tony dinozzo

Transcrição

tony dinozzo
München, 26.07.2011 - 2:30 Uhr Ortszeit
Sie hörte die Schritte. Hörte, wie die drohende Gefahr immer näher kam. Ihr Atem ging
stoßweiße, ihr Herz schlug schnell und nicht im gewohnten Takt. Panik ergriff erneut Besitz
vom schönen Körper der Frau und ließ sie in eine Art hysterische Trance gleiten. Sie wollte
schreien, doch kein Ton kam mehr über ihre Lippen. Wild riss sie an den Fesseln, die sich
immer weiter in ihr Fleisch bohrten. Doch die darauf einsetzenden Schmerzen nahm sie nicht
mehr wahr. Ihre Gedanken kreisten nur um das bevorstehende Unheil. Sie wollte diese
Tortur nicht noch einmal erleben.
Die Tür des Kellerabteils wurde geöffnet und ein matter Lichtstrahl fiel herein. Er war da. Sie
spürte seine Nähe, konnte seinen erregten Atem hören und sein abscheuliches Eu` de
Toilette riechen. Doch sie war nicht bereit ihm entgegenzusehen, und ihre Augen, die
furchtsam hysterisch zuckten, richtete sie in die dunkelste Ecke des Raumes. Dem Blick in
diese kalten, finsteren Augen wollte sie dieses Mal entgehen. Und sie wollte nicht zeigen,
wie groß ihre Angst gegenüber diesem Mann wirklich war.
Sie wusste, er würde sie nicht am Leben lassen. Heute war der Zeitpunkt ihres Todes
gekommen. Es war vorbei.
Washington D.C., 25.07.2011 - 20:30 Ortszeit
Tony strich bereits den ganzen Abend wie ein unruhiger Kater durch seine Wohnung. Er war
innerlich total aufgewühlt und was das schlimmste war, er wusste nicht warum. Vor vier
Wochen war der Bundesagent aus dem Krankenhaus entlassen worden, zwei Wochen hatte
er noch in der Reha verbracht. Gesundheitlich ging es ihm gut, die Verbrennungen im
Gesicht waren nur noch ein winziger Schatten, seine Lungen hatten sich erholt und auch
seine Stimme war tadellos zurückgekehrt. Er arbeitete bereits wieder, auch wenn Direktor
Vance ihn aus reiner Vorsicht noch nicht bei Außeneinsätzen teilnehmen ließ, immerhin
musste er nicht mehr sinnlos hier zu Hause sitzen. Denn es gab nichts schlimmeres, als wenn
ihn die Langeweile überkam. Eigentlich sollte er zufrieden sein, denn alles war wie immer, so
wie er es wollte. Bis auf einen winzig kleinen Punkt, der an ihm nagte und ihn nicht zur Ruhe
kommen ließ. Seine Erinnerungen kamen nicht wieder. Noch immer klaffte eine riesige
Leere in ihm und die Tage waren wie weggefegt. Und auch wenn Ziva ihm bis ins kleinste
Detail von der Entführung erzählt hatte, den Keller, in dem sie damals gefangen waren, bis
auf das winzigste Staubkorn beschrieben hatte, irgendwas fehlte und er wusste nicht was.
Wie in Trance griff er zum Telefon und blätterte das Menü durch, bis er ihren Namen sah.
Ziva David. Er wollte sie anrufen und doch hielt ihn etwas davon ab. Seit ihrem Gespräch im
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Krankenhaus ging sie ihm weitestgehend aus dem Weg, mied es, mit ihm alleine zu sein. Und
Tony war es, als würde sie ihm etwas verschweigen. War vielleicht doch mehr vorgefallen,
hatte man ihr etwas angetan, worüber sie nicht reden wollte? Und war sie vielleicht sogar
froh darüber, dass Tony sich nicht an das Geschehene erinnerte? Frustriert und enttäuscht
drückte er die Nummer weg und legte das Telefon vor sich auf den Tisch. Es hatte im
Moment keinen Sinn darüber nachzudenken. Irgendwann musste er mit ihr reden, aber nicht
jetzt und nicht am Telefon.
Das Klingeln an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken und mit einem flüchtigen Blick auf die
Wanduhr im Flur öffnete er die Haustür.
„He, bin ich zu früh?“ Vor der Tür stand Ronald. Der Mann war seit Jahren als Undercover
Agent für den NCIS tätig und seit den jüngsten Geschehnissen, bei denen Tony beinahe bei
einem Brand ums Leben gekommen wäre und Ronald selbst niedergestochen wurde, hielt er
sich in Washington auf. Sie verstanden sich gut und Ronald war zu einem Kumpel geworden,
jemand mit dem man reden und zugleich schweigen konnte.
„Ja“, sagte Tony grinsend und trat zur Seite, damit Ronald an ihm vorbeigehen konnte. „Aber
komm doch trotzdem rein.“ Musternd blickte Tony ihm hinterher, während Ronald zielsicher
in die Küche lief, den Kühlschrank öffnete und sich wie selbstverständlich ein Bier
herausnahm. Danach lehnte er sich seufzend gegen die Küchenzeile.
„Ich habe es einfach nicht mehr zu Hause ausgehalten. Seit Ilena und Alisar wieder weg sind,
kommt mir mein Leben so …., mmh, sagen wir langweilig vor.“ Ronald fuhr sich durch die
wildabstehenden dunkelblonden Haare. Die vergangen freien Tage hatten ihre Spuren auf
der Haut des jungen Agents hinterlassen und sein Teint schimmerte sonnengebräunt.
„Die Kleine ist ein ganz schöner Wirbelwind, was?“ Tony musste lächeln, als er an Ilenas
sechsjährige Tochter dachte.
„Wirbelwind?“ Ronald hob betont die Augenbrauen. „Dieses Kind ist ein Orkan, überleg mal,
was sie alles schon durchgemacht hat, die Kleine wurde gefangen gehalten und in der Wüste
ausgesetzt. Ganz zu schweigen von den Machenschaften ihres Großvaters, wie oft …. Nein,
darüber will ich gar nicht nachdenken. Ilena ist schon stark, aber das Kind ist stahlhart und
unzerbrechlich.“
„Liegt wohl in der Familie.“ Tonys Stimme war leiser geworden und seine Gedanken
schweiften ab. Er hatte Ilena nach dem ganzen Drama nur ein, zweimal gesehen. Ziva war
ihrer Cousine während diesem Undercover-Auftrag, an den er sich verdammt nochmal nicht
erinnern konnte, begegnet und schnell hatte sich herausgestellt, dass Ilena von ihrem Vater,
somit Zivas Onkel, unter Druck gesetzt wurde. Dieser drohte ihr damals sogar mit dem
Leben der Enkeltochter, sollte Ilena nicht weiter für ihn arbeiten. Und wie immer lief alles
schief, doch irgendwie war es durch die Zusammenarbeit vom NCIS und dem Mossad am
Ende gelungen, sowohl Ziva zu befreien, als auch das Kind wohlbehalten aus der Wüste zu
retten.
„Mmh“, bestätigte Ronald Tonys Kommentar. „Jedenfalls sind die zwei jetzt für ein paar
Tage in Europa. Ilena trifft sich in Deutschland mit irgendeinem fernen Verwandten um
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gewisse Dinge zu regeln. Danach will sie nach Israel zurück, um weitere Vorkehrungen zu
treffen.“
„Sie will also wirklich hierher? Zu dir?“ Tonys Frage war mehr amüsiert, als ernsthaft
gemeint, denn die beiden schienen seit einigen Wochen unzertrennlich. Ein Traumpaar. Wie
ein Blitz fuhr plötzlich eine Erinnerung durch Tonys Körper, doch die Bilder verblassten
genauso schnell wieder, wie sie kamen, ohne das er sie hätte festhalten können. Stattdessen
erschütterte ein ihm bekanntes Schwindelgefühl seinen Körper und er musste sich am
Türrahmen festhalten.
Ronald, der bemerkte wie Tony mit einem Mal kreidebleich wurde, war sofort an seiner
Seite.„Alles ok?“, fragte er besorgt.
Tony schnappte nach Luft und schloss einen Moment die Augen. „Ja, alles klar“ Während er
verzweifelt versuchte die Bilder zurückzuerlangen, die sich kurz zuvor blitzartig in seinem
Kopf gezeigt hatten, setzte er ein Lächeln auf die Lippen, die sein Gegenüber von seinen
Worten überzeugen sollte. „Wirklich, alles bestens. Gibt es für mich auch noch ein Bier?“
München, 26.07.2011 – 3:21 Uhr Ortszeit
Als er endlich fertig war, wischte er sich den Schweiß von der Stirn, versuchte mit seinem
Taschentuch, grob den Dreck von den Händen zu beseitigen und stieg in seinen Wagen. Ein
eher schmächtig wirkender, junger Mann in blauen Jeans und schwarzem Hemd, mit einem
charmanten Lächeln auf den Lippen, unauffällig. Hätte ihn womöglich ein Passant gesehen,
dieser hätte die Gestalt in der Dunkelheit sicher niemals als einen Mörder wahrgenommen.
Aus seinem Lächeln wurde ein schiefes Grinsen, als er sich seufzend auf den Sitz seines
schwarzen Passats gleiten ließ und die Tür hinter sich zuzog, wegen der schlafenden
Anwohner darauf bedacht, nicht allzu laut zu sein. Zufrieden stützte er seine Ellenbogen auf
das Lenkrad und schaute durch die Windschutzscheibe hinaus auf die ihm so bekannte,
abgelegene Stelle des Parks. Der Park mit seinen dunklen verborgenen Ecken. Der Regen, der
in dieser Nacht ununterbrochen fiel, prasselte auf das Autodach und nur das regelmäßige
Wischen der Scheibenwischer hätte ihm eine mehr oder weniger klare Sicht auf den Ort des
Grauens ermöglicht. Doch fürs Erste reichte ihm die Erinnerung und er atmete tief ein. Die
Luft war durchzogen von einem modrigen, feuchten Geruch, genau wie er es liebte. Er
begegnete seinen dunkelbraunen Augen im Rückspiegel und nickte sich stolz und erhaben
zu, bevor er den Motor startete und langsam aus der Seitenstraße rollte. Erst als er auf die
Hauptstraße bog, schaltete er das Licht an und ein kurzer Moment später erklang der
dumpfe Bass seiner Musikanlage. Es war eine wunderschöne Nacht.
*****
München, 26.07.2011 - 8:30 Uhr
„Wir haben eine Leiche im Englischen Garten im Bereich des japanischen Teehäuschens.“
Kriminalhauptkommissar Steinberger schaute in die Runde seines neuen Teams, das eifrig
damit beschäftigt war, die Ereignisse zusammenzufassen und sich ein klares Bild zu machen.
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„Wie kann man dort einen Mord verüben, dort wimmelt es von Touristen“, meldete sich
Tanja Neumayer als erstes zu Wort und stand auf um einen näheren Blick auf die Tatortfotos
zu werfen. Noch bevor sie eine Antwort erhalten konnte, verzog sie angewidert das Gesicht.
Es war wahrlich kein schöner Anblick. Bei der Leiche handelte es sich um eine junge Frau,
schätzungsweise Ende zwanzig bis Anfang dreißig, dunkelbraune Haare. Hübsch. Doch ihr
gesamter Körper war übersät von Kratzern und tiefergehenden Schnittwunden, vermutlich
mit einer zarten Messerklinge zugefügt. Für Kratzer von Tieren waren sie einfach zu
symmetrisch.
„Bei schlechtem Wetter ist es dort total ausgestorben. Warst du noch nie bei Regen im
Englischen Garten, diese Ruhe, die Einsamkeit. Richtig gespenstisch ist es dann“, mischte sich
Felix Schwarz ein und kippelte auf seinem Stuhl. „Da kann man in aller Seelenruhe einen
Mord verüben.“
„Oder er hat die Lerchenfeldstraße benutzt um die Tote dort nur abzulegen.“ Tanjas Blick
war weiter gewandert und sie begutachtete den Stadtplan, den Hauptkommissar
Steinberger bereits daneben aufgehängt und den Ort mit einem Fähnchen markiert hatte.
„Ist der Fundort auch der Tatort?“
„Die Spurensicherung ist noch vor Ort, aber die starken Gewitterschauer gestern Abend und
in der Nacht lassen die Hoffnungen, noch etwas Brauchbares zu finden, schwinden.“
„Befragen wir die Nachbarschaft, vielleicht hat jemand in dieser Straße etwas Verdächtiges
beobachtet.“ Tanja nickte Felix zu und deutete ihm, ihr zu folgen. Doch sie wurden noch von
ihrem Chef aufgehalten.
„Ich setze die nächste Sitzung für 14 Uhr an, bis dahin werden wir sicherlich auch schon
Ergebnisse aus der Gerichtsmedizin vorliegen haben. Neumayer und Schwarz, ihr kümmert
euch um die Befragung. Müller und Gruber, ihr versucht herauszufinden, wer die Leiche ist.
Checkt die Vermisstenanzeigen, Fingerabdrücke und so weiter. Ohne die Identität der Frau
kommen wir nicht weiter.“
Washington D.C., 26.07.2011 – 4:00 Uhr
Ziva wälzte sich unruhig im Bett umher. Seit der Entführung plagten sie immer wieder
Albträume. Sobald sie die Lider schloss, kamen Bilder in ihren Gedanken hoch und sie sah die
kalten Augen ihres Onkels, aus denen langsam das Leben wich. Hinzu kamen die
Erinnerungen an ihre Mutter und an Tali. Ihr Tod war so ungerecht und sinnlos.
Es war bereits die dritte schlaflose Nacht in Folge und langsam musste sie sich echt mit der
Tatsache auseinandersetzten, den Rat von Dr. Wellington zu befolgen und zumindest
vorübergehend auf Schlaftabletten zurückgreifen. Und um einen Besuch bei diesem
Psychologen würde sie wohl auch nicht rumkommen. Dank Ilena hatte sie die ganze Zeit
jemand zum reden gehabt, doch nach deren Abreise vor 3 Tagen schleppte sie ihre
Gedanken und Ängste mit sich alleine herum. Zu wem sollte sie auch gehen? Zu Tony?
Seufzend ließ sie ihren Kopf in die Kissen sinken. Es war einfach zum heulen. Tonys
Erinnerungen kehrten nicht zurück und jede Minute in seiner Nähe schmerzte sie sehr,
obwohl sie sich nach seiner Nähe so sehr sehnte. Nach seinen Berührungen, seine sanften
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Finger, die zärtlich über ihren Körper streiften und diese wohlige Gänsehaut in ihr auslösten.
In jener Nacht war sie sich so sicher gewesen, für immer glücklich zu sein. Sie hatten
zueinander gefunden, und zwischen ihnen bestand eine Zärtlichkeit, eine Intensität der
Gefühle, die keiner von ihnen jemals zuvor erlebt hatte. Doch die Erinnerungen an die
gemeinsamen Momente existierten nur noch für sie. Und somit fehlte jemand ganz
Entscheidendes.
Ziva verbannte die quälenden Gedanken aus ihrem Kopf und warf einen Blick auf ihren
Radiowecker. Nachdem sie noch einmal tief durchgeatmet hatte, griff sie nach ihrem Handy
auf dem Nachttisch und wählte Ilenas Nummer. In München sollte es jetzt 10 Uhr sein und
ihre Cousine würde vermutlich gerade mit Alisar frühstücken. Sie wollte nur kurz ihre
Stimme hören, eine vertraute Person. Doch wenig später gab Ziva es auf, niemand nahm am
anderen Ende der Leitung ihren flehenden Anruf entgegen.
München, 26.07.11 10 Uhr
Alisar irrte ziellos durch die großen Straßen der Münchner Innenstadt. Seit Stunden lief sie
zwischen den riesigen, wuchtigen Häusern umher, wo genau sie war, wusste sie schon längst
nicht mehr. Über ihr kleines, zierliches Kindergesicht liefen dicke Tränen der Angst und
Verzweiflung, ihre sonst so strahlenden braunen Augen waren durch den stetigen
Tränenschleier schon rötlich verfärbt. Die Lippen presste sie fest aufeinander. Denn sie
wollte alles richtig machen. Immer wieder hörte sie die mahnenden Worte ihrer Mama klar
und deutlich in ihrem Gedächtnis: „Alisar, lauf so schnell du kannst und rede mit niemanden
ein Wort. Lauf, lauf weg.“
Zum Laufen war sie mittlerweile viel zu erschöpft, ihre Beine und vor allem ihre Füße in den
süßen weißen Lacksandalen taten schmerzlich weh. Sie hatte sich bestimmt schon drei
Blasen gelaufen, die brannten wie Feuer. Doch ihre Lippen würde sie so schnell nicht mehr
öffnen.
Erschöpft ließ sich Alisar auf die Stufen eines Brunnens fallen. Hier, in der deutschen Stadt,
gab es Unmengen von Brunnen und ihre Mutter hatte ihr am Vortag die Geschichte mit dem
Wasser erzählt, dass es hier viel mehr Wasser gab als in Israel. Sie waren den ganzen Tag von
Brunnen zu Brunnen gelaufen, einer schöner als der andere. Am lustigsten fand sie das
Gebilde mit den dicken Fischen, bei einem Fisch kam das Wasser sogar aus dem Mund und
es sah aus, als spucke er in einen großen See. Doch hier, an diesem Brunnen waren sie nicht
gewesen und Alisar war sich auch nicht mehr sicher, wie sie überhaupt hierher gelangt war.
Still fuhr sie sich mit dem Handgelenk durch das tränennasse Gesicht und lehnte ihren
Rücken gegen die kühlen groben Steine des alten Mauerwerks. Sie zog die Beine unters Kinn,
legte den Kopf darauf ab und schloss die Augen. Das seichte Plätschern des Wassers mischte
sich mit den Tränen, die erneut von ihr Besitz nahmen und wie kleine, durchsichtige
Perlchen auf den Boden tropften.
*****
Washington D.C. , 26.07.11
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Mit einem lauten Stöhnen drückte Tony auf die Taste der dritten Etage und lehnte sich
gegen die Rückwand des Fahrstuhls. Seit den frühen Morgenstunden plagten ihn
Kopfschmerzen, vielleicht war doch das ein oder andere Bier, das er am Vorabend mit
Ronald getrunken hatte, zu viel gewesen, aber der Alkoholgenuss war eine gute, wenn auch
nicht gesunde Möglichkeit sich abzulenken und die frustrierenden Grübeleien für ein paar
Stunden zu unterbinden. Tony seufzte auf und beobachtete die Seitentüren des Fahrstuhls,
die sich langsam schlossen. Ein weiterer Tag musste überstanden werden, weitere
langweilige Stunden im Innendienst, Aktenberge, die sich auf seinem Schreibtisch stapelten
und was das schlimmste war: noch mehr Zeit zum Grübeln. Es war ein immer
wiederkehrendes Dilemma.
„Guten Morgen“, nuschelte er mehr beiläufig, als das er seine Kollegen, die bereits im Büro
hinter ihren Schreibtischen saßen, wirklich begrüßte und er erntete dafür zunächst
skeptische Blicke.
„DiNozzo“ Gibbs stand auf und kam ihm entgegen. „Wieso machst du so ein Gesicht, es ist
doch ein wunderbarer Tag.“
Tony riss die Augen auf und blickte seinen Boss, aufgrund der für ihn so untypischen
Aussage, verwirrt an. „Gibbs?“
„Ich hol mir einen Kaffee. Darf ich euch zur Feier des Tages auch einen mitbringen?“ Gibbs
konnte sich, während er sich einmal auf der Stelle drehte, ein Lächeln nicht verkneifen,
sowohl Tony, wie auch Ziva und McGee sahen ihn einfach nur sprachlos an. „Ja?“, fügte er
ungeduldig hinzu und hob theatralisch die Arme.
Ziva nickte zaghaft und McGee brachte ein kurzes, unsicheres „Gerne“ über die Lippen. Und
noch bevor Tony im Stande war zu antworten, schoss Gibbs um die Ecke und war
verschwunden.
„Was genau gibt es denn zu feiern?“, fragte Ziva und blickte in die Runde. Zur Antwort
bekam sie nur ein jeweiliges Schulterzucken ihrer Kollegen, danach drehte sie den Kopf in
die Richtung, in die zuvor Gibbs verschwunden war, und hob irritiert die Augenbrauen.
*****
„Zu wenig Schlaf bekommen, Tony?“ McGee war inzwischen ebenfalls aufgestanden und trat
zu Tony in die Mitte der Schreibtische, locker stieß er ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Eine schöne Nacht verbracht?“, zwinkerte er ihm zu und strich sich gleichzeitig mit der
rechten Hand über seine linke Schulter. Er hatte noch immer leichte Schmerzen und die
regelmäßige Physiotherapie war alles andere als angenehm. Doch was schmerzte, heilte und
somit hatte er die Hoffnung demnächst wieder uneingeschränkt seinen Kaffee trinken zu
können.
„Blond oder brünett?“, setzte er erneut an, als Tony ihm die Antwort schuldig blieb und
bemerkte nicht, was er mit seiner Fragerei auslöste.
Ziva erstarrte. Die Worte ihres Kollegen versetzten ihr unausweichlich einen Stich ins Herz
und für einen Moment hielt sie die Luft an, um diesem intensiven Gefühl entgegen zu treten.
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Am liebsten hätte sie sich zusätzlich noch die Ohren zugehalten, um der drohenden Antwort
von Tony zu entgehen. Sie wollte es nicht hören. Das Tony sein normales Leben
weiterführte, ohne sie, war schon schrecklich genug, doch sie brauchte nicht auch noch
ausführliche Beschreibungen.
Tony unterdessen setzte sein gespieltes, bekanntes Grinsen auf, obwohl es ihm eigentlich
noch immer nicht zum Lachen war. Sein Kopf brummte und er sehnte sich plötzlich nach
dem Kaffee, den Gibbs ihm schmackhaft gemacht hatte. Doch die anderen erwarteten eine
bestimmte Reaktion von ihm und alles was das Team zurzeit brauchte war Normalität,
bildete er sich ein und legte sein gespieltes Grinsen auf das Gesicht. Und während er sich
Gedanken darüber machte, welche Haarfarbe Ronald nun hatte, war es mehr dunkelblond
oder doch schon hellbraun, und gerade zu einer Antwort ansetzen wollte, traf ihn ein
seltsamer Blick von Ziva. Doch sofort wandte sie sich von ihm ab und blickte wieder auf die
Aktenberge, die sich vor ihr auf dem Schreibtisch stapelten. Und schon waren die
Gedankengänge des Agenten erneut gestört und das Grübeln setzte wieder ein.
„Ein Gentleman schweigt und genießt“, grummelte Tony nebensächlich seinem Kollegen zu
und beobachtete weiter die Frau, die seinen Blicken seit Tagen gekonnt aus dem Weg ging
und soeben geschäftig in den Papierstapeln wühlte. Just in dem Moment, wurde ihm
bewusst, dass er einer Aussprache nicht länger aus dem Weg gehen konnte und das
Gespräch nicht mehr länger aufschieben wollte.
*****
München, 13 Uhr Ortszeit
Kriminalhauptkommissar Steinberger kämpfte sich durch die Fußgängerzone der Stadt. Er
war bereits auf dem Rückweg und verfluchte soeben wieder einmal seine Frau, die es am
Morgen nicht geschafft hatte, ihm Proviant in ausreichender Menge einzupacken. Seitdem
sie wieder voll in das Berufsleben eingestiegen war und die Kinder auf die weiterführende
Schule gewechselt waren, war seine Frau wieder glücklich und zufrieden. Alles war gut, nur
er hatte darunter zu leiden. Nein, er machte ihr keine Vorwürfe, es war vielmehr ein
männliches beklemmendes Selbstmitleid, welches sich permanent in ihm ausbreitete. Denn
seit Stunden war er auf den Beinen und das anfängliche Hungergefühl war irgendwann so
groß geworden und zu einem Grummeln übergegangen, das er sich eigenständig auf den
Weg machen musste. Und während seine Kollegen auf der linken Seite den neumodischen
Kaffeeladen bevorzugten, legte er nun mal Wert auf Tradition. Und diese Tradition zwang
ihn ein paar Meter durch die Kaufingerstraße und quer über den Marienplatz. Nur dort
bekam er seine Lieblingssemmel, schmackhaft belegt und konnte sich gleichzeitig mit einem
wunderbaren Stück Kuchen für den Nachmittag eindecken.
Erleichtert bog ihr in die weniger belebte Seitenstraße ein, in der sich das Polizeipräsidium
Münchens befand und in just in dem Moment, als er die schwere Eingangstür öffnen wollte,
kam ihm ein alter Kollege entgegen.
„Grüß dich, Peter“ Der Kollege hob zur Begrüßung die Hand und blickte hinauf in den
Himmel. Kein Wölkchen war zu sehen und die Feuchtigkeit der letzten Nacht verwandelten
die heiße Luft zu einem Tropenklima.
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Für ein ‚Guten Morgen‘ war es längst zu spät und so presste Peter Steinberger ein kurzes
„Hallo“ hervor. Seine Stimmung war beinahe auf dem Nullpunkt angelangt und auf ein
Gespräch über alte Zeiten hatte er keine Lust. Doch er wollte auch nicht unhöflich wirken
und somit legte er ein freundliches Lächeln auf.
„Wir haben eine Leiche, da kommt `ne Menge Arbeit auf uns zu“, vielleicht genügte das
seinem Gegenüber, um ihm aufzuzeigen, dass er keine Zeit und Lust für Smalltalk hatte.
„He, das liegt wohl am Wetter. Die Ganoven scheinen momentan zu wüten. Oder jemand
hat sich vorgenommen, das Polizeipräsidium ein wenig von der Langeweile zu erlösen.“
Grinsend hob er die Zeitschrift nach oben, die seit zwei Tagen mit einem Bericht über die
Verbrechensstatistik in deutschen Großstädten für Diskussionen sorgte. „München gibt sich
doch nicht mit Platz 68 zufrieden.“
„Was habt ihr?“ Das Interesse bei Kriminalhauptkommissar war somit geweckt, über neue
Fälle war er gerne informiert.
„Ach, ein Überfall in einer kleinen Pension, Zimmer mit eindeutigen Kampfspuren und
Blutfleck. Eine Drogentote in dieser neuen Diskothek. Und soeben wurde ein Kind
abgegeben, total verstört, redet kein Wort.“
Die Tür wurde von innen geöffnet und Tanja Neumayer stapfte wütend nach draußen. „Du
Idiot, deinetwegen müssen wir jetzt nochmal los.“
Als sie das Gesicht ihres Chefs erblickte, schluckte sie schwer. Der Satz war eigentlich nicht
für seine Ohren bestimmt und sie spürte sofort den strafenden Blick ihres Kollegen, der sich
nun verärgert an ihr vorbeidrückte.
„Beamtenbeleidigung“, grummelte Felix Schwarz und marschierte ohne weitere Reaktionen
abzuwarten in Richtung der Dienstparkplätze. Tanja hob noch schnell entschuldigend die
Schultern und hastete dann ihrem Kollegen hinterher.
„Damit hätten wir uns um mindestens zwei Plätze nach vorne geschoben“, grinste der
Kollege und hob zum Abschied erneut kurz die Hand. „Wir sehen uns Peter.“
*****
Washington D.C. – 8:20 Uhr Ortszeit
Zivas Pulsschlag beruhigte sich so langsam und ihre Hände, die sie unbewusst unter der
Tischplatte zu Fäusten geballt hatte, entspannten sich. Stur blickte sie vor sich auf die
Schriftstücke und versuchte verzweifelt sich zu konzentrieren.
Tony war in der Zwischenzeit an McGees Schreibtisch getreten und lehnte nun locker gegen
den Schubladenschrank. Sie tauschten sich seit geraumer Zeit über eine Akte aus und
diskutierten einen bestimmten Sachverhalt, wobei sie generell unterschiedlicher Meinung
waren und niemand bereit war, von seiner Sichtweise abzuweichen.
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In diesem Moment öffnete sich die Fahrstuhltür mit dem bekannten ‚Pling‘ und Gibbs, in der
einen Hand den Kaffe, die andere verkrampft mit dem Handy am Ohr, schoss um die Ecke.
Wortlos reichte er die Becher rum und musterte sein Team.
„Ok“, es blitzte in seinen Augen. „Wir kommen.“ Grußlos klappte er sein Handy zu. Er griff
gezielt in seine Schublade, nahm seine Dienstwaffe und Marke heraus und grummelte
nebenher: „Nehmt euer Zeug!“
Ziva und McGee taten es ihm gleich, die Freude war ihnen sichtlich anzusehen, nur Tony sah
etwas frustriert aus. Toll, jetzt musste er Akten bearbeiten und war zudem noch alleine. Der
Agent senkte den Kopf und seufzte mitleidig auf, während der Rest des Teams zum Fahrstuhl
ging.
Kurz vor dem Fahrstuhl blieb Gibbs stehen und warf einen Blick zurück. Bevor er sich
umdrehte, hob er den Zeigerfinger und deutete den beiden Agenten, die bereits im
Fahrstuhl standen, ein Moment zu warten. Er selbst kehrte zu Tony zurück, entriss ihm den
Kaffee und beinahe gleichzeitig feuerte er den Becher in den Mülleimer und verpasste
DiNozzo eine Kopfnuss. Schmerzverzerrt zuckte der Agent zusammen, Kopfschmerzen und
Kopfnüsse in Kombination fühlten sich elendig an. Verwirrt blickte er in die blauen Augen
seines Boss.
„Warum?“, war das einzige Wort, welches über Tonys Lippen kommen wollte.
„Ich spendiere dir einen Kaffee und du hältst es in der Zeit noch nicht mal für nötig an deinen
Schreibtisch zu gehen und die wichtigste Post durchzusehen?“, grummelte Gibbs und
drängte Tony in Richtung von dessen Unterlagen.
Tony war verwirrt, und ohne Widerspruch folgte er Gibbs Blick, hob einen Zettel hoch und
überflog die Worte. „Meine Lungenwerte sind wieder im Normbereich“, fasste er
zusammen. „Und ich…“, durch Tonys Gesicht ging ein Strahlen und stolz hielt er den Zettel,
unterschrieben von Direktor Vance, vor seine Brust, „…bin wieder für den Außendienst
zugelassen.“
Eine weitere Kopfnuss riss ihn aus seiner freudigen Erregung, die ihn sekundenlang fesselte,
und dieses Mal benötigte er keine weiteren Erklärungen.
„Nehm dein Zeug“, zischte er sich selbst zu, griff in Windeseile in seine Schublade, und
bereits im Gehen warf er sich seinen Rucksack über. Gleichzeitig mit seinem Boss kam er am
Fahrstuhl an und blickte in die erfreuten Gesichter seiner Kollegen. Selbst Ziva, die eben
jeden Augenkontakt mit ihm gemieden hatte, schien sich tatsächlich mit ihm zu freuen.
„Willkommen zurück“, Gibbs drückte ihn in den Fahrstuhl. „Toter Marine im Anacostia Park.“
*****
München, 26.07.11, 13:10 Uhr, Ortszeit
Alisar saß auf einem Drehstuhl und ließ die Füße baumeln. Die Blasen waren mit kleinen
Pflastern bedeckt und das Brennen ließ so langsam nach. Ihre Sandalen standen vor ihr auf
dem Tisch. Die Frau, die sie verarztet hatte, schien nett zu sein, war aber bereits vor längerer
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Zeit wieder durch die Seitentür des Büros verschwunden und seitdem nicht mehr
aufgetaucht. Neben ihren Schuhen stand ein Glas Limonade und ein merkwürdiges braunes
Brot, das irgendwie so geformt war, dass es aussah wie eine Schleife. Doch weder Essen
noch Trinken hatte sie bisher angerührt. Alisar sah sich scheu in dem engen Raum um, die
Wände waren weiß und langweilig, die zwei Tische, die sich darin befanden, alt. Ihr
gegenüber saß ein Mann, der beschäftigt auf die Tastatur seines Computers hackte und
immer wieder einen besorgten, kritischen Blick auf sie warf und gewissenhaft alle ihre
Bewegungen und Regungen genau beobachte. Der Typ war Alisar unheimlich, die dunklen
Haare und die buschigen Augenbrauen erinnerten sie an ihren Onkel. Nein, hier würde sie
nie im Leben reden. Das Mädchen presste die Lippe noch fester zusammen und senkte den
Kopf.
Wenn sie doch wenigsten Teddy bei sich hätte. Die Erinnerung an ihren treuen Begleiter
ließen ihre Augen sich wieder mit Tränen füllen und sie zog die laufende Nase hoch. Für
Teddy war keine Zeit gewesen und so hatte sie, ob sie wollte oder nicht, das Kuscheltier
zurücklassen müssen. Und jetzt? Jetzt war sie ganz alleine.
*****
München - 13:30 Uhr Ortszeit
Die Sonne stand hoch am Himmel und die Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn.
Angewidert verdrehte er die Augen, als er um die Ecke bog und die Touristenmassen an den
Bierbänken erblickte. Der Biergarten am Chinesischen Turm könnte so viel schöner sein,
wenn er nicht bei dem kleinsten harmlosen Sonnenstrahl von der großen Menge Menschen
überlaufen und in Beschlag genommen würde und die vorhandene Gemütlichkeit zusätzlich
durch die bayerische Blasmusik, die zu Stoßzeiten vom Turm dröhnte, zerstört würde .
Er liebte es alleine zu sein, Mitmenschen waren ihm ein Graul. Und doch zog es ihn immer
wieder an Orte wie diesen. Mit einem schiefen Lächeln ließ er sich auf einer der eisernen
Parkbänke nieder und lauschte dem Gemurmel und Gelächter der Passanten, die an ihm
vorbeigingen und ihn mit kurzen, nichtssagenden Blicken bedachten, nur um dann gemütlich
weiter zu schlendern. Nichtahnend welchem Monster sie soeben in die Augen geblickt
hatten.
Er war ein Monster. Noch vor einer halben Stunde hatte Ilena ihn angeschrien und ihm
genau das unterstellt. Ein Monster, ein Unmensch. Er seufzte kurz auf und fuhr sich durch
die kurzen braunen Haare. Die Erinnerung an Ilenas entsetzten Gesichtsausdruck, diese
überraschten, angstgeweitete Augen, als er im Keller erschien und sie erkannte, wer hinter
diesem Abenteuer steckte, erfreuten noch immer sein Herz.
Ja, es war ein schöner Morgen gewesen. Ein Morgen, der einer noch besseren und
wunderschönen Nacht gefolgt war. Er konnte noch immer das Blut riechen, spürte weiterhin
die immer kälter werdende Haut unter seinen Fingerkuppen, schmeckte die Süße ihrer
Lippen auf seiner Zunge. Töten war so schön.
Er riss sich aus seinen Gedanken und sah einem Jogger, der gerade mit seinem Hund an der
Leine an ihm vorbeilief, hinterher. War er die Person, die hinten auf dem kleinen Seitenweg
die Abkürzung nehmen und die Leiche finden würde? Oder wurde sie bereits gefunden? Er
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verspürte den leichten Drang aufzustehen, die wenigen Meter hinter sich zu bringen und
einfach nachzusehen, er wollte wissen, ob sein Spiel bereits begonnen hat. Doch es wäre ein
zusätzliches Risiko an den Fundort zurückzukehren. Und er musste vorsichtig sein. Denn
nicht alles war glatt gelaufen.
