Air Berlin - Der Hauptstadtbrief

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Air Berlin - Der Hauptstadtbrief
DER HAUPTSTADTBRIEF
Mai 2009
Hintergrund-Dienst aus Berlin für Entscheider und Multiplikatoren
100. Ausgabe
Dies ist die 100. Ausgabe des HAUPTSTADTBRIEF.
Und: Es gibt ihn jetzt seit 10 Jahren.
Berliner Banken-Krise: Ende gut, alles gut?
Der Senat kann sogar mit finanziellem Gewinn rechnen – nach acht Jahren – Ab Blatt 24
Knut ist jetzt zwei Meter groß
Aus 810Nr.
Gramm
DER HAUPTSTADTBRIEF
100
Geburtsgewicht sind 300 Kilo geworden – Ab Blatt 28
Blatt 1
DER 100. HAUPTSTADTBRIEF
3 Was Leser über uns sagen
5 Beschädigte Zuversicht: Angela Merkels
Probleme mit ihren eigenen Leuten
8 Die neuesten Umfrage-Werte (forsa):
In den letzten Wochen kaum Veränderung
9 Der Maler Emil Nolde – im Norden
verwurzelt, in Berlin zuhause
12 Kernkraft ja oder nein?
16 Meisterstück oder Versagen?
Die Meinungen sind durchaus geteilt
19 Geht Berlin am Ende mit Gewinn
aus seiner Bankenkrise hervor?
Auf den Punkt
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
vor Ihnen liegt eine Jubiläums-Ausgabe des
HAUPTSTADTBRIEF – in doppeltem Sinne.
Erstens: Der HAUPTSTADTBRIEF existiert jetzt seit
zehn Jahren. 1999, beim Umzug von Bundestag und
Bundesregierung von Bonn nach Berlin, war er zum
ersten Mal erschienen. Seine Zielgruppe von Anfang an:
Rund 5000 wichtige Entscheider und Multiplikatoren
überall in Deutschland – und an wichtigen Brennpunkten
im Ausland. Speziell in Brüssel.
21 Impressum
22 Knut wächst weiter und ist schon lange kein
Knuddel-Bär mehr
25 Berlins verborgener Olymp:
Die Götter sind zurück
28 Solarzellen mit Nadelstreifen –
eine technische Revolution aus Berlin
30 East Side Gallery – neu
31 Air Berlin: 30. Geburtstag
und weiterhin Sorgen
33 Die neue Astor Film Lounge in Berlin –
ein Mix aus Lichtspielhaus und Luxus
35 Karl-May-Helden kommen in Berlin
zu Musical-Ehren
38 Der „Palast“ ist weg. Kommt
schon bald das „Humboldt-Forum“,
wie der Bundestag es will?
43 Tuchintarsien aus Europa im Museum
Europäischer Kulturen
45 Die Seligmann-Kolumne:
Auch Deutschland darf die islamische Welt
nicht vernachlässigen
48 Dali-Museum im Herzen Berlins:
Dauerausstellung mit 400 Werken
49 Die 60. Berlinale wird 2010 als Jubiläum
gefeiert
DER HAUPTSTADTBRIEF im Internet:
www.derhauptstadtbrief.de
DER
HAUPTSTADTBRIEF
Nr. 100
foto: andreas
schoelzel
foto: andreas schoelzel
Detlef Prinz
Herausgeber
Bruno Waltert
Chefredakteur
Zweitens: Dies ist die 100. Ausgabe des
HAUPTSTADTBRIEF. Wie einige unserer Leser
heute, nach oft zehnjähriger Lektüre, über ihn denken,
lesen Sie auf Blatt 3 und Blatt 4. Wir meinen: Solche
Urteile müssen uns Ansporn sein zu anspruchsvollem
journalistischem Engagement auch in der Zukunft. Es sei
mit Nachdruck versprochen.
In der 100. Ausgabe muss auch die Erinnerung
an zwei Männer erlaubt sein, die für den Start des
HAUPTSTADTBRIEF sehr wichtig waren: Prof. Diether
Huhn und Ernst Dieter Lueg. Beiden gebührt unser
nachdrücklicher Dank. Lueg zum Gedenken wird
der HAUPTSTADTBRIEF ein „Ernst-Dieter-LuegStipendium“ für junge Journalisten im Wert von 10.000
Euro ausloben. Es beinhaltet unter anderem einen
Studienaufenthalt in Washington.
Allen, die in den letzten zehn Jahren für uns
geschrieben haben, sei herzlich gedankt. Und ebenso
jenen, die uns durch Anzeigen den HAUPTSTADTBRIEF
wirtschaftlich erst möglich machten. Mögen sie uns
gewogen bleiben! Und: Möge ihr Kreis noch wachsen.
Denn wir haben viele interessante Pläne für die Zukunft
des HAUPTSTADTBRIEF...
Detlef Prinz Bruno Waltert
Verleger und HerausgeberChefredakteur
Blatt 2
WAS Leser ÜBER UNS SAGEN
bundestag
zur 100. Ausgabe von
Der Hauptstadtbrief gratuliere
ich Ihnen sehr herzlich. Ein Magazin
über zehn Jahre in unserer
Bundeshauptstadt zu etablieren, ist
eine große Leistung. Darauf können
Sie stolz sein. Aus der Presselandschaft
Berlins ist Ihr Magazin inzwischen
nicht mehr wegzudenken. Mit
einer ausgewogenen Mischung aus
politischen, wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Themen weckt
DER Hauptstadtbrief stets
aufs Neue mein Interesse.
Machen Sie weiter so. Nochmals
herzlichen Glückwunsch!
picture-alliance/dpa/Fredrik von Erichsen
Sehr geehrter Herr Prinz,
sehr geehrter Herr Waltert,
DER HAUPTSTADTBRIEF ist ein fester
Bestandteil des Berliner Kulturlebens
und daraus gar nicht wegzudenken.
Rainer Brüderle, MdB
stv. Fraktionsvorsitzender FDP
und Sprecher für Wirtschaftspolitik
Michael Glos MdB, von 2005
bis vor kurzem Bundesminister für
Wirtschaft und Technologie
picture-alliance/dpa/Gero Breloer
DER HAUPTSTADTBRIEF ist nicht nur ein erstklassiger Hintergrund-Dienst
für das politische Berlin, er ist darüber hinaus ein hervorragender
Wegweiser durch die Kultur-Hauptstadt. An keiner anderen Stelle wird das
politische Leben so genau und informativ auf den Punkt gebracht, und an
keiner anderen Stelle werden, ebenso zuverlässig und gut recherchiert, die
kulturellen Höhepunkte Berlins präsentiert.
Auch für uns, die Akteure mittendrin in Politik und Kultur, sind der
Blickwinkel des Hauptstadtbrief und seine Kommentierung eine gute
Orientierung im selbst verursachten Dickicht dieser Stadt.
Respekt! Und bitte: immer heiter weiter!
Prof. Monika Grütters, MdB
Sprecherin des Vorstands
Stiftung Brandenburger Tor
DER HAUPTSTADTBRIEF
informiert nicht atemlos über
aktuelle Politik, sondern liefert
kompakt Hintergründe.
In der Fülle der Medienangebote
ist DER HAUPTSTADTBRIEF ein
Lichtblick: Klar, knapp und
kritisch gibt er seit zehn Jahren
Übersicht und Durchblick.
Auch außerhalb der Hauptstadt
unentbehrlich.
Ich staune jedesmal, wieviel
ich als Leser von drei Berliner
Tageszeitungen noch zusätzlich
profitiere, nicht zuletzt von den
Ausflügen ins kulturelle Leben der
Region.
Weiter so!
Wolfgang Wieland, MdB
B 90 / Die Grünen
ehemals Justizsenator und
Bürgermeister in Berlin
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Hier ist „weiter so!“
ein gutes Motto.
Andreas Schoelzel
Caro/Waechter
Herzlichen Glückwunsch zum
stolzen Jubiläum! 100 Ausgaben
DER HAUPTSTADTBRIEF – das ist
hundertmal ein bunter Mix aus Politik und
Kultur, es ist erfrischend und unterhaltend.
Wer als Abgeordneter in den
Sitzungswochen in Berlin keine Zeit hat,
die Stadt näher kennenzulernen,
erfährt auf diese Weise, was Berlin
und die Berliner auch abseits
des Reichstags bewegt.
Den Machern und Autoren wünsche ich
auch für die nächsten 100 Ausgaben viel
Tatkraft und viele neue Ideen.
Dr. Klaus von Dohnanyi
Bundesminister a.D.,
Erster Bürgermeister
von Hamburg a.D.
Blatt 3
WAS Leser ÜBER UNS SAGEN
stiftung familienunternehmen
Der Hauptstadtbrief hat
sich innerhalb von zehn Jahren
bei seiner Zielgruppe eine allseits
anerkannte Spitzenposition in der
Medienszene erworben. Kompetenz,
Analysestärke und Prognosefähigkeit
gewähren einen umfassenden
Einblick in alle wesentlichen Trends
aus Politik, Wirtschaft und Kultur.
Ich gratuliere dem
HAUPTSTADTBRIEF zu seinem
zehnjährigen Jubiläum und zu seiner
100. Ausgabe. Die Lektüre der gut
recherchierten Hintergrundberichte
empfinde ich seit zehn Jahren
immer wieder als bereichernd. Jede
Ausgabe zeichnet sich durch eine
breite Themenpalette und eine hohe
journalistische Qualität aus.
Prof. Dr. Brun-Hagen Hennerkes
Unternehmenssteuerrechtler und
Vorstand der
Stiftung Familienunternehmen
land brandenburg
Herzlichen Glückwunsch zu dieser
journalistischen Meisterleistung!
Jörg Schönbohm, MdL
Innenminister des Landes Brandenburg
picture-alliance/dpa/Gero Breloer
20 Jahre Fall der Mauer, zehn Jahre DER HAUPTSTADTBRIEF.
Die Hauptstadtentscheidung des Bundestages gehört zu den gesegneten
Augenblicken der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Er hat Berlin gegeben, was Politiker aller demokratischen Parteien
jahrzehntelang beschworen haben. Auf diesem glücklichen Humus ist
DER HAUPTSTADTBRIEF gewachsen, zu einer ebenso exotischen wie
bewunderten Pflanze. In einer erfrischenden, unverdrechselten Sprache
reflektiert und referiert dieses Blatt über Politik, Wirtschaft und – dem
Verfasser dieser Zeilen besonders nahe – das kulturelle Leben in dieser
Stadt. DER HAUPTSTADTBRIEF auf dem Schreibtisch, das bedeutet: erstes
schnelles Durchblättern und dann mit auf den Weg in die nächste Reise,
um zu lesen, zu reflektieren und sich auf die nächste Ausgabe zu freuen.
Ad multos annos!
Prof. Dr. Peter Raue
Rechtsanwalt und Notar
Zur 100. Ausgabe und zum
zehnjährigen Bestehen des
HAUPTSTADTBRIEF gratuliere ich
sehr herzlich. Mit seinen klaren
Analysen und Kommentaren
zu politischen, wirtschaftlichen,
gesellschaftlichen und kulturellen
Entwicklungen hat sich der
„Hintergrund-Dienst aus Berlin“
einen guten Namen gemacht.
Gut, dass es den HAUPTSTADTBRIEF
gibt – Gratulation zur 100. Ausgabe!
Dr. Ditmar Staffelt
Vorstandsbeauftragter
für Politik- und Regierungs­
angelegenheiten
EADS Deutschland GmbH
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
land baden-württemberg
DER HAUPTSTADTBRIEF –
das ist für mich seit zehn Jahren
Information auf den Punkt gebracht.
Nachdenkliches und Reflektierendes aus der Hauptstadt auf hohem
journalistischem Niveau, breites
Spektrum, klare Sprache, brillanter
Druck und vor allem lesefreundlich.
Caro/Waechter
Ich wünsche dem HAUPTSTADTBRIEF
und seinen ambitionierten Machern
auch weiterhin viel Erfolg und
journalistisches Fortune.
Ich wünsche dem HAUPTSTADTBRIEF
alles Gute für die weitere Zukunft.
Günther H. Oettinger, MdL
Ministerpräsident
des Landes Baden-Württemberg
Blatt 4
Beschädigte Zuversicht:
Angela Merkels Probleme
mit ihren eigenen Leuten
Von JOACHIM RIECKER und BRUNO WALTERT
Ein knappes halbes Jahr vor der Bundestagswahl gibt es in der Union,
speziell in der CDU, so etwas wie eine Vertrauenskrise. Auch
wenn die jüngsten Umfragezahlen – wohl wegen Angela Merkels
zahlreicher Gipfel-Auftritte – wieder leicht besser sind, ist doch bei
vielen CDU-Politikern die Gewissheit geschwunden, dass die eigene
Partei die Bundestagswahl am 27. September gewinnen und endlich
die ersehnte schwarz-gelbe Regierung bilden könne. Das Vertrauen
selbst in relativ gute Umfragezahlen ist in der CDU ohnehin
gering, seitdem die Union vor den Wahlen 2002 und 2005 weit
vorn zu liegen schien, dann aber am Wahltag nur enttäuschende
Ergebnisse erreichte.
Groß ist mittlerweile in CDU und CSU die Furcht, dass sich
Ähnliches in diesem Jahr wiederholen könnte. Immer wieder
ist bei Hintergrundgesprächen mit mehr oder auch weniger
prominenten CDU-Politikern in Berlin die Einschätzung zu hören,
dass Merkel nach der fast verlorenen Bundestagswahl 2005 falsche
strategische Grundentscheidungen getroffen habe. So sei damals
etwa von ihr festgelegt worden, dass sich die CDU nicht von der
Regierung absetzen und unterscheiden solle. „Und jetzt wundern
wir uns, dass in der Öffentlichkeit zwischen uns und der SPD kaum
noch Unterschiede erkennbar sind“, sagte ein CDU-Ministerpräsident kürzlich im Gespräch mit Journalisten in seiner Berliner
Landesvertretung.
Das sei gefährlich, denn wenn die Stammwählerschaft der Union
am 27. September nicht mehr wisse, warum sie CDU wählen solle,
könnte es zumindest wieder eng werden. Gern wird in diesen Tagen
auch an den Satz des einstigen CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß
erinnert, wonach man Wahlen „nicht mit der Laufkundschaft,
sondern mit der Stammkundschaft“ gewinne. Die aber habe, ist
heutzutage aus der CDU zu hören, mit Angela Merkel zusehends
Probleme: Ihr harsche Kritik an Papst Benedikt XVI etwa, Ursula
von der Leyens Familienpolitik oder die mögliche Enteignung von
Aktionären sind für manchen konservativen Wähler „unverdaulich“.
Hinzu komme, so hört man aus der Union, dass Merkel spätestens
seit Verschärfung der Finanzkrise im Herbst kaum Führung
gezeigt und mit ihren Einschätzungen sogar mehrfach falsch gelegen
habe. „Obwohl andere Anträge auf dem Tisch lagen, haben wir
beim Parteitag im Dezember aus Rücksicht auf Merkel gegen ein
neues Konjunkturprogramm und gegen Steuersenkungen gestimmt“,
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 5
Kanzlerin Angela Merkel,
hier mit ihrem Ehemann
Joachim Sauer, kürzlich
in Baden-Baden.
