Deutsch - Bildungsserver Sachsen
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SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004 DEUTSCH (LEISTUNGSKURS) KULTUSMINISTERIUM DES LANDES SACHSEN-ANHALT Abitur Januar/Februar 2004 Deutsch (Leistungskurs) Einlesezeit: Bearbeitungszeit: 30 Minuten 300 Minuten Thema 1 Günter de Bruyn: Unzeitgemäßes. Betrachtungen über Vergangenheit und Gegenwart Thema 2 Erwin Strittmatter: Eifersucht Thema 3 Friedrich Hebbel: Maria Magdalena Thema 4 Clemens Brentano: Der Spinnerin Nachtlied SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004 DEUTSCH (LEISTUNGSKURS) Thema 1 Günter de Bruyn: (geb. 1926) Unzeitgemäßes. Betrachtungen über Vergangenheit und Gegenwart (2001) Aufgabenstellung Erörtern Sie den Text. Bearbeiten Sie dabei folgende Aufgaben: − − Untersuchen Sie die Textgestaltung. Setzen Sie sich mit der Meinung des Autors über „Unzeitgemäßes“ auseinander. Günter de Bruyn: 5 10 15 20 25 30 35 Unzeitgemäßes. Betrachtungen über Vergangenheit und Gegenwart (2001) Unzeitgemäß ist es geworden, von Leben und Kunst Schönheit und Würde zu fordern oder auch nur zuzugeben, daß man dergleichen vermißt. Der Schönheit hat sich, da die Kunst mit ihr nichts mehr zu tun haben will, die Werbung bemächtigt, und für die Anspruchslosen blüht als Schönheitsersatz der Kitsch. Zwar führt die höhere Politik in Feiertagsreden häufig die Unverletzlichkeit der Würde des Menschen im Munde, aber zu sehen ist davon nur wenig. Nicht nur im Rausch und beim Psychotherapeuten ist Enthemmung gefragt, nicht Haltung. Von Fairneß ist selbst im Sport kaum noch die Rede, Kriegsregeln sind mit der Ritterlichkeit außer Kraft gesetzt worden. Tradierte Rituale, die gegenseitig Achtung oder Ehrfurcht ausdrücken, haben sich in abgeschlossene Bereiche wie die Kirchen und das Militär zurückgezogen, die Zeiten, in denen man den Hut voreinander zog und Alten und Gebrechlichen den Platz in der Bahn einräumte, sind nicht nur vergangen, sondern fast schon vergessen. Die Achtung vor der Intimsphäre des anderen ist in rapidem Verfall begriffen. Unsere Zivilisation, das heißt unsere durch Erziehung und Bildung geprägte Lebensweise, deren formale Seiten die Zähmung der Triebe anzeigten, scheint sich so radikal zu ändern, dass man von Rückläufigkeit sprechen könnte, von einer Verwilderung auf hohem technischen Niveau. Ablesen läßt sich diese Tendenz der Verwilderung auch an der Sprache, die nicht nur unter den vielberedeten Anglizismen, sondern auch an einer Verschmutzung leidet, die sich nach meiner Beobachtung als Kriegsfolge ausbreitete und heute durch die lebensecht sein wollenden Dialoge der Fernsehfilme, die für jegliches Mißgeschick oder Unbehagen nur Fäkalienworte zur Verfügung haben, salonfähig gemacht wird. In den Diskussionen über die vielen englischen Ausdrücke, die das Gegenwartsdeutsch bereichern oder verunzieren, wird von denen, die nicht genug davon kriegen und das Sprachengemisch anscheinend als Beweis ihrer demokratischen Gesinnung betrachten, gern die Frage gestellt, wem die Anglizismen denn schaden könnten, und sie würden es sicher als unzeitgemäß empfinden, wenn einer, wie ich, sich als Geschädigter melden und erklären würde: Da die Schönheit der Sprache darunter leide, würde auch ihm Schmerz zugefügt. Jede lebendige Sprache ist ständig in Veränderung begriffen, und die Aufnahme von Wörtern aus anderen Sprachen spielt dabei eine bedeutende Rolle, besonders in solchen Fällen, in denen die Völker, die sie sprechen, zivilisatorisch fortgeschrittener sind. Im frühen Mittelalter bereicherte so das Latein nicht nur