Sein merkwürdiger Kumpel, der ihm noch ein Gefallen geschuldet hatte, war schlampig
gewesen. Leider. Und er war nur mit Ilena zu ihm zurück gekehrt. Das Kind, die kleine Alisar,
war entwischt. So ein Trottel, ausgerechnet das Mädchen. Er spielte mit einem kleinen
Steinchen vor seinen Füßen und brachte seine innere Wut damit nach außen. Ohne
Vorwarnung schoss er es zur Seite, beinahe hätte er ein kleines Kind am Bein getroffen. Doch
unbemerkt von der möglichen Gefahr, lief die kleine Familie weiter, nur der Junge drehte
sich kurz um und runzelte die Kinderstirn. Doch diesen Blick ignorierte er gekonnt.
Jetzt war herauszufinden, wo die Kleine steckte. Und wenn er ihren Aufenthaltsort kannte,
dann war es ein leichtes an sie heranzukommen. Da war er sehr optimistisch. Schließlich
hatte er etwas, dass die Kleine sofort erkannte und Fremde sicherlich sofort überzeugte.
Sein Grinsen wurde größer, während er sich von der Bank hochdrückte, sein Hemd zurecht
zupfte und sich auf den Rückweg machte. Es war an der Zeit.
******
Washington D.C. - 8:30 Uhr Ortszeit
Die kurze Fahrt zum Tatort verbrachten sie schweigend. Ziva schielte immer wieder unruhig
auf ihr Handy und spielte nervös mit ihren Händen. Vermehrt hatte sie versucht, Ilena und
Alisar in Deutschland zu erreichen, doch bisher ohne Erfolg. Es war lächerlich, sich bereits
jetzt Gedanken zu machen, vermutlich hatte ihre Cousine einfach nur ihr Handy im
Hotelzimmer vergessen und machte sich in diesem Moment einen wunderschönen Tag mit
ihrer quirligen Tochter. Und doch machte sich dieses unruhige, beängstigte Gefühl in ihr
breit.
„Erwartest du einen Anruf?“, fragte Tony seine Kollegin vorsichtig und mit bedacht. Nach der
Situation vorhin im Büro und Zivas merkwürdigen Blick, wollte er sich ihr nicht aufdrängen.
Doch ihre Unruhe blieb ihm nicht verborgen.
„Nein.“ Ziva antworte ihm kurz und knapp und warf einen Blick aus dem Seitenfenster. Was
sollte sie nur tun? Hier, in der Enge des Wagens fühlte sie sich noch unwohler, es gab keine
Möglichkeit, Tony aus dem Weg zu gehen. Nur einen kurzen Augenblick später griff Ziva
erneut nach dem Telefon und wählte Ronalds Nummer. Vielleicht hatte er ja Informationen.
Am anderen Ende wurde sofort das Gespräch angenommen und die nötigen
Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht. Doch auch Ronald war bereits in leichter Sorge, dass Ilena
sich noch nicht bei ihm gemeldet hatte und versprach, sobald er die Nummer der Pension
herausgesucht hätte, dort eine Nachricht für die Vermissten zu hinterlassen.
Ziva wollte das Gespräch schon beenden, als Ronalds Stimme erneut ihre Aufmerksamkeit
verlangte.
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„Wie geht’s Tony?“, fragte er in einem, für seine sonst eher ernste Art, ironischen Tonfall.
„Hat er Kopfschmerzen?“, kicherte er. „Wir haben wohl gestern zu viel getrunken und er ist
am Küchentisch eingeschlafen. Es war ein Bild für die Götter, Ziva, ich habe sogar Fotos
gemacht.“
Jetzt lachte Ziva laut auf und bedachte Tony mit einem kurzen Seitenblick. Dieser zog die
Stirn in Falten und beobachtete ab diesem Moment jegliche Regung in Zivas Gesicht.
„Hast du?“ Durch Zivas Augen floss das altbekannte Funkeln und für einen Moment schien
sie ihre Sorgen vergessen zu haben. „Oh Ronald, McGee wird seine helle Freude daran
haben, schickst du uns die Bilder?“
Tony war verwirrt. Am anderen Ende war doch nicht tatsächlich Ronald, und von welche
Bildern sprachen sie und wieso sollte McGee daran Freude haben. Bis es ihm plötzlich
wieder einfiel. Nein, das durfte Ronald nicht tun, schließlich waren es interne Geheimnisse,
die sein Freund da gerade an seine Kollegen weitergab. Er musste sofort mit ihm reden.
„Gib mir das Telefon, Ziva!“ Seine Worte waren eher einem Befehlston gleichzusetzen, doch
Ziva drehte sich, ungeachtet seiner Anweisung, nur leicht von ihm weg. Ein leichtes
Schmunzeln lag noch immer auf ihrem Gesicht.
Doch Tony gab nicht auf. „Ziva, bitte!“ Er streckte flehend seine Hand aus, doch auch das
bewirkte nur ein Kopfschütteln seiner Kollegin.
„Ja, das scheint ihm nicht zu passen.“ Ziva telefonierte weiter. „Mmh, ja. Klar, kannst du.“
Diese Wortfetzen machten ihn verrückt. Es war Zeit zu drastischeren Methoden
überzugehen. Er löste den Sicherheitsgurt, damit er beweglicher war. Blitzschnell und selbst
für Ziva überraschend, griff er nach dem Telefon und drückte sie mit der anderen Hand an
der Schulter in den Sitz. Selbst erstaunt darüber, dass er so schnell zum Ziel gelangte und sie
ohne weiteren Widerstand das Telefon losließ, blickte er in ihre Augen. Augen, eiskalte
Augen, die ihm ein Schauer über den Rücken laufen ließen und ihn für einen Moment selbst
in eine Starre verbannte.
„Lass mich los“, zischte Ziva und stieß Tony von sich, der noch immer nicht den Blick von
diesen Augen abwenden konnte. Erst Ziva unterbrach den Blickkontakt, drehte sich zur Seite
und starrte wortlos aus dem Fenster.
Tonys Gedanken fuhren Achterbahn. Was war das gewesen? Wieso dieser plötzliche
Stimmungswechsel, für ihn vollkommen grundlos. Ohne sie aus dem Auge zu lassen, hob er
das Telefon an sein Ohr und flüsterte mehr oder weniger nur die Worte: „Ich ruf dich später
an.“
*****
München, 14 Uhr Ortszeit
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Kriminalhauptkommissar Steinberger blickte ungeduldig auf die Uhr. Wenn er auf etwas
Wert legte, dann auf deutsche Pünktlichkeit. Der Großteil seines Teams war bereits
versammelt, nur die Kollegen Neumayer und Schwarz fehlten noch.
„Die Kleine ist ja total süß“, drangen die Worte einer Kollegin an sein Ohr und er wusste
sofort, dass damit das Mädchen gemeint war, das in der Innenstadt gefunden wurde, nun im
Büro von Kommissar Leitner saß und bisher kein Wort redete. Das Kind war
Präsidiumsgespräch Nummer Eins, dicht gefolgt von der Leiche, deren Identität sie
hoffentlich jetzt endlich klären könnten.
„Die Kinderfürsorge ist schon informiert“, grummelte Kommissar Gruber, ein eher dicklicher,
kühl wirkender Mann, dem das Gespräch über das Kind langsam auf die Nerven ging.
„Zumindest ihren Namen könnte sie uns ja mitteilen.“
„Sie scheint doch ziemlich verstört. Sie rührt ja noch nicht mal die Brezen an, oder die Limo.
Wer weiß, was die Kleine durchgemacht hat.“ Grubers Kollegin kniff ihn in die Seite. Sie
kannte die griesgrämige Art ihres Kollegen und wusste dennoch von dem weichen Kern im
Innern des Mannes.
Mit einem bekannte Quietschen öffnete sich die Tür des Konferenzraumes und die letzten
Personen schlichen mit schuldbewussten Gesichert in den Raum. Ihr Boss bedachte sie mit
einem tadelnden Blick und nickte dann der Pathologin, die auf der Fensterseite saß und
bisher ausschließlich in ihren Akten vertieft war und sich nicht am Gespräch beteiligt hatte,
zu und deutete ihr, mit ihrem Bericht zu beginnen.
*****
Die Unsicherheit war der jungen Pathologin anzusehen und sie schluckte schwer. Erst seit
zwei Wochen war sie im Dienst und somit war es ihre erste eigene Leiche. Ihr erster Fall, bei
dem sie die Verantwortung und das Sagen hatte. Doch sie wäre nicht Cornelia Rubin, die
sportliche, ehrgeizige Frau, die sich von nichts und niemanden unterkriegen ließ, wenn sie
jetzt nicht ihre Nervosität schlichtweg zur Seite schob und einen ausführlichen,
verständlichen Bericht abliefen würde.
„Bei der Leiche handelt es sich um eine ca. 30 jährige weiße Frau. Fundort ist allen bekannt?“
Die Pathologin blickte in die Runde und vernahm das kontinuierliche, zustimmende Nicken
aller Kollegen. „ Es handelt sich um eine gut entwickelte, wohlgenährte Frau. Bei der
äußeren Leichenbeschau haben wir festgestellt, dass sie stark geschminkt war, die Schminke
aber durch Tränen und Schweiß eindeutige Spuren hinterlassen hat. So dass wir davon
ausgehen können, dass die Frau mehr als gelitten haben muss. Die Panik stand ihr quasi ins
Gesicht geschrieben.“
Sie suchte den Blick des leitenden Kommissars, der ihr sofort ein motivierendes Lächeln
schenkte und Cornelia spürte, wie die inneren Zweifel sich lösten.
„Die oberflächlichen Verletzungen, nicht sehr tiefe Schnittverletzungen, von nur einem
Messer, sind ihr eindeutig zugefügt worden, als sie noch am Leben war. Doch“, betonte sie,
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„ die Schnitte sind nicht die Todesursache und wir sollten sie vollkommen gesondert von
den, zum Tode führenden Verletzungen betrachten. Vielmehr gehen wir davon aus, dass ein
Gift letztendlich zum Tode der Frau geführt hat. Die Analyse dauert an.“
„Todeszeitpunkt?“, kam die Frage von Kommissar Gruber, der sich am Kopf kratzte und sein
Blick ruhte auf der hübschen, blonden Frau, die mit ihrer freundlichen und doch sachlichen
Stimme vom Tod sprach, als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt.
„Der Todeszeitpunkt liegt schätzungsweise zwischen 1:30 und 3 Uhr. Zum Zeitpunkt des
Fundes war die Leichenstarre noch voll ausgebildet und die Temperaturkontrolle bestätigte
meine Vermutung.“
Es herrschte ein tiefe Stille im Raum und alle Blicke waren auf sie gerichtet.
„Wir konnten das Opfer bisher nicht identifizieren. Ich habe sowohl die Analyse des Blutes,
wie auch die zahnärztliche Analyse in die Wege geleitet. Sobald die Ergebnisse eintreffen,
werde ich sie darüber unterrichten.“
„Führen sie doch bitte gleich einen Abgleich mit dem Blutfleck in dieser Pension durch“,
unterbrach sie Kriminalhauptkommissar Steinberger. „Unsere Kollegen arbeiten gerade
daran, vielleicht gibt es einen Zusammenhang. Und wenn nicht, sollten wir es zumindest
ausschließen.“
Die Pathologin vermerkte es sich auf ihrem Notizblock, legte den Stift zur Seite und atmete
tief durch.
„Jetzt kommen wir zu einem kleinen Rätsel“, seufzte Cornelia und versteifte unbewusst ihre
Schulterblätter. „Wir haben Schnitte, die ihr post mortem zugefügt wurden.“ Sie schob die
Fotoaufnahmen, die sie bisher verdeckt vor sich liegen hatte, in die Mitte des Tisches.
Angestrengt biss sie sich auf die Unterlippe. „Vier einfache Buchstaben N C I S.“
*****
Washington D.C. – 9 Uhr, Ortszeit
Sie arbeitete mechanisch und ohne Regung. Routinemäßig fotografierte sie den Tatort,
fertigte Skizze an und suchte nach winzigen Spuren. Nebenbei kämpfte sie mit den Tränen,
die unaufhörlich versuchten, nach draußen zu dringen. Sie wusste, wenn sie den Kopf heben
und ihn anblicken müsste, ihr Bann würde brechen und vermutlich wäre ihre letzte Rettung
gewesen, wegzulaufen. Doch wie sollte sie dieses Verhalten dann erklären.
„Ziva, nimm die Zeugenaussagen auf.“ Dankbar nahm sie die Anweisung von Gibbs entgegen
und marschierte an den Rand des Tatortes, dort wo das gelbe Flatterband die Schaulustigen
davon abhielt, noch näher an das Geschehen ranzukommen. Etwas abseits an einer
Parkbank saßen zwei Jugendliche, die sich eindeutig für sehr erwachsen hielten, und
sprachen mit einem Polizisten. Ziva tauchte unter dem Absperrband hindurch und ging
zielstrebig auf die Personengruppe zu. Mit jedem Schritt hatte sie das Gefühl, wirklich
wegzulaufen. Und es war ein gutes Gefühl.
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Die Zeugenaussage stellte sich als absolut unwichtig heraus. Die beiden hatten die Leiche
entdeckt, aber nichts annähernd Verdächtiges gesehen. Zumal man davon ausgehen konnte,
dass die Leiche bereits seit der Nacht in dem Gestrüpp lag. Ziva machte Notizen und ließ sich
die Namen geben. Danach schickte sie die Beiden nach Hause. Auch der Polizist ließ sie
alleine auf der Parkbank zurück.
Wie sollte sie Tony die Reaktion erklären? Sie fühlte sich mit seiner abrupten, spontanen
Berührung im Wagen so überrumpelt und sie hatte keine Zeit zum Nachdenken. Ihn so nahe
bei sich zu haben, seine Berührung zu spüren und in seine Augen zu blicken, das alles hatte
sie vollkommen überfordert. Und mit ihrem Verhalten strafte sie ihn, obwohl es doch nur zu
ihrem Schutz war, sie konnte ihm nicht nahe sein. Denn jede Nähe, jede Berührung
bedeutete endlose Sehnsucht, schmerzliche Sehnsucht.
Vielleicht war es doch besser zu gehen, zumindest für eine gewisse Zeit. Vielleicht wäre
Direktor Vance damit einverstanden, sie für ein paar Monate zu versetzen. Nicht für immer,
für diesen Schritt war sie nicht bereit, aber für so lange, bis sie ihre Gefühle wieder im Griff
hatte. Sie war erschöpft und ausgelaugt, die schlaflosen Nächte und die damit verbundene
ständige Übelkeit, die sie in sich spürte, taten ihr übriges. Sie musste handeln, für sich.
„Alles ok?“ Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkt hatte, wie McGee sich
neben sie setzte und sie nun fragend ansah. „Du siehst blass aus, geht’s dir nicht gut?“
Ziva wollte antworten, doch die Worte, die ihren Kollegen beruhigen sollten, wollten einfach
nicht über ihre Lippen. Zumal es ihr wirklich nicht gut ging.
Besorgt legte McGee eine Hand auf Zivas Schulter und musterte sie kritisch. Er machte sich
Sorgen um seine Kollegin, und diese Sorge spiegelte sich in seinem Gesicht. „Soll ich Ducky
holen?“
„Nein“, Ziva schüttelte den Kopf. „Es geht schon wieder.“ Mit den Worten versuchte sie sich
selbst zu überzeugen und drückte sich von der Parkbank hoch.
„Hast du heute schon was gegessen?“ Es war ihm schon seit geraumer Zeit aufgefallen, dass
Ziva abgenommen hatte. Schnell war er an ihrer Seite und griff nach ihrem Arm. Eine nett
gewollte Geste, doch Ziva schüttelte seine Hand weg.
„Ich bin kein kleines Kind, Tim. Mir geht es gut“, zischte sie ihn an und ließ einen, von großer
Sorge erfüllten McGee, am Rande des Tatortes stehen.
*****
München, 14:15 Uhr, Ortszeit
Ilena zerrte seit Stunden erfolglos an den Fesseln, die ihre Handgelenke mit einem
Heizungsrohr verbanden. Das Kellerabteil war stickig und dunkel, nur ein winziger
Lichtstrahl, der durch ein zugehängtes Kellerfenster hereinfiel, ließ sie die Konturen ihrer
Umgebung erahnen. Immer wieder hielt sie inne um sich auf die Atmung zu konzentrieren.
Das Klebeband auf ihrem Mund war mehr als unangenehm und der geringe Sauerstoffgehalt
im Keller und das Atmen durch die Nase, vernebelten ihr zunehmend die Sinne. Doch sie
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sorgte sich weniger um sich, vielmehr waren ihre Gedanken bei Alisar. Hatte das Mädchen es
geschafft, zunächst dem Mann zu entfliehen und dann vielleicht sogar Hilfe zu holen. Bitte,
flehte Ilena in Gedanken, lass mein Kind in Sicherheit sein.
Sie selbst machte sich Vorwürfe. Sie hätte die Anzeichen früher erkennen müssen. Die nicht
versperrte Hotelzimmertür hätte sie stutzig machen müssen, wo sie sich doch so sicher war,
abgeschlossen zu haben. Dieser fremde Geruch im Zimmer. Warum war sie nicht auf der
Stelle umgekehrt und hatte den Raum verlassen? Stattdessen war sie dem bulligen Kerl
direkt in die Arme gelaufen. Und während der Kerl im Begriff war sie k.o. zu schlagen, schrie
sie ihrer Tochter entgegen, sie solle weglaufen. Ilena sog kräftig die Luft ein. Alisar war so
tapfer und gehorsam. Sie sah ihre Tochter noch durch die Tür verschwinden, kurz bevor sie
den Schlag am Kopf verspürte und sich die Dunkelheit in ihr ausbreitete.
*****
München - 14:30 Uhr Ortszeit
Schüchtern schielte Alisar auf die Brezel und die Limonade, die vor ihr auf dem Tisch stand
und sah schnell wieder vor sich auf den Boden, als sie den Blick des Mannes bemerkte, der
sich noch immer nicht in irgendeiner Form von seinem Stuhl erhoben hatte. Beständig tippte
er auf die Tastatur, hin und wieder hielt er inne und fuhr sich mit einem Taschentuch über
die verschwitzte Stirn. Dabei verzog er meist für einen winzigen Moment das Gesicht und
schenkte ihr ein kleines, entschuldigendes Lächeln. Wenn sie nur Teddy dabei hätte, dachte
sie traurig, der würde sich sicherlich trauen dieses Schleifendings zu nehmen und sogar die
Limonade wäre kein Problem. Ihr Magen knurrte schließlich schon seit Ewigkeiten. Zögernd
streckte sie die kleine Hand aus und rutschte einen winzigen Zentimeter vor. Teddy würde
sich auch trauen, Teddy, sprach sie sich innerlich Mut zu.
„Nimm nur“, sagte der Mann freundlich und doch zuckte Alisar erschrocken zurück. Egal was
er sagte, sie verstand diese fremde Sprache ja eh nicht und ihre zuvor aufkeimende
Furchtlosigkeit war mit einem Schlag wieder verschwunden.
Der Beamte bemerkte die prompte Reaktion des Kindes auf seine simplen Worte und am
liebsten hätte er sich selbst einen Tritt in den Hintern verabreicht. Wie dämlich hatte er nun
wieder gehandelt. Er verdrehte angesichts der Tatsache, dass das Kind sich wieder auf
seinem Stuhl zurückzog die Augen und biss sich überlegend auf die Unterlippe. „Traust dich
wohl nicht, was?“, nuschelte er. Dann erhob er sich aus seinem bequemen Schreibtischstuhl
und schob die, von Alisar so sehr ersehnten Sachen, näher zu ihr, bevor er lächelnd den
Raum verließ.
Verwirrt blickte das Mädchen dem unheimlichen Mann hinterher, zog die Augenbrauen
zusammen und hielt nervös die Luft an. Noch im selben Moment, als die große hölzerne Tür
ins Schloss fiel, griff sie nach dem Essen. Ob das Unbekannte schmeckte oder nicht war ihr
vollkommen egal, denn das Essen wurde fast unzerkaut mit großen Schlucken der Limonade
herunter gespült. Sie wusste, sie wäre bestimmt nicht lange alleine hier, der Mann würde
sicherlich gleich zurückkehren. Und was blieb ihr anderes übrig. Weglaufen? Kam nicht in
Frage, stellte sie mit einem Blick auf ihre nackten, mit Pflastern bedeckten Füße fest.
Vorsichtig rutschte sie von dem Drehstuhl runter und schlich zum Fenster. Nach kurzem
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Überlegen fasste sie einen Entschluss. Sie würde sich hier keinen Millimeter vom Fleck
rühren, bis ihre Mama sie abholte, und wenn sie nicht kam, dann zumindest Ronald oder
Ziva. Von ihrem Entschluss beflügelt, verschränkte sie die Arme vor ihrer zierlichen
Kinderbrust und stieß zufrieden die Luft aus. Dann ließ sie sich in einer Nische zwischen
Schrank und Wand auf den Boden gleiten, lehnte den Kopf gegen das Holz und noch bevor
der Mann in das Zimmer zurückkehrte, schlief sie erschöpft ein.
*****
Zur gleichen Zeit blickte Arif Hakim sich um, obwohl er wusste, dass das unsichere Gefühl
absolut nicht nötig war. Das stetige Treiben in dem gut besuchten Kaffeeladen, verschaffte
ihm genügend Deckung. Niemand nahm Notiz von ihm. Zufrieden lächelte er, nahm einen
Schluck seines heißen Filterkaffees und öffnete das schwarze Netbook. Ilenas Netbook. Ach,
er liebte das Leben im vernetzten Zeitalter. Es wäre ein zu leichtes, Ilenas Email-Account zu
öffnen und eine Nachricht an ihre Freunde zu schicken. Sind auf einem Ausflug, Probleme
mit dem Handy, melde mich sobald wir zurück sind. Niemand, absolut niemand würde Ilena
vermissen, oder gar nach ihr suchen. Er lachte laut auf und tadelte sich gleich selbst für sein
Verhalten, unnötige Aufmerksamkeit durch merkwürdiges Benehmen sollte er ja wohl doch
vermeiden. Und diese Mail würde er sicherlich nicht schreiben. Ganz im Gegenteil. Er zog
den USB-Stick aus seiner Hosentasche und betrachtete ihn einen Moment. Darauf befanden
sich seine Schätze, die Bilder dieses kleinen Flittchens, mit dem er die letzte Nacht so große
Freude hatte und noch immer lief ihm bei der Erinnerung das Wasser im Mund zusammen.
Keine Mail von Ilena, nein, für den NCIS hatte er etwas viel besseres. Eine Leiche mit einer
wertvollen Inschrift. Er öffnete die Datei mit den Fotos, loggte sich ins Internet ein und nur
wenige Minuten später war die Mail mit Anhang unterwegs nach Washington D.C..
*****
Washington D.C. – 10 Uhr, Ortszeit
Gibbs hatte seine Augen überall. Und so war ihm auch das merkwürdige Verhalten seiner
Agentin aufgefallen. Ziva schien es wirklich nicht gut zu gehen und ihre blasse Haut und ihre
trüben Augen zeigten eindeutig ihr Unwohlsein. Auch wenn sie vehement versuchte, es zu
verstecken. Zum Glück hatte Direktor Vance sich breitschlagen lassen, Tony wieder in den
Außendienst zu lassen, denn wenn Ziva jetzt auch noch krankheitsbedingt ausfiel, brauchte
er dringend Verstärkung in seinem Team. Sie hatten schließlich einen Mörder zu finden. Und
er wollte sich endlich sorgenfrei um seine Arbeit kümmern.
„McGee und ich fahren mit Ducky im Van zurück ins Hauptquartier“, grummelte der
Chefermittler, nahm sein Capi vom Kopf und fuhr sich durch die grauen Haare. „DiNozzo“, er
deutete dem Agent, zu ihm zu kommen. „Ihr nehmt den Wagen. Du fährst Ziva nach Hause
und kommst dann nach.“ Er drückte ihm den Autoschlüssel in die Hand und wand sich an
Ziva, zeitgleich runzelte er die Stirn. „Und dich, Agent David, will ich heute nicht mehr im
Dienst sehen. Leg dich hin.“
Das hatte ihr gerade noch gefehlt. War es nicht genug, dass alle bemerkten, wie sie sich
fühlte, wie schlecht es ihr ging? Sich zusätzlich wahrscheinlich noch über ihr merkwürdiges
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Verhalten wunderten? Sollte das nicht ausreichen? Jetzt musste auch ausgerechnet Tony sie
nach Hause bringen? Unbewusst schüttelte Ziva den Kopf.
„Gibt es ein Problem, Ziva?“ Gibbs stand ihr gegenüber und beäugte sie misstrauisch.
„Nein, Gibbs. Kein Problem“, brachte sie leise über ihre Lippen und versuchte erst gar nicht,
dem Blick von Gibbs standzuhalten. Stattdessen drehte sie sich um und ging zielstrebig, aber
auf wackligen Beinen zum Wagen.
Tony wollte ihr bereits folgen, als er von Ducky mit einem gezielten Griff um das Handgelenk
gestoppt wurde. „Sieh zu, dass sie sich hinlegt, wickel sie in Wolldecken ein und koch ihr
einen Kräutertee. Sag ihr, ich schau später bei ihr vorbei.“ Der Mediziner machte einen
besorgten und dennoch gefassten Eindruck und erst als Tony durch ein Nicken seine
Anweisungen bestätigte, ließ er ihn wieder los.
Eben noch voller Tatendrang, wurde er nun von Schritt zu Schritt in Richtung des
Dienstwagens, unsicherer. Er war sicher die letzte Person, die Ziva sich wünschte. Und doch
war er froh darüber, dass Gibbs ausgerechnet ihn für den Krankentransport ernannt hatte.
Sein Blick fiel auf Ziva, die zusammengekauert auf dem Beifahrersitz saß, ihren Blick stur
geradeaus gerichtet und die Hände unsicher im Schoß gefaltet.
Die Fahrt verlief schweigend, und der eine fühlte sich unwohler als der andere. Nur hin und
wieder bedachte Tony Ziva mit einem kurzen Seitenblick. Vielmehr um sich davon zu
überzeugen, dass es ihr nicht schlechter ging. Beruhigt stellte er fest, dass Ziva langsam
wieder Farbe bekam und ihre zitternden Hände ruhiger wurden. Erleichtert atmete er durch.
„Was?“, zischte Ziva ihn an, der Tonys Reaktion nicht verborgen blieb.
„Du siehst nicht mehr so aus, als würdest du jeden Moment ohnmächtig
zusammenbrechen“, murmelte Tony kleinlaut und verzog genervt das Gesicht. Warum war
Ziva nur so kompliziert im Umgang mit ihm. Es war ihm einfach nicht ersichtlich, ihre
Reaktionen, ihr Verhalten, ihre üblen Launen. Abrupt stieg er vor einer rot werdenden
Ampel auf die Bremse, normalerweise wäre er noch über die Kreuzung gefahren, doch das
Bremsmanöver kam ihm gerade recht.
Er ließ das Lenkrad los und trommelte nervös mit seinen Fingern auf die Oberschenkel.
Irgendwie war er gerade wütend und auch wenn er wusste, dass es falsch war, ihr
ausgerechnet jetzt, wo es ihr nicht gut ging, Vorhaltungen zu machen, er konnte es nicht
mehr zurückhalten.
„Ich versteh dich nicht, Ziva“, erschrocken nahm er selbst seine laute Stimme wahr und
blickte sie entschuldigend an. Doch Ziva hatte ihren Kopf zur Seite gedreht und ignorierte ihn
komplett. „Ich weiß nicht was los ist. Du bist so …“, er suchte nach den richtigen Worten.
„…anders. Abweisend, so …“, seine Stimme war inzwischen leise und scheu. „…so weit
entfernt.“
Er wartete auf eine Reaktion. Seine ganze Körperhaltung, seine Augen, alles an ihm flehten
nach einer Antwort. Und die Enttäuschung nahm immer größeren Besitz von ihm. Er seufzte
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und lehnte seinen Kopf zurück gegen die Nackenstütze. „Was ist nur passiert?“, fragte er
mehr sich selbst, als dass die Worte an Ziva gerichtet gewesen wären.
*****
München – 15 Uhr, Ortszeit
Kommissar Steinberger fuhr sich frustriert durch die Haare. Außer dieser Kritzelei, wie er
insgeheim die vier Buchstaben auf der Leiche nannte, konnten sie nicht sehr viele
brauchbare Informationen aus der Autopsie ziehen. Und die Warterei nahm kein Ende, er
musste sich gedulden, bis die Proben im Labor ausgewertet waren und hoffte inständig, dass
es Cornelia gelungen war, die Dringlichkeit des Falles deutlich zu machen. Ansonsten würde
es wie immer eine Ewigkeit dauern. Am besten sollte er später mal nachhören, wer genau
zuständig war, seine Beziehungen spielen lassen und der Sippschaft da unten ein wenig
Druck machen.
„Was haben die Vermisstenanzeigen ergeben“, vielleicht gab es dort ja einen Anhaltspunkt,
an dem sie sich entlang hangeln konnten. Doch das Kopfschütteln seines Kollegen raubte
ihm bereits im Ansatz die Hoffnung.
„Es passt keine Vermisstenanzeige, ich bin die Listen bis von vor fünf Jahren durchgegangen.
Niemand scheint diese Frau zu vermissen.“
„Vielleicht ist sie ja noch nicht lange genug verschwunden“, mischte sich Felix Schwarz ein.
„Wenn wir davon ausgehen, dass sie nicht sehr lange in der Gewalt des Täters war, ist sie
erst seit gestern Abend verschwunden.
Steinberger seufzte auf. Auch wenn sein Kollege vermutlich recht hatte, diese Tatsache
bedeutete leider schon wieder, dass sie gezwungen waren, zu warten. Und wenn er etwas
hasste, dann war es warten. Er war ein eher ungeduldiger Mensch, seine innere Energie trieb
ihn stets voran. Er konnte nicht stillsitzen und die Zeit totschlagen. „Habt ihr von den
Anwohnern etwas erfahren?“, seinen leicht frustrierten Tonfall konnte er nicht verbergen.
Felix und seine Kollegin Tanja Neumann schüttelten fast zeitgleich den Kopf und verneinten
die an sie gerichtete Frage. Doch nach einem kurzen, gegenseitigen Blickkontakt, ergriff
Tanja das Wort.
„Bis auf eine schreiende Katze, gegen vier Uhr heute Morgen, ist niemandem etwas
aufgefallen. Alle haben geschlafen. In der Straße stehen aber auch hohe Bäume, es ist
schwierig aus den Wohnungen wirklich auf die Straße zu blicken. Der Täter hat sich einen
guten Ort gesucht, den er ungesehen erreichen und in Seelenruhe die Leiche ausladen
konnte. Er muss sich ausgekannt haben.“
„Leute“, Felix legte die Hände vor sich auf den Tisch und atmete tief durch. „Der Fundort ist
nicht der Tatort. Stimmt, oder?“, er wartete auf das bestätigende Nicken der Pathologin.
„Richtig“, antwortete Cornelia. „Am Tatort gibt es keine Blutspuren. Und auch wenn es
geregnet hat, der Blutverlust muss so stark gewesen sein, dass zumindest Restbestände von
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der Spurensicherung hätten sicher gestellt werden können. Nichts! Wir gehen davon aus,
dass die Verletzungen ihr an einem anderen Ort zugefügt wurden.“
„ Aber warum legt er die Leiche an einem Ort ab, von dem er sicher sein kann, dass die
Leiche schnell entdeckt wird? Und ok, die Straße ist schwer einsehbar, aber dennoch nicht
sicher. Warum bringt er sie nicht in irgendein Waldgebiet außerhalb der Stadt, wirft sie in
den Straßengraben und lässt sie für Tage, Wochen oder gar Monate verschwinden?“
„Unser Täter sucht Aufmerksamkeit und geht gewisse Risiken bewusst ein.“, fasste
Hauptkommissar Steinberger die Aussage seines jungen Kollegen zusammen. „Also machen
wir es uns zu nutzen, halten die Augen und Ohren offen und warten …. auf die Ergebnisse“,
schloss er knurrend die Sitzung.
*****
Washington D.C. – 10:20 Uhr, Ortszeit
‚Du hast mit mir geschlafen, du hast mich geliebt. Wir waren glücklich!‘, schrie sie ihm in
Gedanken entgegen und doch war sie nicht in der Lage, ihren Kopf zu drehen und ihm in die
Augen zu blicken. Zu große Angst hatte sie vor seiner Reaktion, Angst vor einer erneuten
Enttäuschung.
„Was ist passiert?“, fragte Tony nochmals, dieses Mal etwas lauter und die Frage ließ Ziva
erneut zusammenzucken. Verbissen kämpfte sie gegen die Tränen an, die sich in ihre Augen
drängten. Sie verfluchte das Auto, das ihr kein Entkommen ermöglichte, bedachte Gibbs mit
Flüchen, da er sie in diese Situation gebracht hatte, versuchte ihre Gedanken in eine
vollkommen andere Richtung zu lenken und hielt dann doch inne und atmete kurz durch, um
sich zu beruhigen. Sie wusste, dass Tony eine Antwort von ihr erwartete und sicherlich nicht
aufgab, bevor sie den Mund aufmachte. Seine Sturheit war ihr bestens bekannt.
„Zu viel“, kam es leise über ihre Lippen und auch sie legte nun ihren Kopf gegen die
Nackenstütze. Ihr gesunder Teint war wieder einer schillernden Blässe gewichen. „Es ist
einfach zu viel passiert.“
„Warum redest du nicht mit mir, Ziva?“ Zufrieden darüber, dass sie ihm wenigstens
antwortete, legte Tony die Hände zurück aufs Lenkrad und vermied es nach wie vor sie
anzusehen. „Was immer passiert ist, was immer man dir angetan hat, du musst darüber
reden.“
„Ich will aber nicht darüber reden. Ich will mein Seelenleben nicht ausbreiten. Warum kannst
du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“, zischte sie, wohlwissend, dass sie ihn mit diesem Satz
verletzte. Doch irgendwie musste es ihr gelingen, Distanz zwischen sie zu bringen.
„Weil …“ Tony suchte nach den richtigen Worten. „…weil ich nicht will, dass du leidest. Und
verdammt, ich sehe doch, wie schlecht es dir geht und …“ Er biss sich kurz auf die Unterlippe
und versuchte den Satz in Gedanken zu formen, der ihm seit Wochen so schwer fiel. „…und
ich will verstehen, warum du dich mir gegenüber so merkwürdig verhältst. Wieso du mir aus
dem Weg gehst. Warum du bei der kleinsten Berührung zusammenzuckst. Ich weiß, es ist
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etwas passiert und vermutlich war ich anwesend, aber scheinbar willst du nicht, dass ich
mich daran erinnere.“
Die letzten Worte flüsterte er nur noch und auf eine Antwort ihrerseits hoffte er erst gar
nicht mehr. Und doch war es ein gutes Gefühl, ihr zumindest seinen Standpunkt klar
gemacht zu haben. Am liebsten hätte er sie aber in seine Arme gezogen, sie geschüttelt, bis
sie endlich mit der Sprache rausgerückt wäre.