Sollte sie erkennbarer
CDU-Chefin sein?
beschwerte sich kürzlich ein CDU-Landesfürst in vertraulicher
Runde. „Doch vier Wochen später galt nichts mehr davon –
50 Milliarden Euro werden für ein neues Konjunkturprogramm
ausgegeben, und Steuersenkungen gibt es außerdem.“
Auch bei der Abwrackprämie sei Merkel die Getriebene und
nicht die Treiberin. „Kaum fordert Steinmeier die Verlängerung,
stimmt Merkel zu“, sagt ein wichtiger CDU-Bundestagsabgeordneter. Erklären kann er sich dieses Verhalten nur mit dem „tiefen
Trauma“, das die Beinahe-Niederlage im September 2005
bei ihr hinterlassen habe. „Sie will nie mehr als kaltherzige
Reformerin dastehen“, lautet eine häufig geäußerte Vermutung in
der Unionsfraktion.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: picture-alliance/dpa/Fredrik von Erichsen
Blatt 6
Während viele CDU-Politiker ihre Kritik an Merkel nur in
vertraulicher Runde äußern, wagte sich Baden-Württembergs
Ministerpräsident Günther Oettinger im März auch in die
Öffentlichkeit: „Angela Merkel muss irgendwann die Uniform
der Kanzlerin in den Schrank hängen und die Uniform der
Kanzlerkandidatin und Parteivorsitzenden anziehen“, sagte er in
einem Interview. „Ich trage keine Uniformen, schon deswegen passt
sein Bild nicht“, lautete Merkels pikierte Antwort ebenfalls per
Interview.
Gefährlicher als Oettinger könnte für Merkel allerdings dessen
nordrhein-westfälischer Kollege Jürgen Rüttgers (CDU) werden.
Denn der hat kein Interesse an einer schwarz-gelben Mehrheit bei
der Bundestagswahl; befürchtet er doch, dass eine solche Regierung
schnell einige unpopuläre Reformen in Angriff nähme und dass er
dann seine Landtagswahl im Frühjahr 2010 verlieren könnte.
Als Merkel spürte, welche Stimmung sich in ihrer Partei
zusammengebraut hatte, entschloss sie sich Mitte März zu einer
Offensive in ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Sie gab große Interviews
und besuchte die Talkshow von Anne Will, wo sie beteuerte: „Ich
hab’ sie einfach gern, die CDU, das ist meine Heimat.“ Noch immer
hofft Merkel, dass ihre weiterhin relativ guten Popularitätswerte
am Tag der Bundestagswahl auch ihrer Partei zugute kommen
werden. Obwohl in Deutschland solche personenbezogenen Werte
bei Wahlen – bislang zumindest – nur wenig Gewicht hatten.
Auch die SPD hat die Selbstzweifel in der Union wahrgenommen.
„Die CDU weiß nicht, was sie will“, verkündet Parteichef Franz
Müntefering unentwegt. Doch obwohl es ihm und Kanzlerkandidat
Frank-Walter Steinmeier gelungen ist, in der SPD eine neue
Geschlossenheit herbeizuführen, hat sich der Rückstand zur CDU/
CSU nach Umfrage-Zahlen seit dem gezielt herbeigeführten
Rücktritt Kurt Becks im Herbst kaum verringert. Steinmeier
setzt nun darauf, mit einem gemäßigt linken Wahlprogramm, das
er kürzlich beim Parteivorstand durchsetzte, zunächst einmal die
Stammwählerschaft zu mobilisieren und dann in den Wochen
vor der Wahl auch Wechselwähler zu überzeugen. Ob’s so
funktioniert, muss sich zeigen.
Indem es den Wahlkampf bereits im Frühjahr begann, hofft das
SPD-Führungsduo, die Kanzlerin auf ein Terrain zu locken, auf
dem sie keine besonderen Stärken vorweisen kann. Dass Wahlkampf
nicht zu ihren bevorzugten Beschäftigungen zählt, hat Angela Merkel
schließlich schon selbst zugegeben. Klar ist aber auch: Wenn’s
darauf ankommt, wird schon aus Eigeninteresse fast jeder in
der CDU für einen Wahlsieg der eigenen Partei kämpfen – die
inzwischen zumindest in der Fraktion eher ungeliebte Angela Merkel
hin oder her.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 7
Die Parteipräferenzen im Bund
In den letzten Wochen
kaum Veränderung
CDU/ SPD FDP Links- Grüne Sonst.
CSU partei
Alle Angaben in Prozent
Bundestagswahl*
35,2
34,2
9,8
8,7
8,1
4,0
Umfrage-Werte in Woche …
2008
33. (11.8.-15.8.)
34. (18.8.-22.8.)
35. (25.8.-29.8.)
36. (1.9.-5.9.)
37. (8.9.-12.9.)
38. (15.9.-19.9.)
39. (22.9.-26.9.)
40. (29.9.-3.10.)
41. (6.10.-10.10.)
42. (13.10.-17.10.)
43. (20.10.-24.10.)
44. (27.10.-31.10.)
45. (3.11.-7.11.)
46. (10.11.-14.11.)
47. (17.11.-21.11.)
48. (24.11.-28.11.)
49. (1.12.-5.12.)
50. (8.12.-12.12.)
51. (15.12.-19.12.)
37
37
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5
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5
2009
2. (5.1.-9.1.)
3. (12.1.-16.1.)
4. (19.1.-23.1.)
5. (26.1.-30.1.)
6. (2.2.-6.2.)
7. (9.2.-13.2.)
8. (16.2.-20.2.)
9. (23.2.-27.2.)
10. (2.3.-6.3.)
11. (9.3.-13.3.)
12. (16.3.-20.3.)
13. (23.3.-27.3.)
14. (30.3.-3.4.)
15. (6.4.-10.4.)
16. (13.4.-17.4.)
36
36
35
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33
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16
16
18
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11
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10
10
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9
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4
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5
* Amtliches Endergebnis der Bundestagswahl vom 18. September 2005
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Das forsa-Institut
ermittelte diese Werte
durch wöchentliche
Befragung von in der Regel
rund 2500 wahl­willigen
Deutschen.
Quelle: forsa
Blatt 8
Emil Nolde,
Schwertlilien und
Mohn, undatiert.
Wie die beiden
anderen Bilder
zu diesem
Beitrag derzeit
in Berlin zu
sehen.
Der Maler Emil Nolde –
im Norden verwurzelt,
in Berlin zuhause
Von DIETER STRUNZ
Pralle, überreife Hagebutten signalisieren den Herbst. Roter Mohn
leuchtet in verschwenderischer Fülle auf. Irispflanzen in strahlenden
Farben säumen den Weg. Eine Sonnenblume von mächtiger, fast
rahmensprengender Pracht lässt gerade noch für ein paar zarte andere
Blüten Raum. Lilien, Rosen, Tulpen, Dahlien, Stiefmütterchen – florale
Schönheiten aller Farben, Formen und Jahreszeiten fesseln den Blick
in der schönen Ausstellung „Mein Garten voller Blumen“, die dem
naturverbundenen Maler des Nordens, Emil Nolde, gewidmet ist.
Man muss nicht Gärtner, Botaniker oder Blumenfreund mit
grünem Daumen sein, um sich in den schwelgerischen Reichtum
dieser Bilderschau zu verlieben, die in den schönen klaren Räumen
der Nolde-Stiftung in der Berliner Jägerstraße Nr. 55, gleich beim
Gendarmenmarkt, bis zum 14. Juni zu genießen ist.
Seit 2007 gibt es die Berliner Dependance der Nolde-Stiftung
Seebüll – und das nicht ohne Grund. Denn der Künstler, der als
Hans Emil Hansen im Dorf Nolde bei Tondern geborene Sohn
eines Landwirts, war nicht nur der nordfriesischen Heimat und
dem deutsch-dänischen Grenzgebiet zeitlebens verbunden, sondern
empfand Berlin wohl als seine zweite Heimat. Die Winter
verbrachte er meistens in der Hauptstadt, wo er ein Wohnatelier
besaß. Bei einem Bombenangriff wurde es 1944 zerstört.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: nolde stiftung seebüll
Blatt 9
Vom Berliner Kunst- und Theaterwesen war Emil Nolde fasziniert,
und das elektrisierende Vergnügungsleben der zwanziger Jahre regte
ihn zu vielen Bildern an. Theateraquarelle etwa entstanden nach
Inszenierungen des Bühnenmagiers Max Reinhardt.
Seit 1909 war Emil Nolde Mitglied der „Berliner Secession“,
später der „Neuen Secession“. Auch der Dresdener „Brücke“
gehörte er eine
Zeitlang an. Lehr- und
Wanderjahre hatten
ihn nach Flensburg
und München, ins
badische Karlsruhe
und nach Berlin
geführt. Aufregende
Naturerfahrungen
vermittelte Nolde
die Teilnahme an
einer Expedition
des Reichs­
kolonialamtes,
die ihn 1913/14 nach
Deutsch-Neuguinea
führte. Davon brachte
er viele Aquarelle mit
in die Heimat.
Dem Meer und
seinen Stimmungen,
der Weite der
Landschaft,
der Wucht der
Wolkenbilder blieb
er in seinem Schaffen
treu. Aber den
Blumen, Büschen und
Stauden, den Beeten
und Gartenwegen
gehörte seine spezielle
Zuneigung. „Die
blühenden Farben der
Blumen und die Reinheit dieser Farben – ich liebte sie. Ich liebte die
Blumen in ihrem Schicksal“, hat Emil Nolde einmal bekannt.
Emil Nolde,
Unterhaltung im Garten,
1908.
Obwohl der Künstler in Dänemark Mitglied einer
NS-Organisation war, die nach 1933 von den Nationalsozialisten
gleichgeschaltet worden war, verfiel er der amtlichen Kunstzensur.
Wegen seiner expressionistischen Malkunst und nicht zuletzt wegen
seiner Bilder mit religiöser Thematik wurde Nolde als „entartet“
verunglimpft und aus den Museen verbannt. Mehr als tausend
seiner Bilder wurden beschlagnahmt, verkauft oder zerstört.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: nolde stiftung seebüll
Blatt 10
In seinem Anwesen in Seebüll, Nordfriesland, das er mit Wohnhaus,
Atelier und Garten gemeinsam mit seiner Ehefrau Ada gestaltet
hatte, schuf Emil Nolde in der inneren Emigration kleinformatige
„ungemalte Bilder“ und umging so das amtliche Malverbot. In
Seebüll starb der Künstler 1958, das Nolde-Museum dort ist heute
eine große touristische Attraktion des Landes an der dänischen
Grenze.
Die hohe Wertschätzung, die Emil Nolde genießt, zeigt sich auch in
der Tatsache, dass im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen
für den Sommer eine Partnerausstellung mit dem Titel „Emil
Nolde. Mensch. Natur. Mythos“ vorbereitet wird. Sie zeigt vom
3. Juli bis 26. Oktober Aquarelle und Graphiken jenes Mannes, der
den Namen eines kleinen Fleckens im Land zwischen den Meeren
weltberühmt gemacht hat.
„Mein Garten voller Blumen“,
täglich von 10 bis 19 Uhr
in der Dependance Berlin
der Nolde-Stiftung Seebüll,
Jägerstraße 55, 10117 Berlin,
Tel: 40 00 46 90,
Fax: 40 00 46 45,
E-Mail: [email protected],
www.nolde-stiftung.de
Emil Nolde,
Reife Sonnenblumen,
undatiert.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: nolde stiftung seebüll
Blatt 11
Kernkraft ja oder nein?
Von interessanten Meinungs-Korrekturen
Von forsa-Chef MANFRED GÜLLNER
Das Thema Energieversorgung bewegt die Gemüter bekanntlich
schon lange. Und bisweilen heftig. So löste etwa die erste
sogenannte „Öl-Krise“ von 1974 mit ihren Sonntagsfahrverboten
und Geschwindigkeitsbeschränkungen ein Jahrzehnt heftiger und
nahezu permanenter politischer Diskussionen aus. Im Mittelpunkt
stand Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre die Frage, wie
dem damals schon als rigide empfundenen Preisanstieg des Öls und
der drohenden Verknappung dieser Primärenergie am besten
begegnet werden könne.
Die Diskussion erstreckte sich vor mehr als drei Jahrzehnten auf
die Möglichkeit drastischer Sparmaßnahmen im Energieverbrauch,
die Einsatzchancen alternativer Energiequellen, vor allem aber auf
die Frage, inwieweit Kernkraftwerke zur Deckung des zukünftigen
Energiebedarfs vonnöten seien oder nicht.
Schreibt für den
HAUPTSTADTBRIEF:
forsa-Chef
Prof. Manfred Güllner,
Berlin.
Wie es der damalige Bundesminister für Forschung und
Technologie, Hans Matthöfer, 1976 formulierte, bewegte sich
die Diskussion „im Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit
einer gesicherten Energieversorgung und der Forderung nach
einem sicheren Schutz für die Bevölkerung und die Umwelt“.
In der „Forschungs- und Technologiepolitik“ der damaligen
Bundesregierung aus SPD und FDP wurden – so Matthöfer –
„beide Gesichtspunkte miteinander verbunden“.
Bemerkenswert ist angesichts von Matthöfers Aussage von 1976,
dass die Politik mit ihren Erkenntnissen 2009 nicht viel weiter
gekommen zu sein scheint, als es schon vor drei Jahrzehnten der
Fall war.
Ebenfalls bemerkenswert ist, dass die Deutschen Ende
der 1970er und Anfang der 1980er Jahre in Fragen der
Energiepolitik weniger ideologisch fixiert waren als manche
Kontrahenten der politischen Diskussion. Damals durchgeführte
Untersuchungen ergaben, dass die Bürger seinerzeit nicht auf
eine einzige Energieart setzten und auch keine Möglichkeit der
Energienutzung ausschlossen.
Die Deutschen erwarteten von den politischen Entscheidern
vielmehr einen „Energie-Mix“, d.h. den Einsatz aller möglichen
Energiearten gepaart mit dem Versuch, den Energieverbrauch
einzuschränken. Konkret meinten 1980 rund 21 Prozent
aller Bundesbürger, dass durch Sparmaßnahmen beim
Energieverbrauch ein Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: bruno waltert
Blatt 12
geleistet werden sollte. 33 Prozent setzten auf den vermehrten
Einsatz alternativer Energieformen. 39 Prozent glaubten, dass die
heimische Kohle einen wesentlichen Beitrag zur Deckung des
zukünftigen Energiebedarfs leisten könne.
Die größte Zustimmung aber fand – trotz der damals schon
heftigen Proteste gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie
– die Kernkraft: 47 Prozent akzeptierten 1980 den Bau von
Kernkraftwerken als wichtige Maßnahme zur zukünftigen Sicherung
der Energieversorgung.
Doch mit dem Reaktorunglück von Tschernobyl änderte
sich diese Einschätzung des Energie-Mix zur Sicherung der
Energieversorgung schlagartig: Zwei Drittel der Deutschen lehnten
nach Tschernobyl die Nutzung der Kernenergie ab. Dabei verschob
sich die semantische Bedeutung des Begriffs „Sicherheit“. Nach
Tschernobyl war damit nicht mehr die generelle Sicherung der
Versorgung mit Energie gemeint, sondern die Sicherheit vor
ähnlichen Katastrophen wie in Tschernobyl.
