Leseprobe - Delius Klasing

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Leseprobe - Delius Klasing
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
1. Auflage
ISBN 978-3-667-10445-8
© Delius Klasing & Co. KG, Bielefeld
Lektorat: Niko Schmidt
Bildredaktion: Stefan L. Scholtz, Hamburg
Einbandgestaltung und Layout: Jörg Weusthoff / Weusthoff Noël, Hamburg
Lithografie: scanlitho.teams, Bielefeld
Druck: Westermann Druck, Zwickau
Printed in Germany 2016
Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett
noch teilweise reproduziert, übertragen oder kopiert werden, wie z. B.manuell oder mithilfe elektronischer
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Delius Klasing Verlag, Siekerwall 21, D - 33602 Bielefeld
Tel.: 0521/559-0, Fax: 0521/559-115
E-Mail: [email protected] ∙ www.delius-klasing.de
INHALT
Der Moment .............................................................. 6
Vorwort .................................................................... 14
Legenden ................................................................. 16
Weltmeister bleibt man für immer .................... 22
Essay: Torwart. Das unbekannte Wesen ........ 34
Enfants Terribles ................................................... 38
Fab Four: Knipser .................................................. 48
Legenden ................................................................. 52
Pioniere .................................................................... 58
Gentlemen & Ästheten ......................................... 64
Herrscher ohne Reich .......................................... 74
Fab Four: Elfmeterkiller ...................................... 80
Interview: Oliver Kahn über das
»Phänomen Torwart«............................................. 88
Legenden ................................................................. 92
Dauerbrenner.......................................................... 94
Tragische Helden ................................................ 100
Fab Four: Südamerikas Stolz ........................... 108
Champions ............................................................ 112
Playboys & Platzhirsche ................................... 124
Fab Four: Made in Germany ............................. 130
Legenden ............................................................... 134
Fab Four: Pannenkönige ................................... 140
Bert Trautmann
LEGENDEN
Sein Leben liest sich wie ein Roman.
Im Zweiten Weltkrieg kam Bert
Trautmann (* 1923, † 2013) in
britische Gefangenschaft. Nach der
Freilassung verzichtete der Bremer
auf die Rückführung nach Hause und
wurde vom Erstligisten Manchester
City entdeckt. Obwohl mehr als
20 000 Anhänger gegen die
Verpflichtung des Deutschen de­
monstrierten, unterschrieb er 1948
einen Vertrag bei den »Citizens«.
Mit seiner Furchtlosigkeit, seiner
Bescheidenheit und dem unumstößlichen Verständnis von Fairplay gelang
es ihm schnell, die Herzen der Nord­
engländer zu erobern. Unsterblich
wurde Trautmann im FA-Cup-Finale
1956, als er sich in der 75. Minute in
eine Hereingabe warf und von einem
heranstürmenden Gegner mit dem
Knie im Nacken getroffen wurde. Da
Spielerwechsel nicht erlaubt waren,
blieb der Blondschopf trotz furcht­
barer Schmerzen auf dem Rasen und
sorgte so maßgeblich dafür, dass
ManCity den Pokal holte. Eine späte­­re
Untersuchung ergab, dass er sich
bei der Aktion einen Genickbruch
zugezogen hatte und dem Tod nur
knapp entronnen war. Für seine
Heldentat wurde er zu »Englands
Fußballer des Jahres« gewählt.
Obwohl Bert Trautmann als einer
der größten Torhüter seiner Zeit
galt, wurde er nie in die Nationalelf
berufen, weil der DFB damals nur
Spieler nominierte, die bei deutschen
Klubs unter Vertrag standen. Dafür
zeichnete die Queen ihn für seine
Verdienste für die englisch-deutsche
Völkerverständigung mit einem
Orden aus.
:::
19
WELTMEISTER BLEIBT MAN
Manuel Neuer
FÜR IMMER
In der Ahnengalerie bedeutender deutscher Torleute, ist er der große Stoiker. In Interviews wirkt er –
unabhängig vom Ausgang des Spiels – oft gelangweilt,
mitunter fast abwesend. Hin und wieder blitzt ein
Hauch von Ironie auf, aber wirklich aus der Fassung
hat die Welt Manuel Neuer (* 1986) noch nie erlebt.
Auch die tiefe Abneigung vieler Bayern-Fans, die sich
2011 mit der Aktion »Koan Neuer!« gegen den Wechsel
des Ur-Schalkers nach München aussprachen, nahm
er kühl zur Kenntnis. Er konzentrierte sich lieber darauf, weiter nahezu fehlerlos seinen Job zu versehen.
