Architektur im sozialen Kontext

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Architektur im sozialen Kontext
Zu guter Letzt
Architektur im sozialen Kontext
James Frazer Stirlings Werk in einer
Stuttgarter Ausstellung
Paul Stoop
Es wäre für manchen Berliner Vortragssaal
eine praktische Ergänzung, was James Frazer
Stirling in den 1960er Jahren für die Universität Leicester entwarf: eine Wendeltreppe, die
vom Campusrasen direkt zu den letzten Reihen
des hoch über dem Boden schwebenden Hörsaals der Ingenieurs-Fakultät führte. Der Noteingang ermöglicht es verspäteten Studenten,
so diskret in die Vorlesung zu gelangen, dass
sich die Störung in Grenzen hält. Leider hat
kein Architekt im notorisch verspäteten Berlin
den gewitzten Einfall übernommen. Aber diese
eine glasumhüllte Wendeltreppe gibt es immerhin – ein Beispiel für die Eigenwilligkeit,
den Sinn für Praktisches und den Humor des
schottischen Architekten James Frazer Stirling
(1926–1992), der mit seinem langjährigen
Partner Michael Wilford auch das GebäudeEnsemble des WZB entworfen hat.
Die Essenz von Stirlings Werk, seine Arbeitsweise und seine Inspirationsquellen werden
gerade in Stuttgart vorgestellt. Es ist nach New
Haven und London die dritte Station der Ausstellung, die der Stirling-Schüler und Architekturhistoriker Anthony Vidler (The Cooper
Union, New York) kuratiert hat. Vidler konnte
das jüngst vollständig erschlossene und katalogisierte Stirling-Archiv in Montreal nutzen.
Die Werkeinführung gastiert noch bis Mitte Januar 2012 in der Staatsgalerie Stuttgart, dessen Stirling-Anbau 1984 noch heftigere Kontroversen auslöste als der vier Jahre später
fertiggestellte, rosa-blau-gestreifte WZB-Bau.
[Foto: Adelheid Scholten]
Paul Stoop leitet das Referat Information und Kommunikation des
WZB.
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„Notes from the Archive“ heißt die Ausstellung
bescheiden. Sie könne erst ein vorsichtiger
Ansatz zu einer Gesamtschau sein, schreibt Kurator Vidler im Vorwort des Katalogs. Aber die
ausgewählten Zeichnungen, Modelle, Fotos sowie einige charakteristische persönliche Gegenstände bieten schon jetzt reizvolle Einblicke in den Stirling’schen Kosmos. Sie erleichtern es, die Entwicklung eines Gestalters zu
verstehen, den Robert Maxwell, Herausgeber
von Stirlings Schriften, kürzlich in einem
Stuttgarter Vortrag den „ersten globalen Architekten“ nannte, mit großen Projekten in Europa, den USA und Japan.
WZB Mitteilungen Heft 134 Dezember 2011
Stirling war ein genauer Beobachter und ein
exzessiver Sammler, der die räumliche Umgebung immer als Kontext für seine Bauten verstand. Sein erstes Übungsfeld war die Natur.
Penibel führte er als Schüler Buch über seine
vogelkundlichen Exkursionen in die ländliche
Umgebung Liverpools. Das in der Ausstellung
präsentierte, gemeinsam mit einem Freund erstellte Vogel-Buch aus den Jahren 1939 bis
1942 enthält Tagebuchnotizen, Zeichnungen
und Fotos; minutiös sind Nester, Eier, Ruheorte
und Wege dokumentiert und kommentiert. Architekturbeobachtung stand damals noch nicht
auf Stirlings Agenda, setzte aber beim Studium
am Liverpool College of Art umso heftiger ein.
Der Fotoapparat blieb ein treuer Begleiter.
Mappe um Mappe füllte Stirling mit urbanen
Eindrücken: Straßenzüge, Gebäude, Detailansichten. Jedes Foto ist genau beschriftet – eine
systematisch angelegte, im Einzelnen sehr heterogene Fundgrube.
Mit diesen Elementarteilchen spielte Stirling,
nicht beliebig (und nicht postmodern, wie er
als Etiketten-Allergiker betonte), sondern ausgestattet mit einem genau analysierenden und
liebevollen Blick auf die gesamte Architekturgeschichte und die zeitgenössischen Meister.
Wer Stirling vor allem mit den Stuttgarter und
Berliner Bauten in den 1980er Jahren mit ihren teils grellen Elementen verbindet, begegnet im „Archiv“ einem Architekten, der sich
zunächst der geradlinigen, proportionierten
Moderne eng verbunden fühlte. Le Corbusier
war ihm wichtig, Stirling setzte sich mit dem
Werk von „Corb“ in den 1950er Jahren produktiv auseinander.
Aber das lange Zeit beherrschende Thema
„Form und Funktion“ verlor nach dem 2. Weltkrieg für Stirling und viele seiner Generation
an Bedeutung. Für ihn spielten „Kontext und
Assoziation“ die entscheidende Rolle. Die Einbettung seiner Bauten in den gewachsenen sozialen Raum war ihm wichtig. Das zeigt sich
nicht zufällig in manchen der ausgestellten
Zeichnungen: Die Pläne sind voller Menschen,
wirken belebt. Der Blick des Architekten geht
ins Innere, sieht Bewegung, Begegnung und
Sammlung der Möglichkeiten.