Mehr als zwei Jahrzehnte nach Tschernobyl vollzieht sich aber
bei den Deutschen eine erneute Hinwendung zum Gedanken des
Energie-Mix, in dem auch die Kernenergie wieder eine Rolle spielt.
Dabei sind die Probleme der Energieversorgung aber nicht
nur permanenter Teil der politischen Diskussion, sondern
die Deutschen selbst interessieren sich zunehmend für alle
Energieprobleme. Die Zeit, als die Bürger glaubten, der Strom käme
aus der Steckdose, und sich sonst keinerlei Gedanken über die
Herkunft der Energie machten, sind endgültig vorbei.
Heute haben die Bürger zunehmend Angst davor, dass es nicht
mehr genügend Energie gibt und dass die Gefahr besteht,
deshalb im Dunklen oder Kalten sitzen zu müssen. Zudem fragen
sie sich, ob die im Alltag erforderliche Energie überhaupt noch
bezahlbar bleibt.
2009 hat „Sicherheit“ für die Bürger wieder die semantische
Bedeutung wie vor dem Unglück von Tschernobyl. Die Angst
vor der Atomkraft ist weitgehend der Furcht gewichen, dass die
Energieversorgung in Deutschland nicht gesichert ist. Rund die
Hälfte aller Bürger hat derzeit konkrete Angst davor, dass es in der
Energieversorgung zu Engpässen kommen kann.
Die Berichterstattung über alle Fragen der Energieversorgung –
nicht nur die über die Höhe und Gestaltung der Preise – wird von
der großen Mehrheit der Bevölkerung aufmerksam verfolgt.
Energieversorgung und Energieprobleme mit allen Facetten sind
2009 nicht nur ein Thema für die politischen Akteure, sondern
ein die Mehrheit der Bürger intensiv interessierender
Problembereich.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 13
Dabei werden alle Maßnahmen, die der Sicherheit der
Versorgung mit Energie dienen, von der großen Mehrheit
der Bürger gutgeheißen. Dazu gehört zum Beispiel der Bau
der geplanten Ostsee-Pipeline zum Transport von Erdgas
von Russland nach Deutschland. Hierin sehen mehr als 70
Prozent der Bürger einen Beitrag zur Sicherung ungefährdeter
Energielieferungen.
Zum Wunsch nach mehr Versorgungssicherheit gehört außerdem
die Erwartung vieler Bürger, dass der in Deutschland verbrauchte
Strom auch in Deutschland erzeugt und nicht aus dem Ausland
importiert wird.
Noch häufiger als Anfang der 1980er Jahre werden 2009 die
erneuerbaren Energien (vor allem Sonnen- und Windenergie)
als Energieart der Zukunft bewertet. Doch bei aller Sympathie,
die den regenerativen Energien generell entgegengebracht wird,
glaubt nur eine Minderheit, dass der Energiebedarf in Deutschland
alleine durch erneuerbare Energien gedeckt werden könne. Selbst
von den Anhängern der Grünen glauben mehr als 60 Prozent
nicht, dass der Energiebedarf nur durch erneuerbare Energien zu
decken wäre.
Diese Einschätzung mindert offenbar auch die Akzeptanz der
Windenergie. Im Sommer 2008 waren 70 Prozent dafür, dass
es noch mehr Windräder geben sollte als bislang. 2009 sank
dieser Anteil auf 60 Prozent. 30 Prozent halten die vorhandenen
Windräder inzwischen für ausreichend. Insbesondere in
Ostdeutschland zeigt die Akzeptanz der Windräder abnehmende
Tendenz: 44 Prozent sind in den neuen Ländern dagegen, dass
noch weitere Windräder aufgestellt werden.
Angesichts der Überzeugung der Mehrheit der Bürger, dass
der Energiebedarf nicht durch erneuerbare Energie alleine
gedeckt werden könne, wird von den Bürgern ein Mix aus den
verschiedenen herkömmlichen Energiearten wieder wie schon vor
Tschernobyl für sinnvoll gehalten: Jeweils etwas mehr als 20 Prozent
meinen, Kohle und Öl sollten weiterhin zur Energiegewinnung
eingesetzt werden. Und jeweils mehr als 40 Prozent plädieren
dafür, Erdgas und die Kernenergie in Zukunft zur Sicherung der
Energieversorgung zu nutzen.
Bei allen nach wie vor zu registrierenden Vorbehalten gegen die
Atomkraft (ungelöste Endlagerung, mangelnde Sicherheit, Gefahr
von Strahlenschäden, etc.) scheint derzeit eine Einstellungsänderung im Hinblick auf die Nutzung der Kernkraft bei vielen
Deutschen einzutreten.
Für eine Nutzung der Kernenergie zur Energieerzeugung spricht
nach Meinung der Bürger in erster Linie, dass die Kernenergie im
Gegensatz zu den fossilen Energiearten Kohle oder Öl „sauber“
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 14
und umweltfreundlich sei, und dass sie preisgünstiger und
zuverlässiger (weil unbegrenzt zur Verfügung stehend) sei als
andere Energieerzeugungsarten.
Gegenwärtig gibt es noch einen Kern von rund 20 Prozent aller
Bürger, die jedwede Nutzung der Kernenergie zur Energiegewinnung
strikt ablehnen. Dem stehen 16 Prozent gegenüber, die eine
Nutzung vorbehaltlos befürworten. Knapp 30 Prozent rechnen
sich nicht zum Kern der radikalen Gegner der Atomkraft, doch
in dieser Gruppe überwiegt die Skepsis gegenüber der Nutzung der
Kernenergie. 36 Prozent schließlich haben zwar durchaus einige
Bedenken gegen die Kernenergie, würden aber eine Nutzung wegen
der geringen Umweltbelastung und der vermuteten Preiswürdigkeit
akzeptieren.
Die Akzeptanz der friedlichen Nutzung der Kernenergie ist
auch 2009 wie schon Anfang der 1980er Jahre stark von der
parteipolitischen Orientierung geprägt: Während 80 Prozent der
Anhänger der Grünen jedwede Nutzung der Kernenergie ablehnen,
würden 70 Prozent der Anhänger der FDP und fast ebenso viele
der Anhänger der Union die Nutzung der Atomenergie zumindest
akzeptieren.
Jene, die heute SPD wählen wollen, lehnen mehrheitlich (64
Prozent) die Nutzung der Kernenergie ab. Doch eine Minderheit
von 36 Prozent würde die Nutzung der Kernenergie akzeptieren.
Und bei denen, die 2005 bei der Bundestagswahl noch SPD wählten,
heute aber zögern, der SPD wieder ihre Stimme zu geben, liegt die
Akzeptanz bei fast 45 Prozent.
Eine Thematisierung des Themas Kernkraftnutzung im
bevorstehenden Bundestagswahlkampf würde also die Anhänger der
Grünen auf der einen und die der Union und der FDP auf der
anderen Seite in ihrer Einstellung pro bzw. contra Atomkraft eher
stabilisieren. Ein Teil der SPD-Anhänger aber würde dadurch eher
weiter verunsichert. Und die von der SPD seit 2005 abgewanderten
Wähler würden durch die Thematisierung der Nutzung der
Kernenergie wenig motiviert, wieder zur SPD zurückzukehren.
Fazit: 2009 beginnt die Kernenergie alles in allem bei den
Deutschen wieder ihren Platz im Energie-Mix zu finden. Dabei finden
bei den Bürgern (wie schon zu Beginn der 1980er Jahre) zunehmend
pragmatische Argumente Gehör. Ideologische Eiferer jedweder
Couleur werden hingegen eher skeptisch eingeschätzt.
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DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 15
Restauriertes
Neues Museum in Berlin:
Bewusst kaschierte
Architekt David
Chipperfield die Spuren
von Krieg und Zerfall
nicht – Beispiel dieses
Deckengewölbe im
„Mittelalterlichen Saal“.
Meisterstück oder
Versagen? Die Meinungen
sind durchaus geteilt
Die Restaurierung des Neuen Museums auf der
Berliner Museumsinsel ist abgeschlossen
Von KLAUS GRIMBERG
An dieser Restaurierung scheiden sich die Geister: Für die einen stellt
das wiederhergestellte Neue Museum auf der Berliner Museumsinsel
einen „Sieg der Architektur“ („Der Tagesspiegel“) dar. Für die
anderen ist lediglich „eine künstliche Ruine geschaffen worden“
(„Die Welt“).
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: Ute Zscharnt
Blatt 16
Nach elfjähriger Planungs- und Bauzeit konnte das im Zweiten
Weltkrieg zu großen Teilen zerbombte Gebäude kürzlich den
Kustoden der Stiftung Preußischer Kulturbesitz schlüsselfertig
übergeben werden. Nach den prachtvollen Wiedereröffnungen der
Alten Nationalgalerie und des Bode-Museums erstrahlt damit der
dritte historische Museumsbau in neuem Glanz. 233 Millionen
Euro kostete die aufwändige Instandsetzung nach den Plänen des
britischen Architekten David Chipperfield.
Dessen Konzept
der „ergänzenden
Wiederherstellung“
ist es, das Befürworter
begeistert und Gegner
erzürnt. Chipperfield
und sein Team haben
die zerstörerischen
Spuren des Krieges
nicht zu kaschieren
versucht, sondern sie als
prägendes Element in den
Wiederaufbau einbezogen.
Der glanzvolle Wandund Deckenschmuck, der
den zwischen 1843 und
1855 von Friedrich August
Stüler errichteten Bau so
berühmt machte, ist nur
in Rudimenten erhalten
geblieben. Was den Krieg
und den fortschreitenden
Zerfall zu DDR-Zeiten
überlebte, wurde sorgsam
restauriert. Ansonsten
stellt Chipperfield die
Narben des Museums offen
aus.
Der „Römische Saal“
im Neuen Museum –
architektonisch besonders
eindrucksvoll.
Für die Anhänger
einer lückenlosen
Rekonstruktion, die
den überbordenden
Schmuck der thematischen
Säle originalgetreu
wiederhergestellt sehen wollten, ist insbesondere das zentrale
Treppenhaus ein Affront. Der einst mit Fresken Wilhelm von
Kaulbachs verzierte Aufgang wurde durch eine nackte, mit
Marmorstaub versetzte Betonkonstruktion ersetzt. Der von
Stüler konstruierte gewaltige Raumeindruck ist erhalten geblieben.
Das Dekor aber ist für immer verloren – und bewusst nicht kopiert
worden.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: Ute Zscharnt
Blatt 17
Der Streit um das Für und Wider von Chipperfields Arbeit ließe
sich an nahezu jedem Saal fortführen – denn es treffen zwei
grundsätzlich entgegengesetzte Auffassungen von „Denkmalschutz“
aufeinander. Wie dem auch sei – das Interesse der Berlinerinnen und
Berliner an dem „neuen“ Neuen Museum ist riesengroß. An einem
Wochenende der offenen Türen strömten rund 30 000 Neugierige
durch den noch nicht mit Exponaten ausgestatteten Bau und nahmen
zum Teil stundenlange Wartezeiten in Kauf.
Am 16. Oktober wird das Haus dann mit Ausstellungsstücken
feierlich wiedereröffnet. Die Sammlungen des Ägyptischen Museums
und der Papyrussammlung, des Museums für Vor- und Frühgeschichte
sowie großartige Antiken aus der Antikensammlung werden dann
hier ihre alte, neue Heimat finden. Nach dem Krieg waren die
Bestände in Ost und West zerstreut und konnten erst nach dem
Fall der Mauer allmählich wieder zusammengeführt werden. Im
Neuen Museum können sie nun endlich wieder ansprechend
präsentiert werden.
Dabei werden die Sammlungen nicht wie einst streng voneinander
getrennt, sondern sammlungsübergreifend ausgestellt: Die
Objekte treten nicht in optische Konkurrenz zueinander, sondern
bieten durch ihre interkulturelle Aufstellung Einblicke in die
Ursprünge der Menschheitsgeschichte. So wird es möglich, die
Alte Welt vom Vorderen Orient bis zum Atlantik, von Nordafrika
bis Skandinavien durch die Jahrtausende hindurch zu erleben – durch
Zeugnisse der Kunst und durch schriftliche Quellen.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: jörg von bruchhausen/stiftung preuSSischer kulturbesitz/david chipperfield
In der Treppenhalle
(zentrales Treppenhaus)
trifft eine Betonkonstruktion
auf alte Bauteile. Die
Traditionalisten stört das.
Blatt 18
Geht Berlin am Ende
mit Gewinn aus seiner
Bankenkrise hervor?
Von JOACHIM RIECKER
Viele Vorurteile über Filz und Misswirtschaft in Deutschlands
Hauptstadt schienen sich zu bestätigen, als im Jahr 2001 die
Berliner Bankgesellschaft kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Rot-Rot kam in Folge an die Macht und konnte das angeschlagene
Kreditinstitut nur durch eine staatliche Risikoabschirmung in
Höhe von 21,6 Milliarden Euro retten – für das Land Berlin eine
gigantische Summe.
Mittlerweile hat sich, wie man weiß, allerdings herausgestellt, dass
die Krise der Berliner Bankgesellschaft mitnichten ein Einzelfall
war. Ob in Sachsen, Bayern oder Nordrhein-Westfalen: Überhaupt
alle anderen deutschen Landesbanken sind in den vergangenen
Monaten aufgrund misslungener Immobiliengeschäfte in schwere
oder sogar schwerste Turbulenzen geraten.
Während anderswo noch über Strategien zur Rettung der
maroden Institute debattiert wird, ist in Berlin absehbar, dass die
hauptstädtische Bankenkrise dem Senat am Ende sogar einen
finanziellen Gewinn bescheren könnte.
Zwar musste die Berliner Landesregierung seit 2001
rund 2,2 Milliarden Euro für die Rettung der früheren
Bankgesellschaft und den Rückkauf ihrer maroden Immobilienfonds
ausgeben. Doch die von der EU-Kommission angeordnete
Privatisierung des Instituts spülte im Sommer 2007 immerhin
schon 4,6 Milliarden Euro in die Landeskasse. Der Deutsche
Sparkassen- und Giroverband war bereit, diese Summe zu
zahlen, um die Landesbank zusammen mit der für ihn besonders
attraktiven Berliner Sparkasse vom Senat zu übernehmen
(DER HAUPTSTADTBRIEF berichtete).
Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD), der zum 1. Mai in den
Vorstand der Bundesbank nach Frankfurt am Main wechselt,
hat nun auch die vom Land übernommenen Objekte aus den
defizitären Immobilienfonds der Bankgesellschaft zum Verkauf
ausschreiben lassen. Dabei geht es um rund 39 000 Wohnungen,
1500 Handelseinrichtungen und 1200 Spezialimmobilien wie
Seniorenheime oder Kinos.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 19
Sie umfassen eine Fläche von 4,8 Millionen Quadratmeter und
erbringen nach Angaben der Finanzverwaltung in diesem Jahr
Mieteinnahmen von 425 Millionen Euro. Sollte sich bis Ende
April ein akzeptabler Erwerber finden, wäre das für Sarrazin
ein perfekter Abgang aus der Hauptstadt.
Ohnehin ist es ihm in sieben Jahren gelungen, den maroden
Landeshaushalt so weit zu sanieren, dass Berlin im vergangenen
Jahr sogar eine Milliarde Euro an Altschulden tilgen konnte.