die deutsche Sprache, und als im Deutschland des 18. Jahrhunderts an den Fürstenhöfen und in Adelskreisen vorwiegend Französisch gesprochen wurde, drückte sich damit die kulturelle Überlegenheit Frankreichs aus. Als diese schwand, verlor sich auch die Herrschaft der dazu gehörenden Sprache. Nach Lessing und Lichtenberg, Schiller und Goethe brauchte man, um niveau- und geistvoll reden zu können, das Französische nicht mehr. Friedrich der Große, der es zu brauchen meinte, kannte nur das Deutsch der Kutscher und Korporäle, nicht aber das Klopstocks und Herders. SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 DEUTSCH (LEISTUNGSKURS) Und auch das Bestreben, Hoch und Niedrig nicht nur durch Kleidung, sondern auch durch Sprache zu markieren, fiel mit der allmählichen Angleichung der Stände weg. Mit dem Durchsetzen des Deutschen von unten nach oben kündigten sich erste Anfänge von Demokratisierung an. Es blieben aber viele französische Ausdrücke in der Umgangssprache hängen, von denen einige eingedeutscht wurden und uns heute noch dienen, viele andere sich aber als Modewörter erwiesen und wieder verlorengingen. Großen Einfluß darauf hatten wohl weder amtliche Festlegungen noch die leidenschaftlichen Sprachreiniger, die sich bei ihren Feldzügen gegen die Fremdwörter durch extremen Purismus oft lächerlich machten. Mehr war da wohl eine natürliche Auslese nach Überflüssigem und Zweckmäßigem am Werk. Hauptlieferant von Fremdwörtern war dann im 20. Jahrhundert das sich weltweit verbreitende Englisch-Amerikanische, das anfangs bereichernd wirkte und sich dem Deutschen mühelos anpaßte, bis dann in den letzten Jahrzehnten die Flut der Übernahmen so reißend wurde, daß eine Verarbeitung nicht mehr gelingt. Das Sprachbild, das sich uns heute besonders im öffentlichen Bereich bietet, ist das einer Sprachvermischung, die mehr mit Aggression als mit gegenseitiger kultureller Beeinflussung zu tun hat und die unterlegene, sich kaum noch wehrende Sprache verdirbt. Verursacht wird diese Erscheinung auf der einen Seite durch Überlegenheit der Vergnügungsindustrie, der Wissenschaft und der Technik, auf der anderen durch eine Gleichgültigkeit der eignen Sprache gegenüber, die möglicherweise mit deutschen Identitätsproblemen und fehlender Selbstachtung, sicher aber mit der Unfähigkeit, Prägnanz und Schönheit der Sprache erkennen zu können, also mit Bildungsmangel, zusammenhängt. Statt wie jede lebendige Sprache Wörter aus anderen Sprachen nur bei Bedarf aufzunehmen und sich anzuverwandeln, muss sich das Deutsche heute tagtäglich eine Vermengung mit oft völlig unnützen englischen Wörtern und Wendungen bieten lassen, von der Werbung vor allem, aber nicht nur von ihr. Ideologisch verbrämt wird die Wehrlosigkeit, mit der wir die Sprachverderbnis geschehen lassen, durch jene Leute, die in jeder Art von Sprachpflege Nationalismus wittern, die Zugehörigkeit zur westlichen Welt mit dem Verzicht auf Eignes gleichsetzen und es für demokratisch halten, jeder modischen oder angeberischen Narretei, auch der sprachlichen, nachzulaufen – wie es uns neuerdings auch die Bahn verordnet, indem sie bewährte deutsche Begriffe in cards, points, lines und lounges übersetzt. Statt kundenfreundlicher, pünktlicher und zuverlässiger zu werden, zwingt sie uns zu einem Sprachengemenge, dem sicher auch bald mal ihr Name, der erstaunlicherweise noch immer Deutsche Bahn lautet, zum Opfer fällt. Das flotte Nachplappern überflüssiger Anglizismen zeugt nicht von einer demokratischen, westlichen, postnationalen oder sonst welchen Gesinnung, sondern vielmehr von einer partiellen