Ziva antwortete zunächst nicht, schloss nur die Augen und kämpfte gegen die Übelkeit, die
sich erneut in energische Wellen in ihr ausbreitete. Natürlich wollte sie, dass er sich
erinnerte. Mehr als er ahnte, und doch konnte sie seine Fragen nicht beantworten. „Ich
kann nicht.“
Tony blickte in das erschöpfte Gesicht seiner Partnerin und ignorierte das Hupen des Autos
hinter ihnen. „Wann immer du reden kannst, ich bin für dich da“, flüsterte er und berührte
sie ganz sachte an der Schulter. Und Ziva ließ die Berührung zu.
*****
München – 15:20 Uhr, Ortszeit
Wenige Minuten nachdem Alisar erschöpft auf dem Boden eingeschlafen war, öffnete sich
die Tür und der Beamte kehrte in Begleitung einer Frau der Jugendfürsorge in das Büro
zurück. Schmunzelnd und zufrieden stellte er fest, dass sein Plan funktioniert und das Kind
etwas gegessen und getrunken hatte.
„Wir haben es echt schon in allen uns bekannten Sprachen versucht“, führte er sein
Gespräch fort und deutete auf das Mädchen, dass zusammengekauert gegen den Schrank
gelehnt, in der Ecke des Zimmers schlief. „Doch scheinbar hat sie ein Schweigegelübde
abgelegt. Sie presst die Lippen aufeinander und gibt keinen Ton von sich.“
„Wo wurde sie gefunden?“, fragte die ältere, grauhaarige Dame. Elisabeth Tumblinger war
eine erfahrene Persönlichkeit, doch ein verlorenes, nicht sprechendes Kind, war ihr bisher
auch noch nicht untergekommen. Der Fall verhieß spannend zu werden.
„Passanten haben sie am Brunnen im Alten Hof entdeckt. Weinend. Und nachdem nach
einer halben Stunde noch immer kein Erwachsener bei ihr aufgetaucht war, haben die
Touristen sie hier ins Polizeirevier gebracht.“ Der Beamte ließ sich auf seinem
Schreibtischstuhl nieder und beobachtete, wie die Frau auf das Kind zuging, vor ihr auf die
Knie ging und ihr behutsam über die lockigen Haare streichelte. Erschrocken öffnete Alisar
die Augen und wischte die Hand über ihrem Kopf weg. Als sie jedoch sekundenspäter zu sich
kam, blickte sie in freundliche, warme Augen.
„He, ich bin Elli“, die Frau streckte dem Kind zur Begrüßung die Hand entgegen, musste aber
feststellen, dass das Mädchen diese Geste ignorierte und seine braunen Augen zu Schlitzen
verengte. Scheinbar schien sie soeben abzuwägen, wie sie reagieren sollte.
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Unsicher warf Alisar einen Blick auf die andere Seite des Zimmers und stellte erleichtert fest,
dass der unheimliche Mann noch immer da war. Somit gehörte die Frau wohl auch hierher
und es war keine Gefahrensituation, in der sie akut handeln musste.
„Schau mal, ich habe dir etwas mitgebracht.“ Elisabeth hielt dem Kind, das sie noch immer
kritisch beäugte, eine Tüte Gummibärchen hin. Damit hatte sie in ihrem bisherigen
Berufsleben immer Pluspunkte bei verlorenen Kindern machen können und schnell ihr
Vertrauen gewinnen können.
Entsetzt riss Aliar die Augen auf und schlug der Frau die Tüte aus der Hand. Gummibärchen.
Seit ihrer Gefangenhaltung in der Wüste mochte sie keine Gummibärchen mehr. Sie waren
ein Zeichen von Gefahr, von Einsamkeit und von Schmerzen. Alisar öffnete zum ersten Mal
seit Stunden den Mund und schrie. Sie schrie aus voller Kehle.
*****
Tanja und Felix verließen soeben das Besprechungszimmer, als das Geschrei über den kargen
Flur des Polizeipräsidiums dröhnte und beide leicht erschrocken zusammenzucken ließ. Die
letzten Worte ihres Chefs ‚Findet heraus, was dieses Gekritzel zu bedeuten hat und kommt
mir ja nicht mit dieser popligen amerikanischen Bundesbehörde – WIR sind hier nicht in
AMERIKA‘ hallte ihnen noch hinterher und war an Lautstärke, ebenfalls wie das panische
Geschrei ein paar Zimmer weiter, nicht zu toppen.
„Was ist denn heut los?“, Tanja verdrehte leicht die Augen und ging schnellen Schrittes den
Flur entlang. Felix folgte ihr auf dem Fuß.
„Das muss dieses Findelkind sein“, murmelte er und grinste vor sich hin. „Zumindest scheint
sie jetzt den Mund aufzumachen.“
„Das ist nicht lustig“, zischte Tanja empört und drehte sich so abrupt um, dass sie mit ihrem
Kollegen beinahe zusammengestoßen wäre. „Die Kleine hat sicherlich große Angst.“ Ohne
Zurückhaltung boxte sie ihrem Gegenüber gegen die Schulter. „Ihr Männer habt null
Einfühlungsvermögen“, schmetterte sie ihm an den Kopf, drehte sich wieder um und stapfte
weiter.
Im Vorbeigehen warf Tanja einen Blick in den Raum und erkannte Elli. Der älteren Frau war
die reine Verzweiflung anzusehen. Sie kniete neben dem dunkelhaarigen Kind und redete
beruhigend auf sie ein. Doch egal was sie sagte, das Kind zeigte keinerlei Reaktion. Sie schlug
mit den Fäusten um sich, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, strampelnd, als ginge es
um ihr Leben.
„Brauchst du Hilfe, Elli?“, zögerlich trat die Kommissarin in das Büro, warf dem Kollegen
einen Seitenblick zu und gesellte sich dann zu der Frau, die unter Aufbietung aller Kräfte
versuchte, den Schlägen des Kindes auszuweichen.
„Ich weiß nicht, was in sie Gefahren ist. Sie lässt sich einfach nicht beruhigen“, der Klang
ihrer Stimme war voller Mitleid und Enttäuschung. Das Kind tat ihr unsagbar leid und wenn
sie etwas hasste, dann das Gefühl, nichts gegen das Leiden eines Kindes tun zu können.
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„Komm“, Tanja deutete der Frau aufzustehen. „Lassen wir sie einen Moment alleine.
Vielleicht hilft das.“ Sie reichte der Frau vom Jugendamt die Hand und zog sie hoch. „Was ist
denn passiert?“
„Nichts!, glaube ich zumindest. Ich habe ihr eine Tüte Gummibärchen hingehalten und sie
fing hysterisch an zu schreien.“ Besorgt sah sie auf den Boden, vernahm aber teilweise
erleichtert, dass das Kind aufgehört hatte zu schreien und nur noch leise vor sich hin weinte.
„Sie mag wohl die Jugendfürsorge nicht besonders“, behutsam strich sie ihren schwarzen
Rock glatt und zog ihren Blazer gerade. „Wie soll ich das nur anstellen, sie kann doch nicht
hier bleiben. Aber so bekomm ich sie doch nie in die Notauffanggruppe.“ Sie seufzte laut und
sah aus dem Augenwinkel, dass das Kind auf ihr Seufzen reagierte.
„Vielleicht mag sie einfach keine Gummibärchen“, mischte sich Felix in das Gespräch ein und
erntete sofort einen bösen Blick der beiden Frauen.
„Na klar, du Besserwisser“, feixte Tanja und verdrehte erneut die Augen.
„Ich mein ja nur, sie schaut die ganze Zeit schon mit diesem hysterischen Blick auf die Tüte“,
rechtfertigte er seine Einmischung, bückte sich, hob die Gummibärchen auf und pfefferte die
Süßigkeit in den Papierkorb. Die Reaktion des Kindes blieb niemandem im Raum verborgen.
*****
Washington, 11 Uhr – Ortszeit
Tony parkte enttäuscht seinen Wagen in der Tiefgarage und stellte erstaunt fest, dass seine
Kollegen mit dem Van noch nicht zurückgekehrt waren. Vermutlich hatte das Verladen der
Leiche doch länger gedauert und wenn er sich recht erinnerte, hatte McGee, als er und Ziva
wegfuhren, noch die leidliche Aufgabe vor sich, die ganzen Materialien des NCIS Teams
einzuräumen. Er war alleine, ohne Zivas und Tonys Hilfe, und mit seiner noch
angeschlagenen Schulter war er sicherlich um mindestens zwanzig Prozent langsamer als
sonst. Also kein Wunder, dass er als erster zum HQ zurückkehrt war, Zivas Wohnung lag
schließlich auf dem Weg.
Ziva. Der Rest der Fahrt war schweigend verlaufen, kein weiteres Wort war gefallen. Seine
Partnerin war nicht weiter auf ihn eingegangen und angesichts der Tatsache, dass es ihr
sichtlich nicht gut ging, wollte auch er nicht weiter auf sie einreden. So hatte er Sekunden
nach der Berührung dem Hupen der nachfolgenden Autos nachgegeben und war
weitergefahren. Er hatte sie in ihre Wohnung begleitet, ihr eine Wolldecke aus dem
Schlafzimmer geholt, ja, ihr sogar den Tee gekocht - ganz nach Duckys Anweisung. Ziva war
ihm währenddessen aus dem Weg gegangen und hatte immer wieder versucht, seinen
besorgten Blicken auszuweichen.
Tony löste den Sicherheitsgurt und gerade als er die Tür öffnen wollte, kam das
Schwindelgefühl, das ihn seit dem Gedächtnisverlust immer wieder überkam, zurück.
Inzwischen hatte er sich an die leichten, kontinuierlich auftauchenden Anfälle gewöhnt und
normalerweise beeinträchtigten sie ihn nicht mehr weiter, doch dieses Mal zwang ihn das
Drehgefühl, seinen Kopf zurückzulegen und die Augen zu schließen. „Hör endlich auf dir
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Sorgen um mich zu machen.“ Immer wieder hallten diese Worte in seinen Ohren und ließen
ein Gefühl in ihm aufkeimen, dass er nicht einzuordnen wusste. Als er Ziva vor einer viertel
Stunde den Tee gebracht hatte, wollte er nur noch ein letztes Mal nachfragen, wie es ihr
ginge und war ernsthaft erschrocken über den kalten, abweisenden Blick und die aggressiv
wirkende Antwort von ihr, er soll sich keine Sorgen um sie machen. Daraufhin war er
gegangen, ohne sich zu verabschieden. Doch in seinem Kopf hallte genau dieser Satz immer
und immer wieder nach und ließ ihn innerlich nicht zur Ruhe kommen. Es war merkwürdig,
denn Zivas Augen und die abweisende Art vorhin, passten einfach nicht zu dem warmen,
freundlichen Unterton, den der Satz in seinen Gedanken aufwies und ihm war, als gehörte
dieser Satz an einen anderen Ort, und in eine andere Zeit. Es war nicht das Hier und Heute.
Tony öffnete die Tür des Hotelzimmers, zog Ziva ins Zimmer und gab der Tür einen kleinen
Schubs, so dass sie von selber wieder zurück ins Schloss fiel. Er schob sie mit dem Rücken
gegen die Tür und erst jetzt blickte er sie an, blickte geradewegs in ihre braunen, beinahe
goldglänzenden Augen.
„Wie geht es dir?“, flüsterte er, während er bewegungslos vor ihr stand. Ziva zögerte,
unsicher welche Antwort Tony von ihr erwartete.
„Gut…“ flüsterte sie. „ Genau genommen fühle ich mich sogar sehr gut. Und jetzt hör endlich
auf, dir Sorgen zu machen.“ Sie legte den Kopf leicht schief und hob ihre Hand zu seiner
Wange. Liebevoll strich sie über sein Gesicht, berührte behutsam sein Kinn und fuhr sanft mit
dem Finger über seine Lippen. Zögernd ließ sie schließlich ihre Finger über seinen Hals in den
Nacken gleiten. Vorsichtig zog sie ihn an sich heran, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick
in seine Augen zu unterbrechen. Sein Mund kam dem ihren immer näher, bis sie sich endlich
berührten.
Er hörte die Worte, vernahm den Klang ihrer Stimme, doch das Geschehen konnte er nicht
festhalten, alles um ihn herum verschwamm und blieb im Dunkeln.
*****
München - 17 Uhr, Ortszeit
Arif Hakims Herz klopfte schnell und mit jeder Stufe, die er weiter in den Keller hinunter
schritt, steigerte sich seine Vorfreude. Der kurze Besuch vorhin hatte seine Sehnsucht nach
Ilena wieder entfacht. Seine hingebungsvolle Liebe, seine exzentrische Leidenschaft, die er
vor ein paar Jahren für die hübsche Israelin empfunden hatte, war mit einem Schlag in ihn
zurück gekehrt. Ilena war seine Frau, seine Geliebte und auch wenn sie nicht das gleiche für
ihn empfand, wie er für sie, so gehörte sie doch ihm. Ihm ganz alleine. Sie war ihm damals
versprochen worden. Ilenas Vater war in der Vergangenheit mit der Heirat einverstanden
und das Wort eines gestandenen Mannes zählte mehr als das einer jungen Frau. Sicherlich,
Ilenas abweisende Art war am Anfang sehr schmerzlich für ihn gewesen und doch hatte er
um sie gekämpft. Verbittert und am Ende einsam. Und auch wenn er irgendwann
akzeptierte, dass Ilena nur Hass für ihn empfand, blieb er innerlich an ihrer Seite und hielt an
der familiären Bindung fest. Es war ihm immer besonders wichtig, gut vor dem Vater seiner
Frau da zustehen. Was ihm auch gelang, in Admin Hamids Augen war er ein guter,
gehorsamer Schwiegersohn, bereit alles zu opfern. Und diese Aufopferung brachte ihm viele
Vorteile. Er hatte gelernt, ohne Ilena zu leben. Mit der Zeit war sie ihm sogar regelrecht
unwichtig, ein Nebenprodukt des Alltags und nur das lästige Kind war ihm manchmal ein
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Dorn im Auge und er empfand sie als ein zusätzliches unnötiges Anhängsel. Mit aller Gewalt
klammerte er sich damals an Admin, unterstützte ihn in seinen Geschäften und erntete im
Gegenzug Lob und Anerkennung von dem alten Mann.
Arif schlug mit der Faust gegen die Steinmauer des Kellers und vernahm wohltuend den
Schmerz, der sich lodernd durch seinen Körper zog. Doch der Schmerz erstickte nur die Wut,
die erneut in ihm aufkeimte. Er war so wütend. Auf Ilena, die ihren Vater verraten hatte, auf
Eli David, der Auslöser allen Übels und vor allem auf den NCIS. Die Bundesbehörde war
Schuld am Tod von Admin Hamid und sofort als er vom Tod des Mannes erfuhr, schwor er
Rache. Und genau jetzt war es an der Zeit, diese Rache zu verüben. Sie alle würden leiden,
um ihr Leben flehen und am Ende um Erlösung betteln. Admin Hamid war sein Lehrer, sein
Tutor, sein Vorbild. Und sein Andenken wollte er wahren.
*****
Vor der Kellertür blieb er stehen. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihn von Ilena, nur
noch wenige Minuten musste er sich gedulden, sie zu sehen, ihr über die Haare zu streichen
und ihren Duft zu riechen. Doch vorher hatte er noch etwas zu erledigen. Er seufzte kurz auf
und ging eine Tür weiter. Ein hämisches Grinsen legte sich auf sein Gesicht und als er den
dunklen Raum betrat, roch es für ihn nach Tod und Sünde. Bilder der vergangen Nacht
kamen ihm in die Erinnerung. Die Augen der Frau, dessen Namen er nicht kannte, waren vor
purem Entsetzen und Panik weit aufgerissen, Tränen drangen ungehindert über ihre Wangen
und verschmierten die dicke Schminke, ihre Schreie wurden durch den Knebel gedämmt und
das Winden ihres Körpers war durch die Droge, die er ihr zuvor im Club verabreicht hatte,
absolut gefahrlos für ihn gewesen.
Neben der blutverschmierten Matratze lag noch das Messer, mit dem er ihr bei vollem
Bewusstsein die kleinen Schnitte am Körper zugefügt hatte. Bei dem Anblick kribbelte es in
seinem ganzen Körper, es war ein schönes Gefühl durch die Haut eines Menschen zu
schneiden. Doch noch schöner war es, hinterher dabei zuzusehen, wie das Blut langsam aus
den Wunden sickerte und die nackte Haut hinunter lief. Früher hatte er das schon öfter
getan, zu oft, denn aufgrund der damaligen polizeilichen Ermittlungen in Israel musste er
zunächst vorsichtig werden, zeitweise sogar ganz untertauchen und hatte danach jahrelang
seinen Drang unterdrückt. Ok, dieses Mal, aufgrund der Tatsachen, dass seine Gedanken und
sein schmerzliches Verlangen so lange in ihm gestaut waren, hatte er am Ende die Kontrolle
verloren und konnte sich nicht zurückhalten, die Frau nicht auch noch zu vergewaltigen,
während sie beinahe verblutete. Ein Fehler, das wusste er, aber eigentlich war es ihm egal,
ob seine Jäger DNS von ihm fanden. Schließlich sollten sie ihn ja jagen und er war überzeugt
davon, dass seine Jäger auch dieses Mal kein Glück haben würden und er wieder
entkommen konnte. Nur um erneut zuzuschlagen. Immer und immer wieder.
Vollkommen in Gedanken, wechselte er das Laken der Matratze, legte das Messer auf das
Regal in der Ecke und richtete die Wasserflasche und das Glas her, dass er am Abend
brauchen würde. Später, wenn die Nacht einbrach, der Club sich im Nebengebäude füllte
und der dumpfe Bass sich durch die Wände zog. Dann wäre Zeit für die nächste Botschaft für
das Team des NCIS.
*****
Washington D.C. – 11 Uhr, Ortszeit
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Ziva wälzte sich auf dem Sofa hin und her. Die Übelkeit hatte sich wieder gelegt, doch ihr
Inneres war noch immer aufgewühlt und sie kam einfach nicht zur Ruhe. War es vorhin ein
Fehler gewesen, hätte sie die Situation nutzen sollen, um Tony reinen Wein einzuschenken?
Doch wie hätte er reagiert? Hätte er ihr geglaubt? Hätte er über sie gelacht oder wäre seine
Reaktion ähnlich der gewesen, die er am ersten Tag im Krankenhaus gezeigt hatte und er
hätte sie von sich gestoßen, entsetzt und voller Panik. Vor seiner Reaktion, die sie nicht
erahnen konnte, hatte sie solch große Angst. Eine weitere Enttäuschung wollte sie nicht
erleben, könnte sie nicht verkraften und sie war sich sicher, hätten seine Augen nur einen
winzigen Hauch an Zweifel gezeigt, sie wäre davongelaufen und vermutlich nie wieder
zurückgekehrt. Sie glaubte ihm, wenn er sagte, dass er für sie da wäre, dass sie jederzeit mit
ihm reden konnte und doch wusste sie, dass die Wahrheit, die sie ihm noch immer
verheimlichte, das freundschaftliche Angebot in Fetzen riss und er dann eben nicht mehr für
sie da sein würde, da er mit seinen eigenen Gedanken, Gefühlen und Probleme zu kämpfen
hätte. Vermutlich bräuchte er dann jemanden an seiner Seite, eine Person, die ihn stützen
und auffangen konnte, doch dazu fühlte sie sich noch nicht in der Lage.
Die Tasse Tee in ihrer Hand war längst abgekühlt und sie trank ihn in kleinen Schlückchen.
Die lauwarme Flüssigkeit lief ihren rauen Hals herunter und wärmte von innen. Was dachte
Tony jetzt von ihr? Er war einfach gegangen, verständlicherweise, hatte wortlos ihre
Wohnung verlassen. Enttäuscht, verwirrt und vermutlich innerlich zerrissen. Kein Wunder,
nachdem sie ihn mal wieder unsanft auf Abstand gebracht hatte, ihm deutlich zu verstehen
gab, dass sie seine Nähe nicht wollte. Doch auf die Frage, wie es ihr ginge, konnte sie nicht
anders reagieren. In diesem Moment spürte sie seine Hände auf ihrer Haut, sie schmeckte
seine Lippen, die zärtlich mit den ihren spielten, sie sah seine grünen Augen, die sie besorgt
und glücklich ansahen, während er sie zum Bett zog. Er … ‚Verdammt – hör auf‘, rief sie sich
in Gedanken selbst zur Ordnung, stellte die Tasse auf dem kleinen Wohnzimmertisch ab und
griff zum Telefon. Wie bereits unzählige Male in den letzten Stunden, wählte sie Ilenas
Nummer und als wieder nur die Stimme der Mailbox ertönte, erinnerte sie sich an die Sorge
um Ilena und Alisar. Wo steckten die beiden nur?
*****
Washington D.C. – 11:30 Uhr, Ortszeit
Eine halbe Stunde später traf auch das restliche NCIS-Team im Hauptquartier ein. Gibbs ging
wortlos an seinen Schreibtisch, während McGee einen besorgten Blick zu seinem Kollegen
warf, der vollkommen in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch saß und Zivas Platz
anstierte.
„Wie geht es ihr?“ McGee blieb bei Tony stehen und deutete mit dem Kinn in Zivas Ecke.
Doch Tony antwortete nicht und hob nur unsicher die Augenbrauen. ‚Ich soll aufhören, mir
Gedanken zu machen‘, rumorte es in seinem Kopf. Tim wartete noch einen Moment, doch
Tony zeigte weiterhin keine ersichtliche Reaktion, und schulterzuckend, soweit dieses
Schulterzucken möglich war, ging dann zu seinem eigenen Schreibtisch. Erschöpft ließ er sich
auf den Stuhl sinken, startete sein Mailprogramm, verstaute währenddessen Marke und
Waffe in seiner Schublade und strich behutsam über seine schmerzende Schulter.
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„Tony, ich will wissen, wer das Opfer ist“, grummelte Gibbs. „Geh runter und hilf Abby. Lasst
die Gesichtserkennung durchlaufen. Es ist merkwürdig, dass das Opfer in Navyuniform
gekleidet ist und wir keine Fingerabdrücke von ihm im System haben. Irgendwas stimmt da
ganz und gar nicht. Und McGee, du…“
„Ähm Boss“, unterbrach McGee die Anweisungen von Gibbs und starrte auf seinen
Bildschirm. Seine gesunde Sichtfarbe war einem aschfahlen Teint gewichen. „Ich glaube, wir
haben da ein Problem.“ Seine merkwürdige Stimme ließ sowohl seinen Chef, als auch Tony
aufmerksam den Kopf heben und in seine Richtung sehen. Währenddessen lief dem jungen
Agenten ein kalter Schauer nach dem anderen über den Rücken und ließen seine Finger
zittern. „Wir haben eine Email bekommen“, flüsterte er beinahe unhörbar und fühlte sich
nicht fähig, seinen Blick vom Grauen vor sich zu lösen.
Wenige Sekunden später starrte nicht nur McGee auf den Bildschirm, auch die beiden
anderen Männer standen an jenem Schreibtisch, blickten über die Schultern ihres Kollegen
und waren zu keinem Wort mehr in der Lage. Tony schluckte schwer und in seinen Augen
blitzte so etwas wie Ekel und dramatische Abscheu auf. Gibbs Miene hingegen blieb
versteinert, sein Mund stand offen. Vor ihnen auf dem Computerbildschirm war eine
Schwarzweißfotografie abgebildet. Das Foto einer jungen Frau, nackt, mit zahlreichen
Schnittverletzungen am ganzen Körper, die Augen friedvoll geschlossen, doch der Tod war
ihr ins Gesicht geschrieben. Doch nicht der Anblick der Frau versetzte die Männer in diese
Art Schockzustand, denn Leichen hatten sie alle wahrlich schon genug gesehen. Heraus
stachen die Schnittverletzungen auf dem Bauch der Frau. Jemand hatte die Buchstaben
eindeutig absichtlich in das weiße Fleisch geritzt. Vier Buchstaben, die unweigerlich eine
Verbindung zu ihnen selbst zeigte und damit klar aufwiesen, dass sie an diesem Tod wohl
nicht unschuldig waren. NCIS.
„Habt ihr einen Geist gesehen?“ Ronald war unbemerkt in den Teambereich getreten und
sah verwirrt in die noch immer erstarrten Gesichter seiner Kollegen. Eigentlich wollte er zu
Ziva, um von seinen misslungenen Versuchen zu berichten, Ilena zu erreichen. Laut Aussage
des ihm bekannten Hotels, war es wohl zu einer Fehlbuchung gekommen und Ilena und ihre
Tochter mussten gestern in ein anderes Hotel ausweichen. Weitere Angaben konnte die
Rezeptionistin in Deutschland nicht machen und Ronalds eigene Recherche hatte bisher
nichts weiter ergeben.
Tony riss sich als erstes vom Bildschirm los und blickte Ronald, noch immer verwirrt und
sprachlos, entgegen. Er schüttelte langsam den Kopf. „Keinen Geist, aber eine tödliche
Botschaft“, murmelte Tony und ging zurück zu seinem Platz, ließ sich langsam auf seinen
Stuhl zurückgleiten und biss sich überlegend auf die Unterlippe.
„Finde heraus, wo die Email herkommt“, knurrte Gibbs. „Sofort!“ Den Besuch in der Mitte
des Abteils ignorierte er und eilte an Ronald vorbei. „Ich brauch einen Kaffee. Du hast fünf
Minuten Zeit, McGee. Danach will ich Ergebnisse.“
Ronald blickte dem Teamleiter hinterher, rümpfte die Nase und drehte sich dann zurück zu
McGee, der gerade panisch mit den Fingern zuckte und krampfhaft zu überlegen schien, was
er als erstes tun sollte.
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„Ich schick das Foto nach unten zu Abby“, übernahm Tony das Reden. „Sie soll es auf
Echtheit überprüfen. Vielleicht ist es ja nur eine verdammt gute Fotomontage und
irgendjemand macht sich gerade königlich über uns lustig.“
Ronald sah von McGee zu Tony und wieder zurück. Sein eigenes Anliegen war vermutlich
gerade so unwichtig wie ein Staubkorn, das sich leise und unbemerkt auf der Regalwand
absetzte. Und insgeheim schlich sich ein schlechtes Gewissen in seine Gedanken, gerade
jetzt an jenem Ort aufgetaucht zu sein.
„Was willst du?“, kam es mehr höflich, als ernsthaft gemeint von Tony, der bei den Worten
noch nicht mal aufblickte. Und somit verwarf Ronald sein eigentliches Vorhaben, beteuerte
die Unwichtigkeit und verabschiedete sich mit den Worten, später nochmal vorbei zu sehen.
*****
München - 17 Uhr, Ortszeit
Es war schon ein lustiger Anblick, der sich Tanja Neumayer gerade bot. Vor ihr auf dem
Boden saß ihr nerv tötender Kollege Felix, im Schneidersitz, seine abstehenden Haare
verwuschelt und verzog sein Gesicht zu immer wieder neuen Grimassen. Es war ihm
tatsächlich gelungen, das schreiende, weinende Kind zu beruhigen. Nachdem er die Tüte mit
den Gummibärchen in die Papiertonne geworfen hatte, das Kind daraufhin erleichtert
aufgeatmet hatte, war er vor dem Mädchen auf die Knie gegangen und hatte theatralisch in
seinen Hosentaschen gewühlt, nur um dann mit einer gespielt verwunderten Miene ein
Päckchen Kaugummi herauszuziehen. Er zog einen Streifen heraus, wickelte das silbrige
Papier ab und steckte den Kaugummi genüsslich in seinen Mund, nur um sekundenspäter die
Packung dem Kind, das seither jede Handlung des Mannes genau und kritisch beobachtete,
entgegenzustrecken.
Alisar legte nun den Kopf schief und betrachtete das weiße Päckchen in der Hand des
Mannes, der schon ein wenig merkwürdig war. Aber er hatte die Gummibärchen beseitigt
und allein diese Tatsache machte ihn ihr sympathisch und sofort wurde er in ihrer Liste als
ungefährlich eingestuft. Das Päckchen allerdings sah so ähnlich aus, wie die gelbe Packung,
die sie damals gemeinsam mit ihrer Freundin Emely aus der Tasche dieses Teenagers
gemopst hatte. Emely , das nette Mädchen, das sie in den letzten Wochen in Amerika
kennen lernte, hatte ihr bei einem Treffen gezeigt, wie man das essbare Zeug, welches Alisar
zu diesem Zeitpunkt noch absolut unbekannt war, erst weich kaute und hinterher lustige
Blasen damit machen konnte. Es war witzig gewesen und die beiden Mädchen hatten
stundenlang, beinahe den ganzen Nachmittag, hinter einem Busch gesessen und gekichert.
Besonders als die Blase einmal platzte und sich klebrig über Alisars Gesicht und Nase legte.
Unbewusst rieb Alisar mit dem Handrücken über ihr Gesicht und es war ihr eindeutig
anzusehen, wie sie die verschiedenen Möglichkeiten ab wägte. Doch dann griff sie nach den
Kaugummis und zwinkerte dem Mann zu, der ihre Reaktion freundlich nickend hinnahm und
ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte. Der Bann war gebrochen.
*****
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München – 18 Uhr, Ortszeit
Sie hatte seine Anwesenheit längst gespürt und die leisen Geräusche im Nebenraum gehört.
Er war zurückgekehrt. Ilena hörte auf, an den Fesseln zu zerren und wunderte sich kurz,
warum sie innerlich plötzlich so ruhig war. Vielleicht weil ihr diese Besuche so vertraut
waren, auch wenn die Tatsache, dass sie hier gefesselt am Boden saß, nicht dazu gehörte,
aber die unliebsamen Besuche von Arif Hakim gehörten zu ihrem Leben. Sie waren
Gewohnheit, ständige Begleiter. Und irgendwann in der Vergangenheit hatte sie sich damit
abgefunden, hatte aufgehört, sich dagegen zu wehren und eine Möglichkeit gefunden, ihren
Körper ruhig zu halten, während ihre Gedanken in die Ferne schweiften, an einen
friedlichen, schönen Ort. Ihr Blick haftete am Türgriff, den sie gerade noch im leicht
dämmrigen Licht ausmachen konnte. Ihr Atem ging ruhig.
Arifs Atem hingegen ging beinahe stoßweise, als er vor der Tür zum Kellerabteil stehen blieb.
Mit dem Handrücken wischte er sich die Schweißperlen weg, die sich, mehr aus Vorfreude,
als wegen körperlicher Anstrengung, auf seiner Stirn gebildet haben. Die Hitze des Tages
war noch nicht in den steinernen Keller vorgedrungen, eine angenehme Kühle lag in der Luft
und doch glühte sein Körper vor Verlangen. Er fühlte sich wie im Fieber. Er nahm einen
tiefen Atemzug und mit zitternden Händen steckte er den Schlüssel in das Schlüsselloch,
drückte den Türgriff herunter und öffnete die knarrende Tür.
Ilena blickte ihm entgegen. Denn der Augenkontakt war das Einzige, das ihr geblieben war,
die letzte Möglichkeit, ihm zu zeigen, dass er es nicht schaffen würde, sie zu brechen. Auch
dieses Mal nicht. Nie. Sie war stark und ganz egal, was er in der Vergangenheit getan hatte,
was er heute tat und was er auch in Zukunft tun würde, ihr Inneres gehörte ihr. Er konnte
ihren Körper haben, aber sie würde ihm keine Macht über sie geben.
„Ilena“, seine Stimme kratzte und er musste sich räuspern. Freundlich lächelte er ihr
entgegen, während er mit der Hand nach dem Lichtschalter tastete. Das grelle Licht der
Röhre flimmerte auf, blitze für einen Moment, bevor es den Raum dann vollkommen
erhellte und er sie genau sehen konnte. Ilena, seine Frau, wunderschön. Sie sah ihm
entgegen, mit dem bekannten leeren Blick, in dem immer wieder der Hass und der Ekel
aufblitzten. Die wirren Haare hingen ihr ins Gesicht, verhüllten ihre Schönheit und fielen mit
leichten Locken über das weiße Oberteil. Arif legte den Kopf ein wenig schief und
betrachtete sie ausgiebig. Dann ging er auf sie zu, zog sie beinahe zärtlich am Kinn nach
oben, bis sie vor ihm stand. Den Augenkontakt hatte er für keine Sekunde unterbrochen.
Ilena sah alles wie ein Film vor ihren Augen ablaufen. Arif kam auf sie zu, zog sie nach oben,
seine Hand wanderte von ihrem Kinn zu ihrer rechten Wange. Mit einem Ruck riss er ihr das
Klebeband vom Mund. Jetzt. Sie hätte schreien können, sicherlich, aber sie wusste, welche
Auswirkungen es gehabt hätte. Und stattdessen zog sie nur die Luft in ihre bebenden
Lungen, registrierte die Finger, die ihr die Haare aus dem Gesicht strichen, spürte seinen
heißen Atem, als Arif ihr mit seinem Gesicht näher kam und sie küsste.
„Ilena“, flüsterte Arif wieder und sog ihren Duft tief in sich. Endlich konnte er ihr wieder
nahe sein, sie riechen, sie schmecken. Das Zittern seiner Hände hatte sich gelegt, ihre Nähe
tat ihm so gut, beruhigte ihn. In dem Moment, als seine Lippen die ihren berührten, fühlte er
sich himmlisch. Seine Träume der letzten Monate sollten in Erfüllung gehen, sein Verlangen
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endlich gestillt werden. Seine Hände wanderten von ihrem Gesicht ihren Hals entlang,
berührten ihre Brüste, strichen über ihre Taille, umarmten ihren Körper und zogen sie immer
näher an sich.
Ilena wehrte sich nicht. Wehren bedeutete Schmerzen. Arif würde sich nehmen, was immer
er sich nehmen wollte. Anfangs, ja zu Beginn ihrer Beziehung, da hatte sie sich gewehrt,
geschrien, getreten und um sich geschlagen. Ja, sie hatte ihm sogar in die Zunge gebissen. Im
ersten Moment hatte sie sich dadurch stark gefühlt, doch hinterher hatte sie es bitter
bereut. Immer wieder. Schnell hatte sie gelernt, dass sich wehrlos ihm hinzugeben weniger
schmerzhaft war und alles andere ihn nur dazu anturnte, sich noch schlimmere Sachen für
sie zu überlegen. Und so war es auch heute. Ohne sich zu rühren, ließ sie es zu, dass seine
Hände über ihren Körper wanderten, die Knöpfe ihrer Bluse öffneten, den Spitzen-BH
zerrissen und ihre Jeanshose nach unten streiften. Ihre Augen waren geöffnet und wenn sie
seinen Blick nicht einfangen konnte, weil seine Lippen und seine Zunge über ihren nackten
Körper fuhren, stierte sie an die gegenüberliegende Wand. Erst in jenem Moment, als er
stöhnend in sie eindrang, zuckte sie kurz zusammen.
*****
Washington D.C. – 12:30 Uhr, Ortszeit
Ziva stand im Badezimmer vor dem Waschbecken und starrte minutenlang ihr verheultes
Spiegelbild an. Die Übelkeit hatte sich wieder vollkommen gelegt, doch nach wie vor fühlte
sie sich müde und ausgelaugt. ‚Kein Wunder‘, rief sie sich ins Gedächtnis, ‚du hast drei
Nächte lang nicht geschlafen‘. Das kalte Wasser lief über ihre Handgelenke, bevor sie sich
nach vorne beugte und ihr Gesicht benetzte. Gerade als sie nach dem Handtuch griff, um
sich abzutrocknen, klingelte es an der Wohnungstür.