Wegen der Finanzkrise müssen 2009 allerdings wieder neue Kredite
aufgenommen werden.
Hat für die Hauptstadt-­
Finanzen viel erreicht:
Berlins bisheriger
Finanzsenator Thilo Sarrazin
(SPD).
Für die Objekte aus den ehemaligen Immobilienfonds der
Bankgesellschaft waren Ende März noch acht Bieter im
Rennen. Wichtigste Bedingung für den Verkauf ist neben einem
akzeptablen Preis die Übernahme aller „noch verbliebenen
Abschirmungsrisiken“.
Zur Erinnerung: Die Berliner Bankgesellschaft war in die Krise
geraten, weil sie seit Mitte der 90er Jahre den Erwerbern von
Immobilienfonds eine Rendite garantiert hatte, die am Markt
nicht zu erwirtschaften war. Die Manager hatten auf ständig
steigende Immobilienpreise und entsprechende Mieterlöse
gesetzt – eine Parallele zur Immobilienkrise in den USA. Und wie
bei amerikanischen Kreditinstituten wurden auch bei der Berliner
Bankgesellschaft kritische Immobilien in unübersichtlichen Fonds
versteckt, so dass die Risiken jahrelang verborgen blieben. Doch im
Frühjahr 2001 platzte die Blase.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: picture-alliance/ZB/Karlheinz Schindler
Blatt 20
Auch wenn der Beinahe-Zusammenbruch der Bankgesellschaft
ein lokales Ereignis war und andererseits die aktuelle Finanzkrise
globale Dimensionen hat, können aus den Berliner Erfahrungen
einige Lehren gezogen werden. Zunächst einmal war es richtig,
dass der Senat den Zusammenbruch des Kreditinstituts verhindert
hat, auch wenn die möglichen finanziellen Belastungen für das Land
Berlin zunächst als gewaltig erschienen.
Richtig war auch, dass der Senat die Bank nicht schnell verkauft,
sondern auf eine Beruhigung der Märkte gewartet hat. „Ich bin
seitdem absolut dafür, dass der Staat selbst Anteilseigner wird, wenn
er für die Risiken einer Bank eintreten muss und das Unternehmen
sanieren will“, sagte Sarrazin jetzt in einem Interview. „Das
funktioniert.“ Ein erstes Privatisierungsverfahren brach er im Frühjahr
2003 ab, weil die Angebote nicht attraktiv genug waren.
Geduld zeigte die Finanzverwaltung auch in den jahrelangen
Verhandlungen mit den Besitzern der 21 geschlossenen
Immobilienfonds. Der Senat bot ihnen an, die Anteile zu einem
reduzierten Preis zurückzukaufen. Zunächst sträubten sich
viele Anleger, doch mit der Zeit erklärten sich immer mehr
Fonds-Besitzer bereit, die Offerte anzunehmen. Denn die Alternative
bestand in langwierigen Gerichtsverfahren mit ungewissem
Ausgang.
Ende gut, alles gut? So ganz will man diese Einschätzung im
Berliner Senat nicht teilen, waren die Risiken der Bankenkrise doch
gewaltig. Aber man ist zumindest froh darüber, dass die Krise bereits
vor acht Jahren offenkundig wurde. Ansonsten hätte sich das Institut
wohl genau so auf den internationalen Märkten engagiert wie die
anderen Landesbanken, heißt es dazu in der Landesregierung. Und
wenig spricht dafür, dass die Berliner Banker dabei nicht genau so
versagt hätten wie – beispielsweise – die Sachsen oder die Bayern.
IMPRESSUM DER HAUPTSTADTBRIEF
erscheint seit Oktober 1999 monatlich
Herausgeber Detlef Prinz
Redaktionelle Konzeption und Chefredaktion Bruno Waltert
Bildredaktion Paul Maria Kern
Gestaltung Witt & Kern.Design
Titel DER HAUPTSTADTBRIEF
Satz und Bildbearbeitung Gordon Martin, Aleksandar Mijatovic,
Manuel Schwartz, Mike Zastrow
Anzeigen es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 6 vom Oktober 2008
Verlag HAUPTSTADTBRIEF Berlin Verlagsgesellschaft mbH
Inhaber: Detlef Prinz, Verleger
Tempelhofer Ufer 23/24, 10963 Berlin
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Druck delphin druck
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Redaktionsschluss 27. April 2009
Wiedergabe von Beiträgen aus dem HAUPTSTADTBRIEF, auch auszugsweise,
nur nach schriftlicher Genehmigung der Redaktion – und stets mit der Quellenangabe:
© DER HAUPTSTADTBRIEF. Für unverlangte Zusendungen keine Haftung.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 21
Knut wächst weiter
und ist schon lange
kein Knuddel-Bär mehr
Wer erinnert sich nicht an den „Knut-Hype“ im Frühjahr 2007?
Fast überall auf der Welt berichteten Zeitungen, Radios und
Fernsehsender über den kleinen Eisbären, der am 5. Dezember 2006
im Berliner Zoologischen Garten geboren worden war. Cute Knut
(„süßer Knut“) oder „Knuddel-Knut“ beherrschte damals die
Nachrichten nicht nur in Berlin und Deutschland, sondern nahezu
weltweit.
Mit dem Berliner Eisbär-Baby verbanden sich mehrere Sensationen:
Seit mehr als 30 Jahren war es die erste Eisbärengeburt in Berlin.
Außerdem und vor allem aber wurde das Tier von Menschenhand
aufgezogen, weil es von seiner Mutter verstoßen worden war. Mit
Knut avancierte auch sein Pfleger Thomas Dörflein zum Medienstar.
Um seinen niedlichen Schützling mindestens alle vier Stunden
versorgen zu können, bezog Dörflein ein Zimmer direkt im Zoo.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: Keystone /jochen Zick
Eisbär-Baby Knut
mit seinem Ziehvater
Thomas Dörflein
im März 2007.
Blatt 22
Knut heute, aufgerichtet
rund 2 Meter groß,
300 Kilo schwer.
Ausgewachsen aber wird er
erst im nächsten Jahr sein.
Vor Zuschauern zu posieren
macht ihm viel Spaß.
Mit dem internationalen Medienrummel erlebte der Berliner
Zoo einen riesigen Besucheransturm. Ursprünglich hatte die
Berliner Zooverwaltung für das ganze Jahr 2007 mit 500 000
zusätzlichen Besuchern gerechnet. Aber bereits am 5. Juli 2007
konnte der millionste Besucher seit der ersten öffentlichen
„Knut“-Präsentation begrüßt werden.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: ACTION PRESS/sven MEISSNER
Blatt 23
Auf diese mussten sich die Knut-Fans allerdings bis zum 23. März
2007 gedulden, weil die Zooverwaltung zuvor eine Grenze von
8 Kilogramm Körpergewicht festgelegt hatte. Bei seiner Geburt
am 5. Dezember 2006 wog Knut 810 Gramm. Die ersten 44
Lebenstage verbrachte er im Brutkasten. Schon rund zwei Monate
vor dem offiziellen Vorstellungstermin berichtete allerdings das
Regionalfernsehen des RBB bis zur ersten Knut-Präsentation nahezu
täglich vom Zooleben des jungen Eisbären.
Als Knut schließlich am 23. März 2007 von Zoodirektor Bernhard
Blaskiewitz gemeinsam mit Bundesumweltminister Siegmar Gabriel
(SPD) der Öffentlichkeit präsentiert wurde, waren dabei rund 500
Journalisten aus dem In- und Ausland zugegen. Später übernahm
Gabriel medienwirksam die Patenschaft und schlug Knut als
Symbolfigur für die 9. UN-Naturschutzkonferenz im Mai 2008 in
Bonn vor.
Knut, das 810-Gramm-Baby, entwickelte sich schnell fort. Das eben
noch süße, kleine, weiße Kuscheltier wurde bald größer, grauer und
gefährlicher. Am 9. Juli 2007 veranlasste die Zooverwaltung das Ende
der Live-Shows mit Knut und „Co-Entertainer“ Dörflein. Mit damals
fast 50 Kilogramm Körpergewicht war er inzwischen zu schwer und
zu gefährlich für den Tierpfleger geworden.
So ebbte das Eisbär-Spektakel langsam ab, flammte aber im Herbst
2008 noch einmal auf, als der Ziehvater Dörflein am 22. September
im Alter von 44 Jahren unerwartet einem Herzinfarkt erlag.
Für seinen unermüdlichen Einsatz bei der Aufzucht von Knut war
Dörflein am 1. Oktober 2007 der Berliner Verdienstorden
verliehen worden.
Heute ist Knut rund 300 Kilogramm schwer, ein riesiges
Vielfaches seines Geburtsgewichts. Und er ist rund 2 Meter groß,
wenn er sich aufrichtet. Voll ausgewachsen und geschlechtsreif wird
er dennoch erst in etwa einem Jahr sein. Der Berliner Zoo aber
profitiert nach wie vor von seinem Star: Merchandising-Produkte mit
„Knut“-Motiven auf T-Shirts, Tassen und Blechpostkarten machen
einen nicht unerheblichen Anteil am Zoo-Umsatz aus. Auch
die Besucherzahlen sind weiterhin deutlich höher als vor Knuts
„Auftritt“.
Knut selbst wird, damit man ihn nicht verwechselt, nicht zusammen
mit seinen arktischen Artgenossen, sondern im Gehege mit den
Braunbären gehalten. Am Zaun davor tummelt sich immer noch
jeden Tag eine Menschentraube. Knut scheint das anhaltende Interesse
zu genießen und präsentiert sich gerne spielend und posend. Wer
ihn besichtigen will, dem erklärt bereits die Kartenverkäuferin an der
Zoo-Kasse kundig den Weg: „Immer geradeaus, und dann links am
Spielplatz vorbei!“
Tobias v. Schoenebeck
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 24
Kolossaler Götterkopf,
wohl Zeus / Jupiter,
Italien 1. Jahrh. n. Chr.,
hellenistische
Formensprache,
Marmor, Höhe 91 cm.
Berlins verborgener
Olymp: Die Götter
sind zurück
Pergamonmuseum präsentiert Bilder
griechischer und römischer Gottheiten,
restauriert in Brasilien
Von KLAUS GRIMBERG
In Berlin sind die Götter zurück! Viele von ihnen waren für lange
Zeit verschwunden – in den Tiefen der Depots der Staatlichen
Museen zu Berlin. Nun sind sie – dank einer außergewöhnlichen
Kooperation – wieder für jedermann zu sehen: Berlins
verborgener Olymp ist im Obergeschoss des Nordflügels im
Pergamonmuseum zu finden.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: SMB Antikensammlung/Johannes Laurentius
Blatt 25
Die zahlreichen Statuen aus der griechischen und römischen
Götterwelt verdanken ihre Wiederaufstellung der „Fundaçao
Armando Alvares Penteado“ im brasilianischen Sao Paulo. Diese
private Stiftung, die schon des öfteren mit den Staatlichen Museen
zu Berlin zusammenarbeitete, machte 2004 ein Angebot, das die
Verantwortlichen der Berliner Antikensammlung nicht ablehnen
konnten:
Für die Ausleihe einer repräsentativen Auswahl an Exponaten sollte
von der privaten Stiftung aus Brasilien nicht nur – wie üblich –
deren Transport und Versicherung übernommen werden, sondern
auch die Restaurierung etlicher Stücke, die vorübergehend den
Weg über den Atlantik nehmen sollten.
Im Herbst 2006 wurde die Schau zum antiken Götterkult mit
großem Erfolg zunächst in Sao Paulo und im Frühjahr 2007 auch in
Rio de Janeiro gezeigt – weit mehr als 300 000 Besucher sahen sich
die Leihgaben aus Berlin an. Nach einigen Verzögerungen wird eine
auf Berlin zugeschnittene Version dieser Ausstellung nun also auch
im Pergamonmuseum gezeigt.
Die Präsentation fällt hier zusammen mit dem 50. Jahrestag der
Rückgabe „kriegsbedingt verlagerter Kunstgüter“ aus der damaligen
Sowjetunion an die DDR 1958. Darunter waren – wie bekannt
– unter vielen anderen Stücken die einzigartigen Friesplatten des
Pergamonaltars.
Der Rundgang durch die Berliner Sonderausstellung beginnt
mit einigen Sälen, die einzelnen Gottheiten vorbehalten sind.
Darunter sind Athena, Lieblingstochter des Zeus, zuständig für
das Handwerk, den Ölanbau und den Krieg, die Zwillinge Apollon
und Artemis mit ihren Wirkungsbereichen Musik und Jagd, die
Liebesgöttin Aphrodite oder der Wein- und Theatergott Dionysos.
Andere Götter werden in Gruppen präsentiert, was ein
Dilemma der archäologischen Forschung widerspiegelt: Fehlen
charakteristische Attribute, so ist eine sichere Identifizierung
häufig nicht möglich. Zu standardisiert sind etwa die Züge der
„Vatergottheiten“ Zeus, Poseidon und Hades mit ihren Vollbärten
und ernsten Gesichtern oder jene der Muttergottheiten Hera und
Demeter mit ihren Kopfbedeckungen und Gewändern.
Das Erscheinungsbild der antiken Götter in der Kunst war zudem
nicht starr, sondern wandelte sich in den verschiedenen Epochen
von der Zeit Homers (8. Jh. v. Chr.) bis in den Hellenismus nach
dem Tode Alexanders des Großen (4. – 1. Jh. v. Chr.) ständig.
Marmorskulpturen und Bronzestatuetten, Terrakotten, Vasen,
Gebrauchsgegenstände und Schmuck illustrieren so auch die
Vielschichtigkeit der antiken Götterbilder.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 26
Im großen Kopfsaal des Museumsflügels wird ein exemplarisches
Heiligtum nachgebildet. Neben den kleineren und größeren
Architekturen, den Tempeln, Altären, Schatzhäusern und Hallen
prägen große Mengen unterschiedlicher Weihegaben die antiken
Heiligtümer.
Häufig auch waren es kleinformatige
Darstellungen von Menschen, Tieren,
Früchten oder Geräten, abstrahierte
Körperteile, die Heilung erbitten oder
für erfolgte Heilung danken sollten,
sowie Waffen als Symbol
siegreicher, durch die Götter
begünstigter Kämpfe.
Ein weiterer Raum
widmet sich dem Opfer,
der Musik und dem Fest,
zentralen Elementen
des Götterkultes im
Heiligtum. Die Übergänge zum profanen
Leben sind fließend, entsprechend stammen
manche der gezeigten Monumente aus
Kontexten, deren sakraler Charakter
nicht ganz gesichert ist. Dazu zählt
auch das Theater als spezieller
Kultort des Dionysos. Ein Modell
des Dionysos-Theaters in Athen,
Darstellungen von Schauspielern
und der von ihnen getragenen
Masken sowie Vasenbilder
belegen die enge Bindung des
Weingottes an die Ursprünge
des Bühnenspiels.
Die Transformation des
griechischen Pantheons in der
römischen Kaiserzeit und die
„Privatisierung“ griechischer
Heiligtümer in den Häusern
und Gärten der römischen
Oberschicht schließlich werden
anhand eines idealtypischen
Villengartens mit
Wasserbecken, Pflanzen und
reicher Skulpturenausstattung
inszeniert.
Pergamonmuseum:
„Die Rückkehr der Götter –
Berlins verborgener Olymp“.