Beschränktheit, die von Schönheit und Prägnanz einer Sprache nichts weiß. Gegen Dummheit aber kämpfen wahrscheinlich auch die Gesetze vergebens, mit denen unsere verantwortungsbewußteren Nachbarn, die Franzosen und Polen, dem Sprachunheil zu begegnen versuchen. Deren Erfolg oder Mißerfolg sollten wir abwarten, nicht aber die überheblichen Töne anschlagen, die von Leuten, die alles Nationale schon hinter sich zu haben glauben, über die Bemühungen der angeblich zurückgebliebenen Nachbarn häufig zu hören sind. Die Mißachtung der eignen Sprache geht zwangsläufig mit der Mißachtung der Sprache des anderen einher. Trotz allem aber sollte man die Hoffnung nicht sinken lassen, die Sprache Goethes nicht gleich verloren geben, weil eine Modetorheit mal wieder grassiert. Mit seiner Fähigkeit, Fremdes, das brauchbar ist, aufzunehmen und Unnützes abzustoßen, hat das Deutsche seine Selbstreinigungskraft schon früher bewiesen. Und wenn man Reklame und die Schaugespräche im Fernsehen meidet, möglichst nur mit gescheiten Leuten redet, gute Bücher liest und dem Volk aufs Maul schaut, scheint einem die Überflutung mit unverdauten englischen Brocken nur etwas Oberflächliches und Vorübergehendes zu sein. SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004 DEUTSCH (LEISTUNGSKURS) Thema 2 Erwin Strittmatter: (1912–1994) Eifersucht (1966) Aufgabenstellung Interpretieren Sie den Text. Bearbeiten Sie dabei folgende Aufgaben: − − Analysieren Sie das Zusammenspiel von künstlerischer Gestaltung und Gehalt. Reflektieren Sie die vom Text ausgehende Wirkung. Anmerkung Zentrales Thema von Strittmatters Erzählwerk ist die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf dem Lande. Er gilt in der DDR als Meister einer neuartigen Dorf- und Bauernprosa. In den 60er und 70er Jahren veröffentlicht er einige Bände mit kleiner Prosa; in Miniaturen, Anekdoten und Kalendergeschichten nimmt sich der Autor detailfreudig und teilweise hintergründig-humorig der Gestaltung der Wirklichkeit an. Der vorliegende Text entstammt dem „Schulzenhofer Kramkalender“. Erwin Strittmatter: 5 10 15 20 25 30 Eifersucht In einer Mainacht ritt ich lange umher, doch die Rauhfußkäuze, auf die ich aus war, ließen sich nicht hören. Ein Gewitter zog auf. Ich suchte Zuflucht in der Holzhauerhütte der alten Pauline und stellte die Stute dort in den Schuppen. Pauline brachte ihr Ziegenheu. Pauline, Pauline, sie war nun wohl an achtzig Jahre alt, halb vertrocknet und bräunlich im Gesicht wie eine Kiefernwurzel. Als sie fünfzig war, starb ihr erster Mann am Krebs. Er starb lange, und Pauline war noch liebeslustig. Sie sündigte heimlich ein bißchen mit Albert. Albert war drei Jahre jünger als sie. Er war dicklich, eine bauchige Flasche, und trug eine Pelerine, einen Umhang aus Kaiserzeiten, wenn er die Post für drei Dörfer austrug. Als Otto, der Holzhauer, endlich starb, nahm sich Pauline Albert, und Albert nahm sich Pauline. Ich trat in die niedrige Holzhauerstube. Albert stieg aus dem Bett und begrüßte mich. Seine geübte Postbotenhand betastete meinen Rucksack und stieß auf die Flasche mit Reiterschnaps. Er nahm einen Schluck und saß da im Hemde und erzählte von seinen Briefträgerzeiten: „Ein Einschreiben wird eingeschrieben, verstehst du, verstehste?“ Er nahm eine zweiten Hieb und klärte mich über Amtsrichterbriefe mit Zustellurkunden auf. Und als er den dritten Schluck aus der Flasche sog, mischte Pauline sich ein: „Nicht mehr als sechs Schluck, der siebente macht ihn eifersüchtig!