Air Berlin - Der Hauptstadtbrief
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Air Berlin - Der Hauptstadtbrief
DER HAUPTSTADTBRIEF Mai 2009 Hintergrund-Dienst aus Berlin für Entscheider und Multiplikatoren 100. Ausgabe Dies ist die 100. Ausgabe des HAUPTSTADTBRIEF. Und: Es gibt ihn jetzt seit 10 Jahren. Berliner Banken-Krise: Ende gut, alles gut? Der Senat kann sogar mit finanziellem Gewinn rechnen – nach acht Jahren – Ab Blatt 24 Knut ist jetzt zwei Meter groß Aus 810Nr. Gramm DER HAUPTSTADTBRIEF 100 Geburtsgewicht sind 300 Kilo geworden – Ab Blatt 28 Blatt 1 DER 100. HAUPTSTADTBRIEF 3 Was Leser über uns sagen 5 Beschädigte Zuversicht: Angela Merkels Probleme mit ihren eigenen Leuten 8 Die neuesten Umfrage-Werte (forsa): In den letzten Wochen kaum Veränderung 9 Der Maler Emil Nolde – im Norden verwurzelt, in Berlin zuhause 12 Kernkraft ja oder nein? 16 Meisterstück oder Versagen? Die Meinungen sind durchaus geteilt 19 Geht Berlin am Ende mit Gewinn aus seiner Bankenkrise hervor? Auf den Punkt Liebe Leserinnen, liebe Leser, vor Ihnen liegt eine Jubiläums-Ausgabe des HAUPTSTADTBRIEF – in doppeltem Sinne. Erstens: Der HAUPTSTADTBRIEF existiert jetzt seit zehn Jahren. 1999, beim Umzug von Bundestag und Bundesregierung von Bonn nach Berlin, war er zum ersten Mal erschienen. Seine Zielgruppe von Anfang an: Rund 5000 wichtige Entscheider und Multiplikatoren überall in Deutschland – und an wichtigen Brennpunkten im Ausland. Speziell in Brüssel. 21 Impressum 22 Knut wächst weiter und ist schon lange kein Knuddel-Bär mehr 25 Berlins verborgener Olymp: Die Götter sind zurück 28 Solarzellen mit Nadelstreifen – eine technische Revolution aus Berlin 30 East Side Gallery – neu 31 Air Berlin: 30. Geburtstag und weiterhin Sorgen 33 Die neue Astor Film Lounge in Berlin – ein Mix aus Lichtspielhaus und Luxus 35 Karl-May-Helden kommen in Berlin zu Musical-Ehren 38 Der „Palast“ ist weg. Kommt schon bald das „Humboldt-Forum“, wie der Bundestag es will? 43 Tuchintarsien aus Europa im Museum Europäischer Kulturen 45 Die Seligmann-Kolumne: Auch Deutschland darf die islamische Welt nicht vernachlässigen 48 Dali-Museum im Herzen Berlins: Dauerausstellung mit 400 Werken 49 Die 60. Berlinale wird 2010 als Jubiläum gefeiert DER HAUPTSTADTBRIEF im Internet: www.derhauptstadtbrief.de DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: andreas schoelzel foto: andreas schoelzel Detlef Prinz Herausgeber Bruno Waltert Chefredakteur Zweitens: Dies ist die 100. Ausgabe des HAUPTSTADTBRIEF. Wie einige unserer Leser heute, nach oft zehnjähriger Lektüre, über ihn denken, lesen Sie auf Blatt 3 und Blatt 4. Wir meinen: Solche Urteile müssen uns Ansporn sein zu anspruchsvollem journalistischem Engagement auch in der Zukunft. Es sei mit Nachdruck versprochen. In der 100. Ausgabe muss auch die Erinnerung an zwei Männer erlaubt sein, die für den Start des HAUPTSTADTBRIEF sehr wichtig waren: Prof. Diether Huhn und Ernst Dieter Lueg. Beiden gebührt unser nachdrücklicher Dank. Lueg zum Gedenken wird der HAUPTSTADTBRIEF ein „Ernst-Dieter-LuegStipendium“ für junge Journalisten im Wert von 10.000 Euro ausloben. Es beinhaltet unter anderem einen Studienaufenthalt in Washington. Allen, die in den letzten zehn Jahren für uns geschrieben haben, sei herzlich gedankt. Und ebenso jenen, die uns durch Anzeigen den HAUPTSTADTBRIEF wirtschaftlich erst möglich machten. Mögen sie uns gewogen bleiben! Und: Möge ihr Kreis noch wachsen. Denn wir haben viele interessante Pläne für die Zukunft des HAUPTSTADTBRIEF... Detlef Prinz Bruno Waltert Verleger und HerausgeberChefredakteur Blatt 2 WAS Leser ÜBER UNS SAGEN bundestag zur 100. Ausgabe von Der Hauptstadtbrief gratuliere ich Ihnen sehr herzlich. Ein Magazin über zehn Jahre in unserer Bundeshauptstadt zu etablieren, ist eine große Leistung. Darauf können Sie stolz sein. Aus der Presselandschaft Berlins ist Ihr Magazin inzwischen nicht mehr wegzudenken. Mit einer ausgewogenen Mischung aus politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Themen weckt DER Hauptstadtbrief stets aufs Neue mein Interesse. Machen Sie weiter so. Nochmals herzlichen Glückwunsch! picture-alliance/dpa/Fredrik von Erichsen Sehr geehrter Herr Prinz, sehr geehrter Herr Waltert, DER HAUPTSTADTBRIEF ist ein fester Bestandteil des Berliner Kulturlebens und daraus gar nicht wegzudenken. Rainer Brüderle, MdB stv. Fraktionsvorsitzender FDP und Sprecher für Wirtschaftspolitik Michael Glos MdB, von 2005 bis vor kurzem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie picture-alliance/dpa/Gero Breloer DER HAUPTSTADTBRIEF ist nicht nur ein erstklassiger Hintergrund-Dienst für das politische Berlin, er ist darüber hinaus ein hervorragender Wegweiser durch die Kultur-Hauptstadt. An keiner anderen Stelle wird das politische Leben so genau und informativ auf den Punkt gebracht, und an keiner anderen Stelle werden, ebenso zuverlässig und gut recherchiert, die kulturellen Höhepunkte Berlins präsentiert. Auch für uns, die Akteure mittendrin in Politik und Kultur, sind der Blickwinkel des Hauptstadtbrief und seine Kommentierung eine gute Orientierung im selbst verursachten Dickicht dieser Stadt. Respekt! Und bitte: immer heiter weiter! Prof. Monika Grütters, MdB Sprecherin des Vorstands Stiftung Brandenburger Tor DER HAUPTSTADTBRIEF informiert nicht atemlos über aktuelle Politik, sondern liefert kompakt Hintergründe. In der Fülle der Medienangebote ist DER HAUPTSTADTBRIEF ein Lichtblick: Klar, knapp und kritisch gibt er seit zehn Jahren Übersicht und Durchblick. Auch außerhalb der Hauptstadt unentbehrlich. Ich staune jedesmal, wieviel ich als Leser von drei Berliner Tageszeitungen noch zusätzlich profitiere, nicht zuletzt von den Ausflügen ins kulturelle Leben der Region. Weiter so! Wolfgang Wieland, MdB B 90 / Die Grünen ehemals Justizsenator und Bürgermeister in Berlin DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Hier ist „weiter so!“ ein gutes Motto. Andreas Schoelzel Caro/Waechter Herzlichen Glückwunsch zum stolzen Jubiläum! 100 Ausgaben DER HAUPTSTADTBRIEF – das ist hundertmal ein bunter Mix aus Politik und Kultur, es ist erfrischend und unterhaltend. Wer als Abgeordneter in den Sitzungswochen in Berlin keine Zeit hat, die Stadt näher kennenzulernen, erfährt auf diese Weise, was Berlin und die Berliner auch abseits des Reichstags bewegt. Den Machern und Autoren wünsche ich auch für die nächsten 100 Ausgaben viel Tatkraft und viele neue Ideen. Dr. Klaus von Dohnanyi Bundesminister a.D., Erster Bürgermeister von Hamburg a.D. Blatt 3 WAS Leser ÜBER UNS SAGEN stiftung familienunternehmen Der Hauptstadtbrief hat sich innerhalb von zehn Jahren bei seiner Zielgruppe eine allseits anerkannte Spitzenposition in der Medienszene erworben. Kompetenz, Analysestärke und Prognosefähigkeit gewähren einen umfassenden Einblick in alle wesentlichen Trends aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Ich gratuliere dem HAUPTSTADTBRIEF zu seinem zehnjährigen Jubiläum und zu seiner 100. Ausgabe. Die Lektüre der gut recherchierten Hintergrundberichte empfinde ich seit zehn Jahren immer wieder als bereichernd. Jede Ausgabe zeichnet sich durch eine breite Themenpalette und eine hohe journalistische Qualität aus. Prof. Dr. Brun-Hagen Hennerkes Unternehmenssteuerrechtler und Vorstand der Stiftung Familienunternehmen land brandenburg Herzlichen Glückwunsch zu dieser journalistischen Meisterleistung! Jörg Schönbohm, MdL Innenminister des Landes Brandenburg picture-alliance/dpa/Gero Breloer 20 Jahre Fall der Mauer, zehn Jahre DER HAUPTSTADTBRIEF. Die Hauptstadtentscheidung des Bundestages gehört zu den gesegneten Augenblicken der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er hat Berlin gegeben, was Politiker aller demokratischen Parteien jahrzehntelang beschworen haben. Auf diesem glücklichen Humus ist DER HAUPTSTADTBRIEF gewachsen, zu einer ebenso exotischen wie bewunderten Pflanze. In einer erfrischenden, unverdrechselten Sprache reflektiert und referiert dieses Blatt über Politik, Wirtschaft und – dem Verfasser dieser Zeilen besonders nahe – das kulturelle Leben in dieser Stadt. DER HAUPTSTADTBRIEF auf dem Schreibtisch, das bedeutet: erstes schnelles Durchblättern und dann mit auf den Weg in die nächste Reise, um zu lesen, zu reflektieren und sich auf die nächste Ausgabe zu freuen. Ad multos annos! Prof. Dr. Peter Raue Rechtsanwalt und Notar Zur 100. Ausgabe und zum zehnjährigen Bestehen des HAUPTSTADTBRIEF gratuliere ich sehr herzlich. Mit seinen klaren Analysen und Kommentaren zu politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen hat sich der „Hintergrund-Dienst aus Berlin“ einen guten Namen gemacht. Gut, dass es den HAUPTSTADTBRIEF gibt – Gratulation zur 100. Ausgabe! Dr. Ditmar Staffelt Vorstandsbeauftragter für Politik- und Regierungs angelegenheiten EADS Deutschland GmbH DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 land baden-württemberg DER HAUPTSTADTBRIEF – das ist für mich seit zehn Jahren Information auf den Punkt gebracht. Nachdenkliches und Reflektierendes aus der Hauptstadt auf hohem journalistischem Niveau, breites Spektrum, klare Sprache, brillanter Druck und vor allem lesefreundlich. Caro/Waechter Ich wünsche dem HAUPTSTADTBRIEF und seinen ambitionierten Machern auch weiterhin viel Erfolg und journalistisches Fortune. Ich wünsche dem HAUPTSTADTBRIEF alles Gute für die weitere Zukunft. Günther H. Oettinger, MdL Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg Blatt 4 Beschädigte Zuversicht: Angela Merkels Probleme mit ihren eigenen Leuten Von JOACHIM RIECKER und BRUNO WALTERT Ein knappes halbes Jahr vor der Bundestagswahl gibt es in der Union, speziell in der CDU, so etwas wie eine Vertrauenskrise. Auch wenn die jüngsten Umfragezahlen – wohl wegen Angela Merkels zahlreicher Gipfel-Auftritte – wieder leicht besser sind, ist doch bei vielen CDU-Politikern die Gewissheit geschwunden, dass die eigene Partei die Bundestagswahl am 27. September gewinnen und endlich die ersehnte schwarz-gelbe Regierung bilden könne. Das Vertrauen selbst in relativ gute Umfragezahlen ist in der CDU ohnehin gering, seitdem die Union vor den Wahlen 2002 und 2005 weit vorn zu liegen schien, dann aber am Wahltag nur enttäuschende Ergebnisse erreichte. Groß ist mittlerweile in CDU und CSU die Furcht, dass sich Ähnliches in diesem Jahr wiederholen könnte. Immer wieder ist bei Hintergrundgesprächen mit mehr oder auch weniger prominenten CDU-Politikern in Berlin die Einschätzung zu hören, dass Merkel nach der fast verlorenen Bundestagswahl 2005 falsche strategische Grundentscheidungen getroffen habe. So sei damals etwa von ihr festgelegt worden, dass sich die CDU nicht von der Regierung absetzen und unterscheiden solle. „Und jetzt wundern wir uns, dass in der Öffentlichkeit zwischen uns und der SPD kaum noch Unterschiede erkennbar sind“, sagte ein CDU-Ministerpräsident kürzlich im Gespräch mit Journalisten in seiner Berliner Landesvertretung. Das sei gefährlich, denn wenn die Stammwählerschaft der Union am 27. September nicht mehr wisse, warum sie CDU wählen solle, könnte es zumindest wieder eng werden. Gern wird in diesen Tagen auch an den Satz des einstigen CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß erinnert, wonach man Wahlen „nicht mit der Laufkundschaft, sondern mit der Stammkundschaft“ gewinne. Die aber habe, ist heutzutage aus der CDU zu hören, mit Angela Merkel zusehends Probleme: Ihr harsche Kritik an Papst Benedikt XVI etwa, Ursula von der Leyens Familienpolitik oder die mögliche Enteignung von Aktionären sind für manchen konservativen Wähler „unverdaulich“. Hinzu komme, so hört man aus der Union, dass Merkel spätestens seit Verschärfung der Finanzkrise im Herbst kaum Führung gezeigt und mit ihren Einschätzungen sogar mehrfach falsch gelegen habe. „Obwohl andere Anträge auf dem Tisch lagen, haben wir beim Parteitag im Dezember aus Rücksicht auf Merkel gegen ein neues Konjunkturprogramm und gegen Steuersenkungen gestimmt“, DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 5 Kanzlerin Angela Merkel, hier mit ihrem Ehemann Joachim Sauer, kürzlich in Baden-Baden. Sollte sie erkennbarer CDU-Chefin sein? beschwerte sich kürzlich ein CDU-Landesfürst in vertraulicher Runde. „Doch vier Wochen später galt nichts mehr davon – 50 Milliarden Euro werden für ein neues Konjunkturprogramm ausgegeben, und Steuersenkungen gibt es außerdem.“ Auch bei der Abwrackprämie sei Merkel die Getriebene und nicht die Treiberin. „Kaum fordert Steinmeier die Verlängerung, stimmt Merkel zu“, sagt ein wichtiger CDU-Bundestagsabgeordneter. Erklären kann er sich dieses Verhalten nur mit dem „tiefen Trauma“, das die Beinahe-Niederlage im September 2005 bei ihr hinterlassen habe. „Sie will nie mehr als kaltherzige Reformerin dastehen“, lautet eine häufig geäußerte Vermutung in der Unionsfraktion. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: picture-alliance/dpa/Fredrik von Erichsen Blatt 6 Während viele CDU-Politiker ihre Kritik an Merkel nur in vertraulicher Runde äußern, wagte sich Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oettinger im März auch in die Öffentlichkeit: „Angela Merkel muss irgendwann die Uniform der Kanzlerin in den Schrank hängen und die Uniform der Kanzlerkandidatin und Parteivorsitzenden anziehen“, sagte er in einem Interview. „Ich trage keine Uniformen, schon deswegen passt sein Bild nicht“, lautete Merkels pikierte Antwort ebenfalls per Interview. Gefährlicher als Oettinger könnte für Merkel allerdings dessen nordrhein-westfälischer Kollege Jürgen Rüttgers (CDU) werden. Denn der hat kein Interesse an einer schwarz-gelben Mehrheit bei der Bundestagswahl; befürchtet er doch, dass eine solche Regierung schnell einige unpopuläre Reformen in Angriff nähme und dass er dann seine Landtagswahl im Frühjahr 2010 verlieren könnte. Als Merkel spürte, welche Stimmung sich in ihrer Partei zusammengebraut hatte, entschloss sie sich Mitte März zu einer Offensive in ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Sie gab große Interviews und besuchte die Talkshow von Anne Will, wo sie beteuerte: „Ich hab’ sie einfach gern, die CDU, das ist meine Heimat.“ Noch immer hofft Merkel, dass ihre weiterhin relativ guten Popularitätswerte am Tag der Bundestagswahl auch ihrer Partei zugute kommen werden. Obwohl in Deutschland solche personenbezogenen Werte bei Wahlen – bislang zumindest – nur wenig Gewicht hatten. Auch die SPD hat die Selbstzweifel in der Union wahrgenommen. „Die CDU weiß nicht, was sie will“, verkündet Parteichef Franz Müntefering unentwegt. Doch obwohl es ihm und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier gelungen ist, in der SPD eine neue Geschlossenheit herbeizuführen, hat sich der Rückstand zur CDU/ CSU nach Umfrage-Zahlen seit dem gezielt herbeigeführten Rücktritt Kurt Becks im Herbst kaum verringert. Steinmeier setzt nun darauf, mit einem gemäßigt linken Wahlprogramm, das er kürzlich beim Parteivorstand durchsetzte, zunächst einmal die Stammwählerschaft zu mobilisieren und dann in den Wochen vor der Wahl auch Wechselwähler zu überzeugen. Ob’s so funktioniert, muss sich zeigen. Indem es den Wahlkampf bereits im Frühjahr begann, hofft das SPD-Führungsduo, die Kanzlerin auf ein Terrain zu locken, auf dem sie keine besonderen Stärken vorweisen kann. Dass Wahlkampf nicht zu ihren bevorzugten Beschäftigungen zählt, hat Angela Merkel schließlich schon selbst zugegeben. Klar ist aber auch: Wenn’s darauf ankommt, wird schon aus Eigeninteresse fast jeder in der CDU für einen Wahlsieg der eigenen Partei kämpfen – die inzwischen zumindest in der Fraktion eher ungeliebte Angela Merkel hin oder her. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 7 Die Parteipräferenzen im Bund In den letzten Wochen kaum Veränderung CDU/ SPD FDP Links- Grüne Sonst. CSU partei Alle Angaben in Prozent Bundestagswahl* 35,2 34,2 9,8 8,7 8,1 4,0 Umfrage-Werte in Woche … 2008 33. (11.8.-15.8.) 34. (18.8.-22.8.) 35. (25.8.-29.8.) 36. (1.9.-5.9.) 37. (8.9.-12.9.) 38. (15.9.-19.9.) 39. (22.9.-26.9.) 40. (29.9.-3.10.) 41. (6.10.-10.10.) 42. (13.10.-17.10.) 43. (20.10.-24.10.) 44. (27.10.-31.10.) 45. (3.11.-7.11.) 46. (10.11.-14.11.) 47. (17.11.-21.11.) 48. (24.11.-28.11.) 49. (1.12.-5.12.) 50. (8.12.-12.12.) 51. (15.12.-19.12.) 37 37 37 37 38 36 37 33 35 37 36 36 37 36 38 38 38 37 37 20 20 21 22 25 25 26 27 24 24 24 26 23 23 23 23 23 24 24 13 12 13 12 10 11 11 13 13 12 13 12 12 13 11 12 12 13 12 14 15 14 14 14 14 13 13 12 13 13 13 13 12 12 12 11 11 12 11 10 10 10 8 9 8 9 10 9 8 7 9 10 11 10 11 10 10 5 6 5 5 5 5 5 5 6 5 6 6 6 6 5 5 5 5 5 2009 2. (5.1.-9.1.) 3. (12.1.-16.1.) 4. (19.1.-23.1.) 5. (26.1.-30.1.) 6. (2.2.-6.2.) 7. (9.2.-13.2.) 8. (16.2.-20.2.) 9. (23.2.-27.2.) 10. (2.3.-6.3.) 11. (9.3.-13.3.) 12. (16.3.-20.3.) 13. (23.3.-27.3.) 14. (30.3.-3.4.) 15. (6.4.-10.4.) 16. (13.4.-17.4.) 36 36 35 34 34 34 34 33 34 33 34 34 36 35 35 25 24 22 23 23 22 23 24 25 24 24 25 24 24 23 13 14 16 16 18 18 18 17 17 17 16 17 16 16 16 11 11 12 11 11 12 11 11 11 11 11 10 10 11 11 9 9 10 11 10 10 10 11 9 10 10 10 10 10 10 6 6 5 5 4 4 4 4 4 5 5 4 4 4 5 * Amtliches Endergebnis der Bundestagswahl vom 18. September 2005 DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Das forsa-Institut ermittelte diese Werte durch wöchentliche Befragung von in der Regel rund 2500 wahlwilligen Deutschen. Quelle: forsa Blatt 8 Emil Nolde, Schwertlilien und Mohn, undatiert. Wie die beiden anderen Bilder zu diesem Beitrag derzeit in Berlin zu sehen. Der Maler Emil Nolde – im Norden verwurzelt, in Berlin zuhause Von DIETER STRUNZ Pralle, überreife Hagebutten signalisieren den Herbst. Roter Mohn leuchtet in verschwenderischer Fülle auf. Irispflanzen in strahlenden Farben säumen den Weg. Eine Sonnenblume von mächtiger, fast rahmensprengender Pracht lässt gerade noch für ein paar zarte andere Blüten Raum. Lilien, Rosen, Tulpen, Dahlien, Stiefmütterchen – florale Schönheiten aller Farben, Formen und Jahreszeiten fesseln den Blick in der schönen Ausstellung „Mein Garten voller Blumen“, die dem naturverbundenen Maler des Nordens, Emil Nolde, gewidmet ist. Man muss nicht Gärtner, Botaniker oder Blumenfreund mit grünem Daumen sein, um sich in den schwelgerischen Reichtum dieser Bilderschau zu verlieben, die in den schönen klaren Räumen der Nolde-Stiftung in der Berliner Jägerstraße Nr. 55, gleich beim Gendarmenmarkt, bis zum 14. Juni zu genießen ist. Seit 2007 gibt es die Berliner Dependance der Nolde-Stiftung Seebüll – und das nicht ohne Grund. Denn der Künstler, der als Hans Emil Hansen im Dorf Nolde bei Tondern geborene Sohn eines Landwirts, war nicht nur der nordfriesischen Heimat und dem deutsch-dänischen Grenzgebiet zeitlebens verbunden, sondern empfand Berlin wohl als seine zweite Heimat. Die Winter verbrachte er meistens in der Hauptstadt, wo er ein Wohnatelier besaß. Bei einem Bombenangriff wurde es 1944 zerstört. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: nolde stiftung seebüll Blatt 9 Vom Berliner Kunst- und Theaterwesen war Emil Nolde fasziniert, und das elektrisierende Vergnügungsleben der zwanziger Jahre regte ihn zu vielen Bildern an. Theateraquarelle etwa entstanden nach Inszenierungen des Bühnenmagiers Max Reinhardt. Seit 1909 war Emil Nolde Mitglied der „Berliner Secession“, später der „Neuen Secession“. Auch der Dresdener „Brücke“ gehörte er eine Zeitlang an. Lehr- und Wanderjahre hatten ihn nach Flensburg und München, ins badische Karlsruhe und nach Berlin geführt. Aufregende Naturerfahrungen vermittelte Nolde die Teilnahme an einer Expedition des Reichs kolonialamtes, die ihn 1913/14 nach Deutsch-Neuguinea führte. Davon brachte er viele Aquarelle mit in die Heimat. Dem Meer und seinen Stimmungen, der Weite der Landschaft, der Wucht der Wolkenbilder blieb er in seinem Schaffen treu. Aber den Blumen, Büschen und Stauden, den Beeten und Gartenwegen gehörte seine spezielle Zuneigung. „Die blühenden Farben der Blumen und die Reinheit dieser Farben – ich liebte sie. Ich liebte die Blumen in ihrem Schicksal“, hat Emil Nolde einmal bekannt. Emil Nolde, Unterhaltung im Garten, 1908. Obwohl der Künstler in Dänemark Mitglied einer NS-Organisation war, die nach 1933 von den Nationalsozialisten gleichgeschaltet worden war, verfiel er der amtlichen Kunstzensur. Wegen seiner expressionistischen Malkunst und nicht zuletzt wegen seiner Bilder mit religiöser Thematik wurde Nolde als „entartet“ verunglimpft und aus den Museen verbannt. Mehr als tausend seiner Bilder wurden beschlagnahmt, verkauft oder zerstört. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: nolde stiftung seebüll Blatt 10 In seinem Anwesen in Seebüll, Nordfriesland, das er mit Wohnhaus, Atelier und Garten gemeinsam mit seiner Ehefrau Ada gestaltet hatte, schuf Emil Nolde in der inneren Emigration kleinformatige „ungemalte Bilder“ und umging so das amtliche Malverbot. In Seebüll starb der Künstler 1958, das Nolde-Museum dort ist heute eine große touristische Attraktion des Landes an der dänischen Grenze. Die hohe Wertschätzung, die Emil Nolde genießt, zeigt sich auch in der Tatsache, dass im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen für den Sommer eine Partnerausstellung mit dem Titel „Emil Nolde. Mensch. Natur. Mythos“ vorbereitet wird. Sie zeigt vom 3. Juli bis 26. Oktober Aquarelle und Graphiken jenes Mannes, der den Namen eines kleinen Fleckens im Land zwischen den Meeren weltberühmt gemacht hat. „Mein Garten voller Blumen“, täglich von 10 bis 19 Uhr in der Dependance Berlin der Nolde-Stiftung Seebüll, Jägerstraße 55, 10117 Berlin, Tel: 40 00 46 90, Fax: 40 00 46 45, E-Mail: [email protected], www.nolde-stiftung.de Emil Nolde, Reife Sonnenblumen, undatiert. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: nolde stiftung seebüll Blatt 11 Kernkraft ja oder nein? Von interessanten Meinungs-Korrekturen Von forsa-Chef MANFRED GÜLLNER Das Thema Energieversorgung bewegt die Gemüter bekanntlich schon lange. Und bisweilen heftig. So löste etwa die erste sogenannte „Öl-Krise“ von 1974 mit ihren Sonntagsfahrverboten und Geschwindigkeitsbeschränkungen ein Jahrzehnt heftiger und nahezu permanenter politischer Diskussionen aus. Im Mittelpunkt stand Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre die Frage, wie dem damals schon als rigide empfundenen Preisanstieg des Öls und der drohenden Verknappung dieser Primärenergie am besten begegnet werden könne. Die Diskussion erstreckte sich vor mehr als drei Jahrzehnten auf die Möglichkeit drastischer Sparmaßnahmen im Energieverbrauch, die Einsatzchancen alternativer Energiequellen, vor allem aber auf die Frage, inwieweit Kernkraftwerke zur Deckung des zukünftigen Energiebedarfs vonnöten seien oder nicht. Schreibt für den HAUPTSTADTBRIEF: forsa-Chef Prof. Manfred Güllner, Berlin. Wie es der damalige Bundesminister für Forschung und Technologie, Hans Matthöfer, 1976 formulierte, bewegte sich die Diskussion „im Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit einer gesicherten Energieversorgung und der Forderung nach einem sicheren Schutz für die Bevölkerung und die Umwelt“. In der „Forschungs- und Technologiepolitik“ der damaligen Bundesregierung aus SPD und FDP wurden – so Matthöfer – „beide Gesichtspunkte miteinander verbunden“. Bemerkenswert ist angesichts von Matthöfers Aussage von 1976, dass die Politik mit ihren Erkenntnissen 2009 nicht viel weiter gekommen zu sein scheint, als es schon vor drei Jahrzehnten der Fall war. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass die Deutschen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre in Fragen der Energiepolitik weniger ideologisch fixiert waren als manche Kontrahenten der politischen Diskussion. Damals durchgeführte Untersuchungen ergaben, dass die Bürger seinerzeit nicht auf eine einzige Energieart setzten und auch keine Möglichkeit der Energienutzung ausschlossen. Die Deutschen erwarteten von den politischen Entscheidern vielmehr einen „Energie-Mix“, d.h. den Einsatz aller möglichen Energiearten gepaart mit dem Versuch, den Energieverbrauch einzuschränken. Konkret meinten 1980 rund 21 Prozent aller Bundesbürger, dass durch Sparmaßnahmen beim Energieverbrauch ein Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: bruno waltert Blatt 12 geleistet werden sollte. 33 Prozent setzten auf den vermehrten Einsatz alternativer Energieformen. 39 Prozent glaubten, dass die heimische Kohle einen wesentlichen Beitrag zur Deckung des zukünftigen Energiebedarfs leisten könne. Die größte Zustimmung aber fand – trotz der damals schon heftigen Proteste gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie – die Kernkraft: 47 Prozent akzeptierten 1980 den Bau von Kernkraftwerken als wichtige Maßnahme zur zukünftigen Sicherung der Energieversorgung. Doch mit dem Reaktorunglück von Tschernobyl änderte sich diese Einschätzung des Energie-Mix zur Sicherung der Energieversorgung schlagartig: Zwei Drittel der Deutschen lehnten nach Tschernobyl die Nutzung der Kernenergie ab. Dabei verschob sich die semantische Bedeutung des Begriffs „Sicherheit“. Nach Tschernobyl war damit nicht mehr die generelle Sicherung der Versorgung mit Energie gemeint, sondern die Sicherheit vor ähnlichen Katastrophen wie in Tschernobyl. Mehr als zwei Jahrzehnte nach Tschernobyl vollzieht sich aber bei den Deutschen eine erneute Hinwendung zum Gedanken des Energie-Mix, in dem auch die Kernenergie wieder eine Rolle spielt. Dabei sind die Probleme der Energieversorgung aber nicht nur permanenter Teil der politischen Diskussion, sondern die Deutschen selbst interessieren sich zunehmend für alle Energieprobleme. Die Zeit, als die Bürger glaubten, der Strom käme aus der Steckdose, und sich sonst keinerlei Gedanken über die Herkunft der Energie machten, sind endgültig vorbei. Heute haben die Bürger zunehmend Angst davor, dass es nicht mehr genügend Energie gibt und dass die Gefahr besteht, deshalb im Dunklen oder Kalten sitzen zu müssen. Zudem fragen sie sich, ob die im Alltag erforderliche Energie überhaupt noch bezahlbar bleibt. 