Bis 5. Juli, täglich 10-18 Uhr,
Do 10-22 Uhr; Eintritt 10/5 Euro,
Katalog 29,90 Euro;
www.smb.museum
Statuette der Aphrodite
(römisch: Venus), wohl
aus Kreta, 2. Jahrh. n. Chr.,
Marmor, Höhe 63 cm.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: Johannes Laurentius
Blatt 27
Solarzellen mit
Nadelstreifen – eine
technische Revolution
aus Berlin
Sehen so künftig unsere
Häuser aus? „Musterbau“
mit dem neuen
Super-Werkstoff von
Sulfurcell (Fabrikgebäude
im Taunus).
In Adlershof entsteht eine Zukunftsfabrik
Von TOBIAS von SCHOENEBECK
Auf den ersten Blick wirken sie wie anthrazitfarbene Glasscheiben,
die an Hausfassaden zum Sonnen- oder Wärmeschutz eingesetzt
werden. Tatsächlich handelt es sich bei den edel erscheinenden
Platten um Solarzellen, die Sonnenlicht in elektrischen Strom
umwandeln. Und das ist der Clou bei den Solarmodulen der Sulfurcell
Solartechnik GmbH: Sie sind Baumaterial und Stromerzeuger
zugleich. Im Gegensatz zu den bislang üblichen Photovoltaikzellen, die
separat auf Dächer oder Fassaden aufgeschraubt werden, können sie
anstelle von Glas, Ziegel oder Stein bei Bauten verwendet werden.
Technisch funktioniert das so: Bei der Herstellung der Solarmodule
werden hauchdünne Halbleiterschichten mit einer Stärke von
wenigen Millimeter auf metallisiertes Glas aufgetragen. Sulfurcell
produziert seine Module unter Verwendung von Kupfer-IndiumSulfid (CIS) als Absorbermaterial. In der Absorberschicht erfolgt die
Umwandlung von Licht in Strom.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: SULFURCELL Solartechnik GmbH
Blatt 28
Dieses innovative Verfahren nennt sich Dünnschichttechnik.
Neben dem praktischen Vorteil, dass die Solarzelle im Bauelement
integriert ist, bringt diese Technik eine enorme Materialersparnis
mit sich. Im Vergleich zur Herstellung herkömmlicher Solarmodule
aus polykristallinem Silizium werden durch die CIS-Technologie
99 Prozent (!) an Halbleitermaterial und ein Drittel der
Produktionsschritte eingespart.
Mit Nachdruck auf diese Eigenschaften seines Produktes
verweisend, stellte Nikolaus Meyer, Gründer und
Geschäftsführer von Sulfurcell, ein solches
Solarmodul jetzt in Berlin-Adlershof vor. Dort
hatte sein Unternehmen auf ein Baufeld am
Rande des Wissenschafts- und Technologieparks
zum ersten Spatenstich geladen, um damit
das Startsignal für den Bau einer hochmodernen
Fertigungshalle sowie eines neuen Verwaltungsgebäudes zu geben.
So sieht eines
der neuartigen
Solarmodule aus.
Für Meyer sind die dunklen, mit feinen Linien („Nadelstreifen“)
durchzogenen Solarplatten das Baumaterial der Zukunft, weil sie
nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern vor allem ökonomisch und
ökologisch wertvoll sind. An den eigenen Fabrikneubauten sollen die
Möglichkeiten des solaren Bauens demonstriert werden. Für die neue
Fertigungshalle werden großflächige Photovoltaik auf dem Dach und
fassadenintegrierte Solarmodule verwendet. Das Verwaltungsgebäude
wird durch die gebäudeintegrierten Solarbausteine sogar zu
hundert Prozent energieautark.
Mit der Entwicklung zur Fertigung von Dünnschichtmodulen
begann Sulfurcell im Jahr 2001 nach der Ausgründung aus dem
Hahn-Meitner-Institut (HMI), heute Helmholtz-Zentrum Berlin
für Materialien und Energie. Hier arbeitete man seit 1991 an der
Grundlagenforschung zur CIS-Technologie. Nachdem 2005 der
Prototyp präsentiert werden konnte, erhielt das Unternehmen im
Jahr darauf den Innovationspreis Berlin-Brandenburg.
In Adlershof betreibt Sulfurcell bislang eine Pilotanlage, die es
auf eine Gesamtproduktion von 3 Megawatt pro Jahr bringt. Mit
der neuen Fertigungshalle, die bis Ende 2009 in Betrieb gehen soll,
steigt das Unternehmen in die Großserienherstellung seiner
Solarmodule ein. Die jährliche Produktionskapazität soll auf 75 MW
erhöht und die Zahl der Mitarbeiter von 175 um 100 gesteigert
werden.
Finanziert wird die Expansion aus öffentlichen Fördermitteln und
mit Risikokapital. Im vergangenen Jahr beschaffte Sulfurcell für den
Fabrikbau insgesamt 85 Millionen Euro. 24 Millionen davon stellte der
US-Investor Intel Capital bereit, weitere 12 Millionen stammen von
der britischen Climate Change Capital. Mit 7 Millionen Euro förderte
der Berliner Senat das Projekt, 20 Millionen kommen aus Bundesund EU-Fördermitteln für Ostdeutschland.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: SULFURCELL Solartechnik GmbH
Blatt 29
East Side Gallery – neu
Im Herbst 2009 jährt sich der Fall der Mauer zum 20. Mal. Bis
dahin soll auch die sogenannte East Side Gallery, ein 1,3 Kilometer
langes Stück östlicher Innen-Mauer zwischen Oberbaumbrücke und
Ostbahnhof, restauriert sein. Es war nach dem Fall der Mauer von
118 Künstlern aus 21 Ländern mit den unterschiedlichsten Motiven
bemalt worden. Die meiste Aufmerksamkeit fand dabei das Bild,
das Leonid Breschnew und Erich Honecker beim sozialistischen
Bruderkuss zeigt. Gemalt hat es der Russe Dmitri Vrubel.
Weil seinerzeit oft billige Farbe verwendet wurde, aber auch
weil der Mauer-Beton stark bröckelte und weil Sprayer die Bilder
verunstalteten, soll die Touristen-Attraktion jetzt „aufgearbeitet“
werden. Erst wird der Beton saniert, dann kann noch einmal gemalt
werden – mit besserer und möglichst Sprayer-sicherer Farbe.
Kosten: 2,2 Millionen Euro, die aus Töpfen des Bundes, der EU,
Berlins und der Berliner Klassenlotterie kommen. Mehr als 100 der
118 Künstler von damals haben zugesagt, ihr seinerzeit geschaffenes
Bild im Sommer identisch oder ähnlich noch einmal zu malen. W
t.
So sah es zuletzt an der Berliner „East Side Gallery“ aus: Die Bilder verblasst, der
Mal-Untergrund teilweise zerbröselt, das Ganze wild überschmiert. Das Foto zeigt den
„sozialistischen Bruderkuss“ zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker, gemalt
von dem Russen Dmitri Vrubel. Jetzt wird alles erneuert ...
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: Ipon/Stefan Boness
Blatt 30
Air Berlin:
30. Geburtstag und
weiterhin Sorgen
Von JENS FLOTTAU
Die größte Sorge von Air Berlin-Chef Joachim Hunold muss es in
den vergangenen Jahren gewesen sein, dass jemand eine feindliche
Übernahme seiner Air Berlin planen könnte. Schließlich war
der Aktienkurs von einst 22 Euro auf nur noch rund drei Euro
abgestürzt. Deutschlands immerhin zweitgrößte (!) Fluggesellschaft
war zuletzt also eigentlich ein „Schnäppchen“. Dass es zu einer
feindlichen Übernahme nicht gekommen ist, also zum Einstieg eines
unerwünschten Investors, liegt vielleicht nur daran, dass in diesen
Zeiten die Konkurrenz jedes Risiko scheut – da mag Air Berlin
noch so billig zu haben sein.
Seine größte Sorge ist der Air Berlin-Chef vorerst nun aber
los. Nach jahrelangen Turbulenzen – dem Ein- und Ausstieg eher
windiger Teilhaber oder neuerdings klammer Oligarchen wie Leonard
Blavatnik – scheinen sich jetzt Partner gefunden zu haben, die
langfristig dabei bleiben wollen und die Gefahr einer Übernahme
minimieren: Der Reisekonzern TUI hat sich mit 20 Prozent an Air
Berlin beteiligt. Darüber hinaus ist die türkische Industriellenfamilie
Sabanci über ihre Esas Holding nun auch mit gut 15 Prozent dabei.
Genug für mehr Stabilität.
Vor allem der TUI-Deal hat noch andere Vorteile. Air Berlin erbt
dabei nämlich auch noch das Städteflug-Geschäft der konzerneigenen
TUIfly. Die auf Ferienziele spezialisierte Airline hatte sich im eher
auf Geschäftsreisende ausgerichteten Segment nie richtig etablieren
können und machte darin hohe Verluste. Air Berlin hofft, nun die
Strecken wesentlich besser vermarkten und in die Gewinnzone
bringen zu können.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: Caro/frank Sorge
Blatt 31
Die Logik hinter dem Esas-Einstieg ist weniger klar. Air Berlin
fliegt in der Türkei kaum Ziele an, nur Antalya und Bodrum. Esas
besitzt zwar mit Pegasus Airlines bereits eine Airline, doch ob die
beiden Unternehmen wirklich so gut zusammenarbeiten können
wie behauptet, das darf man getrost bezweifeln.
Wenigstens kann sich Air Berlin jetzt darauf konzentrieren,
einigermaßen heil aus der Krise zu kommen. Und das ist schwierig
genug. Das Jahr 2008 schloss die Airline mit einem Verlust von 75
Millionen Euro ab und für 2009 wagt Hunold angesichts der völlig
unklaren Aussichten erst gar keine Prognose.
Air Berlin-Chef
Joachim Hunold.
Die Passagierzahlen sind in den ersten Monaten deutlich um
rund sechs Prozent zurückgegangen und Hunold musste die Flotte
verkleinern. Weil die Treibstoffpreise wieder stark zurückgegangen
sind, hat sich die Lage auf der Kostenseite wenigstens etwas
entspannt.
Doch nun drohen die Piloten Ärger zu machen. In
Urabstimmungen bei Air Berlin und ihrer Tochtergesellschaft
LTU hat eine Mehrheit der in der Vereinigung Cockpit (VC)
organisierten Besatzungen für Streiks gestimmt. Die Piloten
wollen die Geschäftsführung dazu zwingen, für den gesamten
Konzern bessere und vor allem einheitliche Tarifbedingungen
zu akzeptieren. Air Berlin hält die Forderungen, die angeblich
Mehrkosten von 30 Millionen Euro pro Jahr verursachen würden, für
überzogen.
Erst wird aber mal nicht gestreikt. So kann auch das
30. Firmen­jubiläum ungestört gefeiert werden. Ende April steigt die
Party in einem Berliner Hotel. Wenigstens diesen einen Abend lang
wird sich der Party-Profi Hunold vermutlich durch nichts den Spaß
verderben lassen. Schließlich moderiert Freund Johannes B. Kerner.
Und sogar Kanzlerin Angela Merkel hat sich angekündigt.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: picture alliance/landov/bloomberg/MICHELE TANTUSSI
Blatt 32
Die neue Astor Film
Lounge in Berlin –
ein Mix aus Lichtspielhaus
und Luxus
Von JAN KEPP
In Berlin gibt es jetzt Deutschlands
erstes Premium-Kino. Bequemer ist
ein Kinosessel nicht denkbar: In den
extrabreiten Lederfauteuils können sich
Filmliebhaber in aufregende Leinwandwelten
regelrecht versenken. Nach hinten sind die
Sitze verstellbar und nach vorne gibt es so
viel Platz, dass – wer möchte – seine Beine
gar auf weiche Lederwürfel hochlegen
kann. Kuscheliger und bequemer kann es
zuhause auf dem Sofa lange nicht sein.
Der Sitzkomfort in der neuen Berliner
„Astor Film Lounge“ erinnert nicht von
ungefähr an exklusives Fliegen. Auch sonst
wird dem Kino-Kunden aller erdenklicher
Service geboten: An den Plätzen reicht die
Bedienung – bis zum Beginn des Hauptfilms
– erlesene Fingerfood-Häppchen – zum
Preis von 15 bis 18 Euro. Wer es noch etwas
exklusiver mag, findet in der Getränkekarte neben Weinen auch
Champagner für bis zu 590 Euro pro Flasche.
Das neue „Wellness-Kino“
am Kurfürstendamm.
Die Botschaft ist klar: Deutschlands erstes Premium-Kino zielt auf
eine Klientel, die in die Multiplexe mit ihrem Popcorn-XXL-Charme
freiwillig keinen Fuß mehr setzen möchte. Im Astor wird – vom
„Doorman“ über die Garderobiere bis hin zur Platzanweiserin – das
Lichtspielhaus zum Wellnessbereich. Die Wohlfühlatmosphäre hat
ihren Preis: Je nach Film und Vorstellung kosten die Karten zwischen
10 und 15 Euro.
Kurioserweise steckt hinter dem – wie es heißt – weltweit bislang
einmaligen Projekt mit Hans-Joachim Flebbe ausgerechnet jener
Mann, der vor gut einem Jahrzehnt maßgeblich an der Etablierung
der Multiplexe in Deutschland beteiligt war. Der einstige Chef der
Cinemaxx-AG will mit dem Berliner Pilotkino am Kurfürstendamm
einmal mehr einen neuen Trend setzen. Das Kinoerlebnis der
gehobenen Art soll jenes Publikum ansprechen, das es sich in den
letzten Jahren statt im Kino zunehmend vor dem heimatlichen
Breitwandbildschirm gemütlich gemacht hat.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: www.film-pr.de/astor film lounge
Blatt 33
Für 800 000 Euro hat der 57jährige Flebbe den altehrwürdigen
Filmpalast auf Luxus getunt. In den denkmalgeschützten Saal aus
dem Jahr 1951 passen nun noch gerade 250 Sitze, zuvor waren es
fast doppelt so viele. Projektions- und Tontechnik wurden auf den
allerneusten Stand gebracht, ansonsten viel vom Charme der 50er
Jahre bewahrt. Vor und nach der Vorführung hebt und senkt sich
ein Vorhang vor der Leinwand – das Kino gewinnt seinen alten Stil
zurück.
Blick in den Saal, wo sogar
„Engel“ servieren …
Mit seiner Investition bewahrte Flebbe eines der letzten
Kudamm-Kinos, die Berlin noch geblieben sind, vor dem Aus. Seit
dem Mauerfall musste im West-Teil Berlins ein Traditionshaus nach
dem anderen seine Türen schließen, weil z. B. große Modeketten
ein Vielfaches an Mieten boten. Der Filmpalast blieb wohl deshalb
verschont, weil er durch eine schmale Passage vom Boulevard
getrennt ist. Der vorherige Betreiber wollte das Haus aufgeben,
weil es zuletzt zu selten voll war.