Sein Gleichmut spiegelt sich auch in seiner Spielweise
wider. Glanzparaden bei unhaltbaren Bällen liefert er
ebenso emotionslos ab wie tödliche Pässe in die Tiefe
des Raums oder spektakuläre Rettungsaktionen. Sollte
Neuer eines Tages ein Denkmal gebaut werden, so
wird es ihn wohl mit emporgerissenem Arm wie die
Freiheitsstatue zeigen. Mit diesem Handgriff rettete
er die DFB-Elf im WM-Viertelfinale 2014 gegen Frankreich vor dem Ausgleichstreffer durch Karim Benzema.
Zuvor hatte Neuer sein Team bereits mit etlichen
waghalsigen Ausflügen gegen Algerien im Spiel gehalten. Die große Sicherheit, die der Gelsenkirchener
beim Turnier in Brasilien ausstrahlte, war ein zentraler
Faktor für den späteren Titelgewinn von Jogis Jungs.
Als in Rio der Abpfiff ertönte, erlebte die Welt denn
auch die andere Seite des Manuel Neuer. Außer sich
vor Freude fiel er oben auf das Knäuel aus feiernden
Kickern (Foto oben). Und als die Nationalelf später am
Brandenburger Tor zu den Klängen von Schlagerstar
Helene Fischer feierte, wirkte er beim Disco Jive regelrecht ausgelassen. Kein Wunder, schließlich rückte
er als Weltmeister endgültig in die Riege der besten
Schlussmänner aller Zeiten auf. :::
23
Hans van
Breukelen
Joël Bats
Eigentlich war die Karriere von Joël
Bats (* 1957) bereits vorbei, bevor
sie richtig begonnen hatte. Mit
24 Jahren wurde bei ihm Hodenkrebs
diagnostiziert. In der Chemotherapie
ließ sich seine Frau von ihm scheiden.
Bats begann damit, Gedichte zu
schreiben, um den Schmerz zu überwinden, fasste neuen Lebensmut und
kämpfte sich zurück. 1984 hütete er
das Tor der französischen Elf, die in
Paris Europameister wurde. Bei der
WM 1986 hielt er im epochalen Viertelfinale gegen Brasilien zwei Elfmeter
und wurde als Held gefeiert. Doch
das Drama ließ nicht lange auf sich
warten: Im darauffolgenden Halbfinale
ließ er einen Freistoß von Andreas
Brehme durchrutschen – und brachte
sein Team auf die Verliererstraße.
»Mehr als je zuvor frage ich nach
dem wirklichen Sinn des Lebens«,
sagte er nach dem K. o. gegen die
DFB-Auswahl traurig. Doch sein
Selbsterhaltungstrieb war größer als
die Depression – und er reüssierte
fortan als Interpret von Kinderliedern.
Bats größter Hit: »L’escargot« (dt.:
»die Schnecke«).
:::
ENFANTS TERRIBLES
Der blonde Hans aus Utrecht war
als Aktiver ein Besessener: Lange
bevor Spieldaten mithilfe spezieller
Computerprogramme ausgewertet
wurden, notierte der Niederländer
bereits minutiös alle Infos über
Gegner und archivierte diese in
Karteikästchen, um sie bei Bedarf
herauszuholen und seine Chancen
bei Torschüssen zu berechnen.
Eine Akribie mit positiven Folgen:
Hans van Breukelen (* 1956) galt
als Elfmetertöter – lange bevor
Jens Lehmann mit einem Notizzettel
Fußballgeschichte schreiben sollte.
Zudem erwarb er sich den Ruf als
Heißsporn, bei den großen Duellen
zwischen Deutschland und Holland
Ende der 1980er-Jahre ging er
keinem Scharmützel aus dem Weg.
Im WM-Achtelfinale 1990 knöpfte er
sich schon kurz nach Anpfiff Rudi
Völler vor und peitschte die Situation derart an, dass am Ende gleich
zwei Spieler vom Platz flogen: der
deutsche Stürmer und Hollands
Frank Rijkaard. Später bereute er
den Auftritt: »Ich wollte unbedingt
gewinnen, gerade wegen der
Niederlage von 1974«, erklärte van
Breukelen seine Ausraster mit der
Niederlage, die das Oranje-Team
einst im WM-Finale in München
gegen Deutschland erlitten hatte,
»und euren Rudi habe ich dafür
gehasst, dass er das Gleiche wollte.
