Handout Rebenich - Flucht, Migration, Integration
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Handout Rebenich - Flucht, Migration, Integration
Universität Bern: collegium generale. Fokusthema FS 2016: Flucht, Migration, Integration Zustände wie in der Spätantike? Migration und Integration im Römischen Reich Stefan Rebenich (Historisches Institut, Universität Bern) – 22. 3. 2016 I. Zur Aktualität der Frage – oder: Von „Total War“ bis Alexander Demandt 1. 2015 Total War: Attila. Hierbei handelt es sich um den neunten Teil eines Strategiespieles für Computer, welches das britische Unternehmen Creative Assembly entwickelt hat. Es knüpft an das frühere Spiel „Rome II: Total War. Barbarian Invasion“ an (2004), in dem Spieler bereits als „Horden“ agieren konnten. Auf der offiziellen Website heisst es: „The next instalment in the multi award-winning PC series that combines turn-based strategy with realtime tactics, Total War: ATTILA casts players back to 395 AD. A time of apocalyptic turmoil at the very dawn of the Dark Ages. / How far will you go to survive? Will you sweep oppression from the world and carve out a barbarian or Eastern kingdom of your own? Or will you brace against the coming storm as the last remnants of the Roman Empire, in the ultimate survival-strategy challenge? / The Scourge of God is coming. Your world will burn.“ (https://www.totalwar.com/product/total-war-attila - 20.3.2016). Das deutschsprachige Test-Video betont: „So viel Spass kann Brandschatzen machen“ (https://www.youtube.com/watch?v=o-FFuZwhIMQ). 2. Alexander Demandt, Untergang des Römischen Reiches, in: FAZ vom 21. März 2016: „Das Römische Reich war fremdenfreundlich. Doch Einwanderer liessen sich nur in überschaubarer Zahl integrieren. Das Machtgefüge verschob sich. Den Fremden blieb das Reich fremd – trotzdem übernahmen sie die Macht.“ Vgl. NZZ am Sonntag vom 31. März 2016: „Zuwanderer brachten den Untergang“: „Schon vor 1600 Jahren kam es in Europa zu grossen Flüchtlingsströmen. Das damalige Römische Reich war Fremden wohlgesinnt und nahm die Migranten auf. Doch deren Zahl war zu hoch. Sie liessen sich nicht integrieren. Schliesslich übernahmen die Zuwanderer die Macht.“ Alexander Demandt (geb. 1937) war bis 2005 Ordinarius für Alte Geschichte an der FU Berlin und hat zahlreiche Beiträge zur Geschichte der Spätantike vorgelegt. Den Text hatte zuvor die CDU-nahe Zeitschrift „Die Politische Meinung“ mit der Begründung abgelehnt, er könne in der aktuellen politischen Situation missinterpretiert werden. Dazu Demandt in der FAZ: „Wir müssen den Zustrom begrenzen. Das weiss im Grunde auch jeder. Dazu muss man nehmen. Denn es muss sich erst herumsprechen, dass es sich nicht lohnt, nach Härten in Kauf Deutschland zu kommen. Wir dürfen unsere Souveränität nicht aufgeben. Frau Merkel darf nicht zum Wohle fremder Regierungen und auf Kosten des deutschen Volkes handeln. Ihr Amtseid sieht das Gegenteil vor. Hier schwingt ein moralisches Überheblichkeitsgefühl mit. Man muss sich für das eigene Volk einsetzen – und nicht davonlaufen.“ II. Zur Chronologie – oder: Die lange Spätantike HARTWIN BRANDT, Das Ende der Antike. Geschichte des spätrömischen Reiches, C.H.Beck Wissen, München 42010; RENE PFEILSCHIFTER, Die Spätantike: Der eine Gott und die vielen Herrscher, München 2014. 