Nachdem sich herauskristallisiert
hatte, dass die einzelnen WZB-Anbauten jeweils unterschiedliche
Formen aus der Architekturgeschichte haben sollten, stellte Stirling eine Liste der Möglichkeiten
zusammen: links eine Reihe vom
frühmodernen runden Turm (silo)
über das zeitgenössische Bürogebäude und den griechischen Tempel bis zum spätägyptischen Tempel; rechts eine knappere Auswahl,
bei der auch aktuelle Formen in
Betracht gezogen wurden: Frank
Lloyd Wrights Larkin-Bau in Buffalo, New York (1905, abgerissen
1950), und Mies van der Rohes
Crown Hall des College of Architecture, Planning and Design
(Illinois Institute of Technology,
Chicago), die am Ende nicht zu den
ausgewählten fünf Formen ge­
hörten.
Kommunikation im Bau. Die Perspektive verharrt aber nicht im Inneren, sondern ist gleichzeitig wieder nach außen gerichtet. Die Treppe
für die zu spät Kommenden in Leicester war so
eine Idee, die der räumlichen Alltagserfahrung
und der visionären Belebung der imaginierten
Architektur entsprungen ist.
Auch seine Zeichenweise belegt den Wert, den
Stirling dem Räumlichen beimaß. Wenn er eine
Idee entwickelte, war der erste große Schritt
zur Visualisierung für ihn die axonometrische
Darstellung; Stirling zeigte den Bau in jenen
Zeiten vor den digitalen 3D-Möglichkeiten in
der Draufsicht. Der Grundriss, mit dem viele
andere Architekten den ersten Schritt der Darstellung leisteten, entstand bei Stirling erst im
späteren Verlauf des Prozesses. Es ist mehr als
ein kleiner Gag, dass eine der Zeichnungen für
seine Abschlussarbeit ihn selbst in einem Helikopter zeigt, der das Werk, das Haus für einen
Ranger, von oben umkreist. Auch der spezielle
Reiz realisierter Stirling-Bauten, die Beziehungen der einzelnen Bauteile zueinander und zur
Umgebung, erschließt sich am besten aus der
Draufsicht, beim WZB etwa vom hohen Bibliotheksturm aus – für alle, die gerade keinen Helikopter zur Hand haben.
Die in Stuttgart präsentierten Zeichnungen
vermitteln beispielhaft Stirlings Schaffensprozess. Sie sind wohl noch nicht immer in der
exakten zeitlichen Reihenfolge, wie der Kurator anmerkt; dafür bräuchte es noch vieler
Jahre detaillierten Archivstudiums. Aber an
der Darstellung des WZB lässt sich nachvollziehen, wie Stirling zunächst alle möglichen Formen sammelte, manche gleich wieder ausschloss, dann wieder neue aufnahm, um mit
einer kleinen Auswahl favorisierter Formen
weiter zu spielen (siehe Abbildung). Die Strukturierung der Gebäudeteile leitete er nicht ab
von einer Großidee, einer Theorie oder von bedeutisierenden Zahlen- und Linienspielen, sondern entwickelte sie durch Probieren, Herumschieben, Kombinieren, dann den Austausch
einzelner Formen. So gelangte er schließlich zu
einer Anordnung, wie wir sie heute als WZB
kennen. Der manchmal als beliebig kritisierte
Stirling war kein Verbaltheoretiker, sondern
ein tief in der Tradition verwurzelter Theoretiker des praktizierenden Forschens.
Das Entscheidende war für Stirling dann aber
das Leben in den so assoziierten Formen und
Räumen. In Melsungen sagte er 1992, kurz vor
seinem Tod, bei der feierlichen Eröffnung der
gemeinsam mit Michael Wilford entworfenen
Braun-Fabrik: „Ich hoffe, dass alle, die hier arbeiten werden, diese Bauten als so leicht zu
besetzen empfinden wie die Falkenfamilien,
die sich ohne Weiteres in den von uns aufgestellten Vogelhäusern auf dem höchsten Gebäude niedergelassen haben.“ Hier sprach der
frühere birdwatcher, der Architekt mit dem
Auge für das wirklich Wichtige: die soziale Dimension dessen, was nur scheinbar leblose
Materie ist.
[Abbildung: James Stirling, Michael Wilford
and Associates , Wissenschaftszentrum,
Berlin: typological study, 1979-87
Canadian Centre for Architecture, Montréal.
James Stirling/Michael Wilford fonds, ink
and graphite on paper 20.9 x 29.9 cm.
AP140.S2.SS1.D57.P6.15]
Die Ausstellung James Frazer Stirling. Notes from the Archive ist bis
zum 15. Januar 2012 im Altbau der
Staatsgalerie Stuttgart zu sehen.
Der Katalog zur Ausstellung ist herausgegeben von Anthony Vidler
(erschienen 2011 bei Yale University Press, New Haven und London,
in Zusammenarbeit mit dem Canadian Centre for Architecture und
dem Yale Center for British Art,
303 Seiten).
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Zerbrechlich. Die Stuttgarter Staatsgalerie widmet sich in einer aktuellen Ausstellung dem Werk des Architekten James Frazer
Stirling. Dieses Modell des Wohnhauses für einen Architekten verpackte der junge Stirling umsichtig für den Postversand – gebaut
wurde das Haus nicht. Stirling, der gemeinsam mit Michael Wilford den Anbau der Staatsgalerie entworfen hat, gestaltete auch das
heutige Gebäude des WZB. In der Ausstellung „Notes from the Archive“ geben Arbeitsskizzen unter anderem Aufschluss über die
gestalterische Entwicklung der rosa-blauen Anbauten des WZB (siehe den Bericht über die Ausstellung auf den Seiten 66-67).
[Foto: James Frazer Stirling, Architektenhaus, Modell 1948 oder 1949, AP140.SS1.D3.P3, James Stirling/Michael Wilford fonds, Canadian Centre for Architecture, Montréal]

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