Wir waren wie Brüder, die sich
gegenseitig fertigmachen. Ein
bisschen wie Kain und Abel.« :::
41
Uli Stein
Gegentore gingen ihm unglaublich auf die Nerven. Bei Halbzeitansprachen kam es vor, dass Uli Stein (* 1954) fehlte, weil er zur
Entspannung auf der Toilette eine Zigarette rauchte. Ein Torwart mit genialen Momenten, der sich allerdings mit seiner exzentrischen Ader ab und an selbst im Weg stand. Bei der WM 1986 wurde Stein vorzeitig nach Hause geschickt, weil er Teamchef
Beckenbauer »Suppenkasper« genannt haben soll. Bei seinem Herzensverein, dem HSV, wurde er entlassen, weil er BayernStümer Jürgen Wegmann 1987 nach einem Tor einen Faustschlag verpasste. Unvergessen auch die Rote Karte, die er erhielt, als
er sich als Keeper von Eintracht Frankfurt 1989 weigerte, nach einem Gegentreffer des FC Bayern in sein Tor zurückzukehren.
Als ihn der Unparteiische verwarnte, klatschte Stein nur höhnisch Applaus – und durfte vorzeitig zum Duschen.
:::
Wolfgang Kleff
Leistung bringt. Bot sich aber die
Gelegenheit, war Kleff stets gut für
einen Gag. So entledigte er sich nach
Abpfiff seines letzten Heimspiels für
Fortuna Düsseldorf vorm Fanblock
seiner Klamotten und zeigte dem
Präsidium, das seinen Vertrag nicht
verlängert hatte, den nackten
Hintern. Kleffs Kommentar: »Ich
habe den Fans nur gegeben, was
sie wollten.«
:::
ENFANTS TERRIBLES
Wenn gegnerische Fans »Otto ist
nervös!« skandierten, täuschte er
zitternde Knie vor und sorgte für
Stimmung auf den Rängen. Die
Ähnlichkeit mit Otto Waalkes brachte
Wolfgang Kleff (* 1946) sogar eine
Rolle als Friseur im ersten Kinofilm
des Komikers ein. Doch der Rückhalt
der Gladbacher Fohlen wusste, dass
sich ein Keeper Showeinlagen nur
erlauben kann, wenn er kontinuierlich
43
Oliver Kahn
LEGENDEN
»Eier, wir brauchen Eier«. »Weiter,
immer weiter.« Die Weisheiten des
Oliver Kahn (* 1969) sind Monumente des Unzweifelhaften. Erfolgsformeln eines adrenalinschwangeren
Willensmenschen. Mantras des
Überzeugungstäters. Kein Torwart hat
so öffentlichkeitswirksam den Kampf
mit dem inneren Schweinehund
ausgetragen – und stets aufs Neue
für sich entschieden. Oliver Kahn
brauchte keinen Coach, um sich zu
motivieren. Er brauchte nur sich
selbst. Misserfolge waren im System
des »Titans« nicht einprogrammiert.
Wenn ihn Fans mit Bananen bewarfen,
spornte ihn der Spott erst an. Als
er 1999 in der Verlängerung des
Champions-League-Finals mit dem
FC Bayern noch zwei Treffer fing –
und die sicher geglaubte Krone in der
»Königsklasse« aus der Hand gab –,
verglich er die Niederlage mit einem
Todesfall. Doch aus jedem Verlust
ging er gestärkt hervor. Im Endspiel
2001 war er mit seinen Paraden
im Elfmeterschießen gegen den
FC Valencia der Vater des Erfolgs.
Am Gipfel seines Schaffens, bei der
WM 2002 in Asien, schien er lange
unverwundbar. Erst im Endspiel ließ
er einen Ball von Ronaldo abprallen,
brachte Brasilien damit auf die
Siegerstraße und wirkte urplötzlich
menschlich. Und dem dreimaligen
Welttorhüter wurde bewusst: Erst die
Brüche in einer Biografie machen
aus einem wie ihm – dem perfektionistischen Terminator – eine große,
zeitlose Sportlerpersönlichkeit (siehe:
Interview ab Seite 88).
:::
87
»ICH BIN EIN
SPIELVERDERBER«
INTERVIEW
OLIVER KAHN ÜBER DAS »PHÄNOMEN TORWART«
88
OLIVER KAHN
Oliver Kahn, stimmt der Spruch:
»Torwart und Linksaußen haben ’ne
Macke«? Warum ausgerechnet der Linksaußen ’ne Macke haben soll, ist mir nicht
ganz klar. Als Torwart hingegen braucht
man eine bestimmte charakterliche
Veranlagung.