284 Herrschaftsantritt des römischen Kaisers Diocletian 312 Constantin besiegt Maxentius an der Milvischen Brücke (in hoc signo vinces) 324 Constantin wird Alleinherrscher 325 Erstes Ökumenisches Konzil in Nicäa 378 Schlacht bei Adrianopel: Der römische Kaiser Valens fällt im Kampf gegen die Goten 381 Zweites Ökumenisches Konzil in Konstantinopel 382 Ansiedelung von Westgoten in Thrakien 1 383 Der Streit um den Altar der Victoria 393 Die letzten Olympischen Spiele der Antike 394 Der römische Theodosius besiegt den Usurpator Eugenius am Frigidus 395 Tod Theodosius’ d. Gr. „Reichsteilung“ unter seinen Söhnen 408 Tod Stilichos (Vandale; Heermeister) 410 Alarich erobert Rom 415 Die altgläubige Philosophin Hypatia wird vom christlichen Mob in Alexandrien ermordet 430 Augustin stirbt bei der Belagerung von Hippo durch die Vandalen 438 Publikation des Codex Theodosianus 451 Schlacht auf den Katalaunischen Feldern: Aëtius besiegt Attila (‚Etzel’) 455 Die Vandalen unter Geiserich plündern Rom 476 Der letzte weströmische Kaiser Romulus Augustulus wird von dem Germanen Odoaker abgesetzt 497 (?) Taufe des fränkischen Königs Chlodwig 529 Der oströmische Kaiser Justinian I. schliesst die Platonische Akademie in Athen 534 Publikation des Codex Justinianus 546 Der ostgotische Herrscher Totila erobert Rom 565 Tod Justinians 568 Einmarsch der Langobarden in Italien 622 „Hedschra“: Mohammed wandert nach Medina aus 632 Tod Mohammeds in Medina 641 Tod des byzantinischen Kaisers Herakleios I. 732 Schlacht von Tours und Poitiers: Karl Martell besiegt die Araber 800 Kaiserkrönung Karls d. Gr. III. Zur Forschung – oder: quot homines, tot sententiae ALEXANDER DEMANDT, Der Fall Roms. Die Auflösung des Römischen Reiches im Urteil der Nachwelt, München 1984; STEFAN REBENICH, Late Antiquity in Modern Eyes, in: Philipp Rousseau (Hg.), Blackwell Companion to Late Antiquity, Oxford 2009, 77-92. Was brachte das Imperium Romanum zum Fall? Waren es die „invasions barbares“? Moralische Dekadenz und innere Bürgerkriege? Oder doch die Christen? Ging das Römische Reich überhaupt unter? Oder verwandelte es sich im Laufe mehrerer Jahrhunderte? Ist die Spätantike eine Epoche des Niedergangs oder Übergangs, der Kontinuität oder der Diskontinuität? 1. Edward Gibbon (1737-1794): Die unvermeidliche Folge übermässiger Grösse History of the decline and fall of the Roman Empire, Bd. 1: 1776; Bd. 2-3: 1781; Bd. 4-6: 1788. Massgebliche Ausgabe von J.B. Bury, 7 Bde., London 1896-1900 u.ö. – Deutsche Ausgabe der ersten 38 Kapitel: Edward Gibbon, Verfall und Untergang des römischen Imperiums, 6 Bde., München: dtv 2003. 2. Jacob Burckhardt (1818-1897): Die Apolitie der Besten Die Zeit Constantins des Grossen, 1853; Leipzig 21880; München 1982; Massgebliche Ausgabe: Jacob Burckhardt Werke, Bd. 1, hg. v. Hartmut Leppin et al., München/Basel 2013. Vgl. Über das Studium der Geschichte (Weltgeschichtliche Betrachtungen), München 1982; Jacob Burckhardt Werke, Bd. 10, hg. v. Peter Ganz, München/Basel 2000. 3. Otto Seeck (1850-1921): Ausrottung der Besten Geschichte des Untergangs der antiken Welt, 6 Bde, Stuttgart 1-41920-23 (ND Darmstadt 1966 und 2000). 4. André Piganiol (1883-1968): Die Germanen waren die Schuldigen. „La civilisation romaine n’est pas morte de sa belle mort. Elle a été assassinée.“ L’Empire chrétien (325-395), Paris 1942, 21972. 5. Peter Brown (geb. 1935): Die Spätantike als Epoche des Wandels und der Kreativität The World of Late Antiquity from Marcus Aurelius to Muhammad, London 1971 (dt.: Welten im Aufbruch. Die Zeit der Spätantike. Von Mark Aurel bis Mohammed, Bergisch Gladbach 1980); The Making of Late Antiquity, Cambridge/Mass. 1978 (dt.: Die letzten Heiden. Eine kleine Geschichte der Spätantike, Berlin 1986). 6. Peter Heather (geb. 1960): Die Rückkehr der Katastrophentheorie The Fall of the Roman Empire, London 2005 (dt.: Der Untergang des Römischen Weltreichs, Stuttgart 2007); Empires and Barbarians: Migration, Development, and the Birth of Europe, London 2009 (dt.: Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus, Stuttgart 2011). IV. Zur Terminologie – oder: Ohne Latein geht’s nicht migratio > migrare. 1. transitiv: mit Kind und Kegel nach einem anderen Ort ziehen, um dort zu wohnen; 2. intransitiv: wegbringen, fortschaffen. 