“ Albert erläuterte mir, wie man Päckchen zustellt. Es blitzte hart, und es donnerte lange. Pauline ging nach den Ziegen sehn. Der Gewitterregen setzte ein. Albert nahm zwei weitere Schlucke und überzeugte mich von den Schwierigkeiten beim Geldzustellen. Der Blitz schlug im Wald ein, und Albert nahm wieder zwei Schlucke. Pauline kam durchnäßt herein. Albert trat ihr erregt entgegen. „Neben wem läßt du dich begraben?“ „Neben Otto.“ Albert wollte meinen Rat. „Ist die Seine oder die Meine?“ Ich enthielt mich der Antwort. „Neben wem läßt du dich begraben, wie?“ „Das Maul halt!“ Albert sah sich nach Hilfe um. „Hier wird ein Beamter hintergangen.“ Pauline wurde es zuviel. Sie packte Albert beim Schlafhemd und zerrte ihn zum Bett, in die Kammer. Albert, mein Albert, ruderte hilflos mit den Händen, bis er hinter der Tür verschwand. Eine Weile war’s still. Ich lagerte mich auf der Ofenbank und hörte draußen den Regen gehn. Es blitzte schon sanfter, doch mit eins ging in der Kammer der Grabstreit weiter: „Neben wem läßt du dich begraben, hä?“ „Neben Otto, der Platz ist lange bezahlt!“ Es donnerte, und Albert mußte schreien, damit Pauline ihn hörte: „Acht Tage geb ich dir Zustellfrist, verstehst du, verstehste?“ Die Antwort war ein Ohrfeigenhagel. Ich sprang hinzu und wollte die SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004 35 DEUTSCH (LEISTUNGSKURS) Streitenden trennen. „Mach du dich fort!“ schrie Pauline mich an. „Ich hab dich gewarnt – der siebente Schnaps!“ Albert begann zu schnarchen. Pauline hielt ihm die Nase zu. Er schnappte nach Luft und brummelte: „Zustellurkunde.“ Das Gewitter zog ab. Leiser Wind tat sich auf. In den Fichten klagten die Rauhfußkäuze. SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004 DEUTSCH (LEISTUNGSKURS) Thema 3 Friedrich Hebbel: (1813–1863) Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten (1844) Aufgabenstellung Interpretieren Sie den vorliegenden Textauszug. Bearbeiten Sie dabei folgende Aufgaben: − − Beschreiben Sie dramatische Mittel, die der Dichter zur Figurencharakterisierung einsetzt. Reflektieren Sie die unterschiedlichen Wege, mit denen die Geschwister ihre derzeitige Lebenssituation bewältigen wollen. Anmerkung Über der Familie des Tischlermeisters Anton braut sich Unheil zusammen. Seine unverheiratete Tochter Klara erwartet ein Kind von Leonhard. Der Sohn Karl wurde völlig zu Unrecht eines vermeintlichen Brillantendiebstahls bezichtigt. Dies hat Leonhard zum Vorwand genommen, Klara einen Abschiedsbrief zu schreiben; in Wahrheit hat er inzwischen erfahren, dass Klaras Mitgift ausbleiben würde. Karl ist aus der Untersuchungshaft zurückgekehrt. [Schauplatz der Szene ist ein Zimmer im Hause des Tischlermeisters Anton am Abend.] Friedrich Hebbel: Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten [Auszug] Dritter Akt, Achte Szene 5 10 15 20 25 Klara tritt ein. KARL: Endlich! Du solltest auch nur nicht soviel küssen! Wo sich vier rote Lippen zusammenbacken, da ist dem Teufel eine Brücke gebaut! Was hast du da? KLARA: Wo? Was? KARL: Wo? Was? In der Hand! KLARA: Nichts! KARL: Nichts? Sind das Geheimnisse? Er entreißt ihr Leonhards Brief. Her damit! Wenn der Vater nicht da ist, so ist der Bruder Vormund! KLARA: Den Fetzen hab ich festgehalten, und doch geht der Abendwind so stark, daß er die Ziegel von den Dächern wirft! Als ich an der Kirche vorbeiging, fiel einer dicht vor mir nieder, so daß ich mir den Fuß daran zerstieß. O Gott, dacht ich, noch einen! und stand still! Das wäre so schön gewesen, man hätte mich begraben und gesagt: sie hat ein Unglück gehabt! Ich hoffte umsonst auf den zweiten! KARL der den Brief gelesen hat: Donner und – Kerl, den Arm, der das schrieb, schlag