Das bedeutet? Feldspieler zu sein,
macht Spaß. Ob auch es auch gute Laune
macht, im Tor zu stehen, muss jeder
selbst beurteilen.
Im Gegensatz zum Spieler besteht
die Aufgabe des Keepers in erster
Linie darin, zu reagieren. Sprich:
kein Tor zu fangen. Der Torwart ist
ein Spielverderber. Die Leute kommen ins
Stadion, weil sie schöne Ballkombinationen und Tore sehen wollen. Und dann
steht da hinten einer, der macht allen den
Spaß madig. Aber genau dieser Umstand
war es, der diese Position für mich so
reizvoll macht.
Der Lümmel von der letzten Bank.
Als ich aufwuchs, waren Keeper immer
ganz besondere Typen. Leute, die auch
eine diebische Freude daran hatten, den
Ärger der Zuschauer auf sich zu ziehen.
Die Harmonie zu stören. Kurz: Die, die
Eier hatten, Spielverderber zu sein.
Eine Eigenschaft, die alle großen
Torhüter gemeinsam haben? Glaube
ich nicht. Wenn ich Peter Schmeichel
anschaue, stelle ich fest, dass wir sehr
unterschiedliche Typen sind. Peter ist
vom Wesen ein typischer Däne. Er ist
immer gut drauf, er hat Spaß am Leben
und strahlt große Gelassenheit aus.
Da war ich als Aktiver ganz anders.
Ich brauchte Konstrukte, musste mich
ständig disziplinieren, Konzentration und
Druck aufbauen, um Höchstleistungen
zu bringen. Heute frage ich mich, ob ich
nicht auch auf angenehmere Weise meine
Ziele hätte erreichen können.
Und? Keine Ahnung. Es spielt auch keine
Rolle mehr. Wichtig war, dass ich damals
daran geglaubt habe, dass es der richtige
Weg ist.
Mit anderen Worten: Klassekeeper
lassen sich nicht kategorisieren?
Was alle großen Torhüter verbindet, ist
das tief verankerte Wissen, dass wir
durch unser Verhalten Spiele entscheiden.
Diese ständige Furcht. Natürlich kann ein
Torwart ein Match positiv beeinflussen, es
aber eben auch in eine negative Richtung
wenden. Ich habe das im WM-Finale 2002
auf brutalste Weise erleben müssen. Und
dieser ständige innere Kampf – die Angst
vor dem Blackout zu verdrängen, auf den
Platz zu gehen und Höchstleistungen abzurufen – verbindet alle Schlussmänner.
Kann ein intaktes Team dieses
Gefühl lindern? Nein, niemand außer
einem Keeper kann sich vorstellen, wie es
ist, mit dieser Verantwortung den Platz
zu betreten. Vieles im Fußball hängt von
Zufällen und Glück ab. Dinge, auf die
kein Mensch Einfluss hat. Das merke ich
besonders jetzt, da ich im Fernsehen als
Experte fungiere, und dabei im Prinzip
immer Herr der Lage bin. In einem Fußballspiel aber kann ein Ball vom Pfosten
an die Latte, an mein Schienbein und
von dort an meinen Kopf springen. Dann
entscheidet nur das Glück, ob er reingeht
oder nicht. Und ich als Depp dastehe –
oder als Held.
Gibt es einen Albtraum, den Sie
immer als Aktiver hatten? Na,
welcher wohl? In der aktiven Zeit habe ich
wiederkehrend davon geträumt, dass ich
abstürze.
Kinder, die sich dem Fußball zuwenden, tun dies oft, weil sie sich nach
dem rauschhaften Moment sehnen,
ein Tor zu erzielen. Diese Vorstellung
habe ich nie gehabt. Wenn ich als Kind
beim Bolzen auf dem Feld spielte, kam
es natürlich vor, dass ich ein Tor erzielte.
Ich war dann eher verdutzt darüber, dass
dieses Gefühl durchaus Spaß machen
kann. Habe es aber nie weiter verfolgt.
(Lacht.)
Welche Situation war für Sie mit
dem Gefühl vergleichbar, das ein
Stürmer empfindet, wenn er einen
wichtigen Treffer erzielt? Es gab
viele wichtige Paraden, mit denen ich
Spiele mitentscheiden konnte. Aber
wenn ich eine Situation meiner Karriere
herausgreifen müsste, fällt mir ein Reflex
im Champions-League-Spiel gegen Celtic
Glasgow im Jahr 2003 ein.
Erzählen Sie. Der Ball kam von der
linken Seite in den Strafraum, ich laufe
vom linken zum rechten Pfosten, als der
gegnerische Stürmer bereits aus etwa
acht Metern abzieht. Alles ging so schnell,
dass ich praktisch nichts mehr gesehen
habe. Aber irgendwie zuckte meine Hand,
und der Ball ging nicht ins Tor, sondern
an die Unterseite der Latte.
Was macht diesen Augenblick
für Sie so besonders? Es ist einer
dieser Momente, für die ein Torhüter
jahrelang wie ein Verrückter im Training
arbeitet. Dass er Dinge hält, die das
Auge eigentlich nicht mehr wahrnimmt.
Außenstehende haben das damals gar
nicht mitbekommen, ich selbst habe erst
in der Superzeitlupe gesehen, was mir da
gelungen war.
Gerd Müller hat über sein Erfolgsgeheimnis als Torjäger gesagt:
»Wenns denkst, is’ eh zu spät.« Sie
haben sich als Keeper weitaus mehr
Gedanken über Ihr Spiel gemacht.
Womöglich zu viele.
Wie lässt sich dieses ständige
Reflektieren mit dem Training des
Torhüters in Einklang bringen, das
unerhört redundant wirkt? Es ist wie
bei einem Weltklassepianisten, der bis
zur absoluten Stupidität immer wieder
Etüden kloppt, damit ihm die Technik in
Fleisch und Blut übergeht. Man nennt das
Overlearning. Ein Torwart trainiert so lange und monoton, bis er keinen Gedanken
mehr daran verschwenden muss, wie er
sich im Spiel verhält. Die Technik, mich
fallenzulassen, im richtigen Moment zu
fliegen, muss ich im Schlaf beherrschen,
sonst baue ich mein Torwartspiel auf
einem morschen Fundament auf.
Und in diesem Wissen kann auch
ein denkender Typ wie Sie tagein
tagaus ohne schlechte Laune trainieren? Sie können sich nicht vorstellen,
wie oft ich zum Training gefahren bin,
ohne nur einen Hauch von Motivation zu
haben. Erschwerend hinzu kam, dass
ich mich generell nur selten fit und frisch
gefühlt habe. Aber sobald ich den Platz
betrat, war ich wie in eine andere Welt
gebeamt. Eine Welt, in der es nur darum
ging, diszipliniert zu sein und besser zu
werden. Ich habe mich irgendwann so
daran gewöhnt, dass sich nur nach
richtig hartem, erschöpfendem Training
das Gefühl der Zufriedenheit bei mir
einstellte.
Mohammad ad-Da’ayya’
Bei so einer Zahl verlieren auch
Statistiker schon mal die Übersicht. Waren es 177? Oder 181?
Inzwischen vermerkt die FIFA exakt
178 Länderspiele für Mohammad
ad-Da’ayya’ (* 1972) in ihren Bilanzen. Der saudische Dauerbrenner
debütierte am 24. September 1990
bei einem 4:0-Sieg über Bangladesch
im Nationaltor des Scheichtums. Sein
letztes Match absolvierte der
1,88 Meter große Schlussmann am
11. Mai 2006 gegen Belgien. Zwischen
2006 und 2012 war ad-Da’ayya’ sogar
Weltrekordhalter bei den Länderpartien, dann übertraf ihn der ägyptische
Mittelfeldspieler Ahmed Hassan, der
heute mit 184 Spielen gelistet ist. So
gewaltig die Zahl, so überschaubar sind
die sportlichen Erfolge des Saudis. Bei
allen vier WM-Teilnahmen scheiterte
ad-Da’ayya’ stets in der Vorrunde. Mit
insgesamt 25 Gegentoren bei Weltmeisterschaften – zwölf davon allein
bei der WM 2002 – führt er zudem die
Rangliste der schlechtesten WM-Keeper
aller Zeiten an.
:::
Timo Hildebrand
Der Wormser ist der große Unvollendete unter den deutschen
Keepern. Bei der WM 2006 war Timo Hildebrand (* 1979)
der Kronprinz, der nach Oliver Kahn und Jens Lehmann eine
neue Ära im Nationaltor prägen sollte. Als er 2007 mit dem
VfB Stuttgart die Meisterschaft gewann und mit wehenden Fahnen
zum FC Valencia wechselte, schien es nur noch eine Frage der
Zeit, bis Hildebrand das Zepter übernehmen würde. Doch in
Spanien wurde er Opfer interner Klubquerelen – und er verlor
den Anschluss. Comebacks in Hoffenheim, Lissabon, Schalke
und Frankfurt waren jeweils nur von kurzer Dauer. Doch mit den
885 Minuten, die er in Folge in den Bundesliga-Spielzeiten
2002/03 und 2003/04 ohne Gegentor blieb, hält Hildebrand
zumindest einen bedeutenden Rekord.