Sie schmiss das Handtuch achtlos in die Ecke des Badezimmers. Fuhr sich auf dem Weg in
den Flur durch die Haare und öffnete die Tür. Sie stand einem ruhelosen Ronald gegenüber.
Das Gesicht ihres Kollegen verriet auf den ersten Blick, dass er keine guten Neuigkeiten
hatte. Ziva trat zur Seite und deutete ihm, ins Wohnzimmer zu gehen.
„Du hast immer noch nichts von ihr gehört?“, ihre Frage klang mehr nach einer Feststellung
und Ronalds wortloses Kopfschütteln bestätigte ihre Vermutung.
„Ich war eben schon im HQ. Aber die scheinen ziemlich beschäftigt zu sein. Am Empfang
haben sie mir gesagt, dass du nach Hause bist. Geht´s dir nicht gut?“ Ronald setzte sich auf
die Lehne des Sofas und blickte sie besorgt an.
„Geht schon wieder“, winkte Ziva ab. Denn eigentlich fühlte sie sich wieder gut. Außer der
ständig aufkeimenden Übelkeit fehlte ihr nichts.
„Hast du McGee gebeten, ihr Handy zu orten?“ Ziva lehnte sich gegen die Tischkante des
Esstischs und verschränkte die Arme vor ihrem Körper.
„Dazu hatte ich keine Gelegenheit. Es kam irgendeine Mail, alle haben auf den Bildschirm
gestarrt. Dann sind sie auseinander geschwirrt, wie ein aufgescheuchtes Bienenvolk. Gibbs
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grummelte irgendwas wie ‚du hast fünf Minuten McGee‘. Und ich hielt es für besser, mich
aus der Schusslinie zu schlagen.“ Mit einem Schulterzucken beendete er seinen Satz. „Ich
dachte, vielleicht kannst du ….“
Ziva runzelte die Stirn. Sie konnte nicht verstehen, was an dem aktuellen Fall, bei dem sie
heute Morgen noch selbst Zeugenaussagen aufgenommen hatte, so aufreibend war, dass
das Team in eine solche Hektik verfallen konnte. Sie griff zu ihrem Telefon, welches neben
ihr auf dem Tisch lag, nickte Ronald kurz zu und drückte die Kurzwahltaste. Am anderen
Ende meldete sich McGee.
„Was ist los bei euch?“, ohne Begrüßung stellte sie sofort die Frage, hörte genervt der
Schimpftriade zu, sie sei krank und solle sich ins Bett begeben. Und erst nachdem sie
glaubhaft versichern konnte, dass es ihr gerade gut ginge, ließ McGee sich dazu überreden,
sie auf den neusten Stand zu bringen. Er erzählte von der Email, von dem Foto mit der toten
Frau, das inzwischen von Abby als ‚echt‘ befunden wurde und von den vier Buchstaben, die
in das Fleisch geritzt waren. Er vermittelte ihr das Entsetzen, das mit Erhalt der Mail
aufflammte und sich seitdem hier ausbreitete. Er erwähnte seine zahlreichen vergeblichen
Versuche, die Email zurück zu verfolgen. Ziva hörte, wie ihr Gesprächspartner nebenbei
weiter und unaufhörlich auf die Tastatur einhämmerte. ‚Das hörte sich alles andere als gut
an‘, lag ihr auf der Zunge. Doch bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie durch die Leitung
das Geräusch, welches signalisierte, dass es ein Suchergebnis gab. Am anderen Ende war es
mit einem Schlag totenstill.
„Und, McGee?“, flüsterte sie nach sekundlangem Schweigen. „Sag was“, fügte sie noch
zögernd hinzu, schluckte schwer und hörte wie in Trance die Antwort. Die Mail wurde in
München abgeschickt.
„Ilena ist in München“, Zivas Stimme war mehr ein Wispern und ihre Augen spiegelten eine
grausame Vorahnung. „Sie ist verschwunden, wir können sie seit gestern nicht mehr
erreichen.“
*****
Washington D.C. – 13.15 Uhr, Ortszeit
Eine knappe dreiviertel Stunde später lief Ziva unruhig im Büro von Schreibtisch zu
Schreibtisch, blieb immer mal wieder kurz stehen, atmete tief durch und spielte dabei nervös
mit ihren Fingern. Die Ungeduld war ihr quasi ins Gesicht geschrieben und das Adrenalin
hatte eindeutig wieder die Oberhand über ihren Körper und ihren Geist gewonnen, sie
wirkte weder kränklich, noch bedrückt. Zwar achtete sie die ganze Zeit über penetrant
darauf jeglichen Augenkontakt zu Tony zu vermeiden, aber ihr Blick wanderte immer wieder
zurück zur Fensterfront, wo Ronald, mit dem Rücken gegen die Scheibe gelehnt, besorgt vor
sich hin starrte.
„Wo bleibt Gibbs denn?“, wiederholte Ziva die Frage, die sie bereits vermehrt gestellt hatte.
„Er ist jetzt schon eine Ewigkeit bei Direktor Vance.“
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„Ziva“, setzte McGee gerade zur Antwort an, als er Zivas Reaktion bemerkte. Er folgte ihrem
Blick und entdeckte ebenfalls Gibbs der soeben die Treppe herunterkam. Ziva schien die Luft
anzuhalten und erst als Gibbs neben ihr zum Stehen kam, sah sie ihn an.
„Tony pack deine Sachen, in drei Stunden geht unser Flug“, kam es prompt von dem
Teamchef. Er blickte sich im Raum um, nickte kurz Ronald zu und wandte sich dann wieder
an alle. „DiNozzo und ich fliegen nach München. McGee du koordinierst und steuerst von
hier aus den Einsatz. Hier haben wir vermutlich auch die bessere Technik“, fügte er noch
hinzu und wollte bereits wieder gehen, als Ziva sich ihm unsanft in den Weg stellte.
„Was ist mit mir?“ Ihre Augen funkelten und auch wenn sie unnötigerweise noch die Frage
an Gibbs stellte, kannte sie für sich ihre Antwort schon längst.
„Du bist nicht fit, Ziva. Du gehst nach Hause“, knurrte Gibbs und versuchte an seiner Agentin
vorbei zu kommen. Mit dieser Diskussion hatte er bereits gerechnet und so schwer es ihm
auch fiel, er musste zugeben, dass er schon jetzt wusste, dass er am Ende sicherlich verlieren
würde. Die Entschlossenheit in Zivas Augen ließ diesbezüglich keine andere Schlussfolgerung
zu. Sie würde mitkommen und wenn er es ihr verbieten würde, würde sie gegen den Befehl
verstoßen und auf eigene Faust nach Deutschland fliegen. Er spürte den haltvollen Griff an
seinem Handgelenk, fest und bestimmend, zu keinem Kompromiss bereit. Daraufhin atmete
Gibbs tief durch. „Ok“, flüsterte er leise und spürte, dass Ziva den Griff leicht lockerte.
„Unter einer Bedingung…“, er schielte auf Zivas Hand, die daraufhin sofort losließ. „Du gehst
runter zu Ducky, du lässt dich durchchecken und wenn er sein ok gibt, dann und wirklich nur
dann, nehm ich dich mit.“ Er wartete einen kurzen Moment, bis er ein bestätigendes Nicken
von seiner Agentin vernahm. „Ich werde in der Zwischenzeit Kontakt zu der Münchner
Behörde aufnehmen und erste Informationen einholen.“
*****
München - 18.30 Uhr, Ortszeit
Tanja Neumeyer kehrte alleine zu ihrem Schreibtisch zurück. Noch immer musste sie grinsen,
wenn sie sich das Bild ihres Kollegen, der im Schneidersitz auf dem Boden saß und mit dem
verwaisten Kind “schnick, schnack, schnuck“ spielte, ins Gedächtnis rief. Das Mädchen war in
der letzten halben Stunde sehr zutraulich geworden, zumindest Felix gegenüber, denn
gegenüber Elli verhielt sie sich nach wie vor sehr unsicher und beinahe aggressiv. Und noch
immer schwieg das Kind. Zwar hatten alle den Eindruck, dass das Mädchen die englische
Sprache verstand, doch statt zu antworten, presste sie vehement die Lippen zusammen. Es
sah fast so aus, als hätte ihr jemand das Reden verboten. Doch egal, sie musste sich endlich
wieder auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren. Auch wenn ihr Kollege ihr jetzt keine große
Hilfe war, denn alle Kollegen im Präsidium waren froh, dass endlich jemand das Kind
beruhigen und sogar beschäftigen konnte.
Tanja ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl nieder und verschränkte die Arme vor der Brust. N
C I S, die vier Buchstaben ergaben in ihrem Kopf einfach keinen Sinn, außer natürlich die
bekannte amerikanische Bundesbehörde. Doch da musste sie ihrem Chef recht geben, es
war doch äußerst unwahrscheinlich, dass man es hier in Deutschland mit einer Leiche zu tun
hatte, bei der es in irgendeiner Weise eine Verbindung in die USA gab. Womöglich war es
eine Abkürzung eines neuen Clubs, oder einer Firma. Sie musste das Internet durchforsten
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und womöglich wäre sie bis morgen früh mit den Recherchearbeiten beschäftigt. Aus dem
geplanten frühen Feierabend sollte wohl nichts werden.
Behutsam blätterte sie die Notizzettel der Zeugenbefragungen vom Vormittag durch,
solange sie darauf wartete, dass der Computer endlich hochfuhr. Im gegenüberliegenden
Zimmer, am Schreibtisch von Kriminalhauptkommissar Steinberger klingelte das Telefon und
Tanja lehnte sich in ihrem Stuhl ein wenig zurück. Dadurch konnte sie ihren Chef sehen, der
sich müde, aber dennoch konzentriert durch die grauen Haare fuhr und dann den Hörer
abnahm. Vielleicht gab es erste Ergebnisse aus der Pathologie, schoss es Tanja durch den
Kopf und als sie den nachdenklichen Gesichtsausdruck ihres Chefs erkannte, stand sie auf,
um zu ihm zu gehen. Steinberger winkte sie heran.
„Ja, natürlich bin ich bereit mit ihm zu sprechen.“ Er deutete Tanja, sich ihm gegenüber zu
setzen. „Können Sie mir vorab sagen, worum es geht?“
Tanja beobachtete die Mimik ihres Chefs, die immer nachdenklicher wurde. Er öffnete seine
Schublade und zog seinen großen Notizblock hervor. „Ja, ich warte.“ Er klemmte den Hörer
zwischen Schulter und Kinn und die nächsten Worte flüsterte er seiner Kollegin zu. „Da will
uns jemand vom NCIS aus Washington sprechen.“
*****
München -18.30 Uhr
Zur gleichen Zeit zog Arif Hakim die Tür des Kellerraums hinter sich ins Schloss. Noch immer
fühlte er sich befreit und das erste Mal seit langer Zeit fühlte er sich in gewisser Weise auch
befriedigt. Wahrhaft befriedigt. Ilena hatte sich nicht gewehrt, hatte sich ihm hingegeben, so
wie er es in der Vergangenheit gewohnt war. Ja, es war wie früher, er fühlte sich schlichtweg
zurückversetzt in die Vergangenheit. Seine Frau war während des sexuellen Akts gewohnt
still gewesen, hatte ihn willenlos machen lassen, was und wie er wollte und erst als er sich
aus ihr zurückzog, seine Jeans wieder nach oben zog und sein Hemd richtete, stellte sie die
Frage, auf die er schon von Anfang an gewartet hatte. Doch statt darauf zu antworten, wo
Alisar sei, hatte er sie nur hämisch angegrinst und die Panik in ihren Augen genossen. Zwar
war seine Tochter verschwunden und nicht in seiner Gewalt, aber das musste Ilena ja nicht
unbedingt wissen. Sollte sie sich doch Sorgen machen.
Ilena ließ sich an der rauen Mauer herab gleiten. Ihr Körper schmerzte, doch nicht weil er ihr
körperliche Schmerzen zugefügt hatte, sondern weil sie sich bis eben vollkommen
verkrampft auf den Beinen gehalten und dagegen gewehrt hatte, vor Arifs Augen erschöpft
zusammenzubrechen. Sie wollte ihm auf keinen Fall Schwäche zeigen. Ihm wollte sie die
Stirn bieten, auch wenn sie wusste, dass sie ihm weit unterlegen war. Jetzt, wo sie alleine
und nackt im Keller zurückblieb, konnte sie ihren Emotionen freien Lauf lassen. Die
zurückgehaltenen Tränen flossen in Strömen über ihre Wangen und tropften auf den kargen
Betonboden unter ihr. Ihre Gedanken kreisten einzig und allein um Alisar. Arifs Reaktion auf
ihre Frage, ließ sie die schlimmsten Vermutungen aufstellen. Was wenn das Kind tatsächlich
in seiner Gewalt war? Alisar kannte zwar ihren Vater, jedoch war sie ihm vor drei Jahren das
letzte Mal begegnet und Ilena wusste nicht, ob das Kind überhaupt noch Erinnerungen an
Arif hatte. Die letzten Jahre, die Arif nicht in Israel, sondern in Europa verbrachte, hatte sie
inständig darauf gehofft, dass Alisar zumindest diesen miesen Teil ihrer Vergangenheit für
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immer vergessen könnte. Doch wenn sie ihm jetzt, in ihrem jetzigen Alter, in dem Erlebtes
bereits im Gedächtnis gespeichert wird, begegnete und er sich im Verhalten ihr gegenüber
nicht geändert hatte, würde es schwere Auswirkungen haben. Ilena zog die Bein ran und
lehnte ihren Kopf auf die Knie. Es gab keine Hoffnung. Sie hatte einen verheerenden Fehler
gemacht.
*****
Washington D.C. – 13.30 Uhr, Ortszeit
Ziva betrat die Pathologie. Der Raum war abgedunkelt, nur eine kleine Lampe über einem
der stählernen Tische war eingeschaltet und die Ecke, in der Dr. Mallards Schreibtisch stand,
war beleuchtet. Die Tür schloss sich automatisch hinter ihr und erst da bemerkte sie Ducky in
der hintersten Ecke, der vor einem beleuchteten Röntgenbild stand und sich überlegend
über das Kinn strich. Als er Ziva bemerkte, löschte er die Lichtröhre und kam auf sie zu.
„Ah Ziva, meine Gute. Ich habe dich schon erwartet. “ Ducky führte sie zu seinem
Schreibtisch, zog einen Hocker heran und drängte sie, sich hinzusetzen. „Setz dich.“ Ziva kam
der Aufforderung nach.
„Es geht mir gut, Ducky“, versuchte sie den Pathologen zu überzeugen und verdrehte
angesichts seines besorgten Gesichtsausdrucks die Augen. „Ehrlich, Ducky“, bekräftigte sie
ihre Worte, doch ihr Gegenüber schüttelte vehement den Kopf.
„Es geht dir nicht gut, Ziva. Und das beziehe ich nicht nur auf deine körperliche Verfassung,
wobei ich mir auch da gewisse Sorgen mache.“ Ducky setzte sich ebenfalls, ließ die Agentin
dabei aber für keine Sekunde aus den Augen. „Ich wollte schon längere Zeit mit dir reden,
allerdings muss ich zugeben, dass auch ich mir unschlüssig war, wie ich es am besten
ansprechen sollte. Aber es passt einfach alles zusammen. Die Entführung, die Gefangen…“
Ziva versuchte zu lächeln. Es war ein gutes Gefühl, Menschen um sich zu wissen, die sich
sorgten und doch wollte sie nicht weiter darauf eingehen. Behutsam legte sie ihre Hand auf
Duckys Knie. „Es gibt Dinge, da kann einem niemand helfen, und ich muss selbst einen Weg
finden, damit zurecht zu kommen.“
„Du hast Freunde, Ziva. Und was immer du uns anvertrauen möchtest, du weißt, dass wir…“
Ducky beendete den Satz nicht, sondern stieß sich mit den Füßen ab und rollte mit dem
Stuhl näher an seinen Schreibtisch. Er zog die mittlere Schublade auf und entnahm ihr eine
Packung. „Also, was ich sagen wollte…“, unsicher biss sich der Pathologe auf die Lippen,
sprach aber nicht weiter.
Ziva bemerkte das Zögern und blickte ihm direkt in die Augen. „Was? Ducky, was willst du
eigentlich die ganze Zeit sagen?“
Ducky fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und stand auf. „Darf ich dir meine
Beobachtungen erläutern?“
Ziva runzelte die Stirn, sie wusste einfach nicht, worauf er hinauswollte und so nickte sie nur
zögerlich.
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„Du hast dich verändert, Ziva“, begann Ducky und wanderte nun durch den dunklen Raum,
seine Hände schützend vor der Brust verschränkt. „Du scheinst abwesend zu sein, ok,
vermutlich eine vollkommen normale Reaktion nach einem solchen Erlebnis. Aber, meine
Liebe, und jetzt kommen wir zum eigentlichen, normalerweise, bzw. bisher hast du dich uns
gegenüber anders verhalten. Du kannst mir folgen?“
Ziva schüttelte langsam den Kopf und verkrampfte ihre Schultern. Es war ihr klar gewesen,
dass irgendwann der Zeitpunkt kommen und sie jemand auf ihr merkwürdiges Verhalten
ansprechen würde. Doch ausgerechnet Ducky? Gerade vor ihm fiel es der ehemaligen
Mossadagentin schwer sich zusammenzureißen. Wenn sie sich vor den anderen auch immer
im Griff hatte, Ducky hatte ein Gespür für die richtigen Worte und manchmal kam es ihr vor,
als könnte er bis tief in ihre Seele blicken. Um gegen die Tränen anzukämpfen, die sich ihr
schon wieder aufdrängten, schloss sie die Augen.
Ducky trat neben sie und legte ihr zärtlich die Hand in den Nacken. Ziva zuckte kurz
erschrocken zusammen, öffnete wieder die Augen, drehte aber ihren Kopf von ihm weg.
Wenn sie ihn jetzt auch noch ansehen musste, würde ihre letzte Schutzmauer wohl ebenfalls
einstürzen. Und das musste sie verhindern.
„Du zuckst bei jeder Berührung zusammen, du gehst jedem aus dem Weg – selbst Tony, zu
dem du vor der ganzen Tragödie doch wieder einen sehr guten Kontakt hattest“, versuchte
Ducky den Faden wieder aufzunehmen.
Ziva stand auf und drehte sich abrupt zu Ducky um. „Ducky, könnten wir die Sache bitte
beschleunigen. In zweieinhalb Stunden geht der Flug. Ich werde mitfliegen, ob mit oder ohne
dein Einverständnis.“
Zum ersten Mal trafen sich ihre Blicke und dieses Mal hielt Ziva dem Blick des Pathologen
stand. Dieser seufzte tief und hielt ihr zunächst eine Karte entgegen. „Du kannst jederzeit
Kontakt zu diesem Kollegen aufnehmen. Ein fähiger Mann. Er ist auf solche Fälle
spezialisiert.“ Dann drückte er ihr die Packung, die er die ganze Zeit mit seinen Fingern
umklammerte, in die Hand. Seine Vermutung, dass Ziva während der Entführung
vergewaltigt wurde, konnte er nicht in Worte fassen. Und doch passte alles zusammen, ihr
Verhalten gegenüber ihren Kollegen und Freunden, ihre körperlichen Beschwerden, der
Zeitpunkt. Und er irrte sich nur selten.
Ziva sah Ducky noch immer in die Augen. Seine Besorgnis war echt und sie spürte, wie
schwer es ihm fiel, nicht den Blick zu senken und er sichtlich darum bemüht war, die
richtigen Worte zu finden. Doch scheinbar fehlte es ihm heute tatsächlich an Worten, denn
am Ende nickte er ihr nur noch vorsichtig zu. Ziva nutzte diese Gelegenheit um auf die
Packung und die Visitenkarte herabzusehen. Und was sie sah, ließ ihren Herzschlag für einen
kurzen Moment aussetzen und sofort verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen. In
ihrer Hand hielt sie einen Schwangerschaftstest. An diese Möglichkeit hatte sie noch gar
nicht gedacht, ihre Übelkeit hatte sie nicht als Zeichen einer möglichen Schwangerschaft
gesehen und jetzt, jetzt wurde sie mit einem harten Schlag von Ducky mit dieser Vermutung
konfrontiert, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie schüttelte zaghaft den Kopf und
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versuchte erst gar nicht mehr die Tränen aufzuhalten. Es durfte nicht sein, nein, sie durfte
einfach nicht schwanger sein. Das würde alles komplizieren, noch schwieriger machen.
Ducky legte seine Hände auf Zivas zitternde Finger, schloss ihre Hände in seine. Scheinbar
hatte er recht, Ziva war mehr als verzweifelt und ihre Reaktion zeigte ihm deutlich, dass
seine Vermutung nicht ganz so falsch sein konnte. Er hätte ihr so gerne geholfen, alle Last
von ihrer Schulter genommen. Ihre Verzweiflung war spürbar, ihr ganzer Körper bebte.
„Wir…“ Ducky räusperte sich, als er merkte, dass seine Stimme hörbar belegt war. Noch
immer fühlte er sich unwohl in seiner Haut, doch das Thema war nun mal unangenehm für
ihn und noch mehr für sie. Ziva, die verloren hier vor ihm stand, war dringend auf Hilfe
angewiesen und wenn er jetzt nicht handelte, wer sollte dann noch einmal einen so tiefen
Zugang zu ihr finden. Ducky war sich bewusst, dass sich Ziva nur selten öffnete, ihre Tränen
waren mehr als Verzweiflung, er sah es als Hilferuf an. „Wir finden eine Lösung, Ziva. Du bist
nicht alleine. Ich werde dir einen Termin bei Dr. Grant machen, sie ist seit Jahren in der
Beratung für sexuelle Übergriffe tätig und leistet wirklich gute Arbeit.“
„Was?“ Ziva, merklich damit beschäftigt ihre Gedanken zu ordnen, blickte auf. „Nein“, ihre
Stimme war mehr ein Flüstern.
„Ziva, es ist zunächst eine Beratung. Fiona ist eine alte Bekannte von mir, sie wird einfach
nur mit dir reden. Sie kann dir Wege aufzeigen …“
„Nein“, dieses Mal war ihre Stimme klar und deutlich. Langsam dämmerte es ihr, was Ducky
die ganze Zeit vermutete. Er dachte, dass Kind, das sie vielleicht in sich trug, sei das Ergebnis
einer Vergewaltigung. Er konnte ja nicht wissen, dass Tony der Vater war. Dieses Mal
schüttelte sie energisch den Kopf. „Du denkst, ich bin….“
„…vergewaltigt worden“, beendete Ducky den Satz für Ziva und drückte dabei zärtlich ihre
Hand.
„Nein Ducky“, ein kurzes, wenn auch verzweifeltes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Es war
ja nicht verwunderlich, dass sich ihre Freunde den wildesten Fantasien hingaben um eine
Erklärung für ihr merkwürdiges Verhalten zu finden. Wenn sie es recht bedachte, waren
Duckys Schlussfolgerungen mehr als logisch konzeptioniert. „Wenn ich schwanger sein sollte,
dann ist das Kind auf eine vollkommen freiwillige Art und Weise gezeugt worden.“ ‚sogar
mehr als das‘, fügte sie gedanklich hinzu und die Bilder schoben sich unaufhaltsam in ihren
Kopf. Sie spürte Tonys Nähe, sie vernahm seinen Geruch, fühlte seinen Herzschlag, der mit
ihrem im Einklang schlug, ein wohliger Schauer legte sich auf ihren Körper. Dass diese Nacht
nicht ohne Folgen geblieben sein könnte, löste ein sonderbares Gefühl in ihr aus.
Er hatte damit gerechnet, dass sie es leugnen würde. Doch das friedvolle Lächeln auf ihrem
tränennassen Gesicht ließ ihn zweifeln, nein, er war sogar überzeugt, dass sie ihm soeben
die Wahrheit sagte. „Oh“, entfuhr es seiner Kehle und er runzelte die Stirn. „Das ändert
maßgeblich den Sachverhalt.“
„Ja“, Ziva musste leicht grinsen. Sie liebte die sachliche Ausdrucksweise des Pathologen. Es
änderte den Sachverhalt, sicherlich, aber es machte die Situation nicht besser. Sie löste ihre
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Hände aus Duckys behutsamem Griff, beugte sich vor und küsste ihn dankbar auf die Wange.
„Ich werde den Test machen“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Später, jetzt muss ich erst packen.“
Ein erneuter, längerer Kuss. „Mach dir keine Sorgen um mich, Ducky.“
„Pass auf dich auf“, rief Ducky ihr noch hinterher. Zwar war er durch das Gespräch ein klein
wenig beruhigt, doch leichte Zweifel hegte er noch immer.
In der Tür drehte sie sich nochmals kurz um und sah zu Ducky zurück. „Danke“, war das
einzige Wort, das über ihre Lippen kam.
*****
Währenddessen verfluchte Gibbs die deutsche Bürokratie. Sein Anruf vom Ministerium über
die bayerische Politebene bis hin zu dem Polizeipräsidenten verebbte jedes Mal an der
verdammten Nichtzuständigkeit der jeweiligen Person. Vermutlich wäre es schneller
gewesen, ein altmodisches Telefonbuch nach der Nummer des Münchner Polizeipräsidiums
zu durchsuchen. Aber er lebte nun mal in einer modernen Welt. Und scheinbar hatte er jetzt
auch endlich den richtigen Ansprechpartner am Telefon. Ein Kriminalhauptkommissar
Steinberger, und zumindest, im Vergleich zu den vorangegangenen Sprechern, schien dieser
der englischen Sprache einigermaßen mächtig.
„Agent Gibbs“, die Stimme hörte sich kompetent an und Gibbs atmete erleichtert aus. „Die
Leiche wurde heute Morgen gefunden, der Todeszeitpunkt wird auf ca. 2 Uhr geschätzt. Die
Beschreibungen stimmen überein. Lassen Sie uns doch bitte das Foto zukommen. Wir werden
es sofort abgleichen.“
„Wir haben noch ein zweites Problem“, fügte Gibbs den Worten des Mannes hinzu.
„Vielleicht können Sie uns auch diesbezüglich weiterhelfen.“ Als der Mann keine Antwort
gab, sprach er weiter. „Wir vermissen Angehörige von uns, die sich momentan in München
aufhalten sollten. Eine Frau und ein Kind. Leider scheinen sie spurlos verschwunden zu sein.“
„Langsam bin ich auch von ihrem Angebot überzeugt, dass sie sich hier in München einfinden
sollten, Agent Gibbs“, knurrte Kriminalhauptkommissar Steinberger am anderen Ende der
Leitung, da ihm die Zusammenhänge so langsam bewusst wurden. „Wir haben sowohl eine
vermisste Person, bzw. ein verwüstetes Hotelzimmer, wie auch ein kleines verwaistes,
vollkommen verstörtes Mädchen.“
„Alisar ist bei Ihnen?“ Gibbs nahm einen Schluck Kaffee aus seinem Pappbecher, eine Funke
Hoffnung machte sich in ihm breit.
„Den Namen hat sie uns nicht genannt. Das Kind redet nicht. Braune lange Haare, braune
Augen, ca. 6 bis 7 Jahre alt“, schloss Steinberger seine Beschreibung, mehr konnte er nicht
hinzufügen.
„Können Sie sie ans Telefon holen?“, fragte Gibbs und hörte, wie der andere scheinbar einer
Kollegin Anweisungen gab. Gibbs winkte Ronald heran, der sich in der hintersten Ecke
verkrochen hatte. Der Chefermittler hatte die ganze Zeit von seiner Anwesenheit gewusst
und ihn doch absichtlich ignoriert. Es war ihm bewusst, dass Ronald sich genau wie Ziva nicht
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davon abhalten ließ, sich ihnen anzuschließen, doch aufgrund dessen persönlicher
Betroffenheit war der Grauhaarige nicht gewillt, den Undercover-Agenten offiziell in sein
Team einzubinden. Im Gegensatz zu Ziva, bei ihr war er froh, sie offiziell unter Kontrolle zu
haben. Sollte das Mädchen, das in München auf dem Polizeirevier saß, aber tatsächlich
Ilenas Tochter sein, musste er von seiner bisherigen Absicht zunächst Abstand nehmen,
denn dann war Ronald wohl der Geeignetste, um mit dem Kind zu reden.
Man hörte eine Frau und einen Mann im Hintergrund reden, dann knackte die Leitung. „Ich
werde dem Kind jetzt den Hörer geben.“
Ronald war nervös nach vorne getreten. Er wusste nicht, was ihm lieber war. Am Ende
tatsächlich Alisars Stimme zu hören, das Kind somit in Sicherheit zu wissen und doch damit
der Tatsache ins Auge zu blicken, dass Ilena in Gefahr schwebte? Oder nach wie vor an dem
Gedanken festhalten zu können, dass die beiden sich nur auf einem schönen Tagausflug
befanden und sie bisher einfach keine Möglichkeit hatten sich zu melden? Er blickte in Gibbs
blaue Augen, die ihn fordernd ansahen.
„Alisar?“, Ronald hielt, nachdem er den Namen ausgesprochen hatte, die Luft an. Lauschte
und wartete auf eine Antwort. Doch nichts geschah. „Alisar, bist du es? Antworte mir doch“,
flehte er durch das Telefon. Es dauerte noch eine kurze Weile, bis er die zarte, verzweifelte
Stimme hörte.
„Wo ist meine Mummy? Er hat meine Mummy. Sie hat mich weggeschickt, ich bin gelaufen
… wie sie es mir gesagt hat. Wo ist Mummy? Kommst du zu mir? Suchst du Mummy?“
Ronald presste die Augen zusammen und fuhr sich verzweifelt durch die Haare. Seine
schlimmsten Vorahnungen wurden zur Realität. Seine Befürchtungen und seine Ängste
waren mit einem Schlag nicht mehr von seiner Seele wegzuschieben. Sein Kopf schien zu
explodieren und der Schmerz schnürte seine Kehle zu. „Ich komme Alisar“, zwang er sich zu
antworten. Er konnte, er durfte sich jetzt nicht gehen lassen, auch wenn er fühlte, wie er
innerlich zusammenbrach. Am anderen Ende der Leitung saß ein verzweifeltes Kind, ein Kind,
dass in seiner Vergangenheit schon so viel erleiden musste und nun erneut in ihrem
kindlichen Dasein erschüttert wurde. Er musste sich einfach zusammenreißen. „Unser Flug
geht in wenigen Stunden. Hörst du, Alisar? Ich bin schon unterwegs. Aber es dauert noch
eine Weile.“ Er atmete tief durch, bevor er weiter sprach. „Wer passt auf dich auf.“
„Felix“, Alisar zog hörbar die Nase hoch. „Der ist nett“, fügte sie dann noch leise hinzu.
„Ok, mein Engel. Hör mir zu. Du kannst den Leuten vertrauen. Felix wird auf dich aufpassen,
bis ich da bin. Der Flug dauert eine Zeitlang, das weißt du, du bist mit deiner Mummy auch
ziemlich lange geflogen. Ja?“
„Mmh“, kam es von dem Kind. „Aber ich habe im Flugzeug geschlafen.“
Ronalds Blick schweifte an die Wand mit den zahlreichen Uhren und suchte schnell die
Mitteleuropäische Zeitzone. In München war es gerade 19 Uhr. Sie würden also um die
Mittagszeit ankommen. „Pass auf. Genau das machst du jetzt auch. Du schläfst, bei euch ist
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es ja gleich Nacht. Du darfst morgen früh ganz lange ausschlafen und am Mittag sind wir
schon da.“
„Versprochen?“
„Versprochen.“
*****
München – 20.15 Uhr
Die Abenddämmerung legte sich langsam auf die Häuser der Stadt. Ein leichter kühler Wind
blies durch die hohen Kastanienbäume und brachte, die im Wetterbericht so angepriesene,
nötige Abkühlung. Arif Hakim schlenderte durch die Straßen, entlang der hohen, pompösen
Häuser der Münchner Innenstadt. Auch auf dem Stachus, der sonst von unzähligen Touristen
belagert wurde, kehrte eine allabendliche Ruhe ein. Natürlich waren noch Menschen
unterwegs, die Stadt schlief nie und doch wich die Hektik des Alltags und machte Platz für
eine friedvolle Atmosphäre und eine schimmernde Nacht.
Arif zog die Luft tief in seine Lungen und warf ein Blick über seine Schulter zurück zu jenem
Haus, in dem er soeben letzte Vorbereitungen getroffen hatte. Jeden Abend um diese Zeit
verließ er das unscheinbare Gebäude, machte einen kurzen Spaziergang und wenn das
Wetter es zuließ, ließ er sich auf den großen Steinen am Brunnen nieder. So auch heute. Er
beobachtet zwei vergnügte Kinder, die sich quer durch die Fontainen des Brunnens
schlängelten und inzwischen pitschnass waren, amüsierte sich über die schimpfenden Eltern
am Rande und trank schmunzelnd und in langsamen Schlucken seinen Kaffee, den er sich
soeben am Außenverkauf der berühmten McDonalds-Filiale geholt hatte.
Erleichtert seufzte er auf, der Tag konnte als gelungen abgehakt werden. Seine Vorhaben
hatte er umgesetzt, sein Tagesziel erreicht. Die Bilder der ersten Leiche waren in D.C.,
vermutlich war das Team des NCIS schon auf dem Weg hierher, zu ihm. Er war nicht dumm,
sicherlich wurden auch Ilena und Alisar bereits beim NCIS schmerzlich vermisst. Das
beschleunigte die Sache ein wenig. Ansonsten waren die Vorbereitungen für die zweite
Leiche bereits getroffen. Er musste nur noch auf die Nacht warten, sich im Club seines
Freundes ein wenig vergnügen und auf den richtigen Moment warten. Vielleicht sollte er
vorher noch mal bei Ilena vorbeischauen und ihr etwas zu trinken bringen? Schließlich wollte
er sie nicht leiden lassen, er liebte sie ja, noch immer. Und er war so froh darüber, dass er
sich mit ihr aussöhnen konnte und sie zu ihm zurückgekehrt war. Zwar hatte er ein wenig
nachhelfen müssen, aber die Hauptsache war, dass sie jetzt wieder bei ihm war, ganz nah.
Bei dem Gedanken an sie, verspürte er sofort wieder die Sehnsucht nach ihrer weichen Haut
und ihrem betörenden Duft und eine erneute Welle der Leidenschaft überrollte ihn.
Verdammt, er musste sich einfach besser im Griff haben. In zwei Stunden würde der Club
öffnen.
*****
Über den Wolken
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Der Flug war pünktlich gestartet und wie nicht anders zu erwarten, waren sowohl Ronald, als
auch Ziva an Bord. Ronald hatte noch nicht mal die Frage gestellt, ob er mitreisen soll, er war
nach dem Telefonat nach Hause gefahren, hatte seine wenigen Habseligkeiten in eine
Reisetasche geschmissen und war der erste, der am Flughafen ankam. Gibbs nahm es mit
einem Schulterzucken hin. Nach dem Wortwechsel mit Alisar war er eh hundertprozentig
überzeugt, ihn nicht abwimmeln zu können. Und Ziva? Ducky hatte ihm versichert, dass sie
in der Lage war, mitzufliegen. Sie solle sich auf dem Flug lediglich ausruhen und ein paar
Stunden schlafen.