2009 hat „Sicherheit“ für die Bürger wieder die semantische Bedeutung wie vor dem Unglück von Tschernobyl. Die Angst vor der Atomkraft ist weitgehend der Furcht gewichen, dass die Energieversorgung in Deutschland nicht gesichert ist. Rund die Hälfte aller Bürger hat derzeit konkrete Angst davor, dass es in der Energieversorgung zu Engpässen kommen kann. Die Berichterstattung über alle Fragen der Energieversorgung – nicht nur die über die Höhe und Gestaltung der Preise – wird von der großen Mehrheit der Bevölkerung aufmerksam verfolgt. Energieversorgung und Energieprobleme mit allen Facetten sind 2009 nicht nur ein Thema für die politischen Akteure, sondern ein die Mehrheit der Bürger intensiv interessierender Problembereich. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 13 Dabei werden alle Maßnahmen, die der Sicherheit der Versorgung mit Energie dienen, von der großen Mehrheit der Bürger gutgeheißen. Dazu gehört zum Beispiel der Bau der geplanten Ostsee-Pipeline zum Transport von Erdgas von Russland nach Deutschland. Hierin sehen mehr als 70 Prozent der Bürger einen Beitrag zur Sicherung ungefährdeter Energielieferungen. Zum Wunsch nach mehr Versorgungssicherheit gehört außerdem die Erwartung vieler Bürger, dass der in Deutschland verbrauchte Strom auch in Deutschland erzeugt und nicht aus dem Ausland importiert wird. Noch häufiger als Anfang der 1980er Jahre werden 2009 die erneuerbaren Energien (vor allem Sonnen- und Windenergie) als Energieart der Zukunft bewertet. Doch bei aller Sympathie, die den regenerativen Energien generell entgegengebracht wird, glaubt nur eine Minderheit, dass der Energiebedarf in Deutschland alleine durch erneuerbare Energien gedeckt werden könne. Selbst von den Anhängern der Grünen glauben mehr als 60 Prozent nicht, dass der Energiebedarf nur durch erneuerbare Energien zu decken wäre. Diese Einschätzung mindert offenbar auch die Akzeptanz der Windenergie. Im Sommer 2008 waren 70 Prozent dafür, dass es noch mehr Windräder geben sollte als bislang. 2009 sank dieser Anteil auf 60 Prozent. 30 Prozent halten die vorhandenen Windräder inzwischen für ausreichend. Insbesondere in Ostdeutschland zeigt die Akzeptanz der Windräder abnehmende Tendenz: 44 Prozent sind in den neuen Ländern dagegen, dass noch weitere Windräder aufgestellt werden. Angesichts der Überzeugung der Mehrheit der Bürger, dass der Energiebedarf nicht durch erneuerbare Energie alleine gedeckt werden könne, wird von den Bürgern ein Mix aus den verschiedenen herkömmlichen Energiearten wieder wie schon vor Tschernobyl für sinnvoll gehalten: Jeweils etwas mehr als 20 Prozent meinen, Kohle und Öl sollten weiterhin zur Energiegewinnung eingesetzt werden. Und jeweils mehr als 40 Prozent plädieren dafür, Erdgas und die Kernenergie in Zukunft zur Sicherung der Energieversorgung zu nutzen. Bei allen nach wie vor zu registrierenden Vorbehalten gegen die Atomkraft (ungelöste Endlagerung, mangelnde Sicherheit, Gefahr von Strahlenschäden, etc.) scheint derzeit eine Einstellungsänderung im Hinblick auf die Nutzung der Kernkraft bei vielen Deutschen einzutreten. Für eine Nutzung der Kernenergie zur Energieerzeugung spricht nach Meinung der Bürger in erster Linie, dass die Kernenergie im Gegensatz zu den fossilen Energiearten Kohle oder Öl „sauber“ DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 14 und umweltfreundlich sei, und dass sie preisgünstiger und zuverlässiger (weil unbegrenzt zur Verfügung stehend) sei als andere Energieerzeugungsarten. Gegenwärtig gibt es noch einen Kern von rund 20 Prozent aller Bürger, die jedwede Nutzung der Kernenergie zur Energiegewinnung strikt ablehnen. Dem stehen 16 Prozent gegenüber, die eine Nutzung vorbehaltlos befürworten. Knapp 30 Prozent rechnen sich nicht zum Kern der radikalen Gegner der Atomkraft, doch in dieser Gruppe überwiegt die Skepsis gegenüber der Nutzung der Kernenergie. 36 Prozent schließlich haben zwar durchaus einige Bedenken gegen die Kernenergie, würden aber eine Nutzung wegen der geringen Umweltbelastung und der vermuteten Preiswürdigkeit akzeptieren. Die Akzeptanz der friedlichen Nutzung der Kernenergie ist auch 2009 wie schon Anfang der 1980er Jahre stark von der parteipolitischen Orientierung geprägt: Während 80 Prozent der Anhänger der Grünen jedwede Nutzung der Kernenergie ablehnen, würden 70 Prozent der Anhänger der FDP und fast ebenso viele der Anhänger der Union die Nutzung der Atomenergie zumindest akzeptieren. Jene, die heute SPD wählen wollen, lehnen mehrheitlich (64 Prozent) die Nutzung der Kernenergie ab. Doch eine Minderheit von 36 Prozent würde die Nutzung der Kernenergie akzeptieren. Und bei denen, die 2005 bei der Bundestagswahl noch SPD wählten, heute aber zögern, der SPD wieder ihre Stimme zu geben, liegt die Akzeptanz bei fast 45 Prozent. Eine Thematisierung des Themas Kernkraftnutzung im bevorstehenden Bundestagswahlkampf würde also die Anhänger der Grünen auf der einen und die der Union und der FDP auf der anderen Seite in ihrer Einstellung pro bzw. contra Atomkraft eher stabilisieren. Ein Teil der SPD-Anhänger aber würde dadurch eher weiter verunsichert. Und die von der SPD seit 2005 abgewanderten Wähler würden durch die Thematisierung der Nutzung der Kernenergie wenig motiviert, wieder zur SPD zurückzukehren. Fazit: 2009 beginnt die Kernenergie alles in allem bei den Deutschen wieder ihren Platz im Energie-Mix zu finden. Dabei finden bei den Bürgern (wie schon zu Beginn der 1980er Jahre) zunehmend pragmatische Argumente Gehör. Ideologische Eiferer jedweder Couleur werden hingegen eher skeptisch eingeschätzt. Abonnieren Sie den Hauptstadtbrief! Mehr dazu: www.derhauptstadtbrief.de [email protected] oder Telefon 030 / 21 50 54 00 DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 15 Restauriertes Neues Museum in Berlin: Bewusst kaschierte Architekt David Chipperfield die Spuren von Krieg und Zerfall nicht – Beispiel dieses Deckengewölbe im „Mittelalterlichen Saal“. Meisterstück oder Versagen? Die Meinungen sind durchaus geteilt Die Restaurierung des Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel ist abgeschlossen Von KLAUS GRIMBERG An dieser Restaurierung scheiden sich die Geister: Für die einen stellt das wiederhergestellte Neue Museum auf der Berliner Museumsinsel einen „Sieg der Architektur“ („Der Tagesspiegel“) dar. Für die anderen ist lediglich „eine künstliche Ruine geschaffen worden“ („Die Welt“). DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: Ute Zscharnt Blatt 16 Nach elfjähriger Planungs- und Bauzeit konnte das im Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen zerbombte Gebäude kürzlich den Kustoden der Stiftung Preußischer Kulturbesitz schlüsselfertig übergeben werden. Nach den prachtvollen Wiedereröffnungen der Alten Nationalgalerie und des Bode-Museums erstrahlt damit der dritte historische Museumsbau in neuem Glanz. 233 Millionen Euro kostete die aufwändige Instandsetzung nach den Plänen des britischen Architekten David Chipperfield. Dessen Konzept der „ergänzenden Wiederherstellung“ ist es, das Befürworter begeistert und Gegner erzürnt. Chipperfield und sein Team haben die zerstörerischen Spuren des Krieges nicht zu kaschieren versucht, sondern sie als prägendes Element in den Wiederaufbau einbezogen. Der glanzvolle Wandund Deckenschmuck, der den zwischen 1843 und 1855 von Friedrich August Stüler errichteten Bau so berühmt machte, ist nur in Rudimenten erhalten geblieben. Was den Krieg und den fortschreitenden Zerfall zu DDR-Zeiten überlebte, wurde sorgsam restauriert. Ansonsten stellt Chipperfield die Narben des Museums offen aus. Der „Römische Saal“ im Neuen Museum – architektonisch besonders eindrucksvoll. Für die Anhänger einer lückenlosen Rekonstruktion, die den überbordenden Schmuck der thematischen Säle originalgetreu wiederhergestellt sehen wollten, ist insbesondere das zentrale Treppenhaus ein Affront. Der einst mit Fresken Wilhelm von Kaulbachs verzierte Aufgang wurde durch eine nackte, mit Marmorstaub versetzte Betonkonstruktion ersetzt. Der von Stüler konstruierte gewaltige Raumeindruck ist erhalten geblieben. Das Dekor aber ist für immer verloren – und bewusst nicht kopiert worden. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: Ute Zscharnt Blatt 17 Der Streit um das Für und Wider von Chipperfields Arbeit ließe sich an nahezu jedem Saal fortführen – denn es treffen zwei grundsätzlich entgegengesetzte Auffassungen von „Denkmalschutz“ aufeinander. Wie dem auch sei – das Interesse der Berlinerinnen und Berliner an dem „neuen“ Neuen Museum ist riesengroß. An einem Wochenende der offenen Türen strömten rund 30 000 Neugierige durch den noch nicht mit Exponaten ausgestatteten Bau und nahmen zum Teil stundenlange Wartezeiten in Kauf. Am 16. Oktober wird das Haus dann mit Ausstellungsstücken feierlich wiedereröffnet. Die Sammlungen des Ägyptischen Museums und der Papyrussammlung, des Museums für Vor- und Frühgeschichte sowie großartige Antiken aus der Antikensammlung werden dann hier ihre alte, neue Heimat finden. Nach dem Krieg waren die Bestände in Ost und West zerstreut und konnten erst nach dem Fall der Mauer allmählich wieder zusammengeführt werden. Im Neuen Museum können sie nun endlich wieder ansprechend präsentiert werden. Dabei werden die Sammlungen nicht wie einst streng voneinander getrennt, sondern sammlungsübergreifend ausgestellt: Die Objekte treten nicht in optische Konkurrenz zueinander, sondern bieten durch ihre interkulturelle Aufstellung Einblicke in die Ursprünge der Menschheitsgeschichte. So wird es möglich, die Alte Welt vom Vorderen Orient bis zum Atlantik, von Nordafrika bis Skandinavien durch die Jahrtausende hindurch zu erleben – durch Zeugnisse der Kunst und durch schriftliche Quellen. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: jörg von bruchhausen/stiftung preuSSischer kulturbesitz/david chipperfield In der Treppenhalle (zentrales Treppenhaus) trifft eine Betonkonstruktion auf alte Bauteile. Die Traditionalisten stört das. Blatt 18 Geht Berlin am Ende mit Gewinn aus seiner Bankenkrise hervor? Von JOACHIM RIECKER Viele Vorurteile über Filz und Misswirtschaft in Deutschlands Hauptstadt schienen sich zu bestätigen, als im Jahr 2001 die Berliner Bankgesellschaft kurz vor dem Zusammenbruch stand. Rot-Rot kam in Folge an die Macht und konnte das angeschlagene Kreditinstitut nur durch eine staatliche Risikoabschirmung in Höhe von 21,6 Milliarden Euro retten – für das Land Berlin eine gigantische Summe. Mittlerweile hat sich, wie man weiß, allerdings herausgestellt, dass die Krise der Berliner Bankgesellschaft mitnichten ein Einzelfall war. Ob in Sachsen, Bayern oder Nordrhein-Westfalen: Überhaupt alle anderen deutschen Landesbanken sind in den vergangenen Monaten aufgrund misslungener Immobiliengeschäfte in schwere oder sogar schwerste Turbulenzen geraten. Während anderswo noch über Strategien zur Rettung der maroden Institute debattiert wird, ist in Berlin absehbar, dass die hauptstädtische Bankenkrise dem Senat am Ende sogar einen finanziellen Gewinn bescheren könnte. Zwar musste die Berliner Landesregierung seit 2001 rund 2,2 Milliarden Euro für die Rettung der früheren Bankgesellschaft und den Rückkauf ihrer maroden Immobilienfonds ausgeben. Doch die von der EU-Kommission angeordnete Privatisierung des Instituts spülte im Sommer 2007 immerhin schon 4,6 Milliarden Euro in die Landeskasse. Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband war bereit, diese Summe zu zahlen, um die Landesbank zusammen mit der für ihn besonders attraktiven Berliner Sparkasse vom Senat zu übernehmen (DER HAUPTSTADTBRIEF berichtete). Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD), der zum 1. Mai in den Vorstand der Bundesbank nach Frankfurt am Main wechselt, hat nun auch die vom Land übernommenen Objekte aus den defizitären Immobilienfonds der Bankgesellschaft zum Verkauf ausschreiben lassen. Dabei geht es um rund 39 000 Wohnungen, 1500 Handelseinrichtungen und 1200 Spezialimmobilien wie Seniorenheime oder Kinos. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 19 Sie umfassen eine Fläche von 4,8 Millionen Quadratmeter und erbringen nach Angaben der Finanzverwaltung in diesem Jahr Mieteinnahmen von 425 Millionen Euro. Sollte sich bis Ende April ein akzeptabler Erwerber finden, wäre das für Sarrazin ein perfekter Abgang aus der Hauptstadt. Ohnehin ist es ihm in sieben Jahren gelungen, den maroden Landeshaushalt so weit zu sanieren, dass Berlin im vergangenen Jahr sogar eine Milliarde Euro an Altschulden tilgen konnte. Wegen der Finanzkrise müssen 2009 allerdings wieder neue Kredite aufgenommen werden. Hat für die Hauptstadt- Finanzen viel erreicht: Berlins bisheriger Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD). Für die Objekte aus den ehemaligen Immobilienfonds der Bankgesellschaft waren Ende März noch acht Bieter im Rennen. Wichtigste Bedingung für den Verkauf ist neben einem akzeptablen Preis die Übernahme aller „noch verbliebenen Abschirmungsrisiken“. Zur Erinnerung: Die Berliner Bankgesellschaft war in die Krise geraten, weil sie seit Mitte der 90er Jahre den Erwerbern von Immobilienfonds eine Rendite garantiert hatte, die am Markt nicht zu erwirtschaften war. Die Manager hatten auf ständig steigende Immobilienpreise und entsprechende Mieterlöse gesetzt – eine Parallele zur Immobilienkrise in den USA. Und wie bei amerikanischen Kreditinstituten wurden auch bei der Berliner Bankgesellschaft kritische Immobilien in unübersichtlichen Fonds versteckt, so dass die Risiken jahrelang verborgen blieben. Doch im Frühjahr 2001 platzte die Blase. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: picture-alliance/ZB/Karlheinz Schindler Blatt 20 Auch wenn der Beinahe-Zusammenbruch der Bankgesellschaft ein lokales Ereignis war und andererseits die aktuelle Finanzkrise globale Dimensionen hat, können aus den Berliner Erfahrungen einige Lehren gezogen werden. Zunächst einmal war es richtig, dass der Senat den Zusammenbruch des Kreditinstituts verhindert hat, auch wenn die möglichen finanziellen Belastungen für das Land Berlin zunächst als gewaltig erschienen. Richtig war auch, dass der Senat die Bank nicht schnell verkauft, sondern auf eine Beruhigung der Märkte gewartet hat. „Ich bin seitdem absolut dafür, dass der Staat selbst Anteilseigner wird, wenn er für die Risiken einer Bank eintreten muss und das Unternehmen sanieren will“, sagte Sarrazin jetzt in einem Interview. „Das funktioniert.“ Ein erstes Privatisierungsverfahren brach er im Frühjahr 2003 ab, weil die Angebote nicht attraktiv genug waren. Geduld zeigte die Finanzverwaltung auch in den jahrelangen Verhandlungen mit den Besitzern der 21 geschlossenen Immobilienfonds. Der Senat bot ihnen an, die Anteile zu einem reduzierten Preis zurückzukaufen. Zunächst sträubten sich viele Anleger, doch mit der Zeit erklärten sich immer mehr Fonds-Besitzer bereit, die Offerte anzunehmen. Denn die Alternative bestand in langwierigen Gerichtsverfahren mit ungewissem Ausgang. Ende gut, alles gut? So ganz will man diese Einschätzung im Berliner Senat nicht teilen, waren die Risiken der Bankenkrise doch gewaltig. Aber man ist zumindest froh darüber, dass die Krise bereits vor acht Jahren offenkundig wurde. Ansonsten hätte sich das Institut wohl genau so auf den internationalen Märkten engagiert wie die anderen Landesbanken, heißt es dazu in der Landesregierung. Und wenig spricht dafür, dass die Berliner Banker dabei nicht genau so versagt hätten wie – beispielsweise – die Sachsen oder die Bayern. IMPRESSUM DER HAUPTSTADTBRIEF erscheint seit Oktober 1999 monatlich Herausgeber Detlef Prinz Redaktionelle Konzeption und Chefredaktion Bruno Waltert Bildredaktion Paul Maria Kern Gestaltung Witt & Kern.Design Titel DER HAUPTSTADTBRIEF Satz und Bildbearbeitung Gordon Martin, Aleksandar Mijatovic, Manuel Schwartz, Mike Zastrow Anzeigen es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 6 vom Oktober 2008 Verlag HAUPTSTADTBRIEF Berlin Verlagsgesellschaft mbH Inhaber: Detlef Prinz, Verleger Tempelhofer Ufer 23/24, 10963 Berlin Telefon 030 - 21 50 54 00, Fax 030 - 21 50 54 47 [email protected] www.derhauptstadtbrief.de Druck delphin druck Zossener Straße 55, 10961 Berlin Telefon 030 - 312 80 63, Fax 030 - 313 31 66 Redaktionsschluss 27. April 2009 Wiedergabe von Beiträgen aus dem HAUPTSTADTBRIEF, auch auszugsweise, nur nach schriftlicher Genehmigung der Redaktion – und stets mit der Quellenangabe: © DER HAUPTSTADTBRIEF. Für unverlangte Zusendungen keine Haftung. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 21 Knut wächst weiter und ist schon lange kein Knuddel-Bär mehr Wer erinnert sich nicht an den „Knut-Hype“ im Frühjahr 2007? Fast überall auf der Welt berichteten Zeitungen, Radios und Fernsehsender über den kleinen Eisbären, der am 5. Dezember 2006 im Berliner Zoologischen Garten geboren worden war. Cute Knut („süßer Knut“) oder „Knuddel-Knut“ beherrschte damals die Nachrichten nicht nur in Berlin und Deutschland, sondern nahezu weltweit. Mit dem Berliner Eisbär-Baby verbanden sich mehrere Sensationen: Seit mehr als 30 Jahren war es die erste Eisbärengeburt in Berlin. Außerdem und vor allem aber wurde das Tier von Menschenhand aufgezogen, weil es von seiner Mutter verstoßen worden war. Mit Knut avancierte auch sein Pfleger Thomas Dörflein zum Medienstar. Um seinen niedlichen Schützling mindestens alle vier Stunden versorgen zu können, bezog Dörflein ein Zimmer direkt im Zoo. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: Keystone /jochen Zick Eisbär-Baby Knut mit seinem Ziehvater Thomas Dörflein im März 2007. Blatt 22 Knut heute, aufgerichtet rund 2 Meter groß, 300 Kilo schwer. Ausgewachsen aber wird er erst im nächsten Jahr sein. Vor Zuschauern zu posieren macht ihm viel Spaß. Mit dem internationalen Medienrummel erlebte der Berliner Zoo einen riesigen Besucheransturm. Ursprünglich hatte die Berliner Zooverwaltung für das ganze Jahr 2007 mit 500 000 zusätzlichen Besuchern gerechnet. Aber bereits am 5. Juli 2007 konnte der millionste Besucher seit der ersten öffentlichen „Knut“-Präsentation begrüßt werden. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: ACTION PRESS/sven MEISSNER Blatt 23 Auf diese mussten sich die Knut-Fans allerdings bis zum 23. März 2007 gedulden, weil die Zooverwaltung zuvor eine Grenze von 8 Kilogramm Körpergewicht festgelegt hatte. Bei seiner Geburt am 5. Dezember 2006 wog Knut 810 Gramm. Die ersten 44 Lebenstage verbrachte er im Brutkasten. Schon rund zwei Monate vor dem offiziellen Vorstellungstermin berichtete allerdings das Regionalfernsehen des RBB bis zur ersten Knut-Präsentation nahezu täglich vom Zooleben des jungen Eisbären. Als Knut schließlich am 23. März 2007 von Zoodirektor Bernhard Blaskiewitz gemeinsam mit Bundesumweltminister Siegmar Gabriel (SPD) der Öffentlichkeit präsentiert wurde, waren dabei rund 500 Journalisten aus dem In- und Ausland zugegen. Später übernahm Gabriel medienwirksam die Patenschaft und schlug Knut als Symbolfigur für die 9. UN-Naturschutzkonferenz im Mai 2008 in Bonn vor. Knut, das 810-Gramm-Baby, entwickelte sich schnell fort. Das eben noch süße, kleine, weiße Kuscheltier wurde bald größer, grauer und gefährlicher. Am 9. Juli 2007 veranlasste die Zooverwaltung das Ende der Live-Shows mit Knut und „Co-Entertainer“ Dörflein. Mit damals fast 50 Kilogramm Körpergewicht war er inzwischen zu schwer und zu gefährlich für den Tierpfleger geworden. So ebbte das Eisbär-Spektakel langsam ab, flammte aber im Herbst 2008 noch einmal auf, als der Ziehvater Dörflein am 22. September im Alter von 44 Jahren unerwartet einem Herzinfarkt erlag. Für seinen unermüdlichen Einsatz bei der Aufzucht von Knut war Dörflein am 1. Oktober 2007 der Berliner Verdienstorden verliehen worden. Heute ist Knut rund 300 Kilogramm schwer, ein riesiges Vielfaches seines Geburtsgewichts. Und er ist rund 2 Meter groß, wenn er sich aufrichtet. Voll ausgewachsen und geschlechtsreif wird er dennoch erst in etwa einem Jahr sein. Der Berliner Zoo aber profitiert nach wie vor von seinem Star: Merchandising-Produkte mit „Knut“-Motiven auf T-Shirts, Tassen und Blechpostkarten machen einen nicht unerheblichen Anteil am Zoo-Umsatz aus. Auch die Besucherzahlen sind weiterhin deutlich höher als vor Knuts „Auftritt“. Knut selbst wird, damit man ihn nicht verwechselt, nicht zusammen mit seinen arktischen Artgenossen, sondern im Gehege mit den Braunbären gehalten. Am Zaun davor tummelt sich immer noch jeden Tag eine Menschentraube. Knut scheint das anhaltende Interesse zu genießen und präsentiert sich gerne spielend und posend. Wer ihn besichtigen will, dem erklärt bereits die Kartenverkäuferin an der Zoo-Kasse kundig den Weg: „Immer geradeaus, und dann links am Spielplatz vorbei!“ Tobias v. Schoenebeck DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 24 Kolossaler Götterkopf, wohl Zeus / Jupiter, Italien 1. Jahrh. n. Chr., hellenistische Formensprache, Marmor, Höhe 91 cm. Berlins verborgener Olymp: Die Götter sind zurück Pergamonmuseum präsentiert Bilder griechischer und römischer Gottheiten, restauriert in Brasilien Von KLAUS GRIMBERG In Berlin sind die Götter zurück! Viele von ihnen waren für lange Zeit verschwunden – in den Tiefen der Depots der Staatlichen Museen zu Berlin. Nun sind sie – dank einer außergewöhnlichen Kooperation – wieder für jedermann zu sehen: Berlins verborgener Olymp ist im Obergeschoss des Nordflügels im Pergamonmuseum zu finden. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: SMB Antikensammlung/Johannes Laurentius Blatt 25 Die zahlreichen Statuen aus der griechischen und römischen Götterwelt verdanken ihre Wiederaufstellung der „Fundaçao Armando Alvares Penteado“ im brasilianischen Sao Paulo. Diese private Stiftung, die schon des öfteren mit den Staatlichen Museen zu Berlin zusammenarbeitete, machte 2004 ein Angebot, das die Verantwortlichen der Berliner Antikensammlung nicht ablehnen konnten: Für die Ausleihe einer repräsentativen Auswahl an Exponaten sollte von der privaten Stiftung aus Brasilien nicht nur – wie üblich – deren Transport und Versicherung übernommen werden, sondern auch die Restaurierung etlicher Stücke, die vorübergehend den Weg über den Atlantik nehmen sollten. Im Herbst 2006 wurde die Schau zum antiken Götterkult mit großem Erfolg zunächst in Sao Paulo und im Frühjahr 2007 auch in Rio de Janeiro gezeigt – weit mehr als 300 000 Besucher sahen sich die Leihgaben aus Berlin an. Nach einigen Verzögerungen wird eine auf Berlin zugeschnittene Version dieser Ausstellung nun also auch im Pergamonmuseum gezeigt. Die Präsentation fällt hier zusammen mit dem 50. Jahrestag der Rückgabe „kriegsbedingt verlagerter Kunstgüter“ aus der damaligen Sowjetunion an die DDR 1958. Darunter waren – wie bekannt – unter vielen anderen Stücken die einzigartigen Friesplatten des Pergamonaltars. Der Rundgang durch die Berliner Sonderausstellung beginnt mit einigen Sälen, die einzelnen Gottheiten vorbehalten sind. Darunter sind Athena, Lieblingstochter des Zeus, zuständig für das Handwerk, den Ölanbau und den Krieg, die Zwillinge Apollon und Artemis mit ihren Wirkungsbereichen Musik und Jagd, die Liebesgöttin Aphrodite oder der Wein- und Theatergott Dionysos. Andere Götter werden in Gruppen präsentiert, was ein Dilemma der archäologischen Forschung widerspiegelt: Fehlen charakteristische Attribute, so ist eine sichere Identifizierung häufig nicht möglich. Zu standardisiert sind etwa die Züge der „Vatergottheiten“ Zeus, Poseidon und Hades mit ihren Vollbärten und ernsten Gesichtern oder jene der Muttergottheiten Hera und Demeter mit ihren Kopfbedeckungen und Gewändern. Das Erscheinungsbild der antiken Götter in der Kunst war zudem nicht starr, sondern wandelte sich in den verschiedenen Epochen von der Zeit Homers (8. Jh. v. Chr.) bis in den Hellenismus nach dem Tode Alexanders des Großen (4. – 1. Jh. v. Chr.) ständig. Marmorskulpturen und Bronzestatuetten, Terrakotten, Vasen, Gebrauchsgegenstände und Schmuck illustrieren so auch die Vielschichtigkeit der antiken Götterbilder. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 26 Im großen Kopfsaal des Museumsflügels wird ein exemplarisches Heiligtum nachgebildet. Neben den kleineren und größeren Architekturen, den Tempeln, Altären, Schatzhäusern und Hallen prägen große Mengen unterschiedlicher Weihegaben die antiken Heiligtümer. Häufig auch waren es kleinformatige Darstellungen von Menschen, Tieren, Früchten oder Geräten, abstrahierte Körperteile, die Heilung erbitten oder für erfolgte Heilung danken sollten, sowie Waffen als Symbol siegreicher, durch die Götter begünstigter Kämpfe. Ein weiterer Raum widmet sich dem Opfer, der Musik und dem Fest, zentralen Elementen des Götterkultes im Heiligtum. Die Übergänge zum profanen Leben sind fließend, entsprechend stammen manche der gezeigten Monumente aus Kontexten, deren sakraler Charakter nicht ganz gesichert ist. Dazu zählt auch das Theater als spezieller Kultort des Dionysos. Ein Modell des Dionysos-Theaters in Athen, Darstellungen von Schauspielern und der von ihnen getragenen Masken sowie Vasenbilder belegen die enge Bindung des Weingottes an die Ursprünge des Bühnenspiels. Die Transformation des griechischen Pantheons in der römischen Kaiserzeit und die „Privatisierung“ griechischer Heiligtümer in den Häusern und Gärten der römischen Oberschicht schließlich werden anhand eines idealtypischen Villengartens mit Wasserbecken, Pflanzen und reicher Skulpturenausstattung inszeniert. Pergamonmuseum: „Die Rückkehr der Götter – Berlins verborgener Olymp“. Bis 5. Juli, täglich 10-18 Uhr, Do 10-22 Uhr; Eintritt 10/5 Euro, Katalog 29,90 Euro; www.smb.museum Statuette der Aphrodite (römisch: Venus), wohl aus Kreta, 2. Jahrh. n. Chr., Marmor, Höhe 63 cm. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: Johannes Laurentius Blatt 27 Solarzellen mit Nadelstreifen – eine technische Revolution aus Berlin Sehen so künftig unsere Häuser aus? „Musterbau“ mit dem neuen Super-Werkstoff von Sulfurcell (Fabrikgebäude im Taunus). In Adlershof entsteht eine Zukunftsfabrik Von TOBIAS von SCHOENEBECK Auf den ersten Blick wirken sie wie anthrazitfarbene Glasscheiben, die an Hausfassaden zum Sonnen- oder Wärmeschutz eingesetzt werden. Tatsächlich handelt es sich bei den edel erscheinenden Platten um Solarzellen, die Sonnenlicht in elektrischen Strom umwandeln. Und das ist der Clou bei den Solarmodulen der Sulfurcell Solartechnik GmbH: Sie sind Baumaterial und Stromerzeuger zugleich. Im Gegensatz zu den bislang üblichen Photovoltaikzellen, die separat auf Dächer oder Fassaden aufgeschraubt werden, können sie anstelle von Glas, Ziegel oder Stein bei Bauten verwendet werden. Technisch funktioniert das so: Bei der Herstellung der Solarmodule werden hauchdünne Halbleiterschichten mit einer Stärke von wenigen Millimeter auf metallisiertes Glas aufgetragen. Sulfurcell produziert seine Module unter Verwendung von Kupfer-IndiumSulfid (CIS) als Absorbermaterial. In der Absorberschicht erfolgt die Umwandlung von Licht in Strom. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: SULFURCELL Solartechnik GmbH Blatt 28 Dieses innovative Verfahren nennt sich Dünnschichttechnik. Neben dem praktischen Vorteil, dass die Solarzelle im Bauelement integriert ist, bringt diese Technik eine enorme Materialersparnis mit sich. Im Vergleich zur Herstellung herkömmlicher Solarmodule aus polykristallinem Silizium werden durch die CIS-Technologie 99 Prozent (!) an Halbleitermaterial und ein Drittel der Produktionsschritte eingespart. Mit Nachdruck auf diese Eigenschaften seines Produktes verweisend, stellte Nikolaus Meyer, Gründer und Geschäftsführer von Sulfurcell, ein solches Solarmodul jetzt in Berlin-Adlershof vor. Dort hatte sein Unternehmen auf ein Baufeld am Rande des Wissenschafts- und Technologieparks zum ersten Spatenstich geladen, um damit das Startsignal für den Bau einer hochmodernen Fertigungshalle sowie eines neuen Verwaltungsgebäudes zu geben. So sieht eines der neuartigen Solarmodule aus. Für Meyer sind die dunklen, mit feinen Linien („Nadelstreifen“) durchzogenen Solarplatten das Baumaterial der Zukunft, weil sie nicht nur ästhetisch ansprechend, sondern vor allem ökonomisch und ökologisch wertvoll sind. An den eigenen Fabrikneubauten sollen die Möglichkeiten des solaren Bauens demonstriert werden. Für die neue Fertigungshalle werden großflächige Photovoltaik auf dem Dach und fassadenintegrierte Solarmodule verwendet. Das Verwaltungsgebäude wird durch die gebäudeintegrierten Solarbausteine sogar zu hundert Prozent energieautark. Mit der Entwicklung zur Fertigung von Dünnschichtmodulen begann Sulfurcell im Jahr 2001 nach der Ausgründung aus dem Hahn-Meitner-Institut (HMI), heute Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie. Hier arbeitete man seit 1991 an der Grundlagenforschung zur CIS-Technologie. Nachdem 2005 der Prototyp präsentiert werden konnte, erhielt das Unternehmen im Jahr darauf den Innovationspreis Berlin-Brandenburg. In Adlershof betreibt Sulfurcell bislang eine Pilotanlage, die es auf eine Gesamtproduktion von 3 Megawatt pro Jahr bringt. Mit der neuen Fertigungshalle, die bis Ende 2009 in Betrieb gehen soll, steigt das Unternehmen in die Großserienherstellung seiner Solarmodule ein. Die jährliche Produktionskapazität soll auf 75 MW erhöht und die Zahl der Mitarbeiter von 175 um 100 gesteigert werden. Finanziert wird die Expansion aus öffentlichen Fördermitteln und mit Risikokapital. Im vergangenen Jahr beschaffte Sulfurcell für den Fabrikbau insgesamt 85 Millionen Euro. 24 Millionen davon stellte der US-Investor Intel Capital bereit, weitere 12 Millionen stammen von der britischen Climate Change Capital. Mit 7 Millionen Euro förderte der Berliner Senat das Projekt, 20 Millionen kommen aus Bundesund EU-Fördermitteln für Ostdeutschland. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: SULFURCELL Solartechnik GmbH Blatt 29 East Side Gallery – neu Im Herbst 2009 jährt sich der Fall der Mauer zum 20. Mal. Bis dahin soll auch die sogenannte East Side Gallery, ein 1,3 Kilometer langes Stück östlicher Innen-Mauer zwischen Oberbaumbrücke und Ostbahnhof, restauriert sein. Es war nach dem Fall der Mauer von 118 Künstlern aus 21 Ländern mit den unterschiedlichsten Motiven bemalt worden. Die meiste Aufmerksamkeit fand dabei das Bild, das Leonid Breschnew und Erich Honecker beim sozialistischen Bruderkuss zeigt. Gemalt hat es der Russe Dmitri Vrubel. Weil seinerzeit oft billige Farbe verwendet wurde, aber auch weil der Mauer-Beton stark bröckelte und weil Sprayer die Bilder verunstalteten, soll die Touristen-Attraktion jetzt „aufgearbeitet“ werden. Erst wird der Beton saniert, dann kann noch einmal gemalt werden – mit besserer und möglichst Sprayer-sicherer Farbe. Kosten: 2,2 Millionen Euro, die aus Töpfen des Bundes, der EU, Berlins und der Berliner Klassenlotterie kommen. Mehr als 100 der 118 Künstler von damals haben zugesagt, ihr seinerzeit geschaffenes Bild im Sommer identisch oder ähnlich noch einmal zu malen. W t. So sah es zuletzt an der Berliner „East Side Gallery“ aus: Die Bilder verblasst, der Mal-Untergrund teilweise zerbröselt, das Ganze wild überschmiert. Das Foto zeigt den „sozialistischen Bruderkuss“ zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker, gemalt von dem Russen Dmitri Vrubel. Jetzt wird alles erneuert ... DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: Ipon/Stefan Boness Blatt 30 Air Berlin: 30. Geburtstag und weiterhin Sorgen Von JENS FLOTTAU Die größte Sorge von Air Berlin-Chef Joachim Hunold muss es in den vergangenen Jahren gewesen sein, dass jemand eine feindliche Übernahme seiner Air Berlin planen könnte. Schließlich war der Aktienkurs von einst 22 Euro auf nur noch rund drei Euro abgestürzt. Deutschlands immerhin zweitgrößte (!) Fluggesellschaft war zuletzt also eigentlich ein „Schnäppchen“. Dass es zu einer feindlichen Übernahme nicht gekommen ist, also zum Einstieg eines unerwünschten Investors, liegt vielleicht nur daran, dass in diesen Zeiten die Konkurrenz jedes Risiko scheut – da mag Air Berlin noch so billig zu haben sein. Seine größte Sorge ist der Air Berlin-Chef vorerst nun aber los. Nach jahrelangen Turbulenzen – dem Ein- und Ausstieg eher windiger Teilhaber oder neuerdings klammer Oligarchen wie Leonard Blavatnik – scheinen sich jetzt Partner gefunden zu haben, die langfristig dabei bleiben wollen und die Gefahr einer Übernahme minimieren: Der Reisekonzern TUI hat sich mit 20 Prozent an Air Berlin beteiligt. Darüber hinaus ist die türkische Industriellenfamilie Sabanci über ihre Esas Holding nun auch mit gut 15 Prozent dabei. Genug für mehr Stabilität. Vor allem der TUI-Deal hat noch andere Vorteile. Air Berlin erbt dabei nämlich auch noch das Städteflug-Geschäft der konzerneigenen TUIfly. Die auf Ferienziele spezialisierte Airline hatte sich im eher auf Geschäftsreisende ausgerichteten Segment nie richtig etablieren können und machte darin hohe Verluste. Air Berlin hofft, nun die Strecken wesentlich besser vermarkten und in die Gewinnzone bringen zu können. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: Caro/frank Sorge Blatt 31 Die Logik hinter dem Esas-Einstieg ist weniger klar. Air Berlin fliegt in der Türkei kaum Ziele an, nur Antalya und Bodrum. Esas besitzt zwar mit Pegasus Airlines bereits eine Airline, doch ob die beiden Unternehmen wirklich so gut zusammenarbeiten können wie behauptet, das darf man getrost bezweifeln. Wenigstens kann sich Air Berlin jetzt darauf konzentrieren, einigermaßen heil aus der Krise zu kommen. Und das ist schwierig genug. Das Jahr 2008 schloss die Airline mit einem Verlust von 75 Millionen Euro ab und für 2009 wagt Hunold angesichts der völlig unklaren Aussichten erst gar keine Prognose. Air Berlin-Chef Joachim Hunold. Die Passagierzahlen sind in den ersten Monaten deutlich um rund sechs Prozent zurückgegangen und Hunold musste die Flotte verkleinern. Weil die Treibstoffpreise wieder stark zurückgegangen sind, hat sich die Lage auf der Kostenseite wenigstens etwas entspannt. Doch nun drohen die Piloten Ärger zu machen. In Urabstimmungen bei Air Berlin und ihrer Tochtergesellschaft LTU hat eine Mehrheit der in der Vereinigung Cockpit (VC) organisierten Besatzungen für Streiks gestimmt. Die Piloten wollen die Geschäftsführung dazu zwingen, für den gesamten Konzern bessere und vor allem einheitliche Tarifbedingungen zu akzeptieren. Air Berlin hält die Forderungen, die angeblich Mehrkosten von 30 Millionen Euro pro Jahr verursachen würden, für überzogen. Erst wird aber mal nicht gestreikt. So kann auch das 30. Firmenjubiläum ungestört gefeiert werden. Ende April steigt die Party in einem Berliner Hotel. Wenigstens diesen einen Abend lang wird sich der Party-Profi Hunold vermutlich durch nichts den Spaß verderben lassen. Schließlich moderiert Freund Johannes B. Kerner. Und sogar Kanzlerin Angela Merkel hat sich angekündigt. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: picture alliance/landov/bloomberg/MICHELE TANTUSSI Blatt 32 Die neue Astor Film Lounge in Berlin – ein Mix aus Lichtspielhaus und Luxus Von JAN KEPP In Berlin gibt es jetzt Deutschlands erstes Premium-Kino. Bequemer ist ein Kinosessel nicht denkbar: In den extrabreiten Lederfauteuils können sich Filmliebhaber in aufregende Leinwandwelten regelrecht versenken. Nach hinten sind die Sitze verstellbar und nach vorne gibt es so viel Platz, dass – wer möchte – seine Beine gar auf weiche Lederwürfel hochlegen kann. Kuscheliger und bequemer kann es zuhause auf dem Sofa lange nicht sein. Der Sitzkomfort in der neuen Berliner „Astor Film Lounge“ erinnert nicht von ungefähr an exklusives Fliegen. Auch sonst wird dem Kino-Kunden aller erdenklicher Service geboten: An den Plätzen reicht die Bedienung – bis zum Beginn des Hauptfilms – erlesene Fingerfood-Häppchen – zum Preis von 15 bis 18 Euro. Wer es noch etwas exklusiver mag, findet in der Getränkekarte neben Weinen auch Champagner für bis zu 590 Euro pro Flasche. Das neue „Wellness-Kino“ am Kurfürstendamm. Die Botschaft ist klar: Deutschlands erstes Premium-Kino zielt auf eine Klientel, die in die Multiplexe mit ihrem Popcorn-XXL-Charme freiwillig keinen Fuß mehr setzen möchte. Im Astor wird – vom „Doorman“ über die Garderobiere bis hin zur Platzanweiserin – das Lichtspielhaus zum Wellnessbereich. Die Wohlfühlatmosphäre hat ihren Preis: Je nach Film und Vorstellung kosten die Karten zwischen 10 und 15 Euro. Kurioserweise steckt hinter dem – wie es heißt – weltweit bislang einmaligen Projekt mit Hans-Joachim Flebbe ausgerechnet jener Mann, der vor gut einem Jahrzehnt maßgeblich an der Etablierung der Multiplexe in Deutschland beteiligt war. Der einstige Chef der Cinemaxx-AG will mit dem Berliner Pilotkino am Kurfürstendamm einmal mehr einen neuen Trend setzen. Das Kinoerlebnis der gehobenen Art soll jenes Publikum ansprechen, das es sich in den letzten Jahren statt im Kino zunehmend vor dem heimatlichen Breitwandbildschirm gemütlich gemacht hat. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: www.film-pr.de/astor film lounge Blatt 33 Für 800 000 Euro hat der 57jährige Flebbe den altehrwürdigen Filmpalast auf Luxus getunt. In den denkmalgeschützten Saal aus dem Jahr 1951 passen nun noch gerade 250 Sitze, zuvor waren es fast doppelt so viele. Projektions- und Tontechnik wurden auf den allerneusten Stand gebracht, ansonsten viel vom Charme der 50er Jahre bewahrt. Vor und nach der Vorführung hebt und senkt sich ein Vorhang vor der Leinwand – das Kino gewinnt seinen alten Stil zurück. Blick in den Saal, wo sogar „Engel“ servieren … Mit seiner Investition bewahrte Flebbe eines der letzten Kudamm-Kinos, die Berlin noch geblieben sind, vor dem Aus. Seit dem Mauerfall musste im West-Teil Berlins ein Traditionshaus nach dem anderen seine Türen schließen, weil z. B. große Modeketten ein Vielfaches an Mieten boten. Der Filmpalast blieb wohl deshalb verschont, weil er durch eine schmale Passage vom Boulevard getrennt ist. Der vorherige Betreiber wollte das Haus aufgeben, weil es zuletzt zu selten voll war. Daran hat sich nach Wiedereröffnung als „Astor Film Lounge“ viel geändert: Das Kino ist nahezu jeden Tag in beiden Vorstellungen fast ausverkauft. „Die Resonanz des Publikums ist großartig“, freut sich Kinoleiter Jürgen Friedrich. „Wir haben viel Lob erhalten und viele Besucher wollen gerne wiederkommen.