Daran hat sich nach Wiedereröffnung als „Astor Film Lounge“ viel
geändert: Das Kino ist nahezu jeden Tag in beiden Vorstellungen fast
ausverkauft. „Die Resonanz des Publikums ist großartig“, freut sich
Kinoleiter Jürgen Friedrich. „Wir haben viel Lob erhalten und viele
Besucher wollen gerne wiederkommen.“
Sollte sich das Konzept dauerhaft durchsetzen, plant Flebbe
eine ausgefeilte Programmgestaltung – mit Kurzfilmen oder
Stand-Up-Comedians zum Aufwärmen vor dem Hauptfilm.
Dauererfolg vorausgesetzt, will der Unternehmer seine Idee von
High-End-Kino auch in anderen europäischen Großstädten
verwirklichen (www.astor-filmlounge.de).
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: picture-alliance/dpa/Rainer Jensen
Blatt 34
Karl-May-Helden
kommen in Berlin
zu Musical-Ehren
Auf Nachruhm bis in alle Ewigkeit hat er wohl gehofft, der frühere
Dorfschulmeister und spätere Reiseschriftsteller Karl May aus dem
sächsischen Hohenstein-Ernstthal. Zu Lebzeiten konnte er schon
beträchtlichen Erfolg und gute Goldmark in Fülle einheimsen mit
seinen vielgelesenen Abenteuern im Wilden Westen der Vereinigten
Staaten, im nördlichen Afrika, in Mexiko und in anderen Gegenden,
die er zwar nicht alle persönlich bereisen konnte, die er aber
phantasievoll erdacht und ausgeschmückt hat.
Am Marterpfahl. Szene aus
„Der Schuh des Manitu“
im Theater des Westens.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: ddp/Patrick Seeger
Blatt 35
Der Ruhm von Winnetou, Old Shatterhand, dem blauroten
Methusalem, dem Buschgespenst und Professor Vitzliputzli hält
zwar zwischen Buchdeckeln noch immer an und wird von den
heutigen May-Verlegern kräftig gefördert. Aber so richtig populär
wurden der knorrige Westmann Shatterhand mit Henrystutzen
und Bärentöter und sein roter Bruder vom Stamme der Apachen,
Winnetou, erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts,
als zahlreiche Verfilmungen ein Millionenpublikum in die Kinos
lockten.
Die Superstars und Hauptdarsteller Pierre Brice und Lex
Barker haben noch heute einen Stammplatz in vielen privaten
Videosammlungen und locken noch immer bei der werweißwievielten
Wiederholung vor den Bildschirm.
Regisseur und
Filmemacher
Michael „Bully“ Herbig,
der Ideengeber.
Wie heutzutage nicht anders zu erwarten, sind die herrlichen
Helden sogar zu Musical-Ehren gekommen, was sich der
Winnetou-Autor Karl May in seiner Luxusvilla in Radebeul bei
Dresden damals kaum hätte träumen lassen. Seit letztem Dezember
ist Berlin mit witziger Werbung für das Land der Schoschonen
überzogen, und der unsterbliche Trapper und sein roter Bruder
feiern unter anderen Namen fröhliche Wiedergeburt auf der Bühne
des Theaters des Westens.
Mit „Der Schuh des Manitu“ gab es sogar eine echte MusicalUraufführung in der deutschen Hauptstadt, und das Echo auf
die musikalisch intonierten Abenteuer der mal sächselnden, mal
jodelnden Truppe im wilden oder milden Westen ist beträchtlich.
„Hemmungslos gutes Entertainment“, schrieb ein Berliner
Kritiker, und in anderen Rezensionen wurden die mitreißende
Musik, die grandiosen Tanznummern und die atemraubenden
Stunts, zu denen auch Lasso-Tricks und Salon-Prügeleien gehören,
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: Public Address Presseagentur
Blatt 36
tüchtig gefeiert. „Einfach gutes Bühnen-Handwerk“, lobte die
Kölnische Rundschau und zog das Fazit einer Jubelkritik: „Der schrille
wilde Westen hat in Berlin ein neues Zuhause gefunden.“
Darüber freuen sich nicht nur die Produzenten von Stage
Entertainment, sondern ganz besonders der Schauspieler, Comedian,
Regisseur und Filmemacher Michael „Bully“ Herbig. Denn die
quietschvergnügte Parodie auf die Trapper- und Indianer-Geschichten
basiert auf dem gleichnamigen Kinostück „Bully“ Herbigs, das
vom Start 2001 an sogleich die Hitlisten stürmte und fast zwölf
Millionen Zuschauer in Deutschland amüsierte.
Für Leinwand und Theaterbühne erlebten Winnetou und
seine schöne Schwester Nschotschi, Old Shatterhand und sein
schurkischer Gegenspieler Santer eine Häutung als Abahachi,
Ranger, Uschi und Santa Maria. Auch ein schwuler Zwillingsbruder
von Abahachi namens Winnetouch, eine Schönheitsfarm Puder
Rosa Ranch und ein alter Indianerhäuptling namens Grauer Star
sorgen für parodistischen Pfeffer.
„Bully“ Herbig, der sich zuvor im Fernsehen mit seiner
„Bullyparade“ ein treues Publikum erspielt hatte, ließ bei seinem
ersten Spielfilm jedenfalls sämtliche edlen Mustangs los und sorgte
für ein Feuerwerk schräger Pointen.
„Aber schönes Wetter haben wir!“ – dieser Dialogsatz zwischen
den Blutsbrüdern, die an den Marterpfahl gefesselt sind, ging
geradezu in den Sprachschatz des Volkes über, wenn eine schier
hoffnungslose Situation nur noch durch einen dummen Spruch
neutralisiert werden kann.
„Der Schuh des Manitu“, maßgeschneidert und blankgeputzt für das
Theater des Westens, soll dort bis zum 30. September zu erleben
sein. Was die Hannoversche Allgemeine Zeitung nach dem Start
kurz vor Weihnachten 2008 orakelte, ist inzwischen eingetroffen:
Die Berliner Show „könnte der Musical-Hit des kommenden
Jahres sein“.
Seit Anfang April haben Musicalfreunde sogar die Qual der
Wahl in der Hauptstadt. Mit „Dirty Dancing“ ist im Theater
am Potsdamer Platz eine andere rasante Musik- und Tanz-Show im
Angebot, die den Weg von einem Welterfolg der Leinwand aus dem
Jahre 1987 auf die Entertainment-Bühne fand. Dieter Strunz
Theater des Westens,
Kantstraße 12, 10623 Berlin,
Tel: 0180-5 99 89 99,
Fax: 030-31 90 31 90,
E-Mail: info@
theater-des-westens.de,
www.theater-des-westens.de
Karten unter 01805/44 44
oder www-musicals.de
Theater am Potsdamer Platz,
Marlene-Dietrich-Platz 1,
10585 Berlin.
Tel: 030-25 92 90.
Tickets: 01805-44 44
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DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 37
Der „Palast“ ist weg.
Kommt schon bald das
„Humboldt-Forum“, wie
der Bundestag es will?
Auf der geräumten
Fläche oben stand seit
1976 (Jahr der Eröffnung)
der unter Honecker
gebaute „Palast der
Republik“. Dessen
Abriss wurde kürzlich
abgeschlossen. Bald soll
dort – in der Fassade des
alten Stadtschlosses –
das „Humboldt-Forum“
entstehen.
Von TOBIAS von SCHOENEBECK
Der Schlossplatz in Berlin-Mitte bietet derzeit ein ungewöhnliches
Bild: Gegenüber dem Berliner Dom erstreckt sich entlang der
Spree bis zum Marstall eine riesige, zum Teil planierte, zum Teil
durchfurchte Sandfläche, die vom Ufer her leicht aufsteigt. Vor
einem halben Jahr standen hier noch die Treppentürme als letzte
Überreste des seit 2006 „selektiv zurückgebauten“ Palasts der
Republik. Anfang Dezember 2008 wurden sie zum Abschluss der
kompletten Beseitigung des Gebäudes abgerissen.
In den kommenden Wochen wird das Gelände provisorisch
begrünt. Von Mitte Mai an wird Rasen ausgesät, und ab Ende Juni
können sich Sonnenfreunde auf die wohl prominenteste Wiese der
Stadt legen, auf den grünen Strand an der Spree. Aber – angeblich
– nur für kurze Zeit. Denn in einem halben Jahr sollen auf der
20 000 Quadratmeter großen Freifläche die Bauvorbereitungen für
das „Humboldt-Forum“ beginnen, das nach Bundestags-Beschluss
zwischen 2010 und 2013 in der Kubatur des 1950 gesprengten
Schlosses errichtet werden soll.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: tobias von schoenebeck
Blatt 38
Vorausgesetzt die gesamte Finanzierung steht. Bisher allerdings
kann davon noch nicht die Rede sein. Und viele in Berlin haben
deshalb, was die Jahreszahlen 2010 und 2013 angeht, ihre Zweifel.
Der offizielle Fahrplan für die Rekonstruktion des Berliner
Schlosses aber steht.
Der Sieger im Wettbewerb um das prestigeträchtige Bauvorhaben
heißt jedenfalls Franco Stella aus dem italienischen Vicenza.
Der 65-jährige Architekt gilt als Spezialist für Bauten, die sich in
historische Ensembles einfügen sollen und müssen. Bislang war
Stella nur in Fachkreisen bekannt. In Berlin hatte er sich bereits
an den Wettbewerben für das Kanzleramt und das Auswärtige
Amt beteiligt. Außerdem saß er in der Jury des städtebaulichen
Wettbewerbs für das Areal rund um die Spreeinsel, das auch den
Bauplatz des Schlosses umfasste.
Nach Ansicht der Preisrichter verbindet der Entwurf von Stella
die Wiederherstellung der historischen Mitte Berlins mit dem
innovativen Konzept eines „Humboldt-Forum“, das Wissenschaft,
Kultur und gesellschaftlichen Austausch unter einem Dach
vereinigt.
Die größte Stärke von Stellas Bauplan für die Schlossrekonstruktion
ist, dass er sich nicht wichtiger nimmt als Andreas Schlüter,
dessen um 1700 entworfene Barockfassaden die äußere Gestalt des
Humboldt-Forums weitgehend bestimmen werden. Im Geiste des
einstigen Schlosses hat Stella ein modernes Innenleben gestaltet,
das sich in vielfältiger Weise auf die Fassaden bezieht. Damit ist –
soweit man das sehen kann – die Gefahr gebannt, dass die barocken
Fassaden nur wie Applikationen wirken.
Eine wichtige Rolle spielen dabei die drei Hauptzugänge: Hinter
dem triumphbogenartigen Portal unter der originalgetreu wieder
entstehenden Schlosskuppel ist die Rekonstruktion der historischen
Durchfahrt vorgesehen. Daran schließt sich ein großzügiges
klassisches Treppenhaus an. Auch bei den benachbarten Portalen II
und IV sollen die barocken Fronten durch die Wiederherstellung der
historischen Durchfahrten in das Gebäude hinein verlängert werden.
Zur Ostseite (Spree) wird ein sich zurücknehmendes „Belvedere“
mit Blick auf das Marx-Engels-Forum entstehen. Den Rhythmus der
barocken Fassaden setzt Stella hier in moderner Form fort. Hinter
einem „Fassaden-Vorhang“ führen von beiden Seiten ansteigende
Treppen in die Obergeschosse, was an die Eingangssituation im
Alten Museum erinnert, wo Karl Friedrich Schinkel hinter die
Säulenreihe das Treppenhaus platzierte.
In einer ähnlichen Formensprache wie zur Spree ergänzt Stella
die vierte Seite des ebenfalls zu rekonstruierenden Schlüterhofes
(= Schlossforum). Den Eosanderhof reduziert er zugunsten weiterer
Nutzflächen zu einem schmalen, aber offenen Hof.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 39
Dieser Entwurf wird jetzt dem Bundestag zur Ausführung
empfohlen. Nach Abschluss der Planungsphase soll 2010 der erste
Spatenstich erfolgen. Der Deutsche Bundestag hat für das Bauprojekt
einen Gesamtkostenrahmen von maximal 552 Millionen
Euro festgelegt.
Davon trägt der Bund 440 Millionen Euro. Das Land Berlin
beteiligt sich für eigene kulturelle Nutzungen unter dem Dach
des Humboldt-Forums neben den landeseigenen Grundstücken
mit 32 Millionen Euro. 80 Millionen Euro sollen aus privaten
Spenden für die Rekonstruktion der historischen Schlossfassade
beigesteuert werden. Um das zu erleichtern, wird eine Stiftung
Humboldt-Forum eingerichtet, die neben der Spendensammlung
auch Bauherrenaufgaben übernimmt.
Modell des
„Humboldt-Forum“,
präsentiert von dem
italienischen Architekten
Marco Stella aus Vicenza.
So ähnlich wie heute sah es auf dem Schlossplatz schon einmal
aus, nämlich vor 58 Jahren, als die auf Befehl Walter Ulbrichts
erfolgte, viermonatige Zerstörung und Beseitigung des alten
Hohenzollernschlosses ihren Abschluss gefunden hatte.
Zwischen dem 7. September und dem 30. Dezember 1950 war
die Ruine des Stadtschlosses sukzessive gesprengt und vollständig
abgetragen worden. In den Augen der damaligen DDR-Führung
war das Schloss, das im Zweiten Weltkrieg während zweier
Bombenangriffe im Februar 1945 schwer beschädigt und zum Teil
ausgebrannt war, ein Symbol des ihr verhassten preußischen
Absolutismus, das in einem neuen, nach sozialistischem Vorbild zu
gestaltendem Stadtzentrum keinen Platz haben durfte.
Mit der Schlosssprengung verschwand ein Gebäude, das bis dahin
500 Jahre Berliner Stadtgeschichte repräsentiert hatte. 1443
hatte Kurfürst Friedrich II., genannt „Eisenzahn“, den Bau begründet.
Im 16. Jahrhundert ließ Kurfürst Joachim II. die spätmittelalterliche
Burg weitgehend abtragen und durch den Baumeister Caspar Theiss
eine prachtvolle und bedeutsame Renaissance-Residenz errichten.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: picture-alliance/dpa/Rainer Jensen
Blatt 40
Seine bis zuletzt prägende Ansicht erhielt das Schloss Anfang des
18. Jahrhunderts, als es der Baumeister Andreas Schlüter auf
Anweisung des Kurfürsten Friedrich III., ab 1701 König Friedrich I.
in Preußen, zur repräsentativen Königsresidenz und zugleich zum
bedeutsamsten Profanbau des protestantischen Barock ausbaute. Mit
Ausnahme des Kuppelbaus, den Friedrich August Stüler 1845 bis
1853 ausführte, erfolgten seither nur noch kleine Änderungen am
Außenbau. Insgesamt stellte das Berliner Schloss im europäischen
Kontext einen Residenzbau allerersten Ranges dar.
Zum 1. Mai 1951, vier Monate nach Abschluss des Schlossabrisses,
wurde die entstandene Freifläche als großer Aufmarschplatz
mit einer Tribüne für die Staatsführung der DDR fertig gestellt.
Ulbrichts Nachfolger Erich Honecker ließ die Tribüne 1973
wieder abbauen und den Palast der Republik errichten, der
1976 eröffnet wurde. Am 19. September 1990, zwei Wochen vor
dem Tag der Deutschen Wiedervereinigung, wurde der Palast der
Republik geschlossen. Offizielle Begründung: Gesundheitsgefährdende Asbestbelastung.
Gleich nach der Wiedervereinigung setzte in Berlin eine
Diskussion ein, ob das Schloss wieder errichtet werden sollte.
Damit begann nicht nur eine bis heute andauernde öffentliche
Debatte um den Schlossbau, sondern auch um den Umgang und das
Selbstverständnis der Deutschen mit ihrem wiedervereinigten Staat
und seiner Geschichte.
1992 gründete sich der Förderverein Berliner Schloss e. V. um
den Hamburger Fabrikanten Wilhelm v. Boddien. Dieser Verein
veranstaltete 1993/94 für eineinhalb Jahre eine farbige Fassadeninstallation des Schlosses, die am originalen Standort im Maßstab
1:1 mit dem weltgrößten Raumgerüst aufgestellt wurde.
Diese Schlosssimulation wirkte damals im Stadtbild für viele
sehr überzeugend und trug erheblich dazu bei, dass immer
mehr prominente Persönlichkeiten aus Kultur und Politik für das
Schloss plädierten, während sich viele Architekten und einige
Denkmalpfleger kritisch gegenüber einer Rekonstruktion äußerten.
Doch konkret passierte jahrelang gar nichts. Der Palast der
Republik dämmerte ungenutzt vor sich hin, bis 1998 eine fünf
Jahre währende Asbestentsorgung begann, infolge der die
gesamte Inneneinrichtung entfernt wurde. 2002 schlug die von
Bundesregierung und Berliner Senat zwei Jahre zuvor eingesetzte
Kommission „Historische Mitte Berlin“ vor, dass ein Neubau
in der Kubatur des Schlosses auf dem originalen Standort aus
ästhetischen wie aus urbanen Gründen anstelle des abzureißenden
Palasts der Republik entstehen soll.
Diesem Vorschlag entsprechend stimmte der Bundestag im Juli
2002 mit annähernder Zwei-Drittel-Mehrheit zu und beschloss
den unmittelbaren Wiederaufbau des Schlossäußeren mit der
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Blatt 41
Nutzung des Gebäudes als Humboldt-Forum. Damit war ein
demokratisch legitimierter und endgültig gefasster Beschluss auf
dem Tisch.
Er hatte aber nicht den Charakter eines endgültigen Bauauftrages,
da dieser erst mit der Bewilligung der finanziellen Mittel zustande
kommt. Angesichts der kritischen Haushaltslage des Bundes
war die Debatte um einen Wiederaufbau des Schlosses noch
nicht beendet, auch dann nicht, als der Bundestag im November
2003 seinen Beschluss fast einstimmig bestätigte. Im August 2005
stellte die Bundesregierung der Öffentlichkeit Auszüge einer
Machbarkeitsstudie vor, nach der die Realisierung des Bauvorhabens
in Form einer Public Private Partnership möglich sei.
Herbst 1950:
Walter Ulbricht lässt
das zwar von Bomben
getroffene, aber noch
weitgehend erhaltene
Schloss sprengen – aus
ideologischen Gründen.
Der längst beschlossene Abriss des Palasts der Republik
wurde ebenfalls immer wieder aufgeschoben. Nach geplanten
Startterminen im Frühjahr 2005 und im Oktober 2005 begann der
„selektive Rückbau“ des Gebäudes im Februar 2006 und sollte
ursprünglich Mitte 2007 abgeschlossen sein. Aus verschiedenen
Gründen, auch weil im Zuge der Arbeiten an mehreren Stellen
weiteres asbesthaltiges Material gefunden wurde, verzögerte sich
der Abriss deutlich. Erst am 2. Dezember 2008, also fast zeitgleich
mit der Juryentscheidung zum Wiederaufbau des Schlosses, wurde
der letzte Gebäudeteil des Palasts abgeräumt.
Wenn nun bis Ende 2009 die aufs Neue entstandene Freifläche
tatsächlich zur Neubebauung vorbereitet sein wird, können die
Arbeiten analog Franco Stellas Plänen beginnen. Falls dann die
Gesamt-Finanzierung steht …
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: picture-alliance/akg-images
Blatt 42
Wandbehang
aus dem
preussischen
Königshaus,
um 1800.
Tuchintarsien aus Europa
im Museum
Europäischer Kulturen
Von JAN KEPP
Stolze Reiter, zarte Blüten, wilde Tiere oder biblische Episoden – der
Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Auf Wandteppichen, Tüchern
und Decken entstehen aus vielen kleinen Ornamenten große
Panoramen. Oder aus einzelnen Bildern lässt sich eine vollständige
Geschichte lesen. Wie bei einem Puzzle sind die oft großformatigen
„Stoffgemälde“ aus zum Teil nur fingernagelgroßen Stoffstücken
zusammengesetzt.
Das Museum Europäischer Kulturen in Dahlem widmet
anlässlich seines zehnjährigen Bestehens einer besonderen Schnittund Nähtechnik eine eigene Ausstellung: der Tuchintarsie. Fast
vierzig Beispiele für dieses filigrane Kunsthandwerk aus Deutschland,
Österreich, der Schweiz, England, Irland, Polen und Schweden sowie
aus den USA und Australien wurden für die einmalige Schau
zusammengeführt. Daneben sind grafische Vorlagen, Musterbücher
und zeithistorische Dokumente zu sehen. Der zeitliche Bogen spannt
sich von 1500 bis in die Gegenwart.
Bei der Tuchintarsientechnik handelt es sich um eine kreative
Verwertung von Stoffresten. Entwickelt wurde sie von Schneidern,
darunter viele Militärschneider, die besonders sparsam arbeiten
mussten. Das Grundmaterial aller Objekte besteht aus gewalkter,
schnittfester, nicht fransender Wolle. Ihr Vorteil: Sie muss nicht
gesäumt werden. So können zum Teil winzige Stofffetzen Stoß an
Stoß zu Bildern zusammengefügt werden – mit feinen Stichen auf
der Rückseite, die für den Betrachter kaum sichtbar sind.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: deutsches historisches museum berlin/arne psille
Blatt 43
Die Produzenten der kunstvollen Arbeiten sind heute nicht
mehr eindeutig auszumachen. Einige der ausgestellten Objekte
entstanden in Klöstern, andere in Schneidereien, wieder andere
als Gemeinschaftswerk von Frauen. Manche von ihnen dienten
dazu, um das Nähen zu lernen, andere, um die Meisterschaft
darin zu dokumentieren. Gemeinsam ist allen Beispielen
ihre Farbenfreude und reiche Ornamentik. Meist werden
Bildgeschichten mit historischen, religiösen oder kulturellen Motiven
erzählt, überaus lebendig und lebensfroh.
In der Tradition dieser kenntnisreichen Technik steht das
Kunstprojekt „Stückwerk Berlin – Stückwerk Europa“, das
die Berliner Textilkünstlerin Ursel Arndt in Kooperation mit dem
Museum Europäischer Kulturen für die Ausstellung realisiert hat.
Der großformatige Bildteppich vereint die aktuelle Bilderwelt von
Graffiti-Sprayern aus Berlins Straßen. So werden die Tuchintarsien
aus sechs Jahrhunderten um ein Beispiel aus dem beginnenden
21. Jahrhundert ergänzt.
Nach Berlin wird die Ausstellung in drei weiteren europäischen
Städten zu sehen sein: zunächst in Wien, dann in Wroclaw (Breslau)
und schließlich in Leeds.
Museum Europäischer Kulturen
Dahlem: „Tuchintarsien in Europa
von 1500 bis heute“.
Bis 5. Juli, Di- Fr 10-18 Uhr,
Sa/So 11-18 Uhr; Eintritt 6/3 Euro,
Katalog 39,90 Euro.
www.smb.museum
„Wolfshagener
Tuchteppich“
aus Kirchenbesitz,
hergestellt in Breslau,
erste Hälfte
des 18. Jahrhunderts.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: kirchengemeinde wolfshagen/ute franz-scarciglia
Blatt 44
Auch Deutschland darf
die islamische Welt
nicht vernachlässigen
Von RAFAEL SELIGMANN
Die Anschläge vom 11. September 2001 sind in meinen Augen das
entscheidende Ereignis des vergangenen Jahrzehnts. Sie waren ein
Alarmsignal für die USA, aber ebenso für Deutschland. Auch in
Zukunft werden wir mit den Auswirkungen dieser Attentatsserie
befasst bleiben.
Zu den Anschlägen in den USA bekannte sich die
fundamentalistische Gruppe Al Qaida. Sie erklärte den Vereinigten
Staaten und den christlich dominierten, westlich orientierten
Ländern den Krieg. Die damalige Bundesregierung unter Führung
von Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka
Fischer bekannte ihre „uneingeschränkte Solidarität“ mit den
USA. Dies galt auch, als Truppen der Vereinigten Staaten und
ihrer Verbündeten Afghanistan angriffen und das dort herrschende
Taliban-Regime, das Al Qaida Schutz geboten hatte, von der Macht
vertrieben.
Doch als die Regierung Präsident George W. Bushs sich
entschlossen zeigte, ihren Krieg gegen den Terror durch einen
Feldzug gegen das Regime des irakischen Diktators Saddam
Hussein auszuweiten, dem sie vorwarf, Massenvernichtungswaffen
zu produzieren und die fundamentalistischen Guerilleros zu
unterstützen, verweigerte sich Berlin.
Schröder und Fischer waren nicht bereit zu glauben, dass der
Gewaltherrscher aus dem Zweistromland sich an den Anschlägen
gegen die USA beteiligt hatte oder erneut offensives Kriegsgerät
fertigen ließ. Diese außenpolitische Position half Rot-Grün, die
Wahlen im pazifistisch eingestellten Deutschland zu gewinnen.
Washington nahm Deutschland das Abseitsstehen bei der
militärischen Offensive gegen Irak übel. Heute lässt sich jedoch
feststellen, dass Berlin eine weitsichtigere Politik verfolgte als die
Bush-Administration.
Diese Bewertung wird doppelt unterstrichen. Bundeskanzlerin
Angela Merkel bemühte sich um ein gutes persönliches Verhältnis
zu Präsident Bush und hatte Erfolg damit. Doch auch die
CDU-Kanzlerin hielt an dem von Schröder eingeschlagenen Kurs
fest, Deutschland nicht militärisch in Irak zu engagieren.
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Die Anstrengungen von Präsident Barack Obama, mit den
islamischen Staaten, selbst mit Iran, ins Gespräch zu kommen,
beweisen, dass die neue Administration eine Konfrontation mit
der islamischen Welt mit ihren rund 1,3 Milliarden Menschen
unter allen Umständen vermeiden will. In den Rahmen dieser
politischen Strategie gehört das Bemühen des US-Präsidenten,
das Verhältnis zur Türkei als dem Dreh- und Angelpunkt
zwischen dem Westen und der islamischen Welt nachhaltig zu
verbessern. Dabei drängte Obama während einer Rede vor dem
Parlament in Ankara die EU zu einer Aufnahme der Türkei in ihre
Reihen.
Die Europäische Union, auch Deutschland, reagierte kritisch.
Denn zu einem würde Deutschland als größter Staat der EU
die Hauptlast zukünftiger Subventionen an die Türkei zu leisten
haben, nach gegenwärtigem Stand wären dies 28 Milliarden Euro
jährlich. Zum anderen leben hierzulande knapp zwei Millionen
Türken.
Deren Stellung würde sich durch einen Beitritt der
Türkei erheblich verändern. Aber auch die deutsche
Gesellschaft insgesamt. Denn über kurz oder lang würde eine
EU-Mitgliedschaft Ankaras die uneingeschränkte Freizügigkeit,
also Zuwanderungsmöglichkeit, bedeuten. Dabei ist mit der
Einwanderung von mehreren Millionen Menschen zu rechnen.
In der Diskussion über das Für und Wider einer
EU-Mitgliedschaft Ankaras wird jedoch übersehen, dass Obama
in dieser Frage lediglich die traditionelle Position Washingtons
aufrecht erhält. Bereits Präsident Bush drängte die Europäer,
endlich ihre Verheißung gegenüber der Türkei zu erfüllen und sie
zu einem gleichberechtigten Partner in ihrer Gemeinschaft zu
machen.
Die Begeisterung für den neuen amerikanischen Präsidenten
sollte uns nicht dazu verleiten, alle seine politischen Initiativen
als Innovationen zu feiern. Die Vereinigten Staaten unterhalten
traditionell gute Beziehungen zur islamischen Welt. Dies gilt nicht
nur für die Öl-Staaten, insbesondere Saudi-Arabien, mit dem
die Amerikaner seit Bestehen des wahabitischen Königreiches
in den 1930er Jahren hervorragende Geschäfte machen. Die
USA waren seit den 50er Jahren Verbündete Pakistans, des Irak
und der Türkei. Washington ist stets für die Unabhängigkeit
der arabischen Staaten eingetreten – entgegen deren früheren
Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien.
Der US-Präsident versucht unter Beibehaltung der
traditionellen nationalen Interessen Washingtons lediglich die
Konfrontation seines Landes mit den islamistisch-regierten
Staaten, in erster Linie Iran, zu beseitigen. Ob Iran dabei Obamas
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„ausgestreckte Hand“ ergreifen wird, oder ob das Mullah-Regime
nicht vielmehr eine Phase der Verhandlungen mit Washington
ausnutzen will, um seine atomaren Ambitionen weiter
voranzutreiben, bleibt abzuwarten.
Deutschland ist von jeder Veränderung im Verhältnis des
Westens zur islamischen Welt politisch und gesellschaftlich
betroffen. Dies zeigte sich auch bei den Anschlägen vom 11.
September 2001. Ein Teil der Attentäter aus Saudi-Arabien und
Libanon hatten in Deutschland studiert und sich hier mental auf
ihre Terrortaten vorbereitet. Seither gab es mehrere versuchte
Anschläge von Islamisten in unserem Land. Doch dies ist bei
aller Spektakularität im Gesamtbild der deutsch-islamischen
Beziehungen zu vernachlässigen.
Entscheidend ist in erster Linie der soziale Aspekt, also das
tagtägliche Leben. Wie kommt die deutsche Mehrheitsgesellschaft
mit den Moslems in ihrer Mitte zurecht? Vor zwanzig Jahren
gab lediglich ein Drittel der Muslime hier an, religiös zu sein.
Heute sind es, gemäß einem Bericht der Bertelsmann-Stiftung,
90 Prozent. Dies wird im Straßenbild Berlins, Kölns, Hamburgs
und anderer Großstädte sichtbar. Es ist nicht nur eine Frage der
Höhe von Minaretten neu errichteter Moscheen sondern des
Miteinanders.
Die Unionsparteien mussten erkennen, dass Deutschland
ein Zuwanderungsland ist. Nun legen sie Wert auf Integration.
Viele würden am liebsten die Assimilation der türkischen und
islamischen Zuwanderer sehen. Der türkische Ministerpräsident
Erdogan wiederum nannte bei einer Veranstaltung in Köln
„Assimilation … ein Verbrechen gegen die Menschenwürde“. Und
die Türkei bemüht sich, die Verbindung zu ihren Landsleuten in
Deutschland zu pflegen und langfristig aufrecht zu erhalten.
Die deutsche Außenpolitik zielt darauf ab, bei der Beilegung der
Konflikte im Nahen Osten, vor allem der israelisch-arabischen
Auseinandersetzung, aktiv mitzuhelfen. Doch eine Beilegung
ist hier nicht absehbar. Und innerhalb Deutschlands wird eine
Integration der muslimischen Zuwanderer wesentlich länger
dauern, als Optimisten sich dies vorgestellt haben. Ein Patentrezept
gibt es nicht.
