitzige Schüler. 1958, als erneut »offizieller
Baubeginn« war, musste ein zweiter Grundstein her.
Studiert man die von Plehn ausgegrabenen Dokumente, so schälen sich zwei Gründe für die
Verzögerungen heraus. Da war einmal die Grundstücksfrage. Am alten Platz, das ging nicht
mehr, weil dort die Alice-Eleonoren-Schule errichtet wurde. Die Stadt schlug die
Mornewegstraße nahe dem Hauptbahnhof vor, doch das empfanden die Gymnasiasten als zu
abseitig.
Dann kam die Fläche vor dem damaligen Polizeipräsidium ins Spiel - heute
Studentenwohnheim -, doch das Gelände zu kaufen, wäre zu teuer geworden. Gegen den
heutigen Standort auf der Flugwiese gab es aber auch Einwände: Der Pausenlärm könnte die
Totenruhe auf dem Alten Friedhof stören.
Am schwersten freilich tat sich Darmstadt mit dem Architekten, Hans Schwippert. Er war
prominent, wie die Planer der anderen Meisterbauten auch; allein deren Arbeiten erschienen
deutlich retrospektiv, der nun nicht mehr als provokant empfundenen Moderne der zwanziger
Jahre verhaftet. Schwippert dagegen wirkte noch mitten in die Gegenwart hinein. Konflikte
waren geradezu programmiert - beim Lesen denkt man unwillkürlich: Darmstadt wollte den
Promi nicht.
Buch und Vortrag
Das Buch »Der letzte Meisterbau - Fünfzig Jahre Georg-Büchner-Schule« ist für 9 Euro in der Schule und der Buchhandlung HabelSchlapp erhältlich. Am Donnerstag (16.) hält Denkmalpfleger Nikolaus Heiss in der GBS-Turnhalle einen Vortrag »Meisterbau
Georg-Büchner-Schule«; Beginn: 19.30 Uhr.
Wechselweise warf der Magistrat Schwippert vor, er sei mit seinem Düsseldorfer Büro zu
weit ab vom Schuss, er werde als Professor der TH Aachen zu sehr vom Planen abgehalten,
seine Mitarbeit an der »Interbau«-Ausstellung in Berlin (1957) raube ihm jede Zeit für
Darmstadt, seine Entwürfe seien unschön, unpraktisch und unbezahlbar. Siebenmal musste
Schwippert eine nahezu komplett neue Planung vorlegen, bis die dann endlich vom Magistrat
beschlossen wurde; Baukosten: 3,7 Millionen Mark.
»Das Projekt hat sich vom Lachschlager zweier Karnevals-Kampagnen zu einer skandalösen
Nervensäge entwickelt«, schrieb Klaus Schmidt am 25. Februar 1958 im ECHO. Als der
Rohbau dann fast fertig war, mäkelte Schmidts Kollege Hans-Egon Kögler, die neue Schule
lasse eher »den Gedanken an einen Fabrikbau aufkommen«. Ihm gefielen die hohen und
vergleichsweise schmalen Fenster nicht, der Schule fehle das, was »sofort an Licht und Raum
für Schüler denken lässt, kurz an Großzügigkeit«.
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1944: Das ausgebrannte Alte Realgymnasium, Vorgänger der Georg-Büchner-Schule, am Kapellplatz. Foto: stadtarchiv
Dabei ist die Büchnerschule von ihrer Anlage her bis heute die großzügigste unter den
Darmstädter Lehranstalten: jedes Klassenzimmer ein eigener Pavillon, jeweils mit Gärtchen
davor! Allerdings bewahrheitete sich die Befürchtung von Direktor Liepelt nur zu schnell, die
zur Deckelung der Kosten ständig verkleinerte Planung werde die Büchnerschule bald aus
allen Nähten platzen lassen.
Nicht Schwipperts Bau, sondern all die vielen Verschlimmbesserungen, die später folgten, die
Klassencontainer im Schulhof, der respektlose Anbau eines Fachraumbunkers, die
Überdachung von Innenhöfen haben der Georg-Büchner-Schule soviel von ihrer Schönheit, ja
von ihrer Aura geraubt, dass es den heute dort Lehrenden und Lernenden schwerfällt, sich mit
dem Haus und seiner Geschichte zu identifizieren. Ein Grund vielleicht auch, weswegen in
Plehns Buch viel von Behörden und kaum von Lehrern und Schülern die Rede ist.
08. September 2010 | ono
Sexta, Tri-Top und Labelle: Der Schüleralltag in den siebziger Jahren
In den siebziger Jahren war die Georg-Büchner-Schule mit über zweitausend Zöglingen die größte
Schule Hessens. Nachfolgend ein paar Skizzen, wie es damals dort zuging:
Ich war erst wenige Tage in der Georg-Büchner-Schule, Sextaner, wie man damals sagte, da kam die
Polizei ins Haus. Parolen in roter Farbe bedeckten die Wände, Innenwände, um genau zu sein; so
etwas wie Fassaden-Graffiti hätte sich noch keiner vorstellen können. Zunächst fand die Revolution
im Saale statt, hier im Parterre und am Aufgang zum Musiksaal. Wenn ich mich recht erinnere,
enthielten die Parolen Schmähungen des Direktors, Born. Polizei in der Schule, das war jedenfalls
ungeheuerlich, eine Sensation. Mehr aber auch nicht. Die rote Farbe verschwand schnell, der schuldige
Schüler wurde ermittelt und relegiert. Ein Thema im Unterricht wurde der Vorfall nicht, schon gar
nicht seine Hintergründe. Wie auch? Es gab dafür gar kein Schulfach.