Gibbs hatte Ronald zu sich gerufen, um jede Kleinigkeit aus ihm herauszupressen, was Ilena
ihm über sich und ihren Aufenthalt in München erzählt hatte. So war es wohl
unausweichlich, dass Tony sich im Sitz neben Ziva niederlassen musste. Seit einer halben
Stunde starrte sie unbeweglich aus dem Fenster, während Tony nervös mit seinen Fingern
spielte. Er hatte ein Bein über das andere geschlagen und seit geraumer Zeit wippte er nun
auch mit dem Fuß. In der Regel hielt Ziva das Gezeter seiner provozierenden Bewegungen
nicht lange aus und zischte ihn an. Doch auch diese Reaktion blieb ihm heute verwehrt.
Tony seufzte kurz auf, nahm das Bein runter und setzte sich gerade hin. Was sollte er nur
tun? Er spürte dass sie weinte, auch wenn sie den Kopf zur Seite gedreht und ihre Haare so
drapiert hatte, dass er es nicht sehen konnte. Warum verkroch sie sich nur? Weshalb redete
sie nicht mit ihm? Vorsichtig griff er nach ihrem Unterarm und war erleichtert, dass sie ihm
diese Berührung nicht übel nahm, ja, sie sogar zuließ. Er wollte ihr doch nur zeigen, dass er
für sie da ist. Jederzeit. Zärtlich strich er mit seinem Daumen über ihre zarte Haut.
Ziva spürte Tonys Finger, fühlte das Kribbeln, das diese Berührung in ihr auslöste. Und doch
war sie mit ihren Gedanken weit weg. Wieso hatte sie nicht an die Möglichkeit einer
Schwangerschaft gedacht? Klar, eigentlich war es doch auch unmöglich. Sie konnte nicht
schwanger sein. Sie nahm die Pille. ‚und während der Zeit deiner Gefangenschaft hast du
ausgesetzt‘, widersprach sie sich selbst. Daran hatte sie nicht gedacht. Sie hatte so vieles
nicht bedacht, weil sie einfach gedanklich nicht zur Ruhe gekommen war. Ihre
Überlegungen, ihre Gedanken kreisten seit Wochen um Tonys Erinnerungslücken, ihre
Entführung, ihre Verzweiflung und ihre Sehnsucht. Wer dachte denn an so was? Sobald sie in
München gelandet und in einem Hotel eingecheckt hätten, brauchte sie Gewissheit. Sofort.
Ein Kind? Wie sollte sie das erklären? Nein, wenn sie tatsächlich schwanger war, dann gab es
nur eine Option, sie konnte die Wahrheit nicht weiter für sich behalten. Doch was dann?
Würde Tony zu ihr zurückkehren, liebte er sie denn auch in diesem Leben? Und wie sollte sie
sich seinen Gefühlen sicher sein? Was, wenn er nur dem Kind wegen wieder etwas für sie
empfand…
*****
München – 20.30 Uhr
Felix saß an seinem Schreibtisch, gegenüber seiner Kollegin, die eifrig alle Aussagen
sammelte und eine Aufstellung der Informationen machte. Die letzten beiden Stunden
waren wie im Flug vergangen. Sie hatten bei ihren Kollegen die Zeugenaussagen bezüglich
des verwüsteten Hotelzimmers angefordert. Felix hatte mit Alisar gesprochen und von dem
fremden Mann erfahren. Das Kind war so tapfer und hatte beinahe abgestumpft von der
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Situation berichtet. Sie hatte erzählt, dass ihre Mutter sie weggeschickte und sie mit
niemandem reden durfte. Doch über den Verbleib ihrer Mutter konnte auch das Kind nichts
sagen. Auch die kindliche Beschreibung des Mannes war weniger hilfreich. Sie hatten viele
Spuren, doch bisher keine einzige, die ihnen tatsächlich weiterhelfen konnte. Das Einzige
was sie mit jetzt mit Sicherheit sagen konnten, war, dass der Blutfleck, der im Zimmer
gefunden wurde, nicht von der Leiche aus dem Englischen Garten stammte. Doch mehr auch
nicht. Es war frustrierend, sie tappten immer noch im Dunkeln. Kein Verdächtiger, kein
Motiv und somit auch kein Ansatzpunkt, an dem sie ansetzen konnten. Enttäuscht und
gefrustet fuhr Felix sich durch die Haare. Ihr Chef hatte sich vor etwa zwanzig Minuten
verabschiedet und sie mit dem Papierkram alleingelassen.
Sein Blick wanderte von seiner Kollegin in die hintere Ecke des Zimmers. Dort befand sich
eine kleine gemütliche Sitzgarnitur, selten von den Kollegen genutzt und eigentlich völlig
unnötig. Aber jetzt lag dort Alisar zusammengerollt unter einer braunen Wolldecke und
schlief friedlich. Felix seufzte und blickte wieder zu Tanja, die aufgrund des Geräusches zu
ihm aufsah und seine unausgesprochenen Worte nur durch ein Nicken bestätigte. Es würde
eine lange Nacht, doch beide waren sich einig, Alisar sollte hier bei ihnen bleiben. Elli hatten
sie nach Hause geschickt, sie wollten sich abwechselnd um das Kind kümmern und sie
morgen persönlich übergeben.
*****
Die Stadt schlief. Zumindest in den abgelegenen Wohngebieten, fernab des pulsierenden
Nachtlebens der Münchner Innenstadt. Und während Felix schlummernd auf dem Sofa lag,
starrte Tanja aus dem Fenster des Büros, blickte hinaus auf die asphaltierte Straße und
beobachtete ein Liebespärchen, das soeben Hand in Hand am Gebäude vorbei lief. Ein
Schmunzeln legte sich auf ihr Gesicht, als ihr der Gedanke kam, wie sie noch vor wenigen
Monaten auf genau die gleiche Weise mit ihrem Freund durch die Gegend gezogen war.
Und jetzt? Der Alltag war in ihre Beziehung eingekehrt, die gemeinsame Wohnung liebevoll
eingerichtet und das Umfeld wartete nur auf die lang ersehnte Nachricht, dass der
Nachwuchs endlich unterwegs sei. Tanja seufzte und drehte sich um. Sie würde hier vieles
vermissen, ihre Kollegen und die Arbeit, ja, sogar Felix Schwarz, ihren unausstehlichen
Kollegen. Nun, wirklich unausstehlich war er nicht, nur, wenn er sich mal wieder mit seiner
Exfrau über die Kindererziehung der 2jährigen Anna stritt, dann war er grantig und nervig.
Und das kam leider viel zu häufig vor. Dabei konnte Felix wirklich gut mit Kindern umgehen,
was man auch daran erkannte, wie er sich um das Wohlergehen von Alisar sorgte. Diese
hatte sich inzwischen auf die andere Seite gedreht und ihr rechter Arm hing über die
Sofakante herunter. Tanja ging zu ihr und ließ sich auf dem Seitenteil des Sofas nieder,
zärtlich strich sie dem Kind über den Kopf.
Zur gleichen Zeit füllte sich der Club „Second-Opal“ stetig, immer mehr junge Leute drängten
herein und draußen vor der Tür bildete sich bereits eine Schlange. Die Stimmung war
ausgelassen, es wurde überall getanzt und viel getrunken. Arif Hakim lehnte sich gegen die
Seitenwand der Bar, genoss den vibrierenden Bass in seinem Körper und beobachtete das
Geschehen. Sein Opfer hatte er schon seit zwei Stunden im Visier. Sie war in Gesellschaft von
mehreren Frauen, die jedoch ausnahmslos in Partylaune und mit ihren eigenen
Flirtversuchen beschäftigt waren. Man würde sie nicht vermissen. Er wartete nur auf den
richtigen Moment. Und soeben schien dieser gekommen zu sein. Die Brünette steuerte
gezielt auf die Theke zu, bestellte sich einen Drink und drehte sich mit dem Rücken zu ihm.
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Sein Blick schweifte über ihr kurzes, dunkelrotes Kleid, betrachtete ihre langen Beine. Sie
war genau die Richtige. Ein kurzes Nicken und er wusste, sein Freund würde das vorbereitete
Pulver in das Glas geben. Gut, dass dieser dachte, er wäre nur darauf aus, eine schöne Nacht
mit einem Mädel zu verbringen, wenn sein Freund wüsste, was in den Kellerräumen im
Nebenhaus vor sich ging, wäre es vermutlich um einiges schwieriger, sicherlich sogar
unmöglich, denn so weit würde sein Freund nicht mitspielen. Er hatte sich bei dem Auftrag,
ihm Ilena zu bringen, schon geziert. Aber zum Glück hatte er noch etwas gut bei ihm und
letztlich gab er sich dann auch mit der Aussage zufrieden, dass er Ilena bereits nach einer
Stunde, nachdem sie sich ausgesprochen hatten, gehen gelassen hätte. Arif lachte kurz auf,
er war umgeben von leichtgläubigen Idioten. Jetzt musste er die Frau nur noch ansprechen,
sich etwa zwei Minuten mit ihr unterhalten und könnte sie dann durch die nicht weit
entfernte Tür nach unten bringen. Während sein Freund dachte, er würde sie nach oben in
seine Wohnung schleppen und später wieder mit ihr in den Club zurückkehren, war sein
wahres Ziel der Keller. Das Schloss zur Verbindungstür hatte er mühselig geknackt und die
Tür mit einem neuen Schloss versehen.
*****
Über den Wolken
Gibbs nahm dankbar den Becher Kaffee entgegen, den die Stewardess ihm soeben brachte.
Im Flugzeug war es still, die meisten Passagiere schliefen. Auch Ronald neben ihm hatte den
Kopf in ein Kissen gepresst und versuchte zumindest zu schlafen. Er war unruhig, drehte sich
ständig von einer Seite zur anderen und öffnete regelmäßig die Augen, nur um einen
erneuten Blick auf die Armbanduhr zu werfen und enttäuscht aufzuseufzen. Sein Verhalten
war verständlich, er sorgte sich um die Frau, die er vor Wochen kennen und lieben gelernt
hatte, und nun spurlos verschwunden war. Die Bilder der Toten machte die Lage nicht
besser, im Gegenteil, sie ließen das Schlimmste erahnen.
Dankbar, dass seine Hände etwas zu tun hatten, drehte Gibbs den Becher in seinen Händen.
Er beugte sich ein Stück vor, um einen Blick schräg nach hinten zu werfen. Tony schlief, seine
Hand ruhte auf Zivas Unterarm, gleich einer beschützenden, helfenden Geste. Ziva hatte
ihren Kopf an Tonys Schulter gelehnt und ihre lockigen Haare fielen in ihr blasses Gesicht.
Auch sie hatte die Augen geschlossen, ihr Atem ging ruhig. Gibbs hoffte inständig, dass er
keinen Fehler machte, indem er es zuließ, dass Ziva mitkam. Sicherlich, sie war diensttauglich
und in Extremsituationen hatte sie sich immer im Griff. Dank ihrer Mossadausbildung
spielten Emotionen im Einsatz keine Rolle. Und doch schien sie immer noch nicht über die
Geschehnisse der letzten Wochen hinweg zu sein. Selbst Tony, der gerne jammerte und
seinen Kollegen mit den kleinsten Problemchen meist auf die Nerven ging, schien besser mit
den Folgen seines Gedächtnisverlusts klar zu kommen. Ziva aber schien nicht zu vergessen,
ganz im Gegenteil, sie kam nicht zur Ruhe. Und sie verschwieg etwas, das wussten alle um
sie herum. Doch niemand wollte sie drängen darüber zu reden, er würde ihr jedenfalls die
Zeit geben, die sie brauchte.
Gibbs beobachtet, wie Tony die Augen öffnete und sichtlich verwundert den Kopf zu Ziva
drehte, scheinbar hatte sie sich erst während sie beide schon schliefen gegen seine Schulter
gelehnt. Auf Tonys Gesicht konnte man ein zufriedenes Lächeln erkennen, während er Ziva
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soeben mit seiner freien Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Doch vollkommen
abrupt hielt er in seiner Bewegung inne.
Seine Hände strichen durch ihr offenes lockiges Haar und fassten dieses im Nacken zu einem
Zopf zusammen. Sachte und doch fordernd zog er ihren Kopf nach hinten, so dass sie nun
gezwungen war, ihn direkt anzusehen. Ihre Augen blickten ihn sanft an, und schienen in
diesem Moment alle Unsicherheit verloren zu haben. Langsam kamen seine Lippen den ihren
näher. Er wollte nur noch sie. Sie spüren, sie schmecken und ihren berauschenden Duft
endlich tief in sich aufsaugen dürfen.
„He“, flüsterte Gibbs. „Alles ok?“
Tony riss sich aus seinen Gedanken, nahm schnell wieder die Hand aus Zivas Haaren und
blickte seinen Boss entsetzt an. „Ja“, stammelte er. „Ja, alles bestens.“ Er versuchte seine
Gedanken zu ordnen, was um Himmelswillen war das schon wieder gewesen. „Gibbs“,
versuchte er sich abzulenken. „Gibt es was Neues?“
Doch der schüttelte nur den Kopf. „Nein, nichts Neues. Der Kaffee über den Wolken
schmeckt wie immer bescheiden.“
*****
Ilena lauschte in die Stille. Vor zwei Stunden war Arif nochmals bei ihr gewesen, hatte ihr
etwas zu trinken, ein großes Kissen und eine Decke gebracht. Jetzt saß sie hier, in einer
ungemütlichen Position, die Arme nach hinten verdreht und ihr ganzer Körper schmerzte
leidlich. Sie hatte ihn angefleht, ihr wenigstens eine Hand loszubinden, damit sie ihre
Schultergelenke entspannen könnte, doch er hatte sie nur ausgelacht. Und mit einem fiesen
durchdringenden Grinsen, welches Ilena bestens bekannt war, war er näher gekommen,
hatte ihr mit seinen Fingerspitzen zärtlich über die Wange gestrichen und ihr dann
urplötzlich die Kehle fest zugedrückt. So lange, bis sie nach Luft japsend vor ihm auf die Knie
gegangen war. Er war der Meinung gewesen, dass sie ihm ihr Vertrauen erst noch beweisen
müsse, sie solle Geduld haben und artig sein. Er hatte ihr noch über den Kopf gestreichelt
und war wieder verschwunden.
Ilena hielt den Atem an, als sie Schritte hörte, die allmählich näher kamen. Leise, dumpfe
Schritte, begleitet von einem taumelnden Gang, erkennbar, dass es sich hierbei um hohe
Absätze handelte. Sie nahm Arifs Stimme wahr und erschauerte. Er war in Begleitung einer
Frau und Ilena wäre ein Narr gewesen, hätte sie die bösen Anzeichen nicht richtig gedeutet.
Egal wer diese Frau war, sie ging soeben ihrem sicheren Tod entgegen.
Die Tür zum Nachbarraum wurde geöffnet, Arif bot seiner Begleitung ein Glas Wasser an.
Seine Stimme war freundlich, beinahe säuselnd, und Ilena wusste, dass er damit nur ein Ziel
verfolgte. Ilena schluckte schwer und kümmerte sich nicht um die Tränen, die ihr haltlos
über die Wangen liefen. Man hörte die Benommenheit in der Stimme der Frau, er hatte ihr
eindeutig bereits etwas gegeben. Sie selbst kannte die Wirkung des Beruhigungsmittels nur
zu gut, häufig hatte sie es selbst zu sich nehmen müssen. Damals, als sie sich noch gegen ihn
wehren wollte, sich noch nicht mit ihrem Schicksal abgegeben hatte. Das Gefühl der
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Willenlosigkeit kannte sie nur zu gut. Und ebenso wusste sie um die tödliche Wirkung bei
einer Überdosierung.
Ilena zerrte aus Verzweiflung an ihren Fesseln. Sie wollte etwas tun. Sie musste ihn
irgendwie aufhalten. Doch die Fesseln schnitten schmerzlich in ihre Handgelenke und mit
einem Schlag wurde ihr ihre ausweglose Situation bewusste. Sie konnte nichts tun, nebenan
starb eine Frau und sie musste hilflos mit anhören, ohne auch nur die Möglichkeit zu haben,
ihr zu helfen. Übelkeit breitete sich in ihr aus, die in starken Wellen durch ihren Körper floss.
Sie traute sich nicht zu atmen und, um sich nicht an Ort und Stelle übergeben zu müssen,
presste sie ihre Lippen fest zusammen. Alleine die Vorstellung, was im Nachbarraum vor sich
ging bereitete ihr eine Gänsehaut. Sie hörte leise wimmernde Geräusche, sie hörte Arifs
keuchendes Stöhnen. Dann einen kurzen Schrei, gefolgt von leidlichem Jammern. Bis die
Stille endgültig wiederkehrte. Ilena schloss die Augen und lehnte ihren Kopf gegen die
Mauer.
Dass sich die Tür zu ihrem Kellerabteil öffnete, bemerkte sie erst als diese wieder in Schloss
fiel. Entsetzt blickte sie Arif entgegen, der mit blutverschmiertem T-Shirt und noch offener
auf sie zukam. In seinem Gesicht war ein freudiges Lächeln erkennbar. Angewidert drehte
Ilena ihren Kopf von ihm weg. Arif ging vor ihr auf die Knie, griff nach ihrem Kinn und zwang
sie, ihm in die Augen zu sehen. Auch seine Finger waren blutverschmiert, gefühlvoll strich er
damit über Ilenas Wange.
„Tut mir leid, dass du das mit anhören musstest“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Dabei liebe ich
doch nur dich.“
„Warum?“, entgegnete Ilena und hielt seinem Blick stand. „Reicht es nicht, mich hier
festzuhalten?“
„Das erklär ich dir später“, sein Griff an ihrem Kinn wurde fester. „Zunächst muss ich die
Leiche wegbringen, schließlich soll sie so schnell wie möglich gefunden werden.“ Er zwang
sie zu einem Kuss. „Danach werde ich zu dir zurückkehren.“
*****
München – 03.56 Uhr
Das permanente, nervtötende Klingeln riss Kriminalhauptkommissar Steinberger aus dem
Tiefschlaf und benommen tastete er im Dunkeln nach dem Telefon. Unter dem Willen einer
klitzekleinen Vorahnung hatte er das tragbare Gerät am späten Abend aus der Ladestation
im Wohnzimmer mitgenommen und es auf seinem Nachttischschränkchen abgelegt. Und
doch war er überrascht, dass es um diese frühe Uhrzeit schon klingelte, denn ein Blick auf
seinen Radiowecker zeigte 03:56 Uhr. Steinberger konnte ein kurzes Aufstöhnen nicht
unterdrücken. Noch vollkommen schlaftrunken nahm er den Anruf entgegen.
„Wir haben eine zweite Leiche“, hörte er die Stimme der jungen Pathologin. Cornelia Rubins
Stimme hörte sich keinesfalls verschlafen an. Vermutlich war sie auch schon seit mindestens
einer halben Stunde auf den Beinen.
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„Gibt es eine Verbindung zu unserem gestrigen Opfer?“, nuschelte er und setzte sich in
seinem Bett auf. „Eindeutige Kennzeichen?“
„Reichen die vier Buchstaben?“, moderte die Pathologin und fügte noch schnell hinzu, als sie
bemerkte wie barsch der Ton ihrem Chef gegenüber klingen musste. Natürlich gab es
eindeutige Kennzeichen, sonst würde sie wohl nicht anrufen. Mitten in der Nacht, sie hatte
schließlich auch etwas Besseres vor. „Genau das gleiche Vorgehen, ebenfalls oberflächliche
Schnittverletzungen. Sie wurde im alten botanischen Garten gefunden.“
„Mitten in der Stadt?“, Steinberger riss entsetzt die Augen auf, als er den Ort vor seinem
inneren Auge sah. Der kleine Park in der Nähe des Stachus, direkt neben dem Justizpalast
gelegen, war nicht unbedingt der geeignetste Ort eine Leiche verschwinden zu lassen. „Auf
welchem Planeten befinden wir uns momentan? Dem Mörder ist wohl jedes Risiko recht.“
„Mmh“, erklang Cornelias abwesende Zustimmung, die während des Telefonats bereits am
Tatort weiter arbeitete. „Ein Obdachloser hat ihn sogar dabei beobachtet, er dachte wohl, da
würde jemand seinen Müll abladen und als er sich die vermeintliche Beute näher ansehen
wollte, hat er nach eigener Aussage „rot“ gesehen. Es ist wirklich kein schöner Anblick.“
„Liegt sie im Gebüsch?“, Steinberger runzelte die Stirn. Er konnte sich beim besten Willen
nicht vorstellen, wo man dort eine Leiche ablegen sollte. Die Spazierwege waren von allen
Seiten gut einsehbar, grenzten an den Eingängen an belebte Straßen und an der hinteren
Seite an einen beliebten Biergarten. Dort hatte er damals, im heißen Sommer, mit seinen
Kollegen bei einem kühlen Maß Bier die Live-Übertragungen der Fußball-WM erlebt. Er hatte
es als sicheren, friedlichen Ort in Erinnerung und genau dort sollte jetzt die nächste Leiche
liegen? Er schüttelte ungläubig den Kopf.
„Nein“, er hörte wie Cornelia sich räusperte. „Sie liegt an den Randsteinen des
Neptunbrunnens. Zentral und gut sichtbar. Ihre linker Arm und ihr linkes Bein treiben im
Wasser. Sie sollten wohl besser…“
„…vorbei kommen“, beendete Steinberger den Satz und fuhr sich mit der Hand durch die
Haare. „Ich bin in zwanzig Minuten vor Ort. Sichern …“
„… Sie die Beweise“, er musste lächeln, als Cornelia den Spieß umdrehte. „Und finden Sie
heraus, wann die Frau verstorben ist. Klar, mach ich. Bis gleich.“
Die Leitung knackte und der Kriminalhauptkommissar blieb alleine im Dunkel seines
Schlafzimmers zurück. Auch wenn er gestern noch die Hoffnung hatte, alles sei halb so
schlimm und sie würden den Fall mit Hilfe der amerikanischen Bundesbehörde sicher schnell
aufklären, machte sich jetzt eine grausame Gewissheit in ihm breit. Der Täter wollte spielen
und das war mit Sicherheit erst der Anfang.
*****
Über den Wolken
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Nur vierzig Minuten später vibrierte es in Gibbs Hosentasche. McGee und Abby hatten ihm
in der Schnelle so ein neumodisches Teil besorgt, dessen Funktionen er wohl niemals in
seinem Leben verstehen würde, und auch nicht verstehen wollte. Er verstand auch nicht,
warum sein altes Handy, das er endlich an seiner Seite akzeptieren konnte, nicht
funktionieren sollte. Aber gut, er musste sich auf sein Team verlassen und die Alternative,
eben nicht überall erreichbar zu sein, kam für ihn nicht in Frage. Schmunzelnd nahm er das
Gerät aus seiner Hosentasche, doch statt der erhofften Nummer einer besorgten Abby war
eine Nummer mit deutscher Vorwahl sichtbar. Seufzend drückte er auf den grünen Hörer
und vermisste sofort das kurze Plllp-Geräusch, das früher beim Aufklappen zu hören war.
Der Mensch war ein Gewohnheitstier.
„Gibbs“, zwar versuchte er leise zu sprechen, doch im Flugzeug voller schlafender Passagiere
schien sein Name trotzdem an den Wänden zu hallen. Ronald, der neben ihm schlief, war
sofort hellwach.
„Sie müssen jemanden ziemlich wütend gemacht haben“, knurrte der Mann am anderen
Ende der Leitung. „Ich fasse mich kurz, Agent Gibbs. Soeben wurde eine zweite Leiche
gefunden, ebenfalls mit Schnittverletzungen. Es handelt sich nicht um Ilena“, fügte
Steinberger sofort hinzu und Gibbs, der gerade die bedrohliche Frage stellen wollte, schloss
wieder den Mund, drehte sich zu Ronald und schüttelte den Kopf. Dieser atmete erleichtert
auf. „Es gibt keine Ähnlichkeiten zu dem Foto, das sie uns zugemailt haben.“
„Konnten Sie Spuren sichern?“ Gibbs spürte nun auch Tonys Blick auf sich.
„Ja“, kam eine hilflos klingende Antwort. „Der Täter ist nicht gerade vorsichtig. Es gibt sogar
Zeugen, zumindest wenn man den Alkoholpegel nicht beachtet. Meine Pathologin geht auch
bei der zweiten Leiche von einem sexuellen Übergriff aus, somit sind wir im Besitz von DNS.“
Zufrieden nickte Gibbs. „Ok, schicken Sie die Auswertungen an meine Kriminaltechnikerin.
Sie kann es mit unserer Datenbank abgleichen.“
Es war ein kurzes Auflachen zu hören. „Sicher, Agent Gibbs, sobald uns die Ergebnisse
vorliegen. Allerdings …“
„… dauert das in Deutschland ein wenig länger“, beendete Gibbs genervt den Satz. Schon
jetzt, noch vor der Landung, bereute er es bitter, ohne Abby, Ducky und McGee geflogen zu
sein.
Tony lauschte den Worten von Gibbs, versuchte sich aber möglichst ruhig zu halten. Zivas
Kopf lehnte noch immer gegen seine Schulter und sie schien tief und fest zu schlafen. Zwar
machte sich sein Rücken schmerzlich bemerkbar und zu gerne hätte er seinen Sitz in eine
aufrechte Position gebracht. Doch er wollte Ziva nicht wecken, unter keinen Umständen. Er
beobachtete wie Gibbs das Gespräch beendete und Ronald aufstand um sich die Beine zu
vertreten.
Seit nun mehr zehn Minuten lief Ronald durch den Gang, den Blick fest auf den Boden
gerichtet, und versuchte sich zu beruhigen. In seinem Kopf schossen endlose Gedanken hin
und her, als würde jemand mit diesen Pingpong spielen. In diesem Moment dachte er daran,
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dass sie möglicherweise morgen schon Ilena finden könnten, tot, ebenso zugerichtet wie die
anderen Leichen zuvor. Und es entriss ihm seine Selbstsicherheit und zerstörte seine Seele.
Vor wenigen Wochen hatte er gegen seinen jahrelangen eigenen Vorsatz verstoßen und sich
unsterblich verliebt. Ja, er liebte Ilena, ihr Lachen, ihre natürliche Art und ihre
Ernsthaftigkeit. Alles an ihr. Nach seiner langen Zeit als Undercover-Agent hatte er das
Gefühl gehabt, endlich angekommen zu sein. Ein Zuhause gefunden zu haben, an dem er bis
zum Ende seines Lebens verweilen wollte. Mit einer Frau, die sein wahres Gegenstück zu
sein schien, ihn ergänzte und forderte. Und jetzt? Jetzt lief alles Gefahr, zerstört zu werden.
Er war dabei Ilena für immer zu verlieren und er war hier verbannt, abzuwarten und zu
hoffen. Darauf zu hoffen, dass der Täter Geduld hatte und nicht handelte, bevor er und die
anderen des Teams vor Ort waren und sich der Gefahr stellen konnten. Seine Hände ballten
sich zu Fäusten.
Ronalds verzweifelte, leicht aggressive Körperhaltung stand im krassen Gegensatz zu Zivas
friedvollem Gesicht. Tony war hin- und hergerissen, entschied sich aber fürs Nichtstun. Was
hätte er auch tun können? Seinen Freund und Kollegen schütteln, ihn zwingen nicht an das
Böse zu denken, eine positive Grundhaltung einzunehmen? Er selbst wusste, dass das nicht
möglich war. Ronald bangte um das Leben seiner Freundin und wenn man ihm etwas
zugestehen sollte, dann die Zweifel und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit auszuleben. Er
kannte das Gefühl selbst gut genug. Als er in diesem Kellerraum damals zu sich kam,
feststellte, dass Ziva nicht mehr an seiner Seite war und dieses saure Kribbeln der Angst
durch seinen Körper floss… Tony stockte und zuckte kurz zusammen. Es war das erste Mal,
dass er sich an diesen Keller erinnerte. Das Gefühl der Hilflosigkeit und die Sorge um Ziva
waren plötzlich so präsent und lebensecht, dass seine Finger zu zittern begannen.
Seine unkontrollierbaren körperlichen Reaktionen weckten Ziva auf. Zunächst schlaftrunken
blickte sie auf ihren Arm, auf dem noch immer Tonys Hand lag und schreckte dann
überfordert zurück. Beinahe hätte sie ihn wieder unsanft zur Seite gestoßen, doch Tony hob
sofort bekennend die Arme.
„He, he, ich habe nichts getan“, er wischte sich über die Augen und blickte dann Ziva mit
einem aufgesetzten Lächeln an.
„Ist das so?“, in ihren Worten schwang Unverständnis und ein leichter Hauch von Vorwürfen
mit.
„Ja, das ist so“, erwiderte Tony scharf, als er Zivas Sarkasmus hörte und jetzt war es an ihm,
seine Hände zu Fäusten zu ballen. Zorn flackerte in seinen Augen auf. Egal was er tat, wie er
sich ihr gegenüber auch verhielt, es war in ihren Augen nicht richtig und so langsam fehlte
ihm das Verständnis dafür. Er hatte gerade selbst genug mit sich zu tun, er schien sich
tatsächlich an etwas zu erinnern und er war beim besten Willen jetzt nicht dazu bereit, sich
um Zivas Probleme zu kümmern. Noch dazu gegen ihren Willen.
Ziva saß wie versteinert in ihrem Sitz, während sich Tonys wütendes Gesicht in eine
grausame Maske aus Angst und Qual zu verwandeln schien. Er löste den Blick in ihre Augen
und starrte geradeaus gegen die Kopflehne des Vordersitzes. „Es tut mir leid“, kam leise
über ihre Lippen, doch von Tony erhielt sie keinerlei Reaktion.
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*****
München – 05.00 Uhr
Felix saß im Schein der Schreibtischlampe und tippte leise auf die Tastatur. Sein Blick
wanderte immer wieder zurück zur Sofaecke, doch Alisar schlief noch immer friedlich. Seine
Kollegin hatte ihn vor wenigen Minuten geweckt, ihn über den zweiten Leichenfund
informiert und jetzt waren beide damit beschäftigt, sich ein erstes Bild zu machen. Cornelia
hatte ihnen bereits Bilder vom Tatort geschickt und sie hatten die Fotos der Leiche mit dem
Foto der vermissten Person des NCIS abgeglichen. Nein, es hatte sich zum Glück nicht um die
Mutter des Kindes gehandelt, welches sich in ihrer Obhut befand und auch wenn die Bilder
der Leiche grausam und abartig waren, so hatte Felix nur Erleichterung empfunden, als er sie
aufrief und keine Ähnlichkeiten ausmachen konnte.
Tanja war soeben gegangen, unten in den Befragungsräumen saß der Obdachlose, der den
Täter angeblich gesehen hatte. Die Befragung würde vermutlich nicht allzu lange dauern,
laut ihrer Kollegen war bei dem Mann zunächst eine Ausnüchterung nötig.
Als er das nächste Mal aufsah, blickte er in zwei braune Kinderaugen. Alisar war unbemerkt
auf Socken zum Schreibtisch geschlichen und auf den Drehstuhl geklettert. Als Felix sie
ausmachte, setzte sie ein freundliches, mitleiderregendes Lächeln auf.
„Wann ist es morgen?“ Ungeduldig zappelte das Kind auf dem Stuhl hin und her und zog die
Knie unter ihr Kinn.
Felix blickte zur Uhr und legte dann den Kopf schief. „Es ist jetzt fünf Uhr.“
„Ich muss noch schlafen“, resigniert senkte Alisar den Kopf, sie hatte gehofft, dass es schon
viel später war. Schulterzuckend ließ sie sich vom Stuhl gleiten und ging zu ihrem Schlafplatz
zurück. Zu gerne hätte sie jetzt Teddy in ihre Arme geschlossen, stattdessen kletterte sie
einsam und alleine zurück unter die Decke.
Felix blieben die Tränchen des Kindes nicht verborgen. Mit einem beklommenen Gefühl
stand er auf und folgte dem Kind. Liebevoll deckte er Alisar zu und strich ihr zärtlich über die
Haare. Er blieb bei ihr, bis er sicher war, dass sie wieder eingeschlafen war. Nochmals zupfte
er die Decke zurecht und kehrte dann zu seinem Platz zurück. Seine Gedanken schweiften zu
seiner eigenen kleinen Tochter, die vermutlich in einer solchen Situation schreiend und
tobend im Zimmer wüten würde. Dass Alisar so ruhig und verständnisvoll war, war ihm
beinahe unheimlich.
*****
Gibbs beendete soeben sein Telefongespräch, bei dem er Abby mitteilte, dass sie gut und
pünktlich angekommen waren, als Tanja Neumayer vor dem Polizeipräsidium hielt und
darauf wartete, dass ihnen die Parkplatzschranke geöffnet wurden. Er verschwendete kurz
seinen Gedanken an die Außentemperatur und hoffte darauf, dass die Klimaanlage in diesem
alten Gebäude genauso gut funktionierte, wie in diesem neumodischen Auto, in dem sie
gerade saßen. Die feuchte Luft draußen, versprach ein Gewitter, der Himmel war
durchgehend von dicken, hellgrauen Wolken, die eigentlich nicht mehr als einzelne Wolken
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erkennbar waren, bedeckt und der Himmel sah so anders aus, als bei ihnen in Amerika. Was
man sich alles einbilden konnte. Ein Lächeln huschte ihm über das ernste Gesicht, als er
einen Passanten vorbeilaufen sah, der in seiner linken Hand einen, ihm allzu bekannten
Pappbecher zu halten schien. Er hatte schon befürchtet, dass er tagelang auf seine geliebte
schwarze Flüssigkeit verzichten müsse, doch scheinbar hatte Starbucks auch hier in der
fremden, unbekannten Ferne schon Einzug gehalten.
„Alisar kann es kaum erwarten“, versuchte Tanja die Wartezeit zu verkürzen. Just in diesem
Moment öffnete sich die Schranke und der Wärter winkte das Auto herein. „Seit Stunden
rennt sie da oben“, ihr Kopf wies in Richtung Obergeschoss des Gebäudes, „von Fenster zu
Fenster. Um ja ihre Ankunft nicht zu verpassen. Ich habe versucht ihr zu erklären, wie lange
meine Fahrt zum Flughafen dauern würde, aber sie ist eben doch nur ein Kind.“ Sie seufzte
kurz auf. „Ein sehr tapferes Kind im Übrigen.“
„Sie hat sehr viel mitgemacht.“ Ronald, der sich die Fahrt über der ausführlichen Stille
angepasst hatte, beugte sich nun auf der Rückbank nach vorne.
„Das haben wir uns schon gedacht.“ Tanja stellte das Auto in eine freie Parklücke und nickte.
