Deutsch - Bildungsserver Sachsen

Transcrição

Deutsch - Bildungsserver Sachsen
SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004
DEUTSCH (LEISTUNGSKURS)
KULTUSMINISTERIUM DES LANDES SACHSEN-ANHALT
Abitur
Januar/Februar 2004
Deutsch
(Leistungskurs)
Einlesezeit:
Bearbeitungszeit:
30 Minuten
300 Minuten
Thema 1
Günter de Bruyn:
Unzeitgemäßes. Betrachtungen über
Vergangenheit und Gegenwart
Thema 2
Erwin Strittmatter:
Eifersucht
Thema 3
Friedrich Hebbel:
Maria Magdalena
Thema 4
Clemens Brentano:
Der Spinnerin Nachtlied
SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004
DEUTSCH (LEISTUNGSKURS)
Thema 1
Günter de Bruyn:
(geb. 1926)
Unzeitgemäßes.
Betrachtungen über Vergangenheit und Gegenwart (2001)
Aufgabenstellung
Erörtern Sie den Text.
Bearbeiten Sie dabei folgende Aufgaben:
−
−
Untersuchen Sie die Textgestaltung.
Setzen Sie sich mit der Meinung des Autors über „Unzeitgemäßes“ auseinander.
Günter de Bruyn:
5
10
15
20
25
30
35
Unzeitgemäßes.
Betrachtungen über Vergangenheit und Gegenwart (2001)
Unzeitgemäß ist es geworden, von Leben und Kunst Schönheit und Würde zu fordern
oder auch nur zuzugeben, daß man dergleichen vermißt. Der Schönheit hat sich, da die
Kunst mit ihr nichts mehr zu tun haben will, die Werbung bemächtigt, und für die
Anspruchslosen blüht als Schönheitsersatz der Kitsch. Zwar führt die höhere Politik in
Feiertagsreden häufig die Unverletzlichkeit der Würde des Menschen im Munde, aber zu
sehen ist davon nur wenig. Nicht nur im Rausch und beim Psychotherapeuten ist
Enthemmung gefragt, nicht Haltung. Von Fairneß ist selbst im Sport kaum noch die Rede,
Kriegsregeln sind mit der Ritterlichkeit außer Kraft gesetzt worden. Tradierte Rituale, die
gegenseitig Achtung oder Ehrfurcht ausdrücken, haben sich in abgeschlossene Bereiche wie
die Kirchen und das Militär zurückgezogen, die Zeiten, in denen man den Hut voreinander
zog und Alten und Gebrechlichen den Platz in der Bahn einräumte, sind nicht nur vergangen,
sondern fast schon vergessen. Die Achtung vor der Intimsphäre des anderen ist in rapidem
Verfall begriffen. Unsere Zivilisation, das heißt unsere durch Erziehung und Bildung geprägte
Lebensweise, deren formale Seiten die Zähmung der Triebe anzeigten, scheint sich so
radikal zu ändern, dass man von Rückläufigkeit sprechen könnte, von einer Verwilderung auf
hohem technischen Niveau.
Ablesen läßt sich diese Tendenz der Verwilderung auch an der Sprache, die nicht nur
unter den vielberedeten Anglizismen, sondern auch an einer Verschmutzung leidet, die sich
nach meiner Beobachtung als Kriegsfolge ausbreitete und heute durch die lebensecht sein
wollenden Dialoge der Fernsehfilme, die für jegliches Mißgeschick oder Unbehagen nur
Fäkalienworte zur Verfügung haben, salonfähig gemacht wird.
In den Diskussionen über die vielen englischen Ausdrücke, die das Gegenwartsdeutsch
bereichern oder verunzieren, wird von denen, die nicht genug davon kriegen und das
Sprachengemisch anscheinend als Beweis ihrer demokratischen Gesinnung betrachten,
gern die Frage gestellt, wem die Anglizismen denn schaden könnten, und sie würden es
sicher als unzeitgemäß empfinden, wenn einer, wie ich, sich als Geschädigter melden und
erklären würde: Da die Schönheit der Sprache darunter leide, würde auch ihm Schmerz
zugefügt.