2 Dazu TASSILO SCHMITT, Art. „Migration“, in: Der Neue Pauly 8, 2000, 159-161: Im Lateinischen bezeichnet migratio „das mehr als nur kurzfristige Verlegen des Aufenthaltes von einzelnen oder von Gruppen an einen anderen Ort“. Sesshaftigkeit galt als (zivilisatorische) Norm. Organisierte Formen der Wanderschaft (z.B. Kolonisationsbewegungen) wurden positiv bewertet und scharf von einer dauerhaften ‚barbarischen’ Wanderexistenz (Nomadentum) abgegrenzt. Kulturell geprägter Migrationsbegriff. BRENT D. SHAW, „Eaters of Flesh, Drinkers of Milk.“ The Ancient Mediterranean Ideology of the Pastoral Nomad, Ancient Society 13/14 (1982/83), 5-31 = ders., Rulers, Nomads, and Christians in Roman Northern Africa, London 1995, ch. VI. Migration wurde in der Antike meist als Massenphänomen wahrgenommen: Nicht das Individuum oder die Familie begaben sich auf Wanderschaft, sondern Völker (nationes) und Stämme (lat. gentes). Der spätantike Historiker Amminanus Marcellinus beschrieb die Expansion der Hunnen so: Q 1 Amm. Marc., Res Gestae 31, 2, 1; 12: Das Volk der Hunnen ist in alten Berichten nur wenig bekannt. Es wohnt jenseits der Mäotischen Sümpfe [sc. das Asowsche Meer], nahe dem Eismeer, und es ist über alle Massen wild. […] Dieses kampftüchtige, unbändige Menschengeschlecht brennt vor entsetzlicher Gier, fremdes Gut zu rauben; es durchquerte plündernd und mordend die Nachbarländer und drang bis zu den Alanen, den einstigen Massageten, vor. Hunorum gens monumentis veteribus leviter nota ultra paludes Maeoticas glacialem oceanum accolens, omnem modum feritatis excedit. […] Hoc expeditum indomitumque hominum genus, externa praedandi aviditate flagrans inmani, per rapinas, finitimorum grassatum et caedes ad usque Halanos pervenit, veteres Massagetas. Übersetzung nach Wolfgang Seyfarth (geändert) JOHN F. MATTHEWS, The Roman Empire of Ammianus, London 1989, 332-342. Aus ethnographischer und historiographischer Sicht wurden solche Wanderungsbewegungen allerdings als überwundene Stufe der zivilisatorischen Entwicklung wahrgenommen. „Das Nomadentum [...] diente [...] auch als vergegenständlichtes Paradigma der Furcht vor Regression und Niedergang“ (SCHMITT, aO., 160). Untergang als Konsequenz von „Völkerwanderungen“, d.h. Bedrohung der Sesshaften durch nicht-sesshafte Migranten. So formulierte der lateinische Kirchenvater Hieronymus 409 n. Chr., d.h. am Vorabend der Einnahme Roms durch Alarich: Q 2 Hier., ep. 123,16,4: quid salvum est, si Roma perit? Was bleibt heil, wenn Rom untergeht? Den Fall Roms selbst verglich Hieronymus in ep. 127,12 mit der Bestrafung Moabs im Alten Testament, der Zerstörung Jerusalems und dem Untergang Trojas: Q 3 Hier. ep. 127,12,2 (vgl. Verg. Aen. 2,361-365; 369). Wer kann das Gemetzel der Nacht, wer die Menge der Leichen schildern? Wer hat für das Leid genug Tränen? Jetzt stürzt die alte Stadt, die viele Jahrhunderte geherrscht hat! Massenhaft liegen auf den Strassen reglos überall die Leichen und ringsum herrscht Entsetzen und Tod in tausend Gestalten. quis cladem illius noctis, quis funera fando explicet aut possit lacrimis aequare dolorem? urbs antiqua ruit multos dominata per annos plurima perque vias sparguntur inertia passim corpora perque domos et plurima mortis imago. Übersetzung nach Johannes Götte (geändert) STEFAN REBENICH, Christian Asceticism and Barbarian Incursion: The Making of a Christian Catastrophe, in: Journal of Late Antiquity 2, 2009, 49-59. Individuelle Migration war Gegenstand komplexer rechtlicher Regelungen, die den Fremden und Nichtbürger (lat. peregrinus > peregre [per und ager]: ausserhalb der Stadt, in der Fremde) klar von dem Bürger (lat. civis, Pl. cives) abgrenzten. Integration (> integrare: 3 