„Sie wirkte die ganze Zeit sehr ruhig und nun, nennen wir es abgebrüht.“
„Sicherlich, ihr Polizeirevier ist wohl nichts im Vergleich zu ihrer Gefangennahme in der
Wüste oder die Misshandlungen ihres Onkels. Geschweige denn, die Zeit bei ihrem
Großvater.“, knurrte Gibbs unfreundlich und öffnete die Beifahrertür. Wenn er daran
dachte, was das Kind in seinem kurzen Leben schon alles erfahren musste, wurde er
stinkwütend. Wie nicht anders zu erwarten, kam ihm die Schwüle mit einem Schlag
entgegen und seine Laune sank weiter in den Keller. Doch er hatte zumindest ein
unbewusstes Ziel erreicht. Tanja verschlug es die Sprache.
Während des Aussteigens suchte Tanja den Blickkontakt zu Ronald. Doch sie musste ihre
Frage nicht stellen, der amerikanische Agent nickte, hob entschuldigend die Arme und
murmelte leise: „Ja, der ist immer so.“
Noch bevor sie die ersten Treppenstufen erreichten, wurde die Tür von innen geöffnet und
Alisar kam ihnen entgegengerannt. Gibbs, der sein finsterstes Gesicht aufgesetzt hatte,
musste nun doch lächeln. Es sah so niedlich aus, wie das Mädchen sie stürmisch, lachend
und heulend zugleich, begrüßte und auf dem kurzen Weg die Treppe hinunter ihren Becher
Kakao unbemerkt in hohem Bogen auf den Boden fallen ließ. Beinahe hätte sie einen
Polizisten in strenger Uniform, der soeben unbeteiligt des Geschehens den Parkplatz
überquerte, getroffen, dieser musste sich mit einem gewagten Sprung vor der spritzenden
Milch retten und blickte fluchend dem Kind hinterher. Das alles blieb von Alisar unbemerkt.
Überglücklich fiel das Kind in Ronalds Arme und man konnte ein kurzes Aufschluchzen hören,
bevor sie das kleine Gesicht an der Schulter des Mannes vergrub und ihre Arme fest dessen
Hals umschlangen.
Die freudige Szene wurde von allen mit Wohlwollen beobachtet. In der Tür erschien ein
weiterer Mann, vermutlich Felix Schwarz, wenn Gibbs sich richtig an den Namen erinnerte,
der laut Tanja sich seit gestern Abend um das Kind kümmerte. Jetzt stand er mit einem
riesigen Grinsen und schulterzuckend vor ihnen, eine Hand hinter dem Rücken versteckt.
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„Entschuldigen Sie, ich konnte sie einfach nicht mehr aufhalten“, rief er ihnen zu und kam
ihnen die letzten Meter entgegen. Kurz vor Gibbs streckte er seinen Arm aus und Gibbs
wollte ihm ebenfalls die Hand zur Begrüßung entgegen halten. Doch mit einem Mal hielt er
inne und schielte verwirrt auf das Ding, dass ihm statt Felix Hand angeboten wurde. Noch
immer grinsend hielt der junge Mann ihm einen großen Starbucks Kaffeebecher entgegen.
„Alisar hat darauf bestanden, Agent Gibbs.“
*****
Tony lehnte sich mit dem Rücken gegen die Zimmertür. Er schloss die Augen und versuchte
verzweifelt, die Bruchstücke seiner Erinnerung, die ihm auf dem Flug wieder in den Sinn
kamen, zu ordnen. Er erinnerte sich an das Feuer, spürte die Gefahr und die Angst. Seine
Panik vor den Flammen und die Angst um seine Partnerin waren greifbar. Was war zuvor
geschehen? War Ziva auch in diesem Keller gewesen? Wann hatte man sie weggebracht?
Frustriert ballte er seine Hände zu Fäusten und rief sich selbst zur Geduld. Er gab zwei
Möglichkeiten, sollte er Ziva danach fragen oder einfach abwarten bis der Rest seiner
Erinnerungen zurückkehrte? Doch er wollte Ziva nicht unnötig belasten. Wenn er etwas an
ihrem merkwürdigen Verhalten verstand, dann, dass sie unter keinen Umständen darüber
reden wollte. Und auch wenn es schwer fiel, das musste, beziehungsweiße wollte er
unbedingt akzeptieren.
Erschöpft ließ Ziva zur gleichen Zeit ihre Reisetasche auf das Sofa gleiten und blickte sich in
dem altmodischen Pensionszimmer um. Kriminalhauptkommissar Steinberger hatte seine
privaten Kontakte spielen lassen und ihnen in der Nähe des Polizeireviers auf die Schnelle
vier Zimmer besorgt. Es waren nicht gerade Luxusquartiere, aber immerhin lagen die Zimmer
nebeneinander, waren sauber und gemütlich. Und schließlich waren sie nicht hier in
München, zweifelfrei eine sehr schöne Stadt, um Urlaub zu machen. Sie mussten Ilena
finden, den Mörder der Frauen überführen und im ersten Schritt die Verbindung zum NCIS
erkennen. Während Ronald und Gibbs auf direktem Weg zu Alisar gefahren waren, hatte
Gibbs sie gegen ihren Willen in die Pension geschickt, um gemeinsam mit Tony die Sachen
abzuladen, sich kurz umzuziehen und wenig später zu ihnen zu stoßen. Sie setzte sich auf die
Bettkante und legte die Hände in den Schoß. Die Matratze fühlte sich hart an. Doch Ziva
hätte sich vermutlich auch mit einer Luftmatratze in einem der Büroräume zufrieden
gegeben, wäre sie nur alleine gewesen. Alleine, das erste Mal seit vielen Stunden waren
keine Personen um sie herum und die Stille tat ihr gut. Ihre Augen wanderten erneut
unsicher durch das Zimmer und blieben an der Seitentasche ihrer Reisetasche haften. Sollte
sie die wenigen Minuten Zeit, die sie hatte, dazu nutzen, sich endlich Gewissheit zu
verschaffen? Wollte sie es wissen? Jetzt? Oder sollte sie warten, bis sie Ilena wieder sicher
neben sich wusste? Mit einem kaum hörbaren Seufzen stand Ziva auf. Die Zeit reichte eh
nicht aus, schnell zog sie ein frisches Oberteil aus der Tasche, im Bad spritze sie sich kaltes
Wasser ins Gesicht, als es bereits an ihrer Tür klopfte.
„Können wir los?“, hörte sie von draußen Tonys Stimme. Schnell zog sie ihr T-Shirt über,
öffnete die Tür einen winzigen Spalt, damit Tony rein kommen konnte.
„Sofort“, sie kehrte zum Sofa zurück, schnappte sich ihre Tasche und band sich im Gehen die
Haare zu einem Pferdeschwanz. Gleichzeitig schlüpfte sie in ihre Schuhe, unbeachtet Tony,
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der sie mit einem merkwürdigen Grinsen beobachtete. Doch während seine Augen seine
Partnerin verfolgten, wurde seine Aufmerksamkeit immer und immer wieder auf die
Reisetasche auf dem Sofa gelenkt. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Wurde er
langsam verrückt? Woher kannte er diese verdammte Tasche?
„Was?“, Zivas Frage riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Ziva stand vor ihm und sah ihn fragend
an. „Können wir? Oder willst du noch ein bisschen weiter träumen?“
Tony starrte sie für einen Moment an, bis er endlich wieder seine Fassung fand. „Klar, wir
können los“, stammelte er und warf einen letzten Blick auf die Tasche. „In zwanzig Minuten
ist ein Treffen angesetzt, mit allen Beteiligten. Ich bin wirklich gespannt auf die deutschen
Kollegen. Diese Tanja sah wirklich nett aus“, fügte er noch schnell hinzu, um ein wenig von
seinem sonderbaren Verhalten abzulenken.
Ziva machte keinen Hehl daraus und warf Tony einen finsteren Blick zu. Insgeheim hoffte sie,
dass er nicht bemerkte, wie sehr ihr diese Kommentare innerlich wirklich zusetzten. Doch
dass sie es missbilligte, sollte er doch wenigstens zur Kenntnis nehmen. „Du bist zum
arbeiten hier“, zischte sie ihn an.
„Klar“, theatralisch hob er die Arme in die Höhe. „Aber man kann doch beides miteinander
verbinden, ich meine …“
„Tony“, unsanft schob sie ihren Kollegen aus dem Raum und zog die Tür hinter sich zu. „Halt
die Klappe.“ Sie schloss die Tür ab und ging in Richtung Treppenhaus.
„He“, rief Tony ihr lächelnd hinterher. Er konnte nicht leugnen, dass die Normalität im
gemeinsamen Schlagabtausch mit Ziva ihm gefiel. „Zum Fahrstuhl geht es hier entlang.“ Er
deutete in die andere Richtung, aber Ziva drehte sich noch nicht einmal zu ihm um.
„Wir treffen uns unten“, hörte er nur noch leise ihre bissige Antwort, bevor sie um die Ecke
bog und natürlich sah er nicht, wie seine Partnerin gegen die Tränen ankämpfte, die sich in
ihren Augen bildeten.
*****
Arif setzte sich neben Ilena und lehnte sich mit dem Rücken gegen die raue Mauer. Der
Schweiß der Anstrengung floss ihm kühlend den Nacken runter und ließ ihn die letzten
Minuten wohligen Schauers nachspüren. Während seine Hand auf Ilenas Schoß ruhte,
beruhigte sich sein Atem nur langsam und ein glückseliges Lächeln zeigte sich in seinem
Gesicht. Er beugte sich vor und küsste Ilena zärtlich auf die Wange.
„Schön, dass du wieder bei mir ist“, hauchte er ihr ins Ohr.
Ilena starrte an die Wand gegenüber, doch seine Worte ließen ungehindert einen kalten
Schauer über ihren Rücken laufen. „Sie werden mich finden“, erwiderte sie vollkommen
emotionslos.
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„Sicher“, lachte Arif laut auf und strich mit seiner Hand über ihren Oberschenkel. „Sie
werden dich finden und sie werden sterben, alle werden sterben … und du …“, seine Hand
wanderte weiter nach oben und berührte unsanft ihre Brust. „du wirst dir ansehen, wie sie
ihrer gerechten Strafe obliegen. Freust du dich darauf?“
Ilena weinte stumm. Sie konnte nicht mehr stark sein, sie hatte diesem Scheusal nichts mehr
entgegen zu stellen. Ihre Kräfte verließen sie mehr und mehr. Sie hatte ihre letzte Würde
verloren und machte sich die größten Vorwürfe. Ihre Tochter und ihre neugewonnen
Freunde waren in größter Gefahr, hätte sie nur diesen Teil ihrer Vergangenheit nicht
verschwiegen. Es wäre nie soweit gekommen. Stattdessen wollte sie es alleine beenden,
ihrer Vergangenheit für immer den Rücken kehren. Wie naiv war sie nur gewesen, zu
glauben, es ohne fremde Hilfe zu schaffen.
„Nicht weinen, Ilena“, seine Stimme klang sanft und wehleidig. „Am Ende werden wir Zwei
glücklich sein. Sie haben deinen Vater getötet, sie werden dafür büßen.“
*****
Zivas Begrüßung fiel nicht weniger stürmisch aus. Seit die Agenten den Raum betreten
hatten, sprudelte es aus dem kleinen Mädchen und sie erzählte unaufhaltsam von dem
Geschehen der letzten Tage. Ziva ging vor dem Kind in die Hocke, strich eine Haarsträhne,
die ihr wild ins Gesicht fiel, hinter das Ohr und legte dann zärtlich einen Zeigefinger auf
Alisars Lippen.
„Und jetzt müssen wir deine Mami finden“, flüsterte sie ihr ins Ohr, als Alisar sie nur
verwundert anblickte und küsste sie dabei sanft auf die Wange. Es war eine schwierige
Situation, wie sollten sie das Kind hier in diesem tristen Polizeipräsidium beschäftigen und
gleichzeitig ermitteln. Das Kind war zwar einiges gewohnt, aber noch mehr wollten sie ihr
nicht zumuten und sie konnten ihr ja schlecht die Ohren zuhalten, während sie über die
gefundenen Leichen und die Drohungen gegenüber der Bundesbehörde sprachen.
Die kleine Hand schnappte sich Zivas Zeigefinger und schob ihn langsam zur Seite. Während
ihre Augen auf den ausgestreckten Finger schielten, biss Alisar sich überlegend auf die
Unterlippe. Schlussendlich war sie scheinbar zu einer Entscheidung gekommen, denn
plötzlich nickte sie entschlossen. „Ich geh in der Zeit zu Elli spielen.“
Felix war zu ihnen getreten und runzelte bei diesen Worten die Stirn. Doch erst als Ziva ihn
fragend ansah, mischte er sich in das Gespräch ein.
„Elli ist die Frau von der Jugendfürsorge. Sie wollte unseren Wirbelwind gestern schon mit in
die Notaufnahme nehmen. Eine Einrichtung für Kinder, die kurzzeitig untergebracht werden
sollen. Aber Alisar hat sich vehement dagegen gewehrt und irgendwann vollkommen
hysterisch das Präsidium zusammengeschrien.“
„Die hat mir Gummibärchen mitgebracht“, verteidigte sich Alisar und zog eine Schnute. Für
sie war das Grund genug für ihr Verhalten und sie warf Felix einen bösen Blick zu.
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Ziva musste lächeln. Sie kannte Alisars Abneigung gegen Gummibärchen nur allzu gut. Daher
wandte sie sich kurz an Felix. „Nun, diese Süßigkeiten sollten sie in ihrer Nähe wirklich
vermeiden.“ Dann strich sie, während sie aufstand, Alisar über den Kopf. „Das konnte diese
Elli aber nicht wissen und sie wollte dir damit bestimmt nur eine Freude machen.“
Sie wartete das verständnisvolle Nicken des Kindes ab und zwinkerte ihr dann zu. „Willst du
Elli eine zweite Chance geben? Du könntest mit anderen Kindern spielen, wir besuchen dich
regelmäßig und wenn was ist, kannst du uns jederzeit anrufen. Ok?“
„Und ihr findet Mama“, schloss Alisar selbstbewusst Zivas kurzen Vortrag und sah zu Felix.
Der Mann grinste, dieses Kind war einfach zu eigenartig und sehr befremdlich. Doch dann
nickte auch er. „Komm“, er streckte die Hand nach Alisar aus. „Wir rufen sie an.“
*****
Eine halbe Stunde später lehnte Tony lässig mit der Schulter gegen die Wand und lauschte
dem Bericht von Kriminalhauptkommissar Steinberger. Die Art und Weise des Vortrags war
auf eine stupide Art und Weise anders. Altmodisch, doch das schien Gibbs nicht zu stören,
ganz im Gegenteil, sein Boss sprühte vor Energie und Tatendrang. Und auch Tony selbst
fand schnell wieder Gefallen an dieser Polizeiarbeit, die er früher selbst einmal erfolgreich
erledigt hatte.
An einer tragbaren Pinnwand waren Fotos der Opfer angepinnt, die Fundorte in einem
übergroßen Stadtplan markiert. An einer zweiten Pinnwand, die fest an der Wand installiert
war, hing nun ein Foto von Ilena.
„Wir haben eine Fahndung nach ihr eingeleitet“, fügte Steinberger gerade hinzu und deutete
auf das Foto der Vermissten. „Das ist der Ort, wo sie als letztes gesehen wurde.“ Auch an
dieser Pinnwand hing seitlich ein Stadtplan und er markierte den Ort des Hotels. „Alisar
wurde am Morgen von Passanten am Brunnen im Alten Hof gefunden. Hier“, ein weiterer
Punkt wurde gekennzeichnet.
Tanja Neumayer hielt ihm ein Foto entgegen und er nickte dankend. „Das hier ist ein Foto
vom Hotelzimmer. Leider wurde es versäumt zu versiegeln, das Zimmer ist also bereits
wieder in ‘betrieb‘. Aber auch auf den Beweisfotos sind eindeutig Kampfspuren erkennbar,
auch aufgrund des Blutes gegen wir von einem tätlichen Übergriff aus. Unsere
Spurensicherung ist aber zu dem Ergebnis gelangt, dass der Blutfleck wohl wegen der
geringen Menge von einer nicht tödlichen Verletzung stammen müsste. Die DNSAuswertung haben wir bereits zu ihrer Kollegin Abby Sciuto gesendet und sie hat leider
bestätigt, dass es sich dabei um die DNS der vermissten Person handelt.“
„Wir haben also drei Bereiche.“ Tanja stand von ihrem Stuhl auf und stellte sich neben ihren
Chef. Sie schrieb die große Zahl auf die erste Pinnwand. „Bereich 1 sind die, leider noch
immer unbekannten toten Frauen. Die Verletzungen und die Todesursache sind identisch, so
dass wir vom gleichen Täter ausgehen müssen.“
„Bereich 2“, mischte sich Felix ein, „ist die Vermisste“ und beobachtete seine Kollegin wie
sie auch dort die Ziffer aufschrieb.
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„Richtig.“ Steinberger nickte seinen Kollegen zu und heftete dann 2 DinA4 Blätter und zwei
Fotos, die zuvor noch auf seinem Platz lagen, an die Magnetwand neben seinem
Schreibtisch. „Und Bereich 3 sehen wir als Verbindung zwischen 1 und 2.“ Es waren die
Emails an den NCIS, Agent McGee hatte ihnen aus DC sofort Bericht erstattet, als vor zwei
Stunden auch ein Foto von der zweiten Leiche an sie gesendet wurde. Jetzt waren sie
ausgedruckt und fügten sich ebenfalls ins Bild.
„Wir müssen uns aufteilen“, stöhnte Felix, dem die Tragweite des Falles soeben erst richtig
bewusst wurde. „Es gibt verschiedene Ansatzpunkte.“ Er schien kurz zu überlegen. „
Zunächst hätte ich gerne Hintergrundinformationen zu unserer vermissten Person.“ Er sah
die fremden Agenten entschuldigend an. „Ich weiß, sie kennen sie, für uns aber ist sie nun
mal absolut unbeschriebenes Blatt. Ein ausführlicher Background hilft uns vielleicht das
Motiv zu finden.“
Gibbs nickte. „Sie haben vollkommen recht. Ich werde damit meine Leute beauftragen. Diese
Computerarbeit können sie auch in DC ausführen. Ich vermute McGees Mittel und Wege
sind tiefgründiger und moderner als ihre.“
Nun nickte auch Steinberger. „Da haben sie sicherlich recht.“ Er verschränkte die Arme
hinter dem Rücken und blickte zur Pinnwand des ersten Bereichs. „Hier steht die
Identifizierung der Opfer im Vordergrund. Irgendjemand muss diese Frauen doch vermissen.
Wir müssen wissen, ob es eine Verbindung gibt, seit wann sie verschwunden sind. Einen Tag,
zwei Tage … Nur so können wir herausfinden, wie lange sie in etwa vom Täter festgehalten
wurden. Und somit…“ Er schluckte schwer, „hätten wir auch einen Ansatzpunkt, ob und wie
lange Ilena noch eine realistische Chance hat zu überleben, falls sie sich ebenfalls in seiner
Gewalt befindet.“
Felix übernahm wieder das Wort. „Nebenbei warten wir noch auf die Ergebnisse unserer
Pathologin bezüglich der verabreichten Droge, oder was auch immer zum Tod der Opfer
geführt hat. Die Schnittwunden jedenfalls waren nicht tödlich.“
„Was wissen wir sonst noch über die Vorgehensweise?“ Ziva, die sich zuvor dezent im
Hintergrund gehalten hatte, trat zur Pinnwand und betrachtete die Fotos der Leichen
genauer. Sie vermied es absichtlich, das Bild von Ilena anzusehen und versuchte sich auf die
Opfer zu konzentrieren. Es war ihr Weg professionell arbeiten zu können und ihre
aufwallenden Emotionen, was das Verschwinden ihrer Cousine betraf, einigermaßen im
Zaum zu halten. „Er verletzt sie, ohne sie dabei zu töten, flößt oder spritzt ihnen etwas, dass
sie zunächst nur betäubt und später umbringt. Das ergibt doch keinen Sinn.“
„Da haben Sie vollkommen recht.“ Soeben betrat Cornelia Rubin das Zimmer, griff sofort auf
dem Schreibtisch nach Pins und heftete einen Kurzbericht unter das jeweilige Opfer. „Es
ergibt zunächst wirklich keinen Sinn. Allerdings haben wir Spermaspuren gefunden, die
Opfer wurden vor, während oder nach den Verletzungen zu sexuellen Handlungen
gezwungen, zumindest gehe ich nicht von einer Freiwilligkeit diesbezüglich aus, auch wenn
wir hierbei keine Gewaltspuren feststellen konnten. Kombinieren wir es wie folgt, erkennen
wir vielleicht die Bedeutung: Der Täter betäubt zunächst sein Opfer, vermutlich macht die
Textur, die uns leider noch immer nicht bekannt ist, willenlos, er lockt sie zu einem Ort, an
dem er sich sicher fühlt und fixiert sie. An beiden Leichen sind minimale Spuren an den
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Handgelenken erkennbar, vielleicht hat er sie gefesselt, dennoch haben sie sich nicht
wirklich gewehrt.“
„Das bestätigt die Betäubungstheorie“, beendete Steinberger seinen Gedanken für alle
hörbar.
„Ja“, willigte Cornelia ein. „Dann verletzt und vergewaltigt er sie. Erst am Ende verabreicht er
ihnen die tödliche Dosis. Vermutlich in flüssiger Form. Wir konnten jedenfalls keine
Einspritzstelle finden, und wir haben wirklich akribisch danach gesucht.“
Ronald stand am Fenster. Hinter seinem Rücken wurden Tatsachen und Überlegungen
geäußert, doch er fühlte sich nicht fähig, dem Vortrag auch mit den Augen zu folgen. Starr
blickte er nach draußen, beobachtete die Blätter des Kastanienbaums, die sich im leichten
föhnigen Wind wiegten. Er hatte ein ungutes Gefühl. Was hatte Ilena ihm verschwiegen?
Seiner Frage, was sie in Deutschland zu erledigen hätte, war sie immer gekonnt aus dem
Weg gegangen. Sicher, er wusste von ihrer Vergangenheit, und er kannte ihren inneren
Drang endlich mit allem abschließen zu wollen. Dass sie mit ihm nicht über jedes Detail der
Vergangenheit reden wollte, hatte er akzeptiert. Beziehungsweise er hatte gehofft, dass es
nicht noch mehr Einzelheiten geben würde. Die ihm bekannten waren bereits schrecklich
genug. Sie alle hatten sie nach dem Tod ihres Vaters und der Aufklärung des Falles in Ruhe
gelassen und nicht weiter gefragt. Verdammt, hätte er das nur getan. Und hätte er nur
darauf bestanden, sie zu begleiten. Vielleicht hätte er sie schützen können?
„Die Emails an den NCIS wurden vom gleichen Ort abgeschickt“, meldete sich Tony zu Wort
und die bekannte Stimme seines neugefundenen Freundes riss Ronald aus seinen Gedanken.
Sein Blick weiterhin nach draußen gerichtet, folgte er wieder dem Informationsaustausch.
„Ich habe vor dem Treffen mit McGee telefoniert“, begründete Tony gerade die Tatsache.
„Er konnte es bis auf wenige Abweichungen orten. Wir sollten uns also auch dort mal
genauer umsehen.“
Ziva war an Ronalds Seite getreten und legte tröstend ihre Hand auf seine. Sie verstand nur
allzu gut den Schmerz, den er im Moment durchmachte. Noch vor wenigen Wochen saß sie
in einem kalten dunklen Keller, selbst übel zugerichtet, und machte sich Sorgen um Tony,
den die Männer im brennenden Haus zurückgelassen hatten. Die innere Aufgewühltheit, die
Angst einen geliebten Menschen nie wieder lebend zu sehen, brachte einen um den
Verstand und die Hilflosigkeit fraß einen von innen auf. Langsam und schmerzlich. Sie hatte
sich in diesem Keller geschworen, nie wieder zu lieben, um diesem Schmerz für immer zu
entgehen. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr ernstes Gesicht, verschwand aber bereits
wieder, bevor es für andere sichtbar wurde. Das war ihr wohl nicht gelungen, sie liebte und
litt weiter. Ebenfalls langsam und schmerzlich.
Das Telefon auf dem Schreibtisch läutete und ließ die Stimmen der anderen verstummen.
Kriminalhauptkommissar Steinberger nahm ab und lauschte den Worten. Außer einem
kurzen „okay“ und etwaigen „mmhs“, gab er nichts preis. Erst als er sich verabschiedet hatte
und den Hörer auflegte, nickte er zufrieden.
„Im Polizeirevier 15 ist soeben eine Vermisstenanzeige eingegangen. Zwar ist die Frau noch
keine 48 Stunden vermisst und eigentlich müssten wir diese Zeit abwarten, bis wir die
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Anzeige aufnehmen können, aber der Beamte vor Ort hat bemerkt, dass die Beschreibung
wohl auf unser erstes Opfer zutrifft und schickt das Ehepaar direkt zu uns. Sie müssten in
einer halben Stunde da sein.“ Er lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und suchte
Blickkontakt zu Gibbs. „Wir sollten uns durchmischen, alleine wegen der sprachlichen
Barrieren. Ich schlage vor, Tony und Tanja fahren zu diesem Emailort.“ Ein besseres Wort fiel
ihm beim besten Willen nicht ein. Ortungsort hörte sich noch merkwürdiger an.
Gibbs gab sein stummes Einverständnis. „Ziva fährt mit Felix zum Hotel und befragt dort
nochmals den Nachtportier, vielleicht erinnert er sich an ein vermeintlich unwichtiges
Detail.“ Er wandte sich an Ronald, dessen gedankliche Abwesenheit ihm natürlich nicht
verborgen geblieben war. „Und Ronald soll sich den beiden ebenfalls anschließen, soviel ich
weiß, befinden sich noch persönliche Dinge von Ilena und Alisar in dem Hotel, vielleicht fällt
ihm etwas auf.“
„Ich übernehme die mögliche Identifizierung des ersten Opfers“, fügte Steinberger hinzu.
„Und halte Rücksprache mit dem Polizeipräsidenten.
Gibbs lachte hörbar auf. „Und ich baue eine grundlegende Verbindung zwischen unseren
Leuten auf. Cornelia benötigt sicherlich eine kurze Einführung im Umgang mit unserer
Kriminaltechnikerin. Abby ist, sagen wir mal, etwas gewöhnungsbedürftig. Außerdem werde
ich von unserem Direktor eine sichere Leitung aufbauen lassen. Vorsichtshalber, wir wissen
ja nicht, wie technisch geschickt unser Täter ist und wir sollten ihm unsere Ergebnisse nicht
unter die Nase halten. Ich wäre dankbar, wenn Cornelia auch die Autopsieergebnisse mit
unserem Pathologen Dr.Mallard besprechen würde, nur um eventuelle Parallelitäten was
den NCIS angeht auszuschließen. Den Hintergrundbericht von Ilena haben wir sicher bald auf
dem Tisch.“ Gibbs seufzte, eigentlich mochte er es so gar nicht, sich jemandem
unterzuordnen, doch dieses Mal war es anders. Im Alleingang würde er hier nicht
weiterkommen, also musste er einen gemeinsamen Weg finden. Und dieser Weg sah
zunächst so aus, beide Teams miteinander zu verbinden.
*****
Washington D.C. – 11 Uhr Ortszeit
Es war ein ungewohnter und seltener Anblick. In Abbys Labor standen nicht nur je ein Foto
von Gibbs, Tony und Ziva in Lebensgröße – diese Papppuppen hatte sie inzwischen auf
Vorrat in ihrer kleinen Kammer - nein, auch ein großer Bilderrahmen, verziert mit bunten
Totenköpfen in rosa, gelb und hellblau, stand wie ein Schrein inmitten des Tisches. Ein erst
vor wenigen Tagen entstandenes Bild zeigte die über beide Ohren lächelnde Alisar in den
Armen ihrer glücklichen Mutter, beide umarmt von Ronald, der ebenfalls zufrieden lächelte.
Neben dem Bilderrahmen lag ein Stück grüner Gips, ein kleines Abschiedsgeschenk ihrer
neugewonnen Freundin. Die Kleine war ihr in den wenigen Tagen sehr ans Herz gewachsen
und ihrer Meinung nach gab es nichts Schöneres als das Kind, das bereits durch die Höllen
des Lebens gegangen war, glücklich zu sehen. Sie hatte so ein schönes, ansteckendes Lächeln
und inzwischen thronte vorne eine riesige Zahnlücke und Abby musste bei der Erinnerung an
den Anblick schmunzeln.
Dabei war Abby eigentlich wütend, verdammt wütend. Wen sie die Person schnappen
würden, die erneut das Glück dieser Traumfamilie auf die Probe stellte und eventuell sogar
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zerstörte, sie würde ihr nicht nur den Hals umdrehen. Sie würde zu Foltermethoden greifen
und dabei wäre es ihr vermutlich auch egal, Spuren zu hinterlassen. Das war es ihr wert.
Es erklang heute keine Musik in den sonst so lauten Räumlichkeiten. Diese Tatsache
verdankte sie McGee, der aus der Leere des Büros in die tiefen Sphären der Kriminalistik
geflüchtet war und Abbys Computer in Beschlag genommen hatte.
„Warum wurde Ilenas Background damals noch nicht erarbeitet?“ Der Agent drehte sich zu
Abby um, die andächtig an dem Tisch stand, den Kopf leicht geneigt und das Bild anstarrte.
„Abby?“
„Vermutlich weil es nicht nötig war. Sie ist eine von uns. Sie hatte es schwer genug und ihre
Vergangenheit hatte nichts mit dem Fall zu tun.“ Ohne den Blick vom Foto abzuwenden,
antworte sie auf die Frage.
„Nun ja, diese Aussage ist ja nicht ganz richtig.“
„Oh je, McGee“, jetzt fuhr Abby aufgebracht zu ihm herum. „Die Ereignisse haben sich
damals überschlagen. Die Fakten lagen auf dem Tisch, das Motiv war klar. Es war nicht nötig
gewesen, in Ilenas Vergangenheit zu stochern.“
„Vielleicht wäre es aber besser gewesen.“ McGees Stimme passte sich dem patzigen Ton
seiner Kollegin an. Abby hatte die Haltung einer Löwenmutter eingenommen, es würde
sicherlich schwer werden, sie von der Verteidigungslinie, die sie bezogen hatte, zu stoßen.
„Ich denke, sie hat uns einiges verschwiegen“, flüsterte er daher beinahe bedächtig und hob
entschuldigend die Schultern.
„Wir kennen sie gerade mal ein paar Wochen“, Abby rückte den Bilderrahmen zurecht und
kam dann an die Seite des Agenten. „Es ist doch klar, dass wir noch nicht alles über sie
wissen. Sie weiß ja auch noch nicht alles über uns.“
McGee verdrehte die Augen. Abbys Gutgläubigkeit in allen Ehren, er liebte sie für diese
Macke, doch hier war das misstrauische Gespür eines Bundesagenten gefragt. Und seine
gesunde Skepsis war mehr als angebracht. „Wir werden ja auch nicht vermisst.“ Seine
Antwort kam sehr schnippisch und hatte einen bösen Blick zur Folge. „Schaust du dir das
jetzt bitte mal an?“, er deutete auf den Bildschirm.
„Ilena Hamid, geboren am 12. März 1981 in Tel Aviv, Kind von Admin und Elena Hamid. Fünf
Jahre später wird ihre Schwester Sarah geboren und ihre Mutter stirbt.“, las Abby die ersten
Informationen laut vor. Siehst du, alles so, wie sie es uns erzählt hat.“
„Ja, das wissen wir alles“, stoppte er Abbys erneute Verteidigungswelle und scrollte mit der
Maus nach unten. „Doch was wissen wir sonst noch?“
Abby verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Wut, die sich zuvor in ihr aufgestaut hatte,
übertrug sich gerade auf ihr direktes Gegenüber. McGee machte sie heute wahnsinnig.
Wieso konnte er nicht einfach die Fakten auf den Tisch legen und sie dann in Ruhe lassen.
„Ihr Vater setzte sie massiv unter Druck, ließ sie für sich arbeiten, sie ist Mutter einer Tochter
und…“ Die Kriminaltechnikerin stoppte.
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„… genau“, schloss McGee. „Mehr wissen wir nicht. Und das hier ist nicht ganz
uninteressant.“ Er klickte auf ein Dokument.
„Eine Heiratsurkunde?“ Jetzt war Abbys Interesse geweckt. „Ilena war verheiratet?“
„Sie ist verheiratet. Zumindest wurde die Ehe nie geschieden. Das Dokument ist von 1998, da
war Ilena gerade mal 17 Jahre alt. Entweder war es die große Liebe oder …“
„… diese Heirat war nicht ganz freiwillig. Wir sollten nachher näher auf diesen Arif Hasami
eingehen.“
„Alisar wurde am 23. Juni 2004 geboren“, McGee öffnete die nächste Datei. „Auf der
Geburtsurkunde taucht ebenfalls dieser Arif Hasami auf.“
In diesem Moment gab der Computer ein Nachrichtensignal von sich. „Das sind sicherlich die
Informationen vom Mossad.“
„Du hast …“ Abby riss die Augen auf und starrte ungläubig zu McGee.
„Auf Anweisung von Gibbs“, nickte dieser. „Der israelische Geheimdienst hat das Haus von
Admin Hamid nach dessen Tod auf den Kopf gestellt und Beweise digitalisiert. Sie wollten
wohl die Gefahr eines weiteren Anschlags aus dem Weg räumen.“ Währenddessen öffnete
er den Anhang der Email. „Wow“, entfuhr es ihm, „da sind wir ein paar Stunden, wenn nicht
sogar Tage, beschäftigt.“
„Tage?“, stöhnte Abby auf. Dann atmete sie kurz durch und küsste McGee auf die Wange.
„Ich hol mir jetzt ein paar CafPows auf Vorrat und dann verschanzen wir uns die nächsten
Tage hier unten im Labor. Sie zwinkerte ihm zu. „Endlich sind wir mal wieder gezwungen,
gemeinsam die Nächte zu verbringen.“
*****
München – 21.20 Uhr
Ronald saß an der Hotelbar und grübelte über die Ermittlungsergebnisse des Tages. Das
Gefühl tief in ihm breitete sich langsam, aber kontinuierlich in ihm aus und er konnte sich
nicht dagegen wehren. Neben der Sorge, die er fühlte, mischte sich das Gefühl des Zweifels.
Auch wenn er versuchte, dagegen anzukämpfen, es wollte ihm nicht gelingen. Vor wenigen
Stunden hatte er dem Kurzbericht von McGee und Abby gelauscht und Dinge erfahren, die
ihm das Herz zerrissen. Warum hatte Ilena ihm solche Tatsachen verschwiegen? Sie war
verheiratet gewesen, nein, sie war noch immer verheiratet? Tatsache war, es gab ein Mann
an ihrer Seite, dessen Existenz sie ihm verschwiegen hatte. Sie hatte ihn sogar belogen, hatte
behauptet Alisars Vater wäre tot. Lügen, ihre Beziehung war auf einem Schwindel aufgebaut.
Und er? Er hatte ihr vertraut, von Anfang an. Wie konnte er nur so blauäugig und naiv sein?
Wie konnte das ausgerechnet ihm, ein Mann der der Liebe so kritisch gegenüberstand,
passieren? Ronald bestellte sich einen weiteren Drink und starrte an die Wand, langsam
verschwamm seine Umgebung und er genoss die betäubende Wirkung des Alkohols. Sie
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hatte ihn verraten. Sie hatte ihn wieder verlassen und seine Liebe somit zerstört, und zurück
blieb ein Häufchen Elend.