“ Sollte sich das Konzept dauerhaft durchsetzen, plant Flebbe eine ausgefeilte Programmgestaltung – mit Kurzfilmen oder Stand-Up-Comedians zum Aufwärmen vor dem Hauptfilm. Dauererfolg vorausgesetzt, will der Unternehmer seine Idee von High-End-Kino auch in anderen europäischen Großstädten verwirklichen (www.astor-filmlounge.de). DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: picture-alliance/dpa/Rainer Jensen Blatt 34 Karl-May-Helden kommen in Berlin zu Musical-Ehren Auf Nachruhm bis in alle Ewigkeit hat er wohl gehofft, der frühere Dorfschulmeister und spätere Reiseschriftsteller Karl May aus dem sächsischen Hohenstein-Ernstthal. Zu Lebzeiten konnte er schon beträchtlichen Erfolg und gute Goldmark in Fülle einheimsen mit seinen vielgelesenen Abenteuern im Wilden Westen der Vereinigten Staaten, im nördlichen Afrika, in Mexiko und in anderen Gegenden, die er zwar nicht alle persönlich bereisen konnte, die er aber phantasievoll erdacht und ausgeschmückt hat. Am Marterpfahl. Szene aus „Der Schuh des Manitu“ im Theater des Westens. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: ddp/Patrick Seeger Blatt 35 Der Ruhm von Winnetou, Old Shatterhand, dem blauroten Methusalem, dem Buschgespenst und Professor Vitzliputzli hält zwar zwischen Buchdeckeln noch immer an und wird von den heutigen May-Verlegern kräftig gefördert. Aber so richtig populär wurden der knorrige Westmann Shatterhand mit Henrystutzen und Bärentöter und sein roter Bruder vom Stamme der Apachen, Winnetou, erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als zahlreiche Verfilmungen ein Millionenpublikum in die Kinos lockten. Die Superstars und Hauptdarsteller Pierre Brice und Lex Barker haben noch heute einen Stammplatz in vielen privaten Videosammlungen und locken noch immer bei der werweißwievielten Wiederholung vor den Bildschirm. Regisseur und Filmemacher Michael „Bully“ Herbig, der Ideengeber. Wie heutzutage nicht anders zu erwarten, sind die herrlichen Helden sogar zu Musical-Ehren gekommen, was sich der Winnetou-Autor Karl May in seiner Luxusvilla in Radebeul bei Dresden damals kaum hätte träumen lassen. Seit letztem Dezember ist Berlin mit witziger Werbung für das Land der Schoschonen überzogen, und der unsterbliche Trapper und sein roter Bruder feiern unter anderen Namen fröhliche Wiedergeburt auf der Bühne des Theaters des Westens. Mit „Der Schuh des Manitu“ gab es sogar eine echte MusicalUraufführung in der deutschen Hauptstadt, und das Echo auf die musikalisch intonierten Abenteuer der mal sächselnden, mal jodelnden Truppe im wilden oder milden Westen ist beträchtlich. „Hemmungslos gutes Entertainment“, schrieb ein Berliner Kritiker, und in anderen Rezensionen wurden die mitreißende Musik, die grandiosen Tanznummern und die atemraubenden Stunts, zu denen auch Lasso-Tricks und Salon-Prügeleien gehören, DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: Public Address Presseagentur Blatt 36 tüchtig gefeiert. „Einfach gutes Bühnen-Handwerk“, lobte die Kölnische Rundschau und zog das Fazit einer Jubelkritik: „Der schrille wilde Westen hat in Berlin ein neues Zuhause gefunden.“ Darüber freuen sich nicht nur die Produzenten von Stage Entertainment, sondern ganz besonders der Schauspieler, Comedian, Regisseur und Filmemacher Michael „Bully“ Herbig. Denn die quietschvergnügte Parodie auf die Trapper- und Indianer-Geschichten basiert auf dem gleichnamigen Kinostück „Bully“ Herbigs, das vom Start 2001 an sogleich die Hitlisten stürmte und fast zwölf Millionen Zuschauer in Deutschland amüsierte. Für Leinwand und Theaterbühne erlebten Winnetou und seine schöne Schwester Nschotschi, Old Shatterhand und sein schurkischer Gegenspieler Santer eine Häutung als Abahachi, Ranger, Uschi und Santa Maria. Auch ein schwuler Zwillingsbruder von Abahachi namens Winnetouch, eine Schönheitsfarm Puder Rosa Ranch und ein alter Indianerhäuptling namens Grauer Star sorgen für parodistischen Pfeffer. „Bully“ Herbig, der sich zuvor im Fernsehen mit seiner „Bullyparade“ ein treues Publikum erspielt hatte, ließ bei seinem ersten Spielfilm jedenfalls sämtliche edlen Mustangs los und sorgte für ein Feuerwerk schräger Pointen. „Aber schönes Wetter haben wir!“ – dieser Dialogsatz zwischen den Blutsbrüdern, die an den Marterpfahl gefesselt sind, ging geradezu in den Sprachschatz des Volkes über, wenn eine schier hoffnungslose Situation nur noch durch einen dummen Spruch neutralisiert werden kann. „Der Schuh des Manitu“, maßgeschneidert und blankgeputzt für das Theater des Westens, soll dort bis zum 30. September zu erleben sein. Was die Hannoversche Allgemeine Zeitung nach dem Start kurz vor Weihnachten 2008 orakelte, ist inzwischen eingetroffen: Die Berliner Show „könnte der Musical-Hit des kommenden Jahres sein“. Seit Anfang April haben Musicalfreunde sogar die Qual der Wahl in der Hauptstadt. Mit „Dirty Dancing“ ist im Theater am Potsdamer Platz eine andere rasante Musik- und Tanz-Show im Angebot, die den Weg von einem Welterfolg der Leinwand aus dem Jahre 1987 auf die Entertainment-Bühne fand. Dieter Strunz Theater des Westens, Kantstraße 12, 10623 Berlin, Tel: 0180-5 99 89 99, Fax: 030-31 90 31 90, E-Mail: info@ theater-des-westens.de, www.theater-des-westens.de Karten unter 01805/44 44 oder www-musicals.de Theater am Potsdamer Platz, Marlene-Dietrich-Platz 1, 10585 Berlin. Tel: 030-25 92 90. Tickets: 01805-44 44 Abonnieren Sie den Hauptstadtbrief! Mehr dazu: www.derhauptstadtbrief.de [email protected] oder Telefon 030 / 21 50 54 00 DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 37 Der „Palast“ ist weg. Kommt schon bald das „Humboldt-Forum“, wie der Bundestag es will? Auf der geräumten Fläche oben stand seit 1976 (Jahr der Eröffnung) der unter Honecker gebaute „Palast der Republik“. Dessen Abriss wurde kürzlich abgeschlossen. Bald soll dort – in der Fassade des alten Stadtschlosses – das „Humboldt-Forum“ entstehen. Von TOBIAS von SCHOENEBECK Der Schlossplatz in Berlin-Mitte bietet derzeit ein ungewöhnliches Bild: Gegenüber dem Berliner Dom erstreckt sich entlang der Spree bis zum Marstall eine riesige, zum Teil planierte, zum Teil durchfurchte Sandfläche, die vom Ufer her leicht aufsteigt. Vor einem halben Jahr standen hier noch die Treppentürme als letzte Überreste des seit 2006 „selektiv zurückgebauten“ Palasts der Republik. Anfang Dezember 2008 wurden sie zum Abschluss der kompletten Beseitigung des Gebäudes abgerissen. In den kommenden Wochen wird das Gelände provisorisch begrünt. Von Mitte Mai an wird Rasen ausgesät, und ab Ende Juni können sich Sonnenfreunde auf die wohl prominenteste Wiese der Stadt legen, auf den grünen Strand an der Spree. Aber – angeblich – nur für kurze Zeit. Denn in einem halben Jahr sollen auf der 20 000 Quadratmeter großen Freifläche die Bauvorbereitungen für das „Humboldt-Forum“ beginnen, das nach Bundestags-Beschluss zwischen 2010 und 2013 in der Kubatur des 1950 gesprengten Schlosses errichtet werden soll. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: tobias von schoenebeck Blatt 38 Vorausgesetzt die gesamte Finanzierung steht. Bisher allerdings kann davon noch nicht die Rede sein. Und viele in Berlin haben deshalb, was die Jahreszahlen 2010 und 2013 angeht, ihre Zweifel. Der offizielle Fahrplan für die Rekonstruktion des Berliner Schlosses aber steht. Der Sieger im Wettbewerb um das prestigeträchtige Bauvorhaben heißt jedenfalls Franco Stella aus dem italienischen Vicenza. Der 65-jährige Architekt gilt als Spezialist für Bauten, die sich in historische Ensembles einfügen sollen und müssen. Bislang war Stella nur in Fachkreisen bekannt. In Berlin hatte er sich bereits an den Wettbewerben für das Kanzleramt und das Auswärtige Amt beteiligt. Außerdem saß er in der Jury des städtebaulichen Wettbewerbs für das Areal rund um die Spreeinsel, das auch den Bauplatz des Schlosses umfasste. Nach Ansicht der Preisrichter verbindet der Entwurf von Stella die Wiederherstellung der historischen Mitte Berlins mit dem innovativen Konzept eines „Humboldt-Forum“, das Wissenschaft, Kultur und gesellschaftlichen Austausch unter einem Dach vereinigt. Die größte Stärke von Stellas Bauplan für die Schlossrekonstruktion ist, dass er sich nicht wichtiger nimmt als Andreas Schlüter, dessen um 1700 entworfene Barockfassaden die äußere Gestalt des Humboldt-Forums weitgehend bestimmen werden. Im Geiste des einstigen Schlosses hat Stella ein modernes Innenleben gestaltet, das sich in vielfältiger Weise auf die Fassaden bezieht. Damit ist – soweit man das sehen kann – die Gefahr gebannt, dass die barocken Fassaden nur wie Applikationen wirken. Eine wichtige Rolle spielen dabei die drei Hauptzugänge: Hinter dem triumphbogenartigen Portal unter der originalgetreu wieder entstehenden Schlosskuppel ist die Rekonstruktion der historischen Durchfahrt vorgesehen. Daran schließt sich ein großzügiges klassisches Treppenhaus an. Auch bei den benachbarten Portalen II und IV sollen die barocken Fronten durch die Wiederherstellung der historischen Durchfahrten in das Gebäude hinein verlängert werden. Zur Ostseite (Spree) wird ein sich zurücknehmendes „Belvedere“ mit Blick auf das Marx-Engels-Forum entstehen. Den Rhythmus der barocken Fassaden setzt Stella hier in moderner Form fort. Hinter einem „Fassaden-Vorhang“ führen von beiden Seiten ansteigende Treppen in die Obergeschosse, was an die Eingangssituation im Alten Museum erinnert, wo Karl Friedrich Schinkel hinter die Säulenreihe das Treppenhaus platzierte. In einer ähnlichen Formensprache wie zur Spree ergänzt Stella die vierte Seite des ebenfalls zu rekonstruierenden Schlüterhofes (= Schlossforum). Den Eosanderhof reduziert er zugunsten weiterer Nutzflächen zu einem schmalen, aber offenen Hof. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 39 Dieser Entwurf wird jetzt dem Bundestag zur Ausführung empfohlen. Nach Abschluss der Planungsphase soll 2010 der erste Spatenstich erfolgen. Der Deutsche Bundestag hat für das Bauprojekt einen Gesamtkostenrahmen von maximal 552 Millionen Euro festgelegt. Davon trägt der Bund 440 Millionen Euro. Das Land Berlin beteiligt sich für eigene kulturelle Nutzungen unter dem Dach des Humboldt-Forums neben den landeseigenen Grundstücken mit 32 Millionen Euro. 80 Millionen Euro sollen aus privaten Spenden für die Rekonstruktion der historischen Schlossfassade beigesteuert werden. Um das zu erleichtern, wird eine Stiftung Humboldt-Forum eingerichtet, die neben der Spendensammlung auch Bauherrenaufgaben übernimmt. Modell des „Humboldt-Forum“, präsentiert von dem italienischen Architekten Marco Stella aus Vicenza. So ähnlich wie heute sah es auf dem Schlossplatz schon einmal aus, nämlich vor 58 Jahren, als die auf Befehl Walter Ulbrichts erfolgte, viermonatige Zerstörung und Beseitigung des alten Hohenzollernschlosses ihren Abschluss gefunden hatte. Zwischen dem 7. September und dem 30. Dezember 1950 war die Ruine des Stadtschlosses sukzessive gesprengt und vollständig abgetragen worden. In den Augen der damaligen DDR-Führung war das Schloss, das im Zweiten Weltkrieg während zweier Bombenangriffe im Februar 1945 schwer beschädigt und zum Teil ausgebrannt war, ein Symbol des ihr verhassten preußischen Absolutismus, das in einem neuen, nach sozialistischem Vorbild zu gestaltendem Stadtzentrum keinen Platz haben durfte. Mit der Schlosssprengung verschwand ein Gebäude, das bis dahin 500 Jahre Berliner Stadtgeschichte repräsentiert hatte. 1443 hatte Kurfürst Friedrich II., genannt „Eisenzahn“, den Bau begründet. Im 16. Jahrhundert ließ Kurfürst Joachim II. die spätmittelalterliche Burg weitgehend abtragen und durch den Baumeister Caspar Theiss eine prachtvolle und bedeutsame Renaissance-Residenz errichten. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: picture-alliance/dpa/Rainer Jensen Blatt 40 Seine bis zuletzt prägende Ansicht erhielt das Schloss Anfang des 18. Jahrhunderts, als es der Baumeister Andreas Schlüter auf Anweisung des Kurfürsten Friedrich III., ab 1701 König Friedrich I. in Preußen, zur repräsentativen Königsresidenz und zugleich zum bedeutsamsten Profanbau des protestantischen Barock ausbaute. Mit Ausnahme des Kuppelbaus, den Friedrich August Stüler 1845 bis 1853 ausführte, erfolgten seither nur noch kleine Änderungen am Außenbau. Insgesamt stellte das Berliner Schloss im europäischen Kontext einen Residenzbau allerersten Ranges dar. Zum 1. Mai 1951, vier Monate nach Abschluss des Schlossabrisses, wurde die entstandene Freifläche als großer Aufmarschplatz mit einer Tribüne für die Staatsführung der DDR fertig gestellt. Ulbrichts Nachfolger Erich Honecker ließ die Tribüne 1973 wieder abbauen und den Palast der Republik errichten, der 1976 eröffnet wurde. Am 19. September 1990, zwei Wochen vor dem Tag der Deutschen Wiedervereinigung, wurde der Palast der Republik geschlossen. Offizielle Begründung: Gesundheitsgefährdende Asbestbelastung. Gleich nach der Wiedervereinigung setzte in Berlin eine Diskussion ein, ob das Schloss wieder errichtet werden sollte. Damit begann nicht nur eine bis heute andauernde öffentliche Debatte um den Schlossbau, sondern auch um den Umgang und das Selbstverständnis der Deutschen mit ihrem wiedervereinigten Staat und seiner Geschichte. 