wiederherstellen, ergänzen, erneuern) verlief im Römischen Reich juristisch über die Verleihung des Bürgerrechts. – In der Spätantike fassen wir nach der Schlacht von Adrianopel (3. August 378) die Ansiedlung von reichsfremden Gruppen auf Vertragsbasis (lat. foedus) auf dem Gebiet des Imperium Romanum (sog. foederati). Sie waren autonom, mussten keine Steuern bezahlen und erhielten Geldzahlungen; dafür hatten sie die Römer militärisch zu unterstützen ( TIMO STICKLER, The Foederati, in: Paul Erdkamp (Hg.), The Blackwell Companion to the Roman Army, Oxford 2007, 495–514). Konsequenzen aus dem status quaestionis: „Die Überwindung des Vorurteils von der angeblichen Statik vormoderner Gesellschaften führte zur Entdeckung der Migration als Forschungsfeld auch für diese Epochen und lenkte damit den Blick auf ein kompliziertes Bedingungsgeflecht historischen Wandels durch Transfer von Technologien und Vorstellungen, aber auch von Krankheitserregern mit jeweils innovatorischen oder destruktiven Konsequenzen. Um es weiter zu entwickeln, bedarf es – nicht nur wegen der für diese Fragen sehr sperrigen Überlieferung – eines methodisch und theoretisch weit gespannten interdisziplinären Horizontes, vor dem die Einheit des Phänomens zu konstituieren, gegenüber simplifizierenden und Vorurteile reproduzierenden Generalisierungen Grenzen abzustecken sind, Typologien und Periodisierungen gewonnen und zugleich die Bedeutung empirischer Studien deutlich gemacht werden müssen“ (SCHMITT, aO., 160). V. Zustände wie in der Spätantike? – oder: Migration und Integration als Forschungsthema 1. Die neuere, interdisziplinär orientierte althistorische Forschung fokussiert vor allem folgende Fragenkomplexe (siehe etwa das Grossprojekt „Transformation of the Roman World“ der European Science Foundation, 1993-1997): Charakter des Übergangs zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Absage an den Begriff der „Völkerwanderung“? „Diffusion von Kulturen“ (Michael Borgolte)? MICHAEL BORGOLTE, Migrationen als transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Europa. Ein neuer Pflug für alte Forschungsfelder, in: Historische Zeitschrift 289, 2009, 261-285; DERS.; MATTHIAS M. TISCHLER (Hgg.), Transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Jahrtausend. Europa, Ostasien, Afrika, Darmstadt 2012. Oder doch „barbarian invasions“ (Peter Heather)? Das Phänomen der Ethnogenese. Ethnische Identitäten und soziale Kohäsion von Grossgruppen: relativ homogene Völker, multiethnische Verbände oder mobile Kriegergruppen? Migration als ubiquitäres Phänomen, das für politische, soziale, militärische, kirchliche und wirtschaftliche Strukturen überlebensnotwendig ist, zugleich aber von den Zeitgenossen durchaus ambivalent wahrgenommen wird. Verschiedene Formen von Migration. Einfälle von ‚barbarischen’ Kriegergruppen, aber auch Binnenmigration (Arbeitskräfte, Kleriker, Sklaven). Unterscheidung von Push- und Pull-Faktoren. Interesse des Staates und einzelner Akteure an der Migration. Z.B. die Ansiedlung von ‚Barbaren’: Neue Soldaten für das Reich? Neue Arbeitskräfte für die Latifundien? Differenzierung von Migration und Mobilität. Migration als spezifische Form der Mobilität verstanden. HEIKO STEUER, Art. „Mobilität“, in: Reallexikon für Germanische Altertumskunde 20, 2002, 118-123. Kollektive und individuelle Mobilität: In der Spätantike waren nicht nur ethnisch definierte Gruppen auf Wanderschaft, sondern auch agrarische Arbeitskräfte und Sklaven. Hinzu kamen Händler, Geistliche, Mönche, Diplomaten, Professoren – und Pilger. Unterschiedliche Reaktionen und Formen der ‚Integration’ in geographische Räume und sozio-kulturelle Strukturen (Ansiedlung von foederati, ‚Schollenbindung’ der Kolonen, aber auch die Kontrolle von Mönchen und Klerikern). 4