:::
Antonio Carbajal
den Rasen die Haartolle, die Frauen
kreischten, wenn er ohne viel Aufhebens dem Gegner die Bälle stibitzte.
Mit fünf WM-Teilnahmen in Folge –
von 1950 bis 1966 – stellte Carbajal
einen Rekord auf, den bis heute nur
Lothar Matthäus und Gianluigi Buffon
einstellen konnten. Dem Mann aus
Mexiko-City reichten gerade mal
48 Länderspiele für diese Bestmarke.
Am Stadion seines langjährigen Klubs in
León, »La Martinica«, hängt zu seinen
Ehren eine Gedenktafel: Sie erinnert an
»El Eterno« – »den Ewigen«.
:::
DAUERBRENNER
Mit seiner stoischen Ruhe entsprach
er so gar nicht dem Klischee des
exzentrischen Latinos, der mit spektakulären Flugeinlagen die Massen in
Aufruhr versetzt. Antonio Carbajal
(* 1929) trug Schnauzbart und
frisierte sich vor jedem Gang auf
99
Jerzy Dudek
Es gibt den »Lambada«, den »Macarena« – und es gibt den »Dudek Dance«.
Benannt nach der Verwirrungstaktik,
mit der Jerzy Dudek (* 1973)
gegnerische Elfmeterschützen vorm
Strafstoß aus dem Konzept brachte.
Wie ein aufgeputschter Gorilla tigerte
der Pole auf der Linie, machte kleine
Hüpfer und Ausfallschritte, während
der Schütze bereits anlief.
Mit dieser Strategie gelang es ihm, im
Champions-League-Finale 2005 die
Elf des AC Mailand derart zu verunsichern, dass im Elfmeterschießen drei
Spieler am Keeper des FC Liverpool
scheiterten. Nach dem Gewinn der
Henkelpotts stieg eine Band namens
The Trophy Boyz mit dem Song »Du
the Dudek« hoch in die britischen
Charts ein.
:::
Kaum zu glauben: Heinz Stuy (* 1945) gewann mit Ajax Amsterdam dreimal in Folge den Europapokal der
Landesmeister – und fing in keinem der Finals ein Tor. Er hält seit 1971 mit 1082 Minuten ohne Gegentreffer
den Rekord in der holländischen Ehrendivision. Und dennoch machte er kein einziges Länderspiel. »Kroket«,
wie Fans ihn zärtlich riefen, weil er Flanken wie eine heiße Krokette abtropfen ließ und erst im zweiten
Zupacken unter Kontrolle brachte, war ein technisch beschlagener Rückhalt, an dem ein Feldspieler verlorengegangen war. Als Ajax 1971 das erste Mal den Europacup gewonnen hatte, ließ Coach Rinus Michels seinem
Keeper freien Lauf und stellte ihn im letzten Ligaspiel gegen die Go Ahead Eagles als Stürmer auf. :::
CHAMPIONS
Heinz Stuy
119
Anhänger machten sich einen Spaß daraus, nach Heimspielen weiße Laken über den Querbalken
des Tores an der Anfield Road zu hängen. »Clean Sheets« versinnbildlichten die Bilanz von Ray
Clemence (* 1948) im Tor des FC Liverpool, der in 665 Pflichtspielen für die »Reds« 323 Mal ungeschlagen blieb. Er war der Fels im Rückraum der Mersey-Kicker in einer bahnbrechenden Ära.
Fünf Meisterschaften, zwei UEFA-Cup-Siege und drei Erfolge im Europapokal der Landesmeister
dokumentieren die atemlose Rallye, die der kantige Keeper mit der fluffigen Bay-City-RollersFrisur zwischen 1966 und ’83 mitverantwortete. Im Nationaltor wechselte er sich stetig mit Peter
Shilton ab. Selbst Experten konnten keinen Qualitätsunterschied zwischen diesen beiden Ikonen
erkennen. Erst als Clemence 1982 freiwillig seinen Dienst quittierte, stieg Shilton auf Jahre zur
unumstrittenen Nummer eins Englands auf. :::
CHAMPIONS
Ray Clemence
123