Dann begann der Alltag des Sextaners (niemand hätte damals Jahrgangsstufe gesagt; man war auf die
tradierten Klassenbezeichnungen durchaus stolz; stolz auch, von Obertertia nach Untersekunda
versetzt zu werden). Die Sexten hatten - die Epoche der sogenannten geburtenstarken Jahrgänge mindestens vierzig Schüler, die meisten noch reine Jungenklassen. Da ging es recht rau zu; unsere
Klasse wurde von einer regelrechten Gang älterer Sitzenbleiber beherrscht, Erpressungen und
Überfälle auf dem Heimweg waren an der Tagesordnung. Gleichwohl wäre jeder ausgelacht worden,
der einen Schulpsychologen oder Deeskalationsbeauftragten gefordert hätte.
Auch darin zeigten sich jahrzehntelang überlieferte Traditionen. Auf der einen Seite war das GBS um
1970 noch immer eine wilhelminische Lehranstalt, auf der anderen Seite ein sich langsam aus der
Starre befreiendes Gymnasium mit jungen Lehrern, die vorsichtig und neugierig herauszufinden
versuchten, ob sich die Grenzen des bisherigen Reglements dehnen ließen. Freilich - selbst diese
hatten noch die Universitäten der Adenauerära absolviert. Und die Älteren? Sie waren in der Mehrzahl
und hatten ihren Beruf unter Hitler begonnen.
Entsprechend war der Unterricht. In Latein, in Mathematik, in Physik lief er genauso ab wie in der
»Feuerzangenbowle«, nur ohne Heinz Rühmann. In Deutsch ackerte man Reclamheftchen durch wie
in Jahrzehnten zuvor. In Geschichte schritt man noch immer von Schlacht zu Schlacht, von Sieg zu
Sieg, als hätte es 1945 nie gegeben. Der Erdkundeatlas zeigte Deutschland in den Grenzen von 1937;
wir hatten zu lernen, dass der Krieg nicht beendet, sondern nur durch einen Waffenstillstand ersetzt
worden war. Von Auschwitz war selbstverständlich nicht die Rede.
Das Prinzip des Unterrichts war einfach: Wiederholung des Vorgetragenen. Es war die Zeit, als vor
Unterrichtsbeginn ein Schüler im Lehrerzimmer zu erscheinen und die Aktentasche des Lehrers
(Doktor Leyerzapf!) in Empfang zu nehmen hatte, um sie diesem ins Klassenzimmer voranzutragen.
Diese Manieren noch in einem Jahr, als zuhause Pril-Blumen an den Kühlschrank geklebt, Tri-TopSirup und Selters zu Limonade gemischt, im Fernsehen bei Vivi Bach und Dietmar Schönherr
durchsichtige Mädchenblusen bestaunt wurden - es war klar, dass diese Schule da nicht so bleiben
würde, bleiben konnte, wie sie war.
Die berüchtigten Schulreformen, über die in Hessen stets so sehr gestritten wurde, gingen an der
Schulwirklichkeit übrigens vorbei. Jedenfalls aus Sicht der Schüler. Die Schule änderte sich nicht,
weil die Regeln geändert wurden, sondern weil die alten Nazis allmählich pensioniert wurden. Sie
änderte sich aber auch, weil die Klassen immer voller wurden, weil den Massen mit den alten Regeln
nicht mehr beizukommen war.
Der Andrang erzwang sogar beim Sportunterricht Veränderungen, stets der konservativste Sektor der
Schule. Damals hieß das ja noch Leibeserziehung (so stand es im Zeugnis) und Körperertüchtigung.
Und nun führte ein Sportlehrer das Fach »Aktive Erholung« ein! Ein Wahlfach. Wer es wählte, hatte
Waldlauf zu betreiben (das Wort Jogging war noch unbekannte, Walking sowieso), ohne Schulklasse
und ohne Lehrer. Allerdings musste ein Berichtsheft geführt werden. Darin waren äußere und innere
Umstände einzutragen: Tag, Uhrzeit, Wetter sowie, ob man Labelle gehabt hatte oder nicht. Mit
Labelle, einer Worterfindung des Lehrers, war der Waldlauforgasmus gemeint, ein Moment des
Überwältigtseins, nach dem, so der Lehrer, man ohne Anstrengung weiterlaufe wie von selbst. Ich
hatte nie Labelle gehabt, gab aber einige Male an, dass ich Labelle gehabt hätte, und glänzte ansonsten
mit anmutigen Naturschilderungen, insbesondere des Herbstwalds.

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