1992 gründete sich der Förderverein Berliner Schloss e. V. um den Hamburger Fabrikanten Wilhelm v. Boddien. Dieser Verein veranstaltete 1993/94 für eineinhalb Jahre eine farbige Fassadeninstallation des Schlosses, die am originalen Standort im Maßstab 1:1 mit dem weltgrößten Raumgerüst aufgestellt wurde. Diese Schlosssimulation wirkte damals im Stadtbild für viele sehr überzeugend und trug erheblich dazu bei, dass immer mehr prominente Persönlichkeiten aus Kultur und Politik für das Schloss plädierten, während sich viele Architekten und einige Denkmalpfleger kritisch gegenüber einer Rekonstruktion äußerten. Doch konkret passierte jahrelang gar nichts. Der Palast der Republik dämmerte ungenutzt vor sich hin, bis 1998 eine fünf Jahre währende Asbestentsorgung begann, infolge der die gesamte Inneneinrichtung entfernt wurde. 2002 schlug die von Bundesregierung und Berliner Senat zwei Jahre zuvor eingesetzte Kommission „Historische Mitte Berlin“ vor, dass ein Neubau in der Kubatur des Schlosses auf dem originalen Standort aus ästhetischen wie aus urbanen Gründen anstelle des abzureißenden Palasts der Republik entstehen soll. Diesem Vorschlag entsprechend stimmte der Bundestag im Juli 2002 mit annähernder Zwei-Drittel-Mehrheit zu und beschloss den unmittelbaren Wiederaufbau des Schlossäußeren mit der DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 41 Nutzung des Gebäudes als Humboldt-Forum. Damit war ein demokratisch legitimierter und endgültig gefasster Beschluss auf dem Tisch. Er hatte aber nicht den Charakter eines endgültigen Bauauftrages, da dieser erst mit der Bewilligung der finanziellen Mittel zustande kommt. Angesichts der kritischen Haushaltslage des Bundes war die Debatte um einen Wiederaufbau des Schlosses noch nicht beendet, auch dann nicht, als der Bundestag im November 2003 seinen Beschluss fast einstimmig bestätigte. Im August 2005 stellte die Bundesregierung der Öffentlichkeit Auszüge einer Machbarkeitsstudie vor, nach der die Realisierung des Bauvorhabens in Form einer Public Private Partnership möglich sei. Herbst 1950: Walter Ulbricht lässt das zwar von Bomben getroffene, aber noch weitgehend erhaltene Schloss sprengen – aus ideologischen Gründen. Der längst beschlossene Abriss des Palasts der Republik wurde ebenfalls immer wieder aufgeschoben. Nach geplanten Startterminen im Frühjahr 2005 und im Oktober 2005 begann der „selektive Rückbau“ des Gebäudes im Februar 2006 und sollte ursprünglich Mitte 2007 abgeschlossen sein. Aus verschiedenen Gründen, auch weil im Zuge der Arbeiten an mehreren Stellen weiteres asbesthaltiges Material gefunden wurde, verzögerte sich der Abriss deutlich. Erst am 2. Dezember 2008, also fast zeitgleich mit der Juryentscheidung zum Wiederaufbau des Schlosses, wurde der letzte Gebäudeteil des Palasts abgeräumt. Wenn nun bis Ende 2009 die aufs Neue entstandene Freifläche tatsächlich zur Neubebauung vorbereitet sein wird, können die Arbeiten analog Franco Stellas Plänen beginnen. Falls dann die Gesamt-Finanzierung steht … DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: picture-alliance/akg-images Blatt 42 Wandbehang aus dem preussischen Königshaus, um 1800. Tuchintarsien aus Europa im Museum Europäischer Kulturen Von JAN KEPP Stolze Reiter, zarte Blüten, wilde Tiere oder biblische Episoden – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Auf Wandteppichen, Tüchern und Decken entstehen aus vielen kleinen Ornamenten große Panoramen. Oder aus einzelnen Bildern lässt sich eine vollständige Geschichte lesen. Wie bei einem Puzzle sind die oft großformatigen „Stoffgemälde“ aus zum Teil nur fingernagelgroßen Stoffstücken zusammengesetzt. Das Museum Europäischer Kulturen in Dahlem widmet anlässlich seines zehnjährigen Bestehens einer besonderen Schnittund Nähtechnik eine eigene Ausstellung: der Tuchintarsie. Fast vierzig Beispiele für dieses filigrane Kunsthandwerk aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, England, Irland, Polen und Schweden sowie aus den USA und Australien wurden für die einmalige Schau zusammengeführt. Daneben sind grafische Vorlagen, Musterbücher und zeithistorische Dokumente zu sehen. Der zeitliche Bogen spannt sich von 1500 bis in die Gegenwart. Bei der Tuchintarsientechnik handelt es sich um eine kreative Verwertung von Stoffresten. Entwickelt wurde sie von Schneidern, darunter viele Militärschneider, die besonders sparsam arbeiten mussten. Das Grundmaterial aller Objekte besteht aus gewalkter, schnittfester, nicht fransender Wolle. Ihr Vorteil: Sie muss nicht gesäumt werden. So können zum Teil winzige Stofffetzen Stoß an Stoß zu Bildern zusammengefügt werden – mit feinen Stichen auf der Rückseite, die für den Betrachter kaum sichtbar sind. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: deutsches historisches museum berlin/arne psille Blatt 43 Die Produzenten der kunstvollen Arbeiten sind heute nicht mehr eindeutig auszumachen. Einige der ausgestellten Objekte entstanden in Klöstern, andere in Schneidereien, wieder andere als Gemeinschaftswerk von Frauen. Manche von ihnen dienten dazu, um das Nähen zu lernen, andere, um die Meisterschaft darin zu dokumentieren. Gemeinsam ist allen Beispielen ihre Farbenfreude und reiche Ornamentik. Meist werden Bildgeschichten mit historischen, religiösen oder kulturellen Motiven erzählt, überaus lebendig und lebensfroh. In der Tradition dieser kenntnisreichen Technik steht das Kunstprojekt „Stückwerk Berlin – Stückwerk Europa“, das die Berliner Textilkünstlerin Ursel Arndt in Kooperation mit dem Museum Europäischer Kulturen für die Ausstellung realisiert hat. Der großformatige Bildteppich vereint die aktuelle Bilderwelt von Graffiti-Sprayern aus Berlins Straßen. So werden die Tuchintarsien aus sechs Jahrhunderten um ein Beispiel aus dem beginnenden 21. Jahrhundert ergänzt. Nach Berlin wird die Ausstellung in drei weiteren europäischen Städten zu sehen sein: zunächst in Wien, dann in Wroclaw (Breslau) und schließlich in Leeds. Museum Europäischer Kulturen Dahlem: „Tuchintarsien in Europa von 1500 bis heute“. Bis 5. Juli, Di- Fr 10-18 Uhr, Sa/So 11-18 Uhr; Eintritt 6/3 Euro, Katalog 39,90 Euro. www.smb.museum „Wolfshagener Tuchteppich“ aus Kirchenbesitz, hergestellt in Breslau, erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: kirchengemeinde wolfshagen/ute franz-scarciglia Blatt 44 Auch Deutschland darf die islamische Welt nicht vernachlässigen Von RAFAEL SELIGMANN Die Anschläge vom 11. September 2001 sind in meinen Augen das entscheidende Ereignis des vergangenen Jahrzehnts. Sie waren ein Alarmsignal für die USA, aber ebenso für Deutschland. Auch in Zukunft werden wir mit den Auswirkungen dieser Attentatsserie befasst bleiben. Zu den Anschlägen in den USA bekannte sich die fundamentalistische Gruppe Al Qaida. Sie erklärte den Vereinigten Staaten und den christlich dominierten, westlich orientierten Ländern den Krieg. Die damalige Bundesregierung unter Führung von Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer bekannte ihre „uneingeschränkte Solidarität“ mit den USA. Dies galt auch, als Truppen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten Afghanistan angriffen und das dort herrschende Taliban-Regime, das Al Qaida Schutz geboten hatte, von der Macht vertrieben. Doch als die Regierung Präsident George W. Bushs sich entschlossen zeigte, ihren Krieg gegen den Terror durch einen Feldzug gegen das Regime des irakischen Diktators Saddam Hussein auszuweiten, dem sie vorwarf, Massenvernichtungswaffen zu produzieren und die fundamentalistischen Guerilleros zu unterstützen, verweigerte sich Berlin. Schröder und Fischer waren nicht bereit zu glauben, dass der Gewaltherrscher aus dem Zweistromland sich an den Anschlägen gegen die USA beteiligt hatte oder erneut offensives Kriegsgerät fertigen ließ. Diese außenpolitische Position half Rot-Grün, die Wahlen im pazifistisch eingestellten Deutschland zu gewinnen. Washington nahm Deutschland das Abseitsstehen bei der militärischen Offensive gegen Irak übel. Heute lässt sich jedoch feststellen, dass Berlin eine weitsichtigere Politik verfolgte als die Bush-Administration. Diese Bewertung wird doppelt unterstrichen. Bundeskanzlerin Angela Merkel bemühte sich um ein gutes persönliches Verhältnis zu Präsident Bush und hatte Erfolg damit. Doch auch die CDU-Kanzlerin hielt an dem von Schröder eingeschlagenen Kurs fest, Deutschland nicht militärisch in Irak zu engagieren. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 45 Die Anstrengungen von Präsident Barack Obama, mit den islamischen Staaten, selbst mit Iran, ins Gespräch zu kommen, beweisen, dass die neue Administration eine Konfrontation mit der islamischen Welt mit ihren rund 1,3 Milliarden Menschen unter allen Umständen vermeiden will. In den Rahmen dieser politischen Strategie gehört das Bemühen des US-Präsidenten, das Verhältnis zur Türkei als dem Dreh- und Angelpunkt zwischen dem Westen und der islamischen Welt nachhaltig zu verbessern. Dabei drängte Obama während einer Rede vor dem Parlament in Ankara die EU zu einer Aufnahme der Türkei in ihre Reihen. Die Europäische Union, auch Deutschland, reagierte kritisch. Denn zu einem würde Deutschland als größter Staat der EU die Hauptlast zukünftiger Subventionen an die Türkei zu leisten haben, nach gegenwärtigem Stand wären dies 28 Milliarden Euro jährlich. Zum anderen leben hierzulande knapp zwei Millionen Türken. Deren Stellung würde sich durch einen Beitritt der Türkei erheblich verändern. Aber auch die deutsche Gesellschaft insgesamt. Denn über kurz oder lang würde eine EU-Mitgliedschaft Ankaras die uneingeschränkte Freizügigkeit, also Zuwanderungsmöglichkeit, bedeuten. Dabei ist mit der Einwanderung von mehreren Millionen Menschen zu rechnen. In der Diskussion über das Für und Wider einer EU-Mitgliedschaft Ankaras wird jedoch übersehen, dass Obama in dieser Frage lediglich die traditionelle Position Washingtons aufrecht erhält. Bereits Präsident Bush drängte die Europäer, endlich ihre Verheißung gegenüber der Türkei zu erfüllen und sie zu einem gleichberechtigten Partner in ihrer Gemeinschaft zu machen. Die Begeisterung für den neuen amerikanischen Präsidenten sollte uns nicht dazu verleiten, alle seine politischen Initiativen als Innovationen zu feiern. Die Vereinigten Staaten unterhalten traditionell gute Beziehungen zur islamischen Welt. Dies gilt nicht nur für die Öl-Staaten, insbesondere Saudi-Arabien, mit dem die Amerikaner seit Bestehen des wahabitischen Königreiches in den 1930er Jahren hervorragende Geschäfte machen. Die USA waren seit den 50er Jahren Verbündete Pakistans, des Irak und der Türkei. Washington ist stets für die Unabhängigkeit der arabischen Staaten eingetreten – entgegen deren früheren Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien. Der US-Präsident versucht unter Beibehaltung der traditionellen nationalen Interessen Washingtons lediglich die Konfrontation seines Landes mit den islamistisch-regierten Staaten, in erster Linie Iran, zu beseitigen. Ob Iran dabei Obamas DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 46 „ausgestreckte Hand“ ergreifen wird, oder ob das Mullah-Regime nicht vielmehr eine Phase der Verhandlungen mit Washington ausnutzen will, um seine atomaren Ambitionen weiter voranzutreiben, bleibt abzuwarten. Deutschland ist von jeder Veränderung im Verhältnis des Westens zur islamischen Welt politisch und gesellschaftlich betroffen. Dies zeigte sich auch bei den Anschlägen vom 11. September 2001. Ein Teil der Attentäter aus Saudi-Arabien und Libanon hatten in Deutschland studiert und sich hier mental auf ihre Terrortaten vorbereitet. Seither gab es mehrere versuchte Anschläge von Islamisten in unserem Land. Doch dies ist bei aller Spektakularität im Gesamtbild der deutsch-islamischen Beziehungen zu vernachlässigen. Entscheidend ist in erster Linie der soziale Aspekt, also das tagtägliche Leben. Wie kommt die deutsche Mehrheitsgesellschaft mit den Moslems in ihrer Mitte zurecht? Vor zwanzig Jahren gab lediglich ein Drittel der Muslime hier an, religiös zu sein. Heute sind es, gemäß einem Bericht der Bertelsmann-Stiftung, 90 Prozent. Dies wird im Straßenbild Berlins, Kölns, Hamburgs und anderer Großstädte sichtbar. Es ist nicht nur eine Frage der Höhe von Minaretten neu errichteter Moscheen sondern des Miteinanders. Die Unionsparteien mussten erkennen, dass Deutschland ein Zuwanderungsland ist. Nun legen sie Wert auf Integration. Viele würden am liebsten die Assimilation der türkischen und islamischen Zuwanderer sehen. Der türkische Ministerpräsident Erdogan wiederum nannte bei einer Veranstaltung in Köln „Assimilation … ein Verbrechen gegen die Menschenwürde“. Und die Türkei bemüht sich, die Verbindung zu ihren Landsleuten in Deutschland zu pflegen und langfristig aufrecht zu erhalten. Die deutsche Außenpolitik zielt darauf ab, bei der Beilegung der Konflikte im Nahen Osten, vor allem der israelisch-arabischen Auseinandersetzung, aktiv mitzuhelfen. Doch eine Beilegung ist hier nicht absehbar. Und innerhalb Deutschlands wird eine Integration der muslimischen Zuwanderer wesentlich länger dauern, als Optimisten sich dies vorgestellt haben. Ein Patentrezept gibt es nicht. All dies steht nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit den Anschlägen des 11. September 2001. Doch die Attentate haben deutlich gemacht, dass der Westen und wir Deutschen den globalen Wandel und dabei insbesondere die Beziehungen zur islamischen Welt nicht vernachlässigen dürfen. Im Gegenteil, im eigenen Interesse müssen wir hier gestalterisch tätig werden. Ebenso wie der junge amerikanische Präsident. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 47 Dali-Museum im Herzen Berlins: Dauerausstellung mit 400 Werken Von JAN KEPP Die großen Ölgemälde sucht man vergebens. Und doch ist das neue Dali-Museum im Herzen Berlins am Leipziger Platz eine kleine Schatztruhe: Mehr als 400 Werke des spanischen Surrealisten werden hier präsentiert. Die Ausstellung konzentriert sich dabei auf Zeichnungen, Grafiken und Skulpturen, daneben sind illustrierte Bücher, Mappenwerke und Filmdokumente zu sehen. Zu den herausragenden Werken gehören 21 Kaltradierungen aus dem Jahr 1970 zu „Tristan und Isolde“, 24 Farblithografien zu „Carmen“ aus demselben Jahr sowie zwölf Lithografien zu „Don Quichotte“ aus den Jahren 1956/57. Das grafische Werk, so Kurator Carsten Kollmeier, sei in anderen Dali-Museen eher unterrepräsentiert. In Berlin wolle man bewusst diese Seite seines Œuvres in den Vordergrund rücken. Sie eröffne eine zum Teil unbekannte Perspektive. Das Museum kann auf einen Fundus von rund 3000 Arbeiten zurückgreifen, die aus privaten Sammlungen stammen. Dementsprechend soll die Dauerausstellung, die sich über zwei Etagen mit 1400 Quadratmetern Fläche erstreckt, immer wieder ausgetauscht und ergänzt werden. Eines der Exponate wird ausgepackt. Wer möchte, kann bei seinem Rundgang den Kontakt zu so genannten Dali-Scouts suchen. Die jungen Damen und Herren im knallroten T-Shirt geben Hintergrundinformationen zu einzelnen Werken, ohne dabei eine Interpretation vorzugeben. Es geht mehr darum, über Eindrücke und Assoziationen zu sprechen als kunsthistorische Erkenntnisse zu vermitteln. Ein ähnliches Konzept war in der großen MoMA-Ausstellung vor einigen Jahren sehr erfolgreich. Bereits seit zwei Jahren ist die Kunst Dalis in Berlin zu sehen. Zunächst in einer Ausstellung im DomAquarée, die von 60 000 Gästen besucht wurde. Dann zogen die Exponate um in die ehemalige Filmbühne Wien am Kurfürstendamm, wo sich 100 000 Menschen die Werke ansahen. Das neue Domizil am Leipziger Platz soll nun zu einer dauerhaften Adresse werden – für mindestens 25 Jahre. Kurator Kollmeier hofft auf 100 000 Besucher im Jahr. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: Konzept und Bild/VISUM Dali-Museum, Leipziger Platz 7, geöffnet Mo-Sa 12-20 Uhr, So 10-20 Uhr; Eintritt 11/9 Euro; www.dalimuseum.de Blatt 48 Die 60. Berlinale wird 2010 als Jubiläum gefeiert Die Generalprobe im Jahr 2009 ist gelungen Von DIETER STRUNZ Wie beschreibt man am besten ein ideales Filmfestival? Die Antwort kam am Schlusstag der Berliner Filmfestspiele 2009 aus dem Mund eines afrikanischen Gastes, des 62jährigen Schauspielers Sotigui Kouyaté. Er hatte trotz schwerer körperlicher Behinderung die Flugreise in die deutsche Hauptstadt und den Weg auf die Bühne des Berlinale-Palastes geschafft. „Erst die Vielfalt der Bäume macht die Schönheit eines Waldes aus“, sagte er in seiner Dankesadresse für den Gewinn des Silbernen Bären als bester Darsteller im 59. Wettbewerb der Berlinale. Und: „Erst die Vielfalt der Blumen macht die Schönheit des Straußes aus.“ Es war einer der bewegendsten Augenblicke, als der gebrechliche Mime aus Mali mit seinen jugendlichen Rastalocken und seinen funkelnden Augen ins schwärmerische Plaudern geriet. Es war ein Moment des Innehaltens nach zehn turbulenten und filmbepackten internationalen Kinotagen. Zwischen dem 5. und dem 15. Februar konnte die Berlinale mit all ihren Verästelungen, mit Nebenzweigen und Extrareihen wieder einmal beweisen, dass es nicht allein auf Sieger und Applaus ankommt, sondern auf die Vielfalt des Angebotes für jung und alt, für Kinofreaks und Intellektuelle. Bei einem Angebot von fast 400 Filmen in mehr als 1200 öffentlichen Vorführungen waren Augenblicke der Stille und Besinnlichkeit rar, und natürlich wird ein Filmfest wie die Berlinale vor allem von Jubel, Trubel, Promijagd und Bärenbeute geprägt. Aber selbst bei der Verleihung des Berliner Hauptpreises, des Goldenen Bären der Festspiele 09, gab es solch einen berührenden Moment. Als Magaly Solier aus dem Team des peruanischen Siegerfilms „La teta asustada“ ihre Rührung und Dankbarkeit durch ein kleines gesungenes Lied besser ausdrücken konnte als durch das gesprochene Wort. Wenn man die fremden Strophen auch nicht verstand, so wusste doch jeder im weiten Theaterrund am Marlene-Dietrich-Platz, was gemeint war. Alle aus der großen Schar der Festivalbesucher, ob die von Fernost oder Südamerika angereisten Teilnehmer, ob die Kinogänger aus Lankwitz oder Neuruppin, aus München oder Flensburg, ob die Filmkaufleute, die Akteure, die Kritiker und die Zuschauer, sie alle DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 49 verband die eine allgemeinverständliche, universelle Sprache des bewegten Bildes, des Films. Eine Sprache, die buchstäblich Berge versetzen kann. Oder ein dickes Baby über die Leinwand fliegen lässt. Oder in einem Augenblick die Liebe erweckt. Oder von Angst und Wut und Schmerz und Glück und Zukunft erzählt. Natürlich stand der cineastische Riesenrummel am Potsdamer Platz in diesem Jahr unter besonderer Aufmerksamkeit der Fachleute und der Medien. Als erstes Festival des Kalenderjahres, aber auch als Generalprobe für die 60., die Jubiläums-Berlinale 2010. Das deutsche Filmfest war 1951 im gerade von Trümmern halbwegs gesäuberten West-Teil der kriegszerstörten alten Reichshauptstadt ins Leben gerufen worden. Die Top-Preisträger der 59. Berlinale: Pilar Guerrero, Claudia Llosa und Magaly Solier (v.l.) aus Peru. Der mit dem Februar frühe Termin der Berlinale ist Glück und Kummer der Programmplaner. Glück, weil die ersten Premieren des Kinojahres weltweit besonders beachtet werden, und weil Berlin der Konkurrenz in Cannes, Venedig, Locarno und in anderen klimatisch begünstigteren Regionen den Schneid abkaufen kann. Auf der Gegenseite schlägt der mitteleuropäische Februar mit häufigen meteorologischen Tieflagen und stimmungsmäßigen Schieflagen negativ zu Buche. Wer sitzt schon gern tropfnass im Kinosaal oder stolziert schulterfrei bei Minusgraden über die alte Potsdamer Straße? Diesmal mischten sich spärliche Sonnenstunden mit SpätwinterTristesse. Da zog man gern durch die Arkaden, die wieder als Flanierboulevard, als Einkaufsparadies, als Eintrittskartenzentrale, als Roter Teppich fürs ganz normale Publikum und als Nachrichtenbörse für Journalisten dienten, die sich zwischen zwei Aufführungen hier einen Happen genehmigten. Nach dem Film aus der Volksrepublik China vielleicht Ente kross?! Wer hinterher das Wechselgeld in seiner Börse betrachtete, sah mehr spanische, italienische, französische und griechische Euros als solche mit dem Brandenburger Tor, manchmal sogar DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 foto: picture-alliance/dpa/Soeren Stache Blatt 50 Kleingeld aus irischer oder finnischer Prägung. Ein kleines Indiz für die Anziehungskraft der Filmfestspiele nicht nur im deutschen Sprachraum und für wirtschaftliche Nebeneffekte im Berlin-Tourismus. „Die Berlinale lässt die Stadt schimmern“, überschrieb die Berliner Morgenpost poetisch einen Leitartikel. Da wollte sich auch die Prominenz nicht lange bitten lassen und trat brav zum Schaulaufen vor den Kameras der Profis und der privaten Promijäger an. Mit Kate Winslet, Michelle Pfeiffer, Renée Zellweger und Demi Moore vertrat ein hochkarätiges Quartett die Weltfilmmetropole Hollywood. Regie-Altmeister wie Chabrol, Costa-Gavras und Wajda waren präsent. Was im deutschen Film- und Fernsehgeschäft zur Zeit gefragt ist, musste in Berlin einfach dabei sein. Mario Adorf und Armin Müller-Stahl, Sebastian Koch und Jürgen Vogel, Julia Jentsch und Nina Hoss, Hannelore Elsner und Senta Berger, Martina Gedeck und Susanne Lothar und … und … und. Glanz fiel auf Heike Makatsch, die durch ihre Hauptrolle in dem Knef-Film „Hilde“ gerade in Berlin unter besonderer „Beobachtung“ stand und sich immerhin ehrenwert aus der Affäre zog. „Effi Briest“ lockte bei einer Berlinale Special Vorführung auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ins Parkett. Rufen wir einige besondere Blumen aus dem Strauß des Festivals 09 in Erinnerung: glücklicher Gedanke, den Friedrichstadtpalast als •Ein Filmtheater auf Zeit hinzuzumieten und extra für die 1800 Zuschauer mit Superleinwand und technischer Hochrüstung attraktiv zu machen. Wer in vergangenen Jahren auf der Berlinale vergeblich nach Kinokarten anstand, bekam hier seine Chance, und ein neuer Ort für Filmgalas war außerdem gefunden. einen Drehbuch-Bären erhielt mein persönlicher Favorit •Immerhin „The Messenger“ aus USA, der aufzeigt, dass der Krieg, dass jeder Krieg, sich seine Opfer auch abseits der Schlachtfelder sucht. Maurice Jarre, von dem schon Melodien im •Filmkomponist Kopfe aufklingen, wenn man nur Titel wie „Dr. Schiwago“ oder „Lawrence von Arabien“ nennt, wurde völlig verdient mit einem Goldenen Ehrenbären der Filmfestspiele geehrt. Es war die letzte Auszeichnung für Jarre, der wenige Wochen später in Los Angeles verstarb. Gelächter, als Steve Martin den mit Kinotragik •Erleichtertes reichlich bedienten Dauerzuschauern die Lachtränen in die Augen trieb. „Pink Panther II“ dürfte sogar dem freundlich angepflaumten Heiligen Vater im Kinosaal des Vatikan Spaß machen. schön, dass man sich einer guten Sitte alter Berlinalezeiten •Wie entsann und wieder in ein Bezirkskino einkehrte, diesmal ins Wilmersdorfer Cosima. DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Blatt 51 Berliner Regisseur Tom Tykwer hatte die Chance, mit seinem •Der neuen Film „The International“ das Berlinale-Fest zu eröffnen. Für ein Kurzfilm-Kompendium „Deutschland 09“ scharte Tykwer sogar ein Dutzend seiner Regiekollegen um sich (mit sehr unterschiedlichem künstlerischen Ertrag). Plus für die Hauptstadt war die Sonderreihe „Winter ade – •Ein Filmische Vorboten der Wende“, in der die Kulturstiftung des Bundes und die Deutsche Kinemathek filmische Hoffnungsträger für eine Zeitenwende und den Fall des Eisernen Vorhangs vorstellten. einem munteren Eigenleben geprägt war der kommerzielle •Von European Film Market im Martin-Gropius-Bau. Trotz der Wirtschaftskrise erwies er sich wieder als ein Dreh- und Angelpunkt für den weltweiten Filmhandel und Austausch. In diesem Jahr gesellte sich mit dem Marriot-Hotel am Potsdamer Platz ein weiterer Markt-Treffpunkt dazu. Neben den aktuellen Filmen lockte eine filmhistorische Reihe, die für Kenner oft das Sahnehäubchen der Berlinale darstellt. Die Retrospektive setzte auf die Wucht und Kraft der Bilder, indem unter dem Motto „Bigger Than Life“die leinwandsprengenden 70-mm-Formate gezeigt wurden, mit denen sich die Filmwirtschaft einst erfolgreich gegen die kleinformatige Fernsehkonkurrenz zur Wehr setzte. Da Berlin noch immer breitwandige Abspielflächen zu bieten hat, ließen sich die großen Filme wie „Ben Hur“ und „West Side Story“ auch in großen Sälen genießen. Sie wurden im Cinestar im Sony-Center und im Kino International gespielt, das 1963 als drittes 70-mm-Lichtspielhaus der DDR eröffnet wurde. Natürlich knirschte es auch mal im Getriebe. Kaum war das Tauziehen um den Tom-Cruise-Film „Operation Walküre – Das Stauffenberg-Attentat“ und über seine mögliche Teilnahme am Berliner Programm halbwegs vergessen, drohte neues Ungemach: Unfriedliches um das Friedensfest von „Cinema for Peace“. Mit einem Auftrieb von Michail Gorbatschow über Catherine Deneuve, Christopher Lee, Leonardo DiCaprio und Ben Kingsley hatte man am Gendarmenmarkt eine eigene Starparade etabliert, fast eine kleine Gegen-Berlinale, so dass Festivalchef Dieter Kosslick, sonst ein Muster an Freundlichkeit und Konzilianz, zur ganz scharfen Klinge griff. Das Zerwürfnis sollte man rechtzeitig im Gespräch von Mann zu Mann/Frau aus der Welt schaffen. Fast 20 000 Fachbesucher aus 136 Ländern kamen in die Stadt von Havel, Spree und Landwehrkanal. Unverändert stark ist der Andrang der schreibenden, kommentierenden und filmenden Zunft. Und das Publikum strömt auch zu schwierigen Stoffen und Filmen. Mehr als 270 000 Tickets wurden gekauft, 30 000 mehr als im Jahr zuvor. Wie wird das erst werden, wenn die Hauptstadt übers Jahr das Jubiläum der 60. Filmfestspiele feiert? DER HAUPTSTADTBRIEF Nr. 100 Internationale Filmfestspiele Berlin, Potsdamer Straße 5, 10785 Berlin, Tel: 030-25 920 920, Fax: 030-25 920 299, E-mail: [email protected], www.berlinale.de Blatt 52