Jede lebendige Sprache ist ständig in Veränderung begriffen, und die Aufnahme von
Wörtern aus anderen Sprachen spielt dabei eine bedeutende Rolle, besonders in solchen
Fällen, in denen die Völker, die sie sprechen, zivilisatorisch fortgeschrittener sind. Im frühen
Mittelalter bereicherte so das Latein nicht nur die deutsche Sprache, und als im Deutschland
des 18. Jahrhunderts an den Fürstenhöfen und in Adelskreisen vorwiegend Französisch
gesprochen wurde, drückte sich damit die kulturelle Überlegenheit Frankreichs aus. Als
diese schwand, verlor sich auch die Herrschaft der dazu gehörenden Sprache. Nach Lessing
und Lichtenberg, Schiller und Goethe brauchte man, um niveau- und geistvoll reden zu
können, das Französische nicht mehr. Friedrich der Große, der es zu brauchen meinte,
kannte nur das Deutsch der Kutscher und Korporäle, nicht aber das Klopstocks und Herders.
SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004
40
45
50
55
60
65
70
75
80
85
DEUTSCH (LEISTUNGSKURS)
Und auch das Bestreben, Hoch und Niedrig nicht nur durch Kleidung, sondern auch durch
Sprache zu markieren, fiel mit der allmählichen Angleichung der Stände weg. Mit dem
Durchsetzen des Deutschen von unten nach oben kündigten sich erste Anfänge von
Demokratisierung an. Es blieben aber viele französische Ausdrücke in der Umgangssprache
hängen, von denen einige eingedeutscht wurden und uns heute noch dienen, viele andere
sich aber als Modewörter erwiesen und wieder verlorengingen. Großen Einfluß darauf hatten
wohl weder amtliche Festlegungen noch die leidenschaftlichen Sprachreiniger, die sich bei
ihren Feldzügen gegen die Fremdwörter durch extremen Purismus oft lächerlich machten.
Mehr war da wohl eine natürliche Auslese nach Überflüssigem und Zweckmäßigem am
Werk.
Hauptlieferant von Fremdwörtern war dann im 20. Jahrhundert das sich weltweit
verbreitende Englisch-Amerikanische, das anfangs bereichernd wirkte und sich dem
Deutschen mühelos anpaßte, bis dann in den letzten Jahrzehnten die Flut der Übernahmen
so reißend wurde, daß eine Verarbeitung nicht mehr gelingt. Das Sprachbild, das sich uns
heute besonders im öffentlichen Bereich bietet, ist das einer Sprachvermischung, die mehr
mit Aggression als mit gegenseitiger kultureller Beeinflussung zu tun hat und die
unterlegene, sich kaum noch wehrende Sprache verdirbt. Verursacht wird diese Erscheinung
auf der einen Seite durch Überlegenheit der Vergnügungsindustrie, der Wissenschaft und
der Technik, auf der anderen durch eine Gleichgültigkeit der eignen Sprache gegenüber, die
möglicherweise mit deutschen Identitätsproblemen und fehlender Selbstachtung, sicher aber
mit der Unfähigkeit, Prägnanz und Schönheit der Sprache erkennen zu können, also mit
Bildungsmangel, zusammenhängt. Statt wie jede lebendige Sprache Wörter aus anderen
Sprachen nur bei Bedarf aufzunehmen und sich anzuverwandeln, muss sich das Deutsche
heute tagtäglich eine Vermengung mit oft völlig unnützen englischen Wörtern und
Wendungen bieten lassen, von der Werbung vor allem, aber nicht nur von ihr.