All dies steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den
Anschlägen des 11. September 2001. Doch die Attentate haben
deutlich gemacht, dass der Westen und wir Deutschen den
globalen Wandel und dabei insbesondere die Beziehungen zur
islamischen Welt nicht vernachlässigen dürfen. Im Gegenteil, im
eigenen Interesse müssen wir hier gestalterisch tätig werden.
Ebenso wie der junge amerikanische Präsident.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
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Dali-Museum im Herzen
Berlins: Dauerausstellung
mit 400 Werken
Von JAN KEPP
Die großen Ölgemälde sucht man vergebens. Und doch ist das neue
Dali-Museum im Herzen Berlins am Leipziger Platz eine kleine
Schatztruhe: Mehr als 400 Werke des spanischen Surrealisten
werden hier präsentiert. Die Ausstellung konzentriert sich dabei auf
Zeichnungen, Grafiken und Skulpturen, daneben sind illustrierte
Bücher, Mappenwerke und Filmdokumente zu sehen.
Zu den herausragenden Werken
gehören 21 Kaltradierungen aus dem
Jahr 1970 zu „Tristan und Isolde“, 24
Farblithografien zu „Carmen“ aus
demselben Jahr sowie zwölf Lithografien
zu „Don Quichotte“ aus den Jahren
1956/57. Das grafische Werk, so Kurator
Carsten Kollmeier, sei in anderen
Dali-Museen eher unterrepräsentiert.
In Berlin wolle man bewusst diese
Seite seines Œuvres in den Vordergrund
rücken. Sie eröffne eine zum Teil
unbekannte Perspektive.
Das Museum kann auf einen Fundus
von rund 3000 Arbeiten zurückgreifen,
die aus privaten Sammlungen stammen. Dementsprechend soll die
Dauerausstellung, die sich über zwei Etagen mit 1400 Quadratmetern
Fläche erstreckt, immer wieder ausgetauscht und ergänzt werden.
Eines der Exponate
wird ausgepackt.
Wer möchte, kann bei seinem Rundgang den Kontakt zu so
genannten Dali-Scouts suchen. Die jungen Damen und Herren im
knallroten T-Shirt geben Hintergrundinformationen zu einzelnen
Werken, ohne dabei eine Interpretation vorzugeben. Es geht
mehr darum, über Eindrücke und Assoziationen zu sprechen als
kunsthistorische Erkenntnisse zu vermitteln. Ein ähnliches Konzept
war in der großen MoMA-Ausstellung vor einigen Jahren sehr
erfolgreich.
Bereits seit zwei Jahren ist die Kunst Dalis in Berlin zu sehen.
Zunächst in einer Ausstellung im DomAquarée, die von 60 000
Gästen besucht wurde. Dann zogen die Exponate um in die ehemalige
Filmbühne Wien am Kurfürstendamm, wo sich 100 000 Menschen
die Werke ansahen. Das neue Domizil am Leipziger Platz soll nun
zu einer dauerhaften Adresse werden – für mindestens 25 Jahre.
Kurator Kollmeier hofft auf 100 000 Besucher im Jahr.
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: Konzept und Bild/VISUM
Dali-Museum, Leipziger Platz 7,
geöffnet Mo-Sa 12-20 Uhr,
So 10-20 Uhr; Eintritt 11/9 Euro;
www.dalimuseum.de
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Die 60. Berlinale wird
2010 als Jubiläum gefeiert
Die Generalprobe im Jahr 2009 ist gelungen
Von DIETER STRUNZ
Wie beschreibt man am besten ein ideales Filmfestival? Die
Antwort kam am Schlusstag der Berliner Filmfestspiele 2009 aus dem
Mund eines afrikanischen Gastes, des 62jährigen Schauspielers Sotigui
Kouyaté. Er hatte trotz schwerer körperlicher Behinderung die
Flugreise in die deutsche Hauptstadt und den Weg auf die Bühne des
Berlinale-Palastes geschafft.
„Erst die Vielfalt der Bäume macht die Schönheit eines Waldes
aus“, sagte er in seiner Dankesadresse für den Gewinn des Silbernen
Bären als bester Darsteller im 59. Wettbewerb der Berlinale. Und:
„Erst die Vielfalt der Blumen macht die Schönheit des Straußes
aus.“
Es war einer der bewegendsten Augenblicke, als der gebrechliche
Mime aus Mali mit seinen jugendlichen Rastalocken und seinen
funkelnden Augen ins schwärmerische Plaudern geriet. Es war
ein Moment des Innehaltens nach zehn turbulenten und
filmbepackten internationalen Kinotagen.
Zwischen dem 5. und dem 15. Februar konnte die Berlinale
mit all ihren Verästelungen, mit Nebenzweigen und Extrareihen
wieder einmal beweisen, dass es nicht allein auf Sieger und Applaus
ankommt, sondern auf die Vielfalt des Angebotes für jung und
alt, für Kinofreaks und Intellektuelle. Bei einem Angebot von fast
400 Filmen in mehr als 1200 öffentlichen Vorführungen waren
Augenblicke der Stille und Besinnlichkeit rar, und natürlich wird ein
Filmfest wie die Berlinale vor allem von Jubel, Trubel, Promijagd und
Bärenbeute geprägt.
Aber selbst bei der Verleihung des Berliner Hauptpreises, des
Goldenen Bären der Festspiele 09, gab es solch einen berührenden
Moment. Als Magaly Solier aus dem Team des peruanischen
Siegerfilms „La teta asustada“ ihre Rührung und Dankbarkeit
durch ein kleines gesungenes Lied besser ausdrücken konnte als
durch das gesprochene Wort. Wenn man die fremden Strophen auch
nicht verstand, so wusste doch jeder im weiten Theaterrund am
Marlene-Dietrich-Platz, was gemeint war.
Alle aus der großen Schar der Festivalbesucher, ob die von Fernost
oder Südamerika angereisten Teilnehmer, ob die Kinogänger aus
Lankwitz oder Neuruppin, aus München oder Flensburg, ob die
Filmkaufleute, die Akteure, die Kritiker und die Zuschauer, sie alle
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verband die eine allgemeinverständliche, universelle Sprache
des bewegten Bildes, des Films. Eine Sprache, die buchstäblich
Berge versetzen kann. Oder ein dickes Baby über die Leinwand
fliegen lässt. Oder in einem Augenblick die Liebe erweckt. Oder von
Angst und Wut und Schmerz und Glück und Zukunft erzählt.
Natürlich stand der cineastische Riesenrummel am Potsdamer Platz
in diesem Jahr unter besonderer Aufmerksamkeit der Fachleute
und der Medien. Als erstes Festival des Kalenderjahres, aber
auch als Generalprobe für die 60., die Jubiläums-Berlinale 2010.
Das deutsche Filmfest war 1951 im gerade von Trümmern halbwegs
gesäuberten West-Teil der kriegszerstörten alten Reichshauptstadt
ins Leben gerufen worden.
Die Top-Preisträger
der 59. Berlinale:
Pilar Guerrero,
Claudia Llosa und
Magaly Solier (v.l.)
aus Peru.
Der mit dem Februar frühe Termin der Berlinale ist Glück und
Kummer der Programmplaner. Glück, weil die ersten Premieren
des Kinojahres weltweit besonders beachtet werden, und weil
Berlin der Konkurrenz in Cannes, Venedig, Locarno und in anderen
klimatisch begünstigteren Regionen den Schneid abkaufen kann. Auf
der Gegenseite schlägt der mitteleuropäische Februar mit häufigen
meteorologischen Tieflagen und stimmungsmäßigen Schieflagen
negativ zu Buche. Wer sitzt schon gern tropfnass im Kinosaal oder
stolziert schulterfrei bei Minusgraden über die alte Potsdamer Straße?
Diesmal mischten sich spärliche Sonnenstunden mit SpätwinterTristesse. Da zog man gern durch die Arkaden, die wieder als
Flanierboulevard, als Einkaufsparadies, als Eintrittskartenzentrale, als
Roter Teppich fürs ganz normale Publikum und als Nachrichtenbörse
für Journalisten dienten, die sich zwischen zwei Aufführungen hier
einen Happen genehmigten. Nach dem Film aus der Volksrepublik
China vielleicht Ente kross?!
Wer hinterher das Wechselgeld in seiner Börse betrachtete,
sah mehr spanische, italienische, französische und griechische
Euros als solche mit dem Brandenburger Tor, manchmal sogar
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
foto: picture-alliance/dpa/Soeren Stache
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Kleingeld aus irischer oder finnischer Prägung. Ein kleines
Indiz für die Anziehungskraft der Filmfestspiele nicht nur im
deutschen Sprachraum und für wirtschaftliche Nebeneffekte im
Berlin-Tourismus. „Die Berlinale lässt die Stadt schimmern“,
überschrieb die Berliner Morgenpost poetisch einen Leitartikel.
Da wollte sich auch die Prominenz nicht lange bitten lassen und
trat brav zum Schaulaufen vor den Kameras der Profis und der
privaten Promijäger an. Mit Kate Winslet, Michelle Pfeiffer, Renée
Zellweger und Demi Moore vertrat ein hochkarätiges Quartett
die Weltfilmmetropole Hollywood. Regie-Altmeister wie Chabrol,
Costa-Gavras und Wajda waren präsent.
Was im deutschen Film- und Fernsehgeschäft zur Zeit gefragt
ist, musste in Berlin einfach dabei sein. Mario Adorf und Armin
Müller-Stahl, Sebastian Koch und Jürgen Vogel, Julia Jentsch und
Nina Hoss, Hannelore Elsner und Senta Berger, Martina Gedeck und
Susanne Lothar und … und … und. Glanz fiel auf Heike Makatsch,
die durch ihre Hauptrolle in dem Knef-Film „Hilde“ gerade in Berlin
unter besonderer „Beobachtung“ stand und sich immerhin ehrenwert
aus der Affäre zog. „Effi Briest“ lockte bei einer Berlinale Special
Vorführung auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ins Parkett.
Rufen wir einige besondere Blumen aus dem Strauß des Festivals 09
in Erinnerung:
glücklicher Gedanke, den Friedrichstadtpalast als
•Ein
Filmtheater auf Zeit hinzuzumieten und extra für die 1800
Zuschauer mit Superleinwand und technischer Hochrüstung
attraktiv zu machen. Wer in vergangenen Jahren auf der Berlinale
vergeblich nach Kinokarten anstand, bekam hier seine Chance, und
ein neuer Ort für Filmgalas war außerdem gefunden.
einen Drehbuch-Bären erhielt mein persönlicher Favorit
•Immerhin
„The Messenger“ aus USA, der aufzeigt, dass der Krieg, dass jeder
Krieg, sich seine Opfer auch abseits der Schlachtfelder sucht.
Maurice Jarre, von dem schon Melodien im
•Filmkomponist
Kopfe aufklingen, wenn man nur Titel wie „Dr. Schiwago“ oder
„Lawrence von Arabien“ nennt, wurde völlig verdient mit einem
Goldenen Ehrenbären der Filmfestspiele geehrt. Es war die letzte
Auszeichnung für Jarre, der wenige Wochen später in Los Angeles
verstarb.
Gelächter, als Steve Martin den mit Kinotragik
•Erleichtertes
reichlich bedienten Dauerzuschauern die Lachtränen in die Augen
trieb. „Pink Panther II“ dürfte sogar dem freundlich angepflaumten
Heiligen Vater im Kinosaal des Vatikan Spaß machen.
schön, dass man sich einer guten Sitte alter Berlinalezeiten
•Wie
entsann und wieder in ein Bezirkskino einkehrte, diesmal ins
Wilmersdorfer Cosima.
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Berliner Regisseur Tom Tykwer hatte die Chance, mit seinem
•Der
neuen Film „The International“ das Berlinale-Fest zu eröffnen.
Für ein Kurzfilm-Kompendium „Deutschland 09“ scharte
Tykwer sogar ein Dutzend seiner Regiekollegen um sich (mit sehr
unterschiedlichem künstlerischen Ertrag).
Plus für die Hauptstadt war die Sonderreihe „Winter ade –
•Ein
Filmische Vorboten der Wende“, in der die Kulturstiftung des
Bundes und die Deutsche Kinemathek filmische Hoffnungsträger für
eine Zeitenwende und den Fall des Eisernen Vorhangs vorstellten.
einem munteren Eigenleben geprägt war der kommerzielle
•Von
European Film Market im Martin-Gropius-Bau. Trotz der
Wirtschaftskrise erwies er sich wieder als ein Dreh- und
Angelpunkt für den weltweiten Filmhandel und Austausch. In
diesem Jahr gesellte sich mit dem Marriot-Hotel am Potsdamer
Platz ein weiterer Markt-Treffpunkt dazu.
Neben den aktuellen Filmen lockte eine filmhistorische Reihe,
die für Kenner oft das Sahnehäubchen der Berlinale darstellt. Die
Retrospektive setzte auf die Wucht und Kraft der Bilder, indem
unter dem Motto „Bigger Than Life“die leinwandsprengenden
70-mm-Formate gezeigt wurden, mit denen sich die Filmwirtschaft
einst erfolgreich gegen die kleinformatige Fernsehkonkurrenz zur
Wehr setzte.
Da Berlin noch immer breitwandige Abspielflächen zu bieten
hat, ließen sich die großen Filme wie „Ben Hur“ und „West Side
Story“ auch in großen Sälen genießen. Sie wurden im Cinestar im
Sony-Center und im Kino International gespielt, das 1963 als
drittes 70-mm-Lichtspielhaus der DDR eröffnet wurde.
Natürlich knirschte es auch mal im Getriebe. Kaum war das
Tauziehen um den Tom-Cruise-Film „Operation Walküre – Das
Stauffenberg-Attentat“ und über seine mögliche Teilnahme am
Berliner Programm halbwegs vergessen, drohte neues Ungemach:
Unfriedliches um das Friedensfest von „Cinema for Peace“. Mit
einem Auftrieb von Michail Gorbatschow über Catherine Deneuve,
Christopher Lee, Leonardo DiCaprio und Ben Kingsley hatte man
am Gendarmenmarkt eine eigene Starparade etabliert, fast eine
kleine Gegen-Berlinale, so dass Festivalchef Dieter Kosslick, sonst
ein Muster an Freundlichkeit und Konzilianz, zur ganz scharfen Klinge
griff. Das Zerwürfnis sollte man rechtzeitig im Gespräch von Mann
zu Mann/Frau aus der Welt schaffen.
Fast 20 000 Fachbesucher aus 136 Ländern kamen in die Stadt
von Havel, Spree und Landwehrkanal. Unverändert stark ist der
Andrang der schreibenden, kommentierenden und filmenden Zunft.
Und das Publikum strömt auch zu schwierigen Stoffen und Filmen.
Mehr als 270 000 Tickets wurden gekauft, 30 000 mehr als im
Jahr zuvor. Wie wird das erst werden, wenn die Hauptstadt übers
Jahr das Jubiläum der 60. Filmfestspiele feiert?
DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100
Internationale Filmfestspiele
Berlin, Potsdamer Straße 5,
10785 Berlin,
Tel: 030-25 920 920,
Fax: 030-25 920 299,
E-mail: [email protected],
www.berlinale.de
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