Ziva stieg soeben aus dem Taxi. Nachdem sie am frühen Abend ihre Informationen im Team
abgeglichen und das weitere Vorgehen besprochen hatten, wobei keine neuen Ansätze
erkennbar waren, wollte sie zunächst Alisar besuchen, und dann in ihr Hotelzimmer
zurückkehren. Auch sie war geschockt gewesen über den Bericht ihrer Kollegen. Ilena hatte
ihr nie von Arif erzählt und das verwunderte sie schon sehr. Warum verschwieg sie ihr den
Mann, mit dem sie seit 13 Jahren verheiratet war, mit dem sie ein Kind gezeugt hatte?
Verschwieg sie ihr noch mehr? Der Besuch bei Alisar hatte sie dann wenigstens für ein paar
Minuten abgelenkt. Das Kind war bereits auf dem Weg ins Bett gewesen und es hatte
einfach zu niedlich ausgesehen, wie die Kleine in einem gelben Sternchen-Schlafanzug vor ihr
gestanden hatte, die Locken wild und unbändig abstehend. Doch je näher sie nun dem
Eingang des Hotels kam, umso weniger dachte sie an Alisar, entfernte sie sich von Ilenas
Vertrauensbruch und ihre Gedanken und Emotionen kehrten zurück zu ihren ganz
persönlichen Problemen. Zumindest für einen kurzen Moment, denn als sie den
Eingangsbereich betrat, entdeckte sie Ronald an der Bar, ein volles Glas in der Hand, ein
leeres vor sich auf dem Tresen. Seine Verzweiflung war spürbar und Ziva wusste, sie konnte
ihn nicht einfach ignorieren.
„Wo sind die anderen?“ Sie berührte ihn kurz an der Schulter und setzte sich dann auf den
Hocker neben ihm. Doch Ronald blickte sie noch nicht mal an, stattdessen nahm er einen
großen Schluck der goldenen Flüssigkeit.
„Gibbs ist im Präsidium“, lallte Ronald und trank erneut einen Schluck. „Tony ist mit dieser
Tanja unterwegs.“ Er lachte auf. „Der macht es richtig …. Liebe ist … scheiße.“
„Ich denke du hast genug“, Ziva griff nach dem Glas und nahm es Ronald aus der Hand.
„Mmh“, kam es von ihm und er sah sie mit verklärtem Blick an. „Man sollte sich nicht
verlieben… Liebe ist grausam … sagt Tony übrigens auch immer … und er hat vermutlich
recht ….“
Ziva stellte das Glas auf den Tresen, zog einen Geldschein aus ihrer Hosentasche, stellte aber
fest, dass dieser Betrag sicherlich nicht ausreichen würde und sah hilfesuchend den
Barkeeper an. Dieser nickte und bestätigte, dass er es auf die Zimmerrechnung schreiben
würde. Und auch wenn Ziva äußerlich abgeklärt und ruhig wirkte, innerlich war ihr nicht nur
zum Heulen zumute. Was Ronald da in seinem Alkoholrausch von sich gab, war äußerst
schmerzhaft.
„… er hat gerade Spaß …“ Ronald stützte sich auf Ziva. „ …mit dieser Tanja …“ Gemeinsam
gingen sie in Richtung Fahrstuhl und stiegen ein. „Die Beiden sind eben …“
„Halt die Klappe, Ronald. Ich will das nicht hören“, zischte Ziva, lehnte sich gegen die
Seitenwand des Lifts und bereute bereits, dass sie sich dazu hatte verleiten lassen, Ronald zu
helfen. Es wäre vermutlich besser gewesen, ihn an der Bar sitzen zu lassen, dort hätte er mit
dem Barkeeper über den Sinn der Liebe philosophieren können.
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Die Türen der Kabine öffneten sich wieder und Ziva drückte Ronald schweigend vor sich her
in Richtung seines Zimmers. „Wo hast du deinen Schlüssel?“, als sie vor der Tür ankamen
war ihre Stimme wieder friedvoller, doch innerlich war sie noch immer aufgewühlt. Was
hatte Ronald mit „die beiden sind eben“ gemeint? Vergnügte sich Tony gerade mit dieser
Frau, während sie tatenlos zusehen musste?
„Hach, da ist er ja“, Ronald sah sie zufrieden lächelnd an. „Ziva? Alles klar?“
Ziva riss sich aus ihren Gedanken. „Ja, ich musste nur gerade an was anderes denken.“ Sie
schenkte ihm ebenfalls ein Lächeln und hoffte somit, ihre trüben Gedanken vor ihm
verstecken zu können. Sie nahm ihm den Schlüssel aus der Hand und öffnete die Tür.
Noch bevor sich Ziva ansatzweise verabschieden konnte, griff Ronald nach ihrem Arm und
zog sie mit ins Zimmer. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Das Zimmer wurde nur durch die
Straßenlaternen erleuchtet.
„Ich denke, ich gehe jetzt besser“, flüsterte Ziva, doch die nachhaltige Überzeugung ihrer
Worte blieb aus, stattdessen beobachtete sie verwirrt Ronald, der ruckartig sein T-Shirt über
den Kopf zog, nun mit freiem Oberkörper auf sie zukam und sie gegen die Tür drängte. Ziva
machte sich steif. Ihre Handflächen pressten sich gegen seine Brust, doch aus irgendeinem
Grund sträubte sie sich nicht weiter.
„Vielleicht hat Tony mit seiner Theorie recht, wer braucht schon Liebe? Es geht sicherlich
auch ohne“, Ronalds Hand fuhr durch Zivas Haare.
„Tonys Theorien sind nicht mein Problem“, entgegnete sie kalt.
„Das glaube ich dir gerne“, murmelte er. Selbst wenn er gewollt hätte, es wäre ihm
unmöglich gewesen, nicht auf ihren Mund zu starren. „Lass es uns trotzdem versuchen“,
flüsterte er gedämpft. „Jetzt und hier“, langsam brachte er sie dazu, ihn anzusehen.
„Ich glaube, da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden.“ Ziva versuchte ein wenig
Überzeugung in ihre Worte zu legen, was ihr aber gänzlich misslang.
Er sah sie an. „Sag Nein“, flüsterte er mit einem siegessicheren Lächeln, bevor sein Mund
ihre Lippen berührte.
Ziva wollte ausweichen, doch er war schneller. Mit beiden Händen umfasste er ihren Kopf
und hielt sie fest. Sein Mund drängte ihr entgegen, seine Lippen waren weich und auch wenn
sie anfangs noch etwas verkrampft war, fühlte sie wie ihr Herz wild klopfte. Er küsste sie
weiter, seine Lippen liebkosten die ihren, knapperten zärtlich und unaufhaltsam. Ziva stieß
einen zitternden Seufzer aus, als sich seine Finger in den Ausschnitt ihres T-Shirts tasteten.
Wie von selbst schlossen sich ihre Arme um seinen Nacken und wehrlos gab sich dem
aufkeimenden Verlangen hin. Ihre Zweifel waren einem unvernünftigen Lustgefühl
gewichen.
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Cornelia Rubin lief den leeren Flur des Polizeipräsidiums entlang. So sehr sie den Trubel, der
Tagsüber hier herrschte mochte, die Abendstunden wollte sie nicht missen. Sie grinste vor
sich hin, früher als Assistentin musste sie sich so einige Nächte um die Ohren schlagen und
eigentlich hatte sie die klitzekleine Hoffnung in sich gespürt, jetzt, als Hauptverantwortliche,
ihre Arbeiten wie zuvor ihre Vorgesetzten delegieren zu können. Doch die Zeit drängte. Und,
sie hatte keine Assistenten. Die Münchener Personalnot schreckte wohl auch nicht vor
Leichen und Tatorten zurück. Doch solange ihr die Arbeit Spaß machte, hatte sie kein
Problem mit Überstunden. Die letzten Stunden hatte sie damit verbracht, ihre komplette
Obduktion mit einem gewissen Dr. Ducky Mallard akribisch durchzugehen. Es war ein
Wechsel zwischen telefonieren und Bilder hin- und herschicken. Zwei- oder dreimal hatte sie
sogar eine Webcam genutzt um dem Pathologen Spuren und Ergebnisse live und in Farbe zu
zeigen. Eigentlich eine nervige Arbeit, doch Cornelia hatte schnell Spaß daran gefunden.
Ducky, wie sie ihn bereits nach zehn Minuten nennen durfte, hatte nicht nur eine
angenehme Stimme, nein, er war ihr auch sehr sympathisch. Sie mochte redselige Menschen
sehr. Und was sie für besonders wichtig fand, er schien durchaus kompetent zu sein. Auch
wenn sie nur bereits gewonnene Informationen austauschten, hatte sie jetzt nicht das
Gefühl, es wäre umsonst gewesen. Sie empfand es nicht als Eingriff in ihre Arbeit oder gar als
Kontrolle.
Und zuvor? Das erste telefonische Aufeinandertreffen mit Abby war schon merkwürdig
gewesen, doch Agent Gibbs hatte sie durch die Blume bereits darauf vorbereitet. Auf dem
Bildschirm war eine Frau mit schwarzen Rattenzöpfen von einer in die andere Ecke geflitzt,
hin- und wieder tauchte ihr Kopf direkt vor der Kamera auf, lächelnd und freundlich, aber in
ihren Augen hatte sich auch große Sorge gespiegelt, um das Kind und um die vermisste
Mutter. Ein wenig aufgedreht und im nächsten Moment sachlich, fachlich und konstruktiv,
zog Cornelia schließlich ihr Fazit. Nun, dachte die Pathologin sich, mit Genies muss man
umzugehen wissen und hatte ihr mit dieser inneren Einstellung sämtliche Ergebnisse
offenbart, die sie bereits vorlegen konnte. Abby hatte sich davon überzeugen können, dass
alles seine konstruktiven Wege ging, bat um die Aufstellungen und Fotos per Mail und bot
ihre energievolle Hilfe an. Mehr konnten sie zu diesem Zeitpunkt nicht tun.
Zwischendurch war Kriminalhauptkommissar Steinberger aufgetaucht. Ein wohl eher
unangenehmer Besuch, denn er kam mit dem Vater, der zuvor die Vermisstenanzeige
aufgegeben hatte, um seine eventuelle tote Tochter zu identifizieren. Sie war es. Und so
makaber es auch klang, für Cornelia war es eine gewisse innerliche Erleichterung zumindest
einer Leiche endlich einen Namen geben zu können. Bei der zweiten Leiche handelte es sich
demnach um Julia Brandenburger, 28 Jahre, Bürofachangestellte. Laut Angaben der Eltern
war sie am Abend mit Freunden unterwegs gewesen, hatte irgendwann in der Nacht den
Anschluss zur Gruppe verloren und war ihre eigenen Wege gegangen. Wohl nichts
Ungewöhnliches für die junge Frau. Doch als sie auch am Vormittag noch immer
verschwunden und ihr Handy ausgeschaltet blieb, begannen sich die Eltern und die Freunde
Sorgen zu machen.
Cornelia öffnete die Tür des Büros. Eigentlich wollte sie nur noch schnell ihren Bericht
ablegen, damit die Ermittler am nächsten Morgen sofort darauf zugreifen konnten. Doch am
Schreibtisch saß Agent Gibbs, vor sich eine Akte liegend, und grübelte. Als sie das Zimmer
betrat, blickte er kurz auf, senkte aber sofort wieder seinen Kopf. Es war beinahe, als würde
er sie absichtlich ignorieren.
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„Entschuldigen Sie, Agent Gibbs, ich wollte nur meinen Bericht auf den Schreibtisch legen“,
flüsterte sie und wunderte sich im gleichen Moment, warum sie sich dazu genötigt fühlte,
sich zu entschuldigen. Sie machte ihre Arbeit und lieferte Fakten. Sie schüttelte den Kopf.
Der Mann zeigte noch nicht einmal eine Reaktion.
„Sie sollten sich schlafen legen, Mrs. Rubin“, grummelte er, während sie bereits wieder im
Gehen war. „Ich denke, die nächste Leiche wird nicht allzu lange auf sich warten lassen.“
Cornelia hielt kurz inne. „Diese Befürchtung habe ich auch“, seufzte sie. „Gute Nacht, Agent
Gibbs.“ Leise zog sie die Tür hinter sich ins Schloss. Sie gab diesem distanzierten, ja leicht
introvertierten Agenten ungern recht, aber mit seiner Vermutung, dass es bald eine weitere
Tote geben würde, lag er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit richtig.
*****
Tony und Tanja schlenderten unterdessen durch die berühmte Fußgängerzone der
Münchener Innenstadt. Die Nachtluft brachte einen Hauch Abkühlung und die frische Luft
erleichterte das Atmen. Ihren Auftrag, sich den Ort anzusehen, wo zuvor die Emails
verschickt wurden, hatten sie am Nachmittag schnell erledigt. Ein öffentliches Kaffee einer
gewissen Kaffeekette. Auf die Frage hin, ob dem Personal eine Person aufgefallen sei, die mit
einem Laptop oder sonstigem technischen Gerät aufgetaucht war oder an einem der Tische
saß, wurden sie beinahe ausgelacht. Der Chef meinte, ‚Heute? Sicherlich, so um die
Hundert.‘ Dass ihre Frage dämlich war, wussten sie selbst, aber sie wollten eben nichts
unversucht lassen. Und so kehrten sie ergebnislos zurück ins Polizeipräsidium, gönnten sich
zuvor aber einen kleinen Abstecher auf den Viktualienmarkt und besorgten sich etwas zu
Essen.
Eine halbe Stunde später hatten sie sich dann Gibbs angeschlossen und Tanja hatte den
beiden amerikanischen Bundesagenten die Fundorte gezeigt. Es war schon beängstigend,
wie schnell an diesen Orten Normalität eingetreten war. Nichts wies mehr darauf hin, dass
vor wenigen Stunden, bzw. am Tag zuvor, an den öffentlichen Plätzen eine Leiche gefunden
wurde.
„Wenn man nur selbst so schnell vergessen könnte“, hatte Tanja gemurmelt, als sie am
Brunnen des alten botanischen Gartens standen, an dem Ort, wo am Morgen die Tote
gelegen hatte.
„Will man denn vergessen?“, war Tonys Reaktion gewesen und er hatte sich daraufhin von
den anderen etwas distanziert und sich in den Schatten der hohen Kastanienbäume
zurückgezogen. Nein, er wollte nicht vergessen, egal was es war, er sehnte sich nach seinen
Erinnerungen. Es war zunehmend verwirrender für ihn, die Bilder, die er plötzlich vor seinem
inneren Auge sah, waren es tatsächlich Fetzen seiner Erinnerung oder spielte seine Fantasie
ihm bloß einen üblen Streich? Und woher kam diese plötzliche Sehnsucht nach Nähe? Nach
wem sehnte er sich so sehr? Und wieso hatte er durchgehend das Gefühl jemanden
beschützen zu müssen? In Zivas Nähe war dieses Gefühl beinahe unerträglich. War sie die
Person? Konnte es tatsächlich sein, dass … Nein, wenn sie sich näher gekommen wären,
dann würde sie sich jetzt nicht so von ihm distanzieren, ihm nicht aus dem Weg gehen. Das
würde sie ihm doch sagen.
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Tanja ging neben Tony her und deutete soeben auf den Eingang einer Bar. „Wollen wir noch
was trinken? Hier gibt es die leckersten Cocktails der Stadt.“ Ihre Stimme riss Tony aus
dessen Grübeleien. Seit gut zehn Minuten hatte der gutaussehende Agent eisern
geschwiegen und so langsam bekam sie das Gefühl, als zeige er überhaupt kein Interesse
mehr an ihren Erklärungen. Dabei war er zunächst sehr begeistert von einer kleinen
Stadtführung gewesen.
„Was?“, Tony blieb verwirrt stehen und sah die junge Kollegin an. „Ähm, nein. Entschuldige.
Ich denke, ich werde jetzt zurück ins Hotel gehen und ein wenig schlafen. So nett deine
Stadtführung auch ist, ich ..“ Er stockte mitten im Satz. ‚Ich muss dringend mit Ziva reden‘,
fügte er in Gedanken hinzu. Offiziell schob er aber glaubhaft die Müdigkeit vor und nur
wenige Minuten später trennten sich die beiden Ermittler.
*****
Sie wusste bereits, es war falsch, bevor sie es tat. Sie spürte, sie machte einen Fehler und
doch konnte sie sich nicht dagegen wehren. Ihr Körper und ihr Herz sehnten sich schon seit
so langer Zeit nach solch einer intensiven Zärtlichkeit. Genau diese Sehnsucht zerfraß sie
innerlich und zurück blieb eine immer größer werdende Leere, die mit nichts in der Welt
auszufüllen war. Und auch wenn ihr Kopf von Beginn an sagte, wie bitter sie es danach
bereuen würde, schlugen die Wellen stetig und unaufhörlich über ihr zusammen und sie
fühlte sich von Sekunde zu Sekunde weniger dazu imstande, etwas dagegen zu tun.
Ziva schloss die Augen und ließ ihn gewähren. Ronalds Hände streichelten sanft und doch
fordernd über ihren Rücken, zogen sie mit sich zum Bett. Immer und immer wieder küsste er
sie leidenschaftlich auf den Mund, verteilte sanfte Küsse auf ihrem Hals, seine Lippen
liebkosten ihre Wange. Er war da, er war einfach nur bei ihr und löschte somit die
schmerzlichen Gedanken tief in ihrem Inneren.
Aus diesem Grund ließ sie es zu, dass Ronalds Hände unter ihr T-Shirt glitten. Die sanften,
warmen Finger des Mannes berührten ihre nackte Haut und hinterließen ein angenehmes
Kribbeln, das sofort der harten Leidenschaft wich, als er ihr das Shirt über den Kopf streifte
und sie auf seinen Schoß zog.
Mit bebenden Fingern öffnete sie die Knöpfe seines Hemdes, strich den Stoff über seine
Schultern und erwiderte, während seine Hände über ihre Oberschenkel wanderten, die
stürmischen Küsse. Nein, es gab kein Zurück mehr.
*****
Ilena versuchte eine bequemere Sitzhaltung einzunehmen und ihrem pochenden Körper ein
wenig Entspannung zu gönnen, doch es war schier unmöglich. Alles an ihr und auch in ihr
schmerzte und im Sekundentakt schoss eine neue Schmerzenswelle durch ihren
geschundenen Leib. Am Mittag war Arif wütend und extrem zornig zu ihr in den Keller
gekommen. Er hatte lauthals über seinen Kumpanen geschimpft und seine Wut, in die er sich
immer weiter rein gesteigert hatte, letztendlich an ihr ausgelassen. Es war das erste Mal das
sie geschrien hatte, sich wehren wollte. Doch jeglicher Versuch wurde von Arif schmerzhaft
im Keim erstickt. Am Ende, als seine Wut verraucht und er zufrieden in ihren Armen
zusammengesunken war, hatte er sich bei ihr für seine Brutalität entschuldigt und ihr
detailreich seinen Plan für diese Nacht erläutert. Wenn sie die Zeit richtig einschätzte, würde
es vermutlich nicht mehr lange dauern, bis er mit einem neuen Mädchen hier unten im
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Keller auftauchen würde. Dieses Mädchen, mit Drogen betäubt, würde nicht mehr lange
leben. Ilenas einziger Wunsch war es, mit dem neuen Opfer tauschen zu können, sie sehnte
sich nach der Erlösung, wünschte sich selbst den Tod. Denn sie glaubte nicht mehr an
Rettung und die Tatsache, nie wieder in die Augen ihrer Tochter blicken zu können, löschte
jeden Lebenswillen in ihr.
*****
Ihr langes, leicht gewelltes Haar fiel über Zivas Schultern und verbarg vollends ihr Gesicht,
das sie erschöpft gegen die seine gelehnt hatte. Zwar war Ronald von vorneherein fest
entschlossen gewesen, den Abend zu genießen und diesen grausamen Tag mit irgendeiner
Frau im Bett zu beenden, aber er hatte nicht dieses verzweifelte Verlangen in sich erwartet.
Er hatte nicht damit gerechnet, so schnell die Kontrolle über sich und sein Handeln zu
verlieren. Sicherlich, der Alkohol hatte zusätzlich seine Sinne vernebelt, und doch war auch
das keine Ausrede dafür, was soeben hier passiert war. Während in der Luft noch ein
schwerer Duft des Verlangens lag und sein Herz noch immer wild klopfte, machte sich das
Gefühl in ihm breit, dass er es bereute so weit gegangen zu sein. Nein, er hatte kein
schlechtes Gewissen, jedenfalls nicht gegenüber Ilena. Er liebte diese Frau, doch es fiel ihm
unendlich schwer ihren Worten noch Vertrauen zu schenken. Warum hatte sie ihm nicht die
Wahrheit gesagt? Er hätte es verstanden, wenn sie ihn auf später vertröstet hätte, ihm
gesagt hätte, sie wolle oder könne noch nicht darüber reden, aber sie hatte ihm eiskalt ins
Gesicht gelogen. Dabei war er sich so sicher gewesen, dass Ehrlichkeit in ihrer neu
entfachten Liebe die Basis bilden würde und sie so eine standhafte, dauerhafte Beziehung
aufbauen könnten. Ilena hatte mit einem Schlag diese Basis zerstört und nun krachte das
Kartenhaus über ihm ein. Das beklemmende Gefühl in seinem Inneren galt eher Ziva, die er
ohne vorher nachzudenken, in diese Situation mit reingezogen hatte. Sie war zur falschen
Zeit am falschen Ort gewesen, ausgerechnet sie. Wie hatte er nur ihre momentane
Zerbrechlichkeit in diesem Maße ausnutzen können? Tony würde ihn umbringen, wenn er
erfahren sollte, was er getan hatte. Schließlich sorgte er sich um das Wohlergehen seiner
Kollegin, das nicht mehr der Normalität glich und natürlich war ihm als Freund aufgefallen,
dass Tony gewisse Gefühle gegenüber dieser Frau hegte. Und genau diese Frau saß nun hier,
noch immer atemlos und zittrig, auf seinem Schoß.
„Verdammt“, entfuhr es ihm leise und gleichzeitig gab er Ziva einen kurzen Kuss auf die
Schläfe. „Das hätte nie passieren dürfen.“ Vorsichtig nahm er ihren Kopf zwischen seine
Hände und zwang sie dadurch, ihn anzusehen. Er sah in traurige, leere Augen und kurz
schreckte er vor ihrem Blick zurück. Es war sichtlich erkennbar, dass nicht nur er das eben
Geschehene bereute.
Wortlos löste sich Ziva aus seinem Griff und stand auf. Schnell zog sie ihr Oberteil und ihre
Jeans an und versuchte dabei stetig, Ronalds fragenden Blicken aus dem Weg zu gehen.
Auch er stand auf, zog seine Hose wieder hoch und stand nun schweigend am Fenster und
beobachtete die vorbeifahrenden Autos.
Ziva hatte bereits den Türgriff in der Hand und wollte das Zimmer verlassen, als sie dann
doch zögerte. Was sie beide getan hatten, war falsch gewesen. Sie spürte noch immer, wie
sie ihren inneren Kampf gegenüber der Situation verloren hatte, sie hatte es nicht abwenden
können. Und warum wurde sie jetzt dieses verdammte pochende Gefühl nicht los, Tony
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betrogen zu haben? Ja, sie liebte ihn, aber sie waren doch nicht zusammen, würden es
vermutlich auch nie sein. Tony wusste noch nicht einmal etwas von ihren Gefühlen ihm
gegenüber. Sie war eine freie Frau und die vermutlich schlechteste Freundin, die man sich
wünschen konnte. Ilena kämpfte vielleicht gerade um ihr Leben und sie selbst hatte nichts
Besseres zu tun, als mit ihrem Freund im Bett zu landen. Doch jetzt stillschweigend zu
gehen, hielt sie nicht für richtig und so blieb die Tür vor ihr verschlossen.
Zögerlich trat sie neben Ronald, dessen Blick noch immer unausweichlich auf die Straße
gerichtet war. Die beklemmende Atmosphäre zwischen ihnen war beinahe greifbar und Ziva
versuchte verzweifelt die richtigen Worte zu finden. Sie wusste einfach nicht, was jetzt zu
tun oder zu sagen war. „Es war ein Fehler“, kamen irgendwann leise die Worte über ihre
Lippen und sie griff nach Ronalds Hand, als sie bemerkte, wie der sonst so starke Mann mit
den aufsteigenden Tränen in seinen Augen kämpfte. Tröstend strich sie mit dem Daumen
über seinen Handrücken und auch wenn sie gerade genügend mit ihren eigenen Gefühlen zu
kämpfen hatte, war sie sich der Tatsache bewusst, dass für Ronald weitaus mehr auf dem
Spiel stand als für sie. Er könnte alles verlieren, was er sich in den letzten Wochen aufgebaut
hatte, während sie ihr Leben nur noch weiter verkompliziert hatte.
Ronald fasste Mut und drehte sich zu Ziva um. Und auch wenn er das Geschehene bereute,
sie war eine wundervolle Frau. Die letzten Wochen hatten ihm gezeigt, wie stark sie in
Wirklichkeit war und wie tapfer sie sich der Realität stellte. Jeder hatte bemerkt, wie sehr sie
den inneren Kampf mit sich selbst ausfocht und jegliche Hilfe ausgeschlagen hatte. Sie war
eine wundervolle und starke Frau. Doch jetzt stand sie verunsichert und fast schon
verzweifelt hier vor ihm. Nachdem sie sich sekundenlang in die Augen gesehen hatte und er
seine Lippen überlegend aufeinander gepresst hatte, hob er seine Hand und strich ihr eine
Haarsträhne aus dem Gesicht. „Lass es uns einfach vergessen“, flüsterte er, ohne auch nur zu
ahnen, welche Auswirkungen seine Worte haben sollten.
„Ich … nein“, stieß sie mit angehaltenem Atem hervor und ließ ruckartig seine Hand los.
Unsicher wich sie vor ihm zurück, während die Tränen der Verzweiflung in ihr aufstiegen und
sekundenspäter unaufhaltsam über ihre Wangen flossen.
Ronald war sofort wieder an ihrer Seite und zog sie zurück in seine Arme. Jetzt verstand er
gar nichts mehr, aber er spürte, wie sehr Ziva die tröstende Nähe brauchte, die Verzweiflung
war unverkennbar. Während ihr Kopf nun an seiner Schulter ruhte, immer und immer
wieder gebeutelt von Weinkrämpfen, strich er ihr behutsam und zärtlich über den Rücken.
Doch diese Berührung war anders, im Vergleich zu vor wenigen Minuten, die Leidenschaft
zwischen ihnen war längst einer gewissen Vertrautheit gewichen.
*****
Nachdem er sich an der U-Bahnstation von Tanja getrennt hatte, war Tony die letzten Meter
bis zum Hotel zu Fuß gegangen. Gedanklich spielte er die unterschiedlichsten Möglichkeiten
durch, wie er ein Gespräch mit Ziva beginnen könnte. Wie sollte er sie darauf ansprechen?
‚He Ziva, ich habe da so ein komisches Gefühl, dich beschützen zu müssen‘, klang in seinen
Ohren ziemlich lächerlich. ‚War was zwischen uns?‘, wäre vermutlich eine ziemlich plumpe
Anmache. ‚Bist du die Frau meiner eventuellen Erinnerungen?‘, da musste selbst er laut
lachen. Schwierig. Und zudem wollte er es auf jeden Fall vermeiden, Ziva auf irgendeine Art
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und Weise zu verletzen. Es gab etwas worüber sie nicht reden wollte, das hatte er zu
akzeptieren. Er wollte mit ihr sprechen, sie aber nicht unnötig bedrängen und es fiel ihm
beim besten Willen nicht ein, wie er das anstellen sollte, ohne DiNozzomäßig in ein
Fettnäpfchen zu treten, die zugegebenermaßen an allen Ecken lauerten und nur auf ihn zu
warten schienen.
Als er die Eingangstür zum Hotel öffnete, hatte er einen zwangsläufigen Entschluss gefasst.
Er konnte sich nicht entscheiden, also sollte es ein anderer tun. Und wozu hatte man
Freunde, wenn man in solch einer ausweglosen Situation nicht auf sie zurückgreifen konnte?
Ronald war nur wenig in die Thematik verstrickt, seine Meinung glich also eher einem
Außenstehenden. Und das war gut so. Tony lächelte vor sich hin, er war schließlich auch nur
ein Mann und Männer waren nicht gut in so etwas. Zu diesem kleinen männlichen Fehler
konnte er stehen. Beinahe beschwingt, weil für den Moment eine große Last von seinen
Schultern gewichen war, ging er die Stufen des Treppenhauses nach oben und lief den
langen Flur entlang. An Zivas Tür ging er zielstrebig vorbei und vollkommen in seine
Gedanken versunken öffnete er Ronalds Tür, ohne vorher anzuklopfen.
Was er erblickte, ließ seinen Herzschlag für einen kurzen schmerzvollen Moment aussetzen.
Auch wenn das Hotelzimmer nur durch die Straßenbeleuchtung in ein dämmriges Licht
getaucht war, waren die beiden Gestalten, die er am Fenster ausmachen konnte,
unverkennbar. In Ronalds Armen lag nicht nur eine Frau, er umarmte Ziva, zog sie fest an
sich und diese Art Umarmung sah mehr als nur freundschaftlich aus. Das zerwühlte Bett und
der süßliche Duft nach Sex, der noch in der Luft hing und ihm nicht verborgen blieb, ließen
ihn erstarren. Bilder blitzen in seinem Kopf auf, der Schwindel kehrte zurück und er musste
sich wohl oder übel am Türrahmen abstützen. ‚Nicht jetzt‘, schoss ihm gedanklich durch den
Kopf. Er musste hier weg, sofort. Doch sein Körper wollte ihm nicht gehorchen und zwang
ihn an Ort und Stelle zu bleiben.
Ronald blickte beim grellen Lichtstrahl, der durch die offene Tür vom Flur ins Zimmer fiel,
auf. Und auch wenn er in der Dunkelheit nur vermuten konnte, wer soeben das Zimmer
betreten hatte, sah er das Unheil schon auf sich zukommen. Tonys Statur, seine Haltung und
seine Hand, die nach der sicheren Umrandung der Tür suchte, wie so oft in den letzten
Wochen, wenn der Schwindel seinen Freund überkam, war unverkennbar. Auch Ziva hob
jetzt den Kopf und sah zur Tür, doch noch bevor beide nur ansatzweise dazu in der Lage
waren, etwas zu sagen, schwankte Tony zurück und stürzte davon.
*****
Die Wut, die sich am Vormittag in Arif aufgepeitscht hatte, war beinahe vollständig
verraucht. Nach der Diskussion mit seinem Kumpane hatte er seine Emotionen nicht nur an
Ileana ausgelassen, nein, auch die akribische Planung des nächsten Schrittes hatte ihn
wieder weitestgehend beruhigt. Der Plan, den er jetzt in die Tat umsetzen wollte, war nicht
nur genial, sondern er konnte seine riesige Vorfreude darauf auch nicht leugnen. Auf die
Hilfe des Barkeepers konnte er zwar nicht mehr zählen, also war es an ihm, seine Droge
selbst ungesehen an den Mann zu bringen, doch sein vermeintliches Opfer, bereits vor einer
halben Stunde von ihm auserwählt, ahnte nichts. Ungezwungen tanzte sie inzwischen mit
ihm inmitten der Tanzfläche des Clubs, weder schüchtern, noch zurückhaltend und sie
schenkte ihm hin und wieder sogar ein anzügliches Lächeln. Nur noch wenige Minuten, ein
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weiterer Schluck aus ihrer Flasche, die er ihr vorhin ganz gentlemanlike angeboten hatte,
und sie würde ihm folgen.
Ilena sah sich in dem Kellerabteil, in das Arif sie vor ein einer Stunden gebracht hatte, um. Es
herrschte eine präzise Ordnung, typisch für ihn. Wenn etwas nicht seinen exzentrischen
Vorstellungen entsprach, kam Arif nicht eher zur Ruhe, bis er seine eigene Ordnung wieder
hergestellt hatte. In der hintersten Ecke lag eine Matratze am Boden, abgedeckt mit einem
weißen faltenlosen Leinentuch, ein Kissen mit Blümchenmuster zierte das Kopfende. In der
anderen Ecke stand ein kleines, rundes Tischchen, darauf mittig, eine gläserne Blumenvase
mit einem frischen Strauß roter Rosen. Arif liebte Rosen, vermutlich wegen der Eleganz und
der dazugehörigen Dornen. An der gegenüberliegenden Wand stand eine weiße, eher
schlichte Kommode, darauf ein Glas und eine Flasche Wasser. Und daneben lag das Etui, das
Ilena nur allzu gut kannte. Was führte Arif im Schilde? Warum hatte er sie hierher gebracht?
Sie hörte die Schritte, wie bereits an dem vergangenen Abend, hörte das haltlose Kichern
einer jungen Frau, die sich der Gefahr, in der sie schwebte, keineswegs bewusst zu sein
schien. Das knirschende Geräusch der sich öffnenden Tür ließ Ilena zusammenzucken. Und
plötzlich war ihr klar, welches Ziel Arif dieses Mal verfolgte, sie sollte nicht nur zuhören wie
er die Frau tötete, sie sollte ihm heute auch dabei zusehen. Nur deswegen hatte er sie in
diesen Kellerraum gebracht und sie so an das Heizungsrohr gefesselt, dass sie sich fast nicht
rühren konnte.
*****
„Gibbs, bist du noch in der Leitung?“ Abby lief in ihrem Labor aufgebracht hin und her.
Nichts konnte sie mehr daran hindern, sich zu bewegen.
„Ja“
„Das ist einfach unglaublich“, fing sie an zu berichten, nahm aber zunächst noch einen
großen Schluck CafPow. „Gibt es tatsächlich Menschen die von Grund auf böse sind? So
absolut böse? Was ist das für eine Welt, in der …“
„Abbs“
Erschrocken blickte die Kriminaltechnikerin zur Telefonsprechanlage und schüttelte den
Kopf. Selbst durchs Telefon, tausende Kilometer entfernt, ging ihr dieser bestimmende
Tonfall ihres Silberfuchses durch Mark und Bein.
„Was hast du entdeckt?“
Abby straffte die Schulter und trat zurück an ihren PC, um die Erkenntnisse abzulesen.