ich dir lahm! Hol mir eine Flasche Wein! Oder ist deine Sparbüchse leer? KLARA: Es ist noch eine im Hause. Ich hatte sie heimlich für den Geburtstag der Mutter gekauft und beiseitegestellt. Morgen wäre der Tag – Sie wendet sich. KARL: Gibt sie her! Klara bringt den Wein. KARL trinkt hastig: Nun könnten wir denn wieder anfangen. Hobeln, sägen, hämmern, dazwischen essen, trinken und schlafen, damit wir immerfort hobeln, sägen und hämmern können, sonntags ein Kniefall obendrein: Ich danke dir, daß ich hobeln, sägen und hämmern darf! Trinkt. Es lebe jeder brave Hund, der an der Kette nicht um sich beißt! Er trinkt wieder. Und noch einmal: er lebe! KLARA: Karl, trink nicht so viel! Der Vater sagt, im Wein sitzt der Teufel! SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 DEUTSCH (LEISTUNGSKURS) KARL: Und der Priester sagt, im Wein sitzt der liebe Gott! Er trinkt. Wir wollen sehen, wer recht hat! Der Gerichtsdiener ist hier im Hause gewesen – wie betrug er sich? KLARA: Wie in der Diebsherberge. Die Mutter fiel um und war tot, sobald er nur den Mund aufgetan hatte! KARL: Gut! Wenn du morgen früh hörst, daß der Kerl erschlagen gefunden worden ist, so fluche nicht auf den Mörder! KLARA: Karl, du wirst doch nicht – KARL: Bin ich sein einziger Feind? Hat man ihn nicht schon oft angefallen? Es dürfte schwerhalten, aus so vielen, denen das Stück zuzutrauen wäre, den rechten herauszufinden, wenn dieser nur nicht Stock oder Hut auf dem Platz zurückläßt. Er trinkt. Wer es auch sei: auf gutes Gelingen! KLARA: Bruder, du redest – KARL: Gefällts dir nicht? Laß gut sein! Du wirst mich nicht lange mehr sehen! KLARA zusammenschauernd: Nein! KARL: Nein? Weißt dus schon, daß ich zur See will? Kriechen mir die Gedanken auf der Stirn herum, daß du sie lesen kannst? Oder hat der Alte nach seiner Art gewütet und gedroht, mir das Haus zu verschließen? Pah! Das wär nicht viel anders, als wenn der Gefängnisknecht mir zugeschworen hätte: du sollst nicht länger im Gefängnis sitzen, ich stoße dich hinaus ins Freie! KLARA: Du verstehst mich nicht! KARL singt: Dort bläst ein Schiff die Segel, Frisch saust hinein der Wind! Ja, wahrhaftig, jetzt hält mich nichts mehr an der Hobelbank fest! Die Mutter ist tot, es gibt keine mehr, die nach jedem Sturm aufhören würde, Fische zu essen, und von Jugend auf wars mein Wunsch. Hinaus! Hier gedeih ich nicht oder erst dann, wenn ichs gewiß weiß, daß das Glück dem Mutigen, der sein Leben aufs Spiel setzt, der ihm den Kupferdreier, den er aus dem großen Schatz empfangen hat, wieder hinwirft, um zu sehen, ob es ihn einsteckt oder ihn vergoldet zurückgibt, nicht mehr günstig ist. KLARA: Und du willst den Vater allein lassen? Er ist sechzig Jahr! KARL: Allein? Bleibst du ihm nicht? KLARA: Ich? KARL: Du! Sein Schoßkind! Was wächst dir für Unkraut im Kopf, daß du fragst! Seine Freude laß ich ihm, und von seinem ewigen Verdruß wird er befreit, wenn ich gehe, warum sollt ichs denn nicht tun? Wir passen ein für allemal nicht zusammen, er kanns nicht eng genug um sich haben, er möchte seine Faust zumachen und hineinkriechen, ich möchte meine Haut abstreifen, wie den Kleinkinderrock, wenns nur ginge! Singt: Der Anker wird gelichtet, Das Steuer flugs gerichtet, Nun fliegts hinaus geschwind! Sag selbst, hat er auch nur einen Augenblick an meiner Schuld gezweifelt? Und hat er in seinem überklugen: Das hab ich erwartet! Das hab ich immer gedacht! Das konnte nicht anders enden! nicht den gewöhnlichen Trost gefunden? Wärst dus gewesen, er hätte sich umgebracht! Ich möchte ihn sehen, wenn du ein Weiberschicksal hättest! Es würde ihm sein, als ob er selbst in die Wochen kommen sollte! Und mit dem Teufel dazu! KLARA: O, wie das an mein Herz greift! Ja, ich muß fort, fort! KARL: Was soll das heißen? KLARA: Ich muß in die Küche – was wohl sonst? Faßt sich an die Stirn. Ja! Das noch! Darum allein ging ich ja noch wieder zu Hause! Ab. KARL: Die kommt mir ganz sonderbar vor! Singt: Ein kühner Wasservogel Kreist grüßend um den Mast! KLARA tritt wieder ein: Das Letzte ist getan, des Vaters Abendtrank steht am Feuer. Als ich die Küchentür hinter mir anzog und ich dachte: du trittst nun nie wieder hinein! ging mir SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004 85 90 95 100 105 DEUTSCH (LEISTUNGSKURS) ein Schauer durch die Seele. So werd ich auch aus dieser Stube gehen, so aus dem Hause, so aus der Welt! KARL singt, er geht immer auf und ab, Klara hält sich im Hintergrund: Manch Fischlein, blank und munter, Umgaukelt keck den Gast! KLARA: Warum tu ichs denn nicht? Werd ichs nimmer tun? Werd ichs nimmer tun? Werd ichs von Tag zu Tag aufschieben, wie jetzt von Minute zu Minute, bis – Gewiß! Darum fort! – Fort! Und doch bleib ich stehen ! Ists mir nicht, als obs in meinem Schoß bittend Hände aufhöbe, als ob Augen – Sie setzt sich auf einen Stuhl. Was soll das? Bist du zu schwach dazu? So frag dich, ob du stark genug bist, deinen Vater mit abgeschnittener Kehle – Sie steht auf. Nein! Nein! – Vater unser, der du bist im Himmel – Geheiliget werde dein Reich – Gott, Gott, mein armer Kopf – ich kann nicht einmal beten – Bruder! Bruder! – Hilf mir – KARL: Was hast du? KLARA: Das Vaterunser! Sie besinnt sich. Mir war, als ob ich schon im Wasser läge und untersänke und hätte noch nicht gebetet! Ich – Plötzlich: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern! Da ists! Ja! Ja! ich vergeb ihm gewiß, ich denke ja nicht mehr an ihn! Gute Nacht, Karl! KARL: Willst du schon so früh schlafen gehen? Gute Nacht! KLARA wie ein Kind, das sich das Vaterunser überhört: Vergib uns – KARL: Ein Glas Wasser könntest du mir noch bringen, aber es muß recht frisch sein! KLARA schnell: Ich will es dir vom Brunnen holen! KARL: Nun, wenn du willst, es ist ja nicht weit! KLARA: Dank! Dank! Das war das letzte, was mich noch drückte! Die Tat selbst mußte mich verraten! Nun werden sie doch sagen: Sie hat ein Unglück gehabt! Sie ist hineingestürzt! KARL: Nimm dich aber in acht, das Brett ist wohl noch immer nicht wieder vorgenagelt! KLARA: Es ist ja Mondschein! – O Gott, ich komme nur, weil sonst mein Vater käme! Vergib mir, wie ich – Sei mir gnädig – gnädig – Ab. SCHRIFTLICHE ABITURPRÜFUNG 2004 DEUTSCH (LEISTUNGSKURS) Thema 4 Clemens Brentano: (1778–1842) Der Spinnerin Nachtlied (1818) Aufgabenstellung Interpretieren Sie den Text. Bearbeiten Sie dabei folgende Aufgaben: − − Erschließen Sie die lyrische Situation und deren formale Gestaltung. Reflektieren Sie Ihre Nähe und Distanz zur dargestellten Gefühlswelt. Clemens Brentano: Der Spinnerin Nachtlied Es sang vor langen Jahren Wohl auch die Nachtigall, Das war wohl süßer Schall, Da wir zusammen waren. 5 10 15 20 Ich sing und kann nicht weinen, Und spinne so allein Den Faden klar und rein So lang der Mond wird scheinen. Als wir zusammen waren Da sang die Nachtigall Nun mahnet mich ihr Schall Daß du von mir gefahren. So oft der Mond mag scheinen, Denk ich wohl dein allein, Mein Herz ist klar und rein, Gott wolle uns vereinen. Seit du von mir gefahren, Singt stets die Nachtigall, Ich denk bei ihrem Schall, Wie wir zusammen waren. Gott wolle uns vereinen Hier spinn ich so allein, Der Mond scheint klar und rein, Ich sing und möchte weinen.