Ideologisch verbrämt wird die Wehrlosigkeit, mit der wir die Sprachverderbnis geschehen
lassen, durch jene Leute, die in jeder Art von Sprachpflege Nationalismus wittern, die
Zugehörigkeit zur westlichen Welt mit dem Verzicht auf Eignes gleichsetzen und es für
demokratisch halten, jeder modischen oder angeberischen Narretei, auch der sprachlichen,
nachzulaufen – wie es uns neuerdings auch die Bahn verordnet, indem sie bewährte
deutsche Begriffe in cards, points, lines und lounges übersetzt. Statt kundenfreundlicher,
pünktlicher und zuverlässiger zu werden, zwingt sie uns zu einem Sprachengemenge, dem
sicher auch bald mal ihr Name, der erstaunlicherweise noch immer Deutsche Bahn lautet,
zum Opfer fällt.
Das flotte Nachplappern überflüssiger Anglizismen zeugt nicht von einer demokratischen,
westlichen, postnationalen oder sonst welchen Gesinnung, sondern vielmehr von einer
partiellen Beschränktheit, die von Schönheit und Prägnanz einer Sprache nichts weiß.
Gegen Dummheit aber kämpfen wahrscheinlich auch die Gesetze vergebens, mit denen
unsere verantwortungsbewußteren Nachbarn, die Franzosen und Polen, dem Sprachunheil
zu begegnen versuchen. Deren Erfolg oder Mißerfolg sollten wir abwarten, nicht aber die
überheblichen Töne anschlagen, die von Leuten, die alles Nationale schon hinter sich zu
haben glauben, über die Bemühungen der angeblich zurückgebliebenen Nachbarn häufig zu
hören sind. Die Mißachtung der eignen Sprache geht zwangsläufig mit der Mißachtung der
Sprache des anderen einher.
Trotz allem aber sollte man die Hoffnung nicht sinken lassen, die Sprache Goethes nicht
gleich verloren geben, weil eine Modetorheit mal wieder grassiert. Mit seiner Fähigkeit,
Fremdes, das brauchbar ist, aufzunehmen und Unnützes abzustoßen, hat das Deutsche
seine Selbstreinigungskraft schon früher bewiesen. Und wenn man Reklame und die
Schaugespräche im Fernsehen meidet, möglichst nur mit gescheiten Leuten redet, gute
Bücher liest und dem Volk aufs Maul schaut, scheint einem die Überflutung mit unverdauten
englischen Brocken nur etwas Oberflächliches und Vorübergehendes zu sein.
SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004
DEUTSCH (LEISTUNGSKURS)
Thema 2
Erwin Strittmatter:
(1912–1994)
Eifersucht (1966)
Aufgabenstellung
Interpretieren Sie den Text.
Bearbeiten Sie dabei folgende Aufgaben:
−
−
Analysieren Sie das Zusammenspiel von künstlerischer Gestaltung und Gehalt.
Reflektieren Sie die vom Text ausgehende Wirkung.
Anmerkung
Zentrales Thema von Strittmatters Erzählwerk ist die Umwälzung der gesellschaftlichen
Verhältnisse auf dem Lande. Er gilt in der DDR als Meister einer neuartigen Dorf- und
Bauernprosa. In den 60er und 70er Jahren veröffentlicht er einige Bände mit kleiner Prosa; in
Miniaturen, Anekdoten und Kalendergeschichten nimmt sich der Autor detailfreudig und
teilweise hintergründig-humorig der Gestaltung der Wirklichkeit an.
Der vorliegende Text entstammt dem „Schulzenhofer Kramkalender“.
Erwin Strittmatter:
5
10
15
20
25
30
Eifersucht
In einer Mainacht ritt ich lange umher, doch die Rauhfußkäuze, auf die ich aus war, ließen
sich nicht hören. Ein Gewitter zog auf. Ich suchte Zuflucht in der Holzhauerhütte der alten
Pauline und stellte die Stute dort in den Schuppen. Pauline brachte ihr Ziegenheu. Pauline,
Pauline, sie war nun wohl an achtzig Jahre alt, halb vertrocknet und bräunlich im Gesicht wie
eine Kiefernwurzel. Als sie fünfzig war, starb ihr erster Mann am Krebs. Er starb lange, und
Pauline war noch liebeslustig. Sie sündigte heimlich ein bißchen mit Albert.
Albert war drei Jahre jünger als sie. Er war dicklich, eine bauchige Flasche, und trug eine
Pelerine, einen Umhang aus Kaiserzeiten, wenn er die Post für drei Dörfer austrug. Als Otto,
der Holzhauer, endlich starb, nahm sich Pauline Albert, und Albert nahm sich Pauline.
Ich trat in die niedrige Holzhauerstube. Albert stieg aus dem Bett und begrüßte mich. Seine
geübte Postbotenhand betastete meinen Rucksack und stieß auf die Flasche mit Reiterschnaps. Er nahm einen Schluck und saß da im Hemde und erzählte von seinen Briefträgerzeiten: „Ein Einschreiben wird eingeschrieben, verstehst du, verstehste?“ Er nahm eine
zweiten Hieb und klärte mich über Amtsrichterbriefe mit Zustellurkunden auf. Und als er den
dritten Schluck aus der Flasche sog, mischte Pauline sich ein: „Nicht mehr als sechs
Schluck, der siebente macht ihn eifersüchtig!“
Albert erläuterte mir, wie man Päckchen zustellt. Es blitzte hart, und es donnerte lange.
Pauline ging nach den Ziegen sehn. Der Gewitterregen setzte ein. Albert nahm zwei weitere
Schlucke und überzeugte mich von den Schwierigkeiten beim Geldzustellen. Der Blitz schlug
im Wald ein, und Albert nahm wieder zwei Schlucke. Pauline kam durchnäßt herein. Albert
trat ihr erregt entgegen. „Neben wem läßt du dich begraben?“ „Neben Otto.“ Albert wollte
meinen Rat. „Ist die Seine oder die Meine?“ Ich enthielt mich der Antwort. „Neben wem läßt
du dich begraben, wie?“ „Das Maul halt!“ Albert sah sich nach Hilfe um. „Hier wird ein
Beamter hintergangen.“ Pauline wurde es zuviel. Sie packte Albert beim Schlafhemd und
zerrte ihn zum Bett, in die Kammer. Albert, mein Albert, ruderte hilflos mit den Händen, bis er
hinter der Tür verschwand.
Eine Weile war’s still. Ich lagerte mich auf der Ofenbank und hörte draußen den Regen gehn.
Es blitzte schon sanfter, doch mit eins ging in der Kammer der Grabstreit weiter: „Neben
wem läßt du dich begraben, hä?“ „Neben Otto, der Platz ist lange bezahlt!“ Es donnerte, und
Albert mußte schreien, damit Pauline ihn hörte: „Acht Tage geb ich dir Zustellfrist, verstehst
du, verstehste?“ Die Antwort war ein Ohrfeigenhagel. Ich sprang hinzu und wollte die
SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004
35
DEUTSCH (LEISTUNGSKURS)
Streitenden trennen. „Mach du dich fort!“ schrie Pauline mich an. „Ich hab dich gewarnt – der
siebente Schnaps!“
Albert begann zu schnarchen. Pauline hielt ihm die Nase zu. Er schnappte nach Luft und
brummelte: „Zustellurkunde.“
Das Gewitter zog ab. Leiser Wind tat sich auf. In den Fichten klagten die Rauhfußkäuze.
SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004
DEUTSCH (LEISTUNGSKURS)
Thema 3
Friedrich Hebbel:
(1813–1863)
Maria Magdalena.
Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten (1844)
Aufgabenstellung
Interpretieren Sie den vorliegenden Textauszug.
Bearbeiten Sie dabei folgende Aufgaben:
−
−
Beschreiben Sie dramatische Mittel, die der Dichter zur Figurencharakterisierung
einsetzt.
Reflektieren Sie die unterschiedlichen Wege, mit denen die Geschwister ihre derzeitige
Lebenssituation bewältigen wollen.
Anmerkung
Über der Familie des Tischlermeisters Anton braut sich Unheil zusammen. Seine
unverheiratete Tochter Klara erwartet ein Kind von Leonhard. Der Sohn Karl wurde völlig zu
Unrecht eines vermeintlichen Brillantendiebstahls bezichtigt. Dies hat Leonhard zum
Vorwand genommen, Klara einen Abschiedsbrief zu schreiben; in Wahrheit hat er
inzwischen erfahren, dass Klaras Mitgift ausbleiben würde.
Karl ist aus der Untersuchungshaft zurückgekehrt.
[Schauplatz der Szene ist ein Zimmer im Hause des Tischlermeisters Anton am Abend.]
Friedrich Hebbel:
Maria Magdalena.
Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten [Auszug]
Dritter Akt, Achte Szene
5
10
15
20
25
Klara tritt ein.
KARL: Endlich! Du solltest auch nur nicht soviel küssen! Wo sich vier rote Lippen zusammenbacken, da ist dem Teufel eine Brücke gebaut! Was hast du da?
KLARA: Wo? Was?
KARL: Wo? Was? In der Hand!
KLARA: Nichts!
KARL: Nichts? Sind das Geheimnisse? Er entreißt ihr Leonhards Brief. Her damit! Wenn der
Vater nicht da ist, so ist der Bruder Vormund!
KLARA: Den Fetzen hab ich festgehalten, und doch geht der Abendwind so stark, daß er die
Ziegel von den Dächern wirft! Als ich an der Kirche vorbeiging, fiel einer dicht vor mir
nieder, so daß ich mir den Fuß daran zerstieß. O Gott, dacht ich, noch einen! und stand
still! Das wäre so schön gewesen, man hätte mich begraben und gesagt: sie hat ein
Unglück gehabt! Ich hoffte umsonst auf den zweiten!
KARL der den Brief gelesen hat: Donner und – Kerl, den Arm, der das schrieb, schlag ich dir
lahm! Hol mir eine Flasche Wein! Oder ist deine Sparbüchse leer?
KLARA: Es ist noch eine im Hause. Ich hatte sie heimlich für den Geburtstag der Mutter
gekauft und beiseitegestellt. Morgen wäre der Tag – Sie wendet sich.
KARL: Gibt sie her!
Klara bringt den Wein.
KARL trinkt hastig: Nun könnten wir denn wieder anfangen. Hobeln, sägen, hämmern,
dazwischen essen, trinken und schlafen, damit wir immerfort hobeln, sägen und
hämmern können, sonntags ein Kniefall obendrein: Ich danke dir, daß ich hobeln, sägen
und hämmern darf! Trinkt. Es lebe jeder brave Hund, der an der Kette nicht um sich
beißt! Er trinkt wieder. Und noch einmal: er lebe!
KLARA: Karl, trink nicht so viel! Der Vater sagt, im Wein sitzt der Teufel!
SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004
30
35
40
45
50
55
60
65
70
75
80
DEUTSCH (LEISTUNGSKURS)
KARL: Und der Priester sagt, im Wein sitzt der liebe Gott! Er trinkt. Wir wollen sehen, wer
recht hat! Der Gerichtsdiener ist hier im Hause gewesen – wie betrug er sich?
KLARA: Wie in der Diebsherberge. Die Mutter fiel um und war tot, sobald er nur den Mund
aufgetan hatte!
KARL: Gut! Wenn du morgen früh hörst, daß der Kerl erschlagen gefunden worden ist, so
fluche nicht auf den Mörder!
KLARA: Karl, du wirst doch nicht –
KARL: Bin ich sein einziger Feind? Hat man ihn nicht schon oft angefallen? Es dürfte
schwerhalten, aus so vielen, denen das Stück zuzutrauen wäre, den rechten herauszufinden, wenn dieser nur nicht Stock oder Hut auf dem Platz zurückläßt. Er trinkt. Wer
es auch sei: auf gutes Gelingen!
KLARA: Bruder, du redest –
KARL: Gefällts dir nicht? Laß gut sein! Du wirst mich nicht lange mehr sehen!
KLARA zusammenschauernd: Nein!
KARL: Nein? Weißt dus schon, daß ich zur See will? Kriechen mir die Gedanken auf der
Stirn herum, daß du sie lesen kannst? Oder hat der Alte nach seiner Art gewütet und
gedroht, mir das Haus zu verschließen? Pah! Das wär nicht viel anders, als wenn der
Gefängnisknecht mir zugeschworen hätte: du sollst nicht länger im Gefängnis sitzen, ich
stoße dich hinaus ins Freie!
KLARA: Du verstehst mich nicht!
KARL singt:
Dort bläst ein Schiff die Segel,
Frisch saust hinein der Wind!
Ja, wahrhaftig, jetzt hält mich nichts mehr an der Hobelbank fest! Die Mutter ist tot, es
gibt keine mehr, die nach jedem Sturm aufhören würde, Fische zu essen, und von
Jugend auf wars mein Wunsch. Hinaus! Hier gedeih ich nicht oder erst dann, wenn ichs
gewiß weiß, daß das Glück dem Mutigen, der sein Leben aufs Spiel setzt, der ihm den
Kupferdreier, den er aus dem großen Schatz empfangen hat, wieder hinwirft, um zu
sehen, ob es ihn einsteckt oder ihn vergoldet zurückgibt, nicht mehr günstig ist.
KLARA: Und du willst den Vater allein lassen? Er ist sechzig Jahr!
KARL: Allein? Bleibst du ihm nicht?
KLARA: Ich?
KARL: Du! Sein Schoßkind! Was wächst dir für Unkraut im Kopf, daß du fragst! Seine
Freude laß ich ihm, und von seinem ewigen Verdruß wird er befreit, wenn ich gehe,
warum sollt ichs denn nicht tun? Wir passen ein für allemal nicht zusammen, er kanns
nicht eng genug um sich haben, er möchte seine Faust zumachen und hineinkriechen,
ich möchte meine Haut abstreifen, wie den Kleinkinderrock, wenns nur ginge!
Singt:
Der Anker wird gelichtet,
Das Steuer flugs gerichtet,
Nun fliegts hinaus geschwind!
Sag selbst, hat er auch nur einen Augenblick an meiner Schuld gezweifelt? Und hat er in
seinem überklugen: Das hab ich erwartet! Das hab ich immer gedacht! Das konnte nicht
anders enden! nicht den gewöhnlichen Trost gefunden? Wärst dus gewesen, er hätte
sich umgebracht! Ich möchte ihn sehen, wenn du ein Weiberschicksal hättest! Es würde
ihm sein, als ob er selbst in die Wochen kommen sollte! Und mit dem Teufel dazu!
KLARA: O, wie das an mein Herz greift! Ja, ich muß fort, fort!
KARL: Was soll das heißen?
KLARA: Ich muß in die Küche – was wohl sonst? Faßt sich an die Stirn. Ja! Das noch!
Darum allein ging ich ja noch wieder zu Hause! Ab.
KARL: Die kommt mir ganz sonderbar vor!
Singt:
Ein kühner Wasservogel
Kreist grüßend um den Mast!
KLARA tritt wieder ein: Das Letzte ist getan, des Vaters Abendtrank steht am Feuer. Als ich
die Küchentür hinter mir anzog und ich dachte: du trittst nun nie wieder hinein! ging mir
SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004
85
90
95
100
105
DEUTSCH (LEISTUNGSKURS)
ein Schauer durch die Seele. So werd ich auch aus dieser Stube gehen, so aus dem
Hause, so aus der Welt!
KARL singt, er geht immer auf und ab, Klara hält sich im Hintergrund:
Manch Fischlein, blank und munter,
Umgaukelt keck den Gast!
KLARA: Warum tu ichs denn nicht? Werd ichs nimmer tun? Werd ichs nimmer tun? Werd
ichs von Tag zu Tag aufschieben, wie jetzt von Minute zu Minute, bis – Gewiß! Darum
fort! – Fort! Und doch bleib ich stehen ! Ists mir nicht, als obs in meinem Schoß bittend
Hände aufhöbe, als ob Augen – Sie setzt sich auf einen Stuhl. Was soll das? Bist du zu
schwach dazu? So frag dich, ob du stark genug bist, deinen Vater mit abgeschnittener
Kehle – Sie steht auf. Nein! Nein! – Vater unser, der du bist im Himmel – Geheiliget
werde dein Reich – Gott, Gott, mein armer Kopf – ich kann nicht einmal beten – Bruder!
Bruder! – Hilf mir –
KARL: Was hast du?
KLARA: Das Vaterunser! Sie besinnt sich. Mir war, als ob ich schon im Wasser läge und
untersänke und hätte noch nicht gebetet! Ich – Plötzlich: Vergib uns unsere Schuld, wie
wir vergeben unsern Schuldigern! Da ists! Ja! Ja! ich vergeb ihm gewiß, ich denke ja
nicht mehr an ihn! Gute Nacht, Karl!
KARL: Willst du schon so früh schlafen gehen? Gute Nacht!
KLARA wie ein Kind, das sich das Vaterunser überhört: Vergib uns –
KARL: Ein Glas Wasser könntest du mir noch bringen, aber es muß recht frisch sein!
KLARA schnell: Ich will es dir vom Brunnen holen!
KARL: Nun, wenn du willst, es ist ja nicht weit!
KLARA: Dank! Dank! Das war das letzte, was mich noch drückte! Die Tat selbst mußte mich
verraten! Nun werden sie doch sagen: Sie hat ein Unglück gehabt! Sie ist hineingestürzt!
KARL: Nimm dich aber in acht, das Brett ist wohl noch immer nicht wieder vorgenagelt!
KLARA: Es ist ja Mondschein! – O Gott, ich komme nur, weil sonst mein Vater käme! Vergib
mir, wie ich – Sei mir gnädig – gnädig – Ab.
SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004
DEUTSCH (LEISTUNGSKURS)
Thema 4
Clemens Brentano:
(1778–1842)
Der Spinnerin Nachtlied (1818)
Aufgabenstellung
Interpretieren Sie den Text.
Bearbeiten Sie dabei folgende Aufgaben:
−
−
Erschließen Sie die lyrische Situation und deren formale Gestaltung.
Reflektieren Sie Ihre Nähe und Distanz zur dargestellten Gefühlswelt.
Clemens Brentano:
Der Spinnerin Nachtlied
Es sang vor langen Jahren
Wohl auch die Nachtigall,
Das war wohl süßer Schall,
Da wir zusammen waren.
5
10
15
20
Ich sing und kann nicht weinen,
Und spinne so allein
Den Faden klar und rein
So lang der Mond wird scheinen.
Als wir zusammen waren
Da sang die Nachtigall
Nun mahnet mich ihr Schall
Daß du von mir gefahren.
So oft der Mond mag scheinen,
Denk ich wohl dein allein,
Mein Herz ist klar und rein,
Gott wolle uns vereinen.
Seit du von mir gefahren,
Singt stets die Nachtigall,
Ich denk bei ihrem Schall,
Wie wir zusammen waren.
Gott wolle uns vereinen
Hier spinn ich so allein,
Der Mond scheint klar und rein,
Ich sing und möchte weinen.

Documentos relacionados