„McGee und ich haben Informationen über den vermeintlichen Ehemann von Ilena
gesammelt.“
„Vermeintlich?“
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„Ja, … nein, also er ist schon der Ehemann, aber McGee und ich glauben nicht, dass das
Ganze auf beidseitiger freiwilliger Basis beruht. Ilena war zu dem Zeitpunkt gerade mal 17
Jahre alt. Wir haben einige aussagekräftige Fotos zusammensuchen können, Ilena macht
darauf nicht unbedingt einen glücklichen Eindruck.“ Sie machte einen kurzen Moment
Pause, um Luft zu holen. „McGee konnte ohne Probleme eine ehemalige Freundin von Ilena
aufspüren, die uns diesen Verdacht bestätigt hat. Sie nannte es eine ‚Zwangsehe‘, aber nach
der Hochzeit brach wohl die Verbindung zwischen den beiden Frauen ab, sie konnte uns also
nichts Aktuelles sagen.“
„Was wissen wir über diesen Mann?“
„Einiges. Arif Hasami, 32 Jahre, er wächst in der Nachbarschaft der Familie Hamid auf, nach
dem Tod seines Vaters hat Admin Hamid ihn wohl unter seine Fittische genommen. Er
besuchte die gleiche Schule wie Ilena, zwei Altersklassen höher, und studierte dann 6
Semester Medizin an der Universität in Tel Aviv. Brach das Studium aber ab. Ein paar
Drogendelikte sind in seiner Akte aufgelistet, aber nichts Größeres. Nach der Heirat 1998
lebt er mit im Haus, 2004 wird Alisar geboren, in der Geburtsurkunde wird er als Vater
angegeben. Kurze Zeit später verschwindet Arif von der Bildfläche.“
„Er verschwindet?“
„mmh, aber jetzt kommt´s … halt dich fest mein Silberfuchs“, Abby nahm schnell einen
erneuten Schluck des koffeinhaltigen Getränks und scrollte in ihrem Schriftstück nach unten.
„Wir sind mehr oder weniger durch Zufall drauf gestoßen.“ Von Gibbs unbemerkt warf sie
McGee einen kurzen Blick über die Schulter zu und zwinkerte. Das war ganz alleine sein
Verdienst gewesen. „ Zur gleichen Zeit, also mit Arifs Untertauchen, verliert sich in TelAviv
die Spur eines Serienmörders. Die Ermittler standen damals laut Angaben einer israelischen
Zeitung wohl kurz vor dem Durchbruch. Zuvor tauchen dort im Zeitraum von zwei Jahren
sechs Leichen auf, die extreme Ähnlichkeit zu unseren aktuellen Leichen aufweisen. Die
Schnittverletzungen, die mögliche Droge – alles passt. Es fehlen nur diese verdammten 4
Buchstaben.“
„Schick mir alles wichtige per Mail“, Gibbs Stimme hörte sich nun weniger frustriert an, die
Informationen waren gut. Zwar hatten sie noch immer keinen Ansatz, wo dieser Kerl steckte,
aber zumindest hatten sie so einen Eindruck mit wem sie es zu tun hatten. „Und McGee soll
dir einen neuen CafPow holen.“
„Nicht nötig, Gibbs“, Abby grinste und zwinkerte McGee zu. „Ich bin für die nächsten Tage
und Nächte eingedeckt. Wir melden uns, sobald wir etwas herausfinden.“
*****
Tony rannte durch den engen Flur, hastete die steilen Stufen der Treppe hinab und verließ
nur wenige Zeit später stolpernd das Hotel. Er wusste nicht wohin und es war ihm auch egal,
wo er landen würde, er wusste nur, er musste hier weg. Sein Herz klopfte wie wild in seiner
Brust und sein Blick war verschwommen, doch er konnte nicht stehenbleiben. Allen
körperlichen Warnsignalen zum Trotz, lief er weiter. Plötzlich war alles wieder da gewesen.
In dem Moment, als er erkannte hatte, welche Frau in den Armen seines Freundes lag, war
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in seinem Kopf ein Schalter umgelegt worden. Und das Gefühl, das er seit Wochen in sich
spürte, diese Enge in seinem Körper, schien ihn jetzt schier zu erdrücken. Es tat weh, jede
Erinnerung, die in ihm aufkeimte, schmerzte mehr, als die vorangegangene.
Atemlos und verzweifelt nach Halt suchend, ließ er sich eine halbe Stunde später auf den
breiten Stufen der Feldherrnhalle nieder. Die Blicke, die fremde Passanten ihm zuwarfen,
nahm er nicht wahr und lehnte sich mit seinem Kopf gegen die kühlen Steine des seitlichen
Mauerabsatzes. Er fuhr sich fassungslos durch sein Gesicht.
… liebevoll strich sie über sein Gesicht, berührte behutsam sein Kinn und fuhr sanft mit dem
Finger über seine Lippen. Zögernd ließ sie schließlich ihre Finger über seinen Hals in den
Nacken gleiten. Vorsichtig zog sie ihn an sich heran, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick
in seine Augen zu unterbrechen. Sein Mund kam dem ihren immer näher, bis sie sich endlich
berührten. Zart, beinahe …
Tony atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen, doch diese Bilder wurden immer
wieder von einem panischen Gefühl überschattet, das sich ungehindert in ihm ausbreitete.
… Atem rasselte, jeder Atemzug schmerzte. Krampfhaft musste er husten und auch wenn er
ruhig bleiben wollte, er spürte die Angst und die Panik. Und auch sein Kopf fühlte sich an, als
würde er jeden Moment zerplatzen. Mit letzten Kräften riss er wieder an den Fesseln, doch
seine Kräfte reichten bei weitem schon lange nicht mehr aus, um etwas auszurichten. Ein
erneuter Hustenanfall überfiel ihn und er hatte das Gefühl langsam zu ersticken. Kraftlos riss
er ein letztes Mal an seinen Händen. Und er verlor endgültig den Kampf gegen die drohende
Bewusstlosigkeit...
Aufgebracht starrte er auf seine Hände, die unverständlich zitterten, beinah bebten und
immer wieder gefühlsmäßig zwischen Schmerzen und Taubheit flimmerten.
… die Handfesseln zu lösen und egal wie weh es tat, er musste sich hier irgendwie losreisen.
Tatenlos sich dem ausbreitenden Feuer zu ergeben, dazu war er nicht bereit. Er würde
kämpfen bis zur letzten Sekunde, für sich und für Ziva. Je länger er jedoch herumzerrte, umso
fester zog sich der Knoten um seine Hände und schnürten ihm das Handgelenk zu. Er
verspürte bereits das taube Gefühl in den Fingerspitzen...
Seine Finger brannten wie Feuer und doch spürte er ein inniges, friedvolles Gefühl in sich
und ein wohliger Schauer lief über seinen Rücken.
… und ihre Finger verflochten sich ineinander. Eine Geste, die die tiefe Verbundenheit der
beiden Liebenden untermauerte. Mit der anderen, freien Hand strich er sanft über ihre
Schulter und ließ sie dann langsam über ihren Arm hinunter auf ihre Hüfte sinken….
Und verzweifelt versuchte er das Gefühl festzuhalten. Auch wenn seine Gedanken an
weitere Erinnerungen weitergereicht wurden.
… ging zu Boden. Er spürte den kurzen, stechenden Schmerz im Nacken, sah die aufblitzenden
Sterne vor seinen Augen, vernahm noch das flüchtig taube Gefühl in Armen und Beinen, die
daraufhin langsam nachgaben. Sein letzter Gedanke galt Ziva....
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Er konnte es spüren …
… zwischen ihnen bestand eine Zärtlichkeit, eine Intensität der Gefühle, die keiner von ihnen
jemals zuvor erlebt hatte. Überwältigt von seinen Gefühlen, murmelte Tony Zivas Namen. Er
wollte sie spüren. Sein Herz, sein Geist, sein Körper sehnte sich so sehr nach ihr. Und er war
bereit, ihr alles zu geben. Jede einzelne Faser seines Ichs gehörte nur noch Ziva und er konnte
sich nicht vorstellen, dass sich das jemals wieder ändern sollte...
*****
Außer dem leisen Wimmern der Frau und Arifs kontinuierliches Keuchen, konnte sie nichts
hören. Ilena presste fest ihre Augen und Lippen zusammen. Am Anfang hatte sie geweint,
ihn angeschrien, er solle die Frau in Ruhe lassen, zuletzt sogar um das Leben der Frau
gebettelt, doch all ihre Versuche waren ergebnislos geblieben. Der Geruch nach Blut und die
vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen des Opfers bohrten sich unaufhaltsam in ihren Kopf.
Nicht nur ihre Finger zitterten, ihr ganzer Körper bebte vor Grauen.
Dann war es mit einem Mal ruhig. Eine angestrengte Stille, die unweigerlich eine panische
Gänsehaut auf Ilenas Körper auslöste. Es war vorbei. Wenn sie jetzt die Augen öffnete,
würde sie eine Leiche vor sich sehen, den leblosen Körper der Frau, die zuvor so sehr leiden
musste. Tränen rannen aus ihren geschlossenen Augen und flossen über ihr Gesicht. Sie
fühlte sich erschöpft, müde und vollkommen ausgelaugt. Jegliche Kräfte hatten ihren Körper
inzwischen verlassen. Wie im Nebel spürte sie die sanfte Berührung auf ihrer Wange,
bemerkte, wie ihr Kinn umfasst und ihr Kopf dadurch angehoben wurde. Sie nahm die
weichen Lippen auf den ihren wahr und konnte sich nicht gegen die fordernde Zunge
wehren. Er küsste sie. Gerade noch hatte er gefühlskalt eine Frau vergewaltigt und getötet
und jetzt küsste er sie, zärtlich und gefühlvoll. Es war einfach nur widerlich.
„Du bist doch krank“, Ilena drehte den Kopf zur Seite und unterbrach so den ungewollten
Kuss. Ihre Stimme war gebrochen und leise, doch die Worte trafen die gewünschte
Ernsthaftigkeit. Sofort spürte sie, wie sein zuvor zärtlicher Griff sich wandelte und seine
Finger nun aggressiver ihr Kinn umschlossen, sie erneut dazu zwangen, den Kopf zu drehen
und ihn anzusehen. Die gefühlskalten, braunen Augen ließen sie hysterisch und abweisend
auflachen. „Du bist ein Monstrum“, zischte sie ihm entgegen. „Ich hasse dich.“
*****
Die Tür fiel hinter ihr lautlos ins Schloss und schutzsuchend lehnte sie sich mit dem Rücken
gegen das weiße Holz, als wolle sie symbolisch damit alle Probleme aussperren, die vor
wenigen Minuten über sie eingebrochen sind. Doch das war nicht möglich, das wusste auch
Ziva. Sie versuchte tief und ruhig zu atmen und kämpfte gleichzeitig gegen die Tränen und
ihre stockende, beinah hysterische Atmung an, außerdem nahm die Übelkeit wieder zu.
Noch immer sah sie den entsetzten, danach leeren Blick von Tony vor sich. Sah, wie er
erstarrte, reglos im Türrahmen stand, nur um sekundenspäter aus dem Zimmer zu stürzen.
Zunächst hatte sie ja überlegt, Tony nachzugehen und sofort mit ihm zu reden, doch dieser
Plan war nicht in die Tat umsetzbar. Tony war so schnell verschwunden. Sie wusste nicht,
wo er hin wollte und sie kannte sich hier genauso wenig aus wie er. Und dass sie sich zufällig
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über den Weg laufen würden, hier im Zentrum einer fremden Stadt, war reine Utopie. Ziva
schloss die Augen und ließ sich langsam an der Tür hinab gleiten, zog ihre Beine ganz dicht
an ihren Körper und kämpfte mit ihren aufwallenden Gefühlen. Sie war verzweifelt,
unglücklich und sie war wütend, wütend auf sich selbst, auf Ronald, wütend auf Tony, dass
dieser ohne anzuklopfen herein gekommen war. Sie war einfach wütend auf alles. Seit ein
paar Wochen verlief ihr Leben nach Teufels Plan, es ging schief was nur schiefgehen konnte.
Die Entführung, Tonys Gedächtnisverlust. Verdammt, hatte sie denn kein Recht darauf auch
ein wenig Glück zu erfahren, warum trampelte man auf ihr gefühllos herum, wie auf heißem
Wüstensand?
Mit dem Handrücken fuhr sie sich durch das tränennasse Gesicht. Und vermutlich wurde
dieses entsetzliche Leben, das sie momentan führte, auch noch gekrönt. Unbewusst fuhr
ihre andere Hand auf ihren Bauch. Sollte sie tatsächlich schwanger sein, dann war das Chaos
perfekt.
Ziva seufzte laut und drückte sich vom Boden hoch. Das Einzige was sie zurzeit tun konnte,
war für Klarheit zu sorgen. Bedingungslos. Wenn sie später mit Tony reden wollte, dann war
es an der Zeit alle Wahrheiten auszusprechen. Das war sie nicht nur ihm, sondern auch sich
selber schuldig.
Die ehemalige Mossadagentin, von der nur noch die Hülle übrig zu sein schien, zog ihr T-Shirt
zurecht und griff nach ihrer kleinen Reisetasche; den Schwangerschaftstest hatte sie in die
Seitentasche gesteckt. Die herausgenommene Packung fühlte sich merkwürdig an in ihren
Händen, schwer, als würde sie eine gewisse Last in sich tragen. Sie wagte einen letzten Blick
in den kleinen runden Spiegel an der Garderobe, bei dem sie sich die vorerst letzten Tränen
aus dem Gesicht wischte, eine widerspenstige Haarsträhne hinter das Ohr strich und
nochmals tief durchatmete.
*****
Die Faust landete mitten in ihrem Gesicht, Ilenas Kopf schnellte zurück und knallte mit voller
Wucht gegen das Heizungsrohr, an dem auch ihre Hände gefesselt waren. Der
unausweichliche Schmerz durchdrang ihren Körper und drang durch ihre Adern. Dennoch
fühlte sie sich gut. Sie hatte endlich das ausgesprochen, was sie viele Jahre verschwiegen
und für sich behalten hatte und jetzt, da diese wahren Worte endlich ihren Mund verlassen
hatten, verspürte sie nur Stolz. Der Schmerz war nebensächlich.
„Wage es nie wieder so mit mir zu reden“, Arifs Stimme war laut und eiskalt. Seine Augen
waren zu wilden Schlitzen gedrängt und seine Hände fuchtelten wie wild vor ihrem Gesicht
herum. „Was denkst du, für wen ich das hier alles tue? Für deinen Vater, Ilena. Für DEINEN
Vater. Ich räche den Tod Admin. Familienehre. Wäre es nicht eigentlich dein Job?“
Ilena spürte Arifs Finger, die sich nun eng um ihren Hals legten und sogleich fühlte sie den
leichten Druck, den er mit seinen Daumen ausführte. Er hatte sich vor sie auf den harten
Boden gekniet und blickte sie mit bösen Augen an. Doch das unbeschreibliche Glücksgefühl,
das sie noch immer tief in sich verspürte, ließ sie nicht in Panik verfallen, nein, es ließ sie
lächeln.
„Du solltest mir dankbar sein“, Arif schien sich in einen Rausch zu reden. „Er hat so viel für
uns getan. Und der NCIS hat sein Leben einfach so ausgehaucht, ihn umgebracht.“
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„Er hat …“, Ilena versuchte zu sprechen, doch der Druck auf ihrem Kehlkopf verhinderte,
dass sie klar und deutlich reden konnte. „… alles… für…“, immer wieder musste sie Luft
holen, um ein Wort hervorzubringen, „ …dich … getan.“
Arif lockerte plötzlich seinen Griff und holte erneut aus. Die schallende Ohrfeige, die dieses
Mal in Ilenas Gesicht landete, hinterließ einen roten Abdruck. „Sei nicht so verdammt
undankbar.“
„Undankbar?“ Ilena, die endlich wieder frei atmen konnte, ignorierte das Brennen auf ihrer
Wange. „Ich bin undankbar? Was hat mein Vater für mich getan? Was?“ Sie schrie ihm die
Worte in sein abscheuliches Antlitz. „Er hat mich mit 17 Jahren mit einem Monster
verheiratet, er hat mich benutzt für seine üblen Geschäfte. Er hat nicht nur meine Schwester
in den sicheren Tod getrieben, er hat die letzten Jahre sogar mein Kind gequält.“
Arifs Lachen durchströmte den Raum. „Er hatte nun mal seine Prinzipien und hat an seinen
Zielen festgehalten. Daran ist nichts auszusetzen.“
„Und wenn man dafür über Leichen geht, nennst du es dann immer noch eine Tugend?“
Ilenas Augen funkelten vor Zorn. Die Schmerzen, das anschwellende Jochbein und das Blut,
das inzwischen stetig aus ihrer Nase tropfte, waren für sie nur noch mehr Zeichen, endlich
nicht mehr zu schweigen. „Aber wen frag ich das? Einen Mörder? Einen Psychopathen? …
oder was bist du, Arif? Was tust du hier zur Hölle? Wie viele unschuldige Frauen hast du
bereits gequält, vergewaltigt und ermordet? Wie nennst du das? Was sind deine
Grundsätze?
„Sie sind Mittel zum Zweck“, stieß Arif vor Zorn schnaubend hervor. „Zurzeit sind sie nur
Lockmittel für diese amerikanische Bundesbehörde, aber ich muss gestehen, es macht mir
auch Freude. Mit jeder weiteren steigert sich sogar das Lustgefühl.“ Mit einem glückseligen
Lächeln beugte er sich zu ihr vor und streichelte zärtlich über die Stelle, an der er Ilena zuvor
verletzt hatte. „Auch wenn es nur halb so schön ist, wie mit dir.“, er stockte kurz. „Ich werde
jetzt erst mal die Leiche wegschaffen...“ Er küsste sie auf die Schläfe und flüsterte ihr dann
ins Ohr: „Und dann sehen wir weiter.“
*****
Es kribbelte in ihrem Körper und auch wenn sie jegliche Macht aufbrachte ihre Gefühle zu
kontrollieren, sie musste sich haltlos geschlagen geben. Noch immer hielt sie das kleine
Stäbchen in ihren verkrampften Fingern und starrte auf das Wort `positiv`. Positiv für wen,
schoss es ihr immer wieder durch den Kopf und pfefferte den Schwangerschaftstest
letztendlich gegen die Duschabtrennung aus Acryl. Kreidebleich blickte sie dann in den
Spiegel über dem großen Waschbecken und erschrak selbst vor ihrem trüben mutlosen Blick.
Verzweifelt ging sie in Gedanken die Liste möglicher Menschen durch, die sie jetzt, in diesem
für sie so wichtigen und entscheidenden Moment in ihrem Leben, anrufen könnte. Ilena, vor
wenigen Stunden noch ihre erste Ansprechpartnerin fiel weg und vermutlich hatte sie diese
Freundschaft vorhin blöderweise zerstört, zumindest schwerwiegend mit Füßen getreten
und sie konnte froh sein, wenn Ilena überhaupt jemals wieder ein Wort mit ihr redete. Abby
kam auch nicht in Frage, dann könnte sie es ja gleich jedem unter die Nase binden. McGee
würde es zwar nicht jedem erzählen, könnte es aber vermutlich nicht vor Abby
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verheimlichen, was zum gleichen miserablen Ergebnis führte. Gibbs würde sie umbringen,
wobei sie das als eine gute Alternative ansah. Sollte sie ihren Vater anrufen? Das kam noch
nicht mal ansatzweise in Frage.
Nach einer gefühlten Ewigkeit griff Ziva nach dem Handy, setzte sich mit zitternden Knien auf
den Rand der Badewanne und wählte. Einen Versuch war es wert, aber schon nach dem
ersten Läuten war ihr klar, dass Tony nicht abheben würde und nach kurzer Zeit war auch
schon die monotone Stimme des Anrufbeantworters zu hören. Ziva brach den Anruf ab und
wählte die nächste Nummer.
„Ziva, meine Teuerste. Was kann ich für dich tun?“ Ducky klang freundlich wie immer, doch
in seiner Stimme klang auch ein Hauch von Angst und Mitgefühl mit. Vermutlich dachte er,
am anderen Ende der Welt gäbe es neue Erkenntnisse im aktuellen Fall.
„Habt ihr Ilena gefunden?“, hörte sie aus der Ferne Abbys aufgekratzte Stimme. Ziva schloss
die Augen und schluckte schwer. Abbys Anwesenheit ließ ihre eigene Redseligkeit mit einem
großen Knall verpuffen.
„Nein, es gibt nichts neues“, seufzte sie in den Hörer und suchte verzweifelt nach einem
Grund, den sie ihrem Anruf andichten konnte, ohne dass Abby und Ducky misstrauisch
werden könnten. Da fielen ihr die Tropfen ein, die der Pathologe ihr kurz vor ihrer Abreise
gegeben hatte. „Ich wollte nur nochmals nach der Dosierung für das Medikament fragen,
dass du mir mitgegeben hast“, flüsterte sie beinahe in den Hörer, aus Angst ihre Notlüge
könnte auffliegen.
Doch Ducky zeigte keinerlei Anzeichen, wiederholte seine Anweisungen vom Vortag
bezüglich der Tropfenanzahl. Und gerade als die Beiden Ziva eine ‚Gute Nacht‘ wünschten
und sich verabschiedeten, kam ein weiterer Anruf rein…
*****
Gibbs sah sich um, blickte die lange Straße nach unten und schüttelte frustriert den Kopf.
Auch spät abends hatte die Stadt nicht an Grazie verloren, die hohen mächtigen Häuser
warfen dunkle Schatten, doch die bestrahlten Mauern der einzelnen Sehenswürdigkeiten
tauchten den Rest in ein geheimnisvolles Licht. Es hätte alles so friedvoll sein können, so, wie
die Stadt in Reiseführern immer beschrieben wurde. Wenn diese Idylle nicht dem leblosen
Körper auf der Straße zum Opfer gefallen wäre. Öffentlicher konnte man eine Leiche wohl
kaum entsorgen. Ihr Täter wollte pure Aufmerksamkeit, er wollte gefasst werden und doch
gelang es ihm immer wieder spurlos zu verschwinden. Aber dieses Mal sah es für die
polizeilichen Ermittlungen besser aus. Es gab nicht nur ein Zeuge, es gab viele Passanten, die
etwas gesehen haben. Alleine fünf Taxifahrer, die sich zu dem Zeitpunkt auf dem
Seitenstreifen unterhalten hatten, konnten genaue Aussagen machen.
Inzwischen tummelten sich am Rand des Geschehens eine Traube von Schaulustigen,
vorwiegend Touristen, die einen schnellen Blick auf die dramatische Vorstellung der
Münchener Polizei werfen wollten und verstopften den schmalen Durchgang zur Münchner
Fußgängerzone.
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„Das Gebäude hier ist das alte Rathaus“, versuchte soeben ein Polizist in Uniform, der die
Absperrungen rund um den Tatort aufstellte, dem NCIS Ermittler auf gebrochenem Englisch
zu vermitteln. „Darin ist das berühmte Spielzeugmuseum.“
Gibbs nickte abwesend und ging zur Leiche. Um sie vor den Blicken der Menschen zu
schützen, hatte man sie mit einer Plane bedeckt und Gibbs musste diese erst anheben. Die
junge Frau, dunkelblond, Ende zwanzig lag auf dem Bauch, ihr Gesicht war unsanft zur Seite
gedreht und ihre toten Augen starrten leblos die Straße runter, als ruhten sie für alle
Ewigkeiten auf den Türmen des Isartors. Gibbs war sich sicher, wenn die Leiche umgedreht
wurde, kamen die Schnittwunden und die blutigen Buchstaben NCIS zum Vorschein. Und
ironischerweise kam es ihm in den Sinn, dass diese Morde hier nichts weiter waren, als eine
extravagante Stadtführung durch die bayerische Hauptstadt, um die er nicht gebeten hatte.
„Gibbs.“ Kriminalhauptkommissar Steinberger tauchte unter dem rot-weißen Flatterband
durch und kam ihm mit schnellen Schritten entgegen. Zur Begrüßung nickte er ihm zu und
trat dicht an seine Seite. Er deutete entlang der Straße, die Gibbs bisher nicht hatte
zuordnen können. „Laut Zeugenaussagen kam der Wagen vom Viktualienmarkt mit
rasantem Tempo angefahren, einige Passanten mussten dort am Straßenübergang wohl
schon zur Seite springen, sonst hätte er sie mitgerissen. Ein junger Mann wurde dabei
verletzt, ist aber nicht weiter tragisch. Der Wagen hielt dann hier, inmitten der Kreuzung auf
der Sperrfläche an. Ein Mann stieg aus, zerrte die Leiche aus dem Wagen, stieg wieder ein
und raste dann durch das ‚Tal‘ davon. Die Taxifahrer sagen, es sei alles so schnell gegangen,
dass niemand hätte eingreifen können. Bevor sie die Situation auch nur ansatzweise hätten
verstehen können, sei er bereits wieder los gefahren.“
In der Zwischenzeit kam auch Cornelia Rubin am Tatort an. Als sie am Telefon erfahren
hatte, wo die neue Leiche gefunden wurde, war es ihr eiskalt über den Rücken gelaufen. So
langsam machte ihr der Täter Angst. Und er machte sie wütend, denn es gelang diesem
Monster tatsächlich schöne Orte, mit denen sie bisher angenehme Erinnerungen und nette
Bilder verband, rücksichtslos zu zerstören.
Wortlos ging sie an den beiden Chefs vorbei, sie hatte aufgrund des Schlafentzugs
inzwischen mehr als schlechte Laune und sie sehnte sich nach ihrem kuscheligen Zuhause.
Gerade als sie ihre müden Beine in einem heißen Bad auszustrecken gedachte, endlich ein
wenig abschalten konnte, schrillte im Wohnzimmer ihr Telefon. Und just in dem Moment
hatte sie schon vor Augen, was sie da wieder erwartete.
Und ihre Erwartungen wurden vollends erfüllt. Wenn nicht sogar übertroffen. Frustriert blieb
sie vor der Leiche stehen und blickte dann hoch zur Uhr des alten Rathauses. Es war gerade
mal halb eins. Der letzte Leichenfund war noch nicht einmal 24 Stunden her. Sie senkte
wieder ihren Blick und sog die kühle Nachtluft in ihre Lungen. Dann wandte sie sich an Felix,
der mittlerweile schnaufend mit Kamera und weiterer Ausrüstung bei ihr angekommen war.
„Hilfst du mir sie umzudrehen?“, sprach sie leise, als wäre es verboten die bedauernde Stille,
die sich in diesem Straßendreieck ausgebreitet hatte, zu durchbrechen.
„Mmh, die Kollegen haben gleich den Sichtschutz aufgebaut. Dann können wir loslegen“,
antwortete Felix und fotografierte die Tote von allen Seiten.
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Tanja und Ziva kamen gleichzeitig am Tatort an, nachdem Tanja eigentlich beide NCIS
Agenten am Hotel abholen wollte, dort aber nur Ziva angetroffen hatte. Die Frau, mit der sie
den ganzen Tag über noch nichts zu tun gehabt hatte, sah ziemlich fertig aus und hatte
während der Fahrt eisern geschwiegen. Tanja hatte es akzeptiert und nicht weiter
nachgefragt.
Ziva ging sofort zur Leiche und nachdem drei Augenpaare sie kritisch musterten, schüttelte
sie energisch den Kopf. Es war nicht Ilena. Ihre schlechte Verfassung, ihre verweinten Augen,
vermutlich dachten die Kollegen, die Sache mit Ilena nahm sie so sehr mit und sicherlich war
das auch mit ein Grund, wenn auch nicht der Einzige. Als das Telefon vor einer halben
Stunde in ihren Händen klingelte, hatte sie die leise Hoffnung verspürt, Tony könnte sie
tatsächlich zurückrufen. Doch am anderen Ende war nur Gibbs Knurren zu hören und die
Anweisung mit Tanja zum Tatort zu kommen. Sie hatte ihre Sorgen noch im Badezimmer mit
Hilfe von eiskaltem Wasser aus ihrem Gesicht und ihren Gedanken gespült, ihre Haare zu
einem Zopf zusammengebunden und eine berufliche, professionelle Haltung angenommen.
Unsicher blickte Ziva sich um, doch Tony war nirgends zu sehen. Gibbs hatte ihn doch
sicherlich auch informiert, nachdem sie ihm am Telefon gesagt hatte, dass er nicht im Hotel
sei. Sie hoffte nur, dass er wenigsten Gibbs Anruf entgegen genommen hatte und nicht
irgendwo da draußen verzweifelt und allein herumirrte.
„Ich besorge uns die Videobänder der Bank.“ Tanja riss Ziva aus ihren trüben Gedanken und
deutete seitlich auf ein Gebäude. „Außerdem gibt es mehrere Überwachungskameras auf
dem Viktualienmarkt. Die Webcam ist so viel ich weiß zurzeit nicht aktiv, aber vielleicht
zeichnet sie trotzdem auf.“
„Ziva“, Gibbs tauchte gemeinsam mit Steinberger neben der Gruppe auf. „Übernimm du
bitte die drei Zeugen dahinten, sie sprechen nur Englisch.“ Während er die Aufgaben
verteilte, ruhte sein Blick auf ihr und schien sie eindringlich zu mustern. Doch ein Nicken
ihrerseits schien ihn zufrieden zu stellen. „Zeig ihnen dieses Foto“, er hielt ihr ein
ausgedrucktes Bild eines Mannes hin, „Er ist eventuell unser Täter, Ilenas Ehemann.“
Zögerlich nahm Ziva das Bild entgegen und blickte darauf. Tief in ihr hatte sie von Anfang an
die Angst verspürt, in bekannte Augen zu blicken. Doch wer immer das auf dem Foto war, sie
hatte ihn noch nie gesehen.
Gibbs wollte eigentlich fragen, ob sie den Mann auf dem Bild erkannte, doch ihre
aufatmende Geste war ihm Antwort genug. „Ok“, wandte er sich dann an Cornelia. „Ich habe
ja gesagt, die nächste Leiche lässt nicht lange auf sich warten.“
Cornelia schenkte ihm ein ironisches Lächeln, bevor sie gemeinsam mit Felix die Leiche
umdrehte. Der Körper der Toten war übersät mit Schnittwunden, auf dem Bauch prangten
die Buchstaben. Wie nicht anders zu erwarten. Vor ihnen lag ihre dritte Leiche.
*****
Tony saß noch immer auf den Stufen der Feldherrnhalle, sein Kopf an die Mauer gelehnt und
die Augen erschöpft geschlossen. Seit einer halben Stunde saß er bewegungslos da. In den
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Händen, die auf seinen Oberschenkeln ruhten, hielt er noch immer das Handy. Nach dem
vierten Anruf war er rangegangen, nur um das lästige Telefonat endlich hinter sich zu
bringen und um ihr deutlich zu machen, dass er jetzt einfach nur alleine sein wollte. Doch
statt der erwarteten Stimme Zivas, knurrte Gibbs in sein Ohr. Und da er sich nicht in der Lage
fühlte, sich jetzt an einen Tatort zu begeben, hielt er die Wahrheit für angebracht.
„Gibbs, ich kann mich erinnern. An alles, an das Feuer und …“ Es waren nicht mehr Worte
nötig gewesen. Gibbs verstand ihn auf Anhieb und sagte kurz angebunden: „Nimm dir eine
Auszeit.“
Zumindest war das Schwindelgefühl in der Zwischenzeit verebbt, seine Hände hatten
aufgehört zu zittern, nur sein Herz schlug noch immer schneller als gewohnt. Die
Erinnerungen trafen ihn mit aller Wucht und er hatte Mühe, alles in die richtige Reihenfolge
zu bringen. Und den Sinn zu ordnen.
Die Lage war mehr als verzwickt und im Grunde genommen, war er vollkommen
überfordert. Das gestand er sich zu und wenn er gewusst hätte, wer ihm helfen könnte, er
hätte nicht gezögert Hilfe anzunehmen. Doch er musste sich alleine durch seine
Erinnerungen kämpfen und auf sich selbst gestellt, die Fragen klären, die in seinem Kopf
herum schwirrten.
Wie sollte er den Menschen, die er durch seinen Gedächtnisverlust seit Monaten so
schmerzlich vor den Kopf gestoßen hatte und die ihn jetzt selbst so schamlos hintergangen
hatten, jemals wieder gegenübertreten? Unvoreingenommen, freundlich und
verständnisvoll?
Ronald, er hatte an diese Männerfreundschaft geglaubt, seine Unterstützung in den letzten
Wochen war Gold wert gewesen und jetzt vögelte er hinter seinem Rücken seine Freundin?
Obgleich Ronald nicht wusste, dass Ziva seine Freundin war, oder ist? Verdammt, er wusste
es ja noch nicht einmal selbst.
Wieso aber hatte Ziva das getan? Dafür fehlte ihm noch mehr das Verständnis. Was er nur
ansatzweise ahnen konnte, war, wie sehr er Ziva in den letzten Wochen unbewusst verletzt
haben musste. Seine blöden Sprüche, sein abwehrendes Verhalten, als er sie im
Krankenhaus das erste Mal sah und sie unsanft von sich weggestoßen hatte. Und endlich
verstand er auch ihre merkwürdigen Reaktionen, diesen hilfesuchenden Blick, ihre traurigen
Augen und ihre ausweichende Art. Selbst das Zusammenzucken bei jeder kleinsten
Berührung. Alles erschien plötzlich logisch, zumindest verständlich. Hatte er selbst sie in die
Arme eines anderen getrieben? Suchte sie einfach nur Schutz und Geborgenheit? Oder
empfand sie nichts mehr für ihn? Hatte die Liebe der Zeit ihren Tribut gefordert?
Seine Empfindlichkeiten fuhren Achterbahn. Er empfand plötzlich Gefühle, die er vor
wenigen Stunden noch vehement abgestritten hätte. Er liebte, wie er noch nie geliebt hatte.
Er spürte Erleichterung, die sich einstellte, weil endlich die Zweifel in ihm erloschen und es
keine Lücken mehr in seinen Erinnerungen gab. Zugleich war er wütend, weil die Situation,
die das alles hervorrief, ihn in eine solch missliche Lage brachte. Er freute sich und wünschte
sich sogleich, alles wieder vergessen zu können. Es war unbeschreiblich, ein Zwiespalt
zwischen Lachen und Weinen, der ihn einfach nur leblos auf den Stufen sitzen ließ, nicht
fähig, sich zu bewegen.
*****
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Ziva versuchte sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Seit ein paar Minuten hatten sie sich im
Besprechungszimmer versammelt, um die neusten Fakten zusammenzutragen. Die
Pinnwände und alle bisherigen Überlegungen vom Vortag hatte man inzwischen aus
Steinbergers Büro hierher verbannt, um mehr Platz zu haben. Während Felix bereits die
ausgedruckten Fotos der neuen Leiche anpinnte, schien Tanja noch immer am Telefon
festzuhängen. Seit einer halben Stunde versuchte die inzwischen vollkommen verzweifelt
wirkende Kommissarin vergeblich an die Überwachungsbänder der Stadtsparkasse zu
kommen.
Die Videobänder vom Viktualienmarkt lagen ihnen bereits vor und Ziva hatte sie vor knapp
einer Stunde schon an Abby weitergeleitet, mit der Bitte nach einem dunkelgrünen Golf,
älteres Modell, Ausschau zu halten. Dessen waren sich nämlich alle Zeugen einig.
Dunkelgrün. Bei der Marke vertrauten sie einem Automechaniker, der nachts einem
Nebenjob als Taxifahrer nachging.
Auch vom Täter hatten sie eine ziemlich genaue Beschreibung. Verdammt, die beiden
Engländerinnen, die am nächsten am Geschehen dran waren und die fünf Taxifahrer hatten
ihn sogar auf dem Foto identifiziert. Arif Hasami. Sein Foto hing bereits in der Mitte der
dritten Pinnwand.
*****
Drei Opfer. Drei junge Frauen im Alter von Mitte Zwanzig bis Anfang Dreißig, hübsch und
attraktiv. Cornelia Rubin trat frustriert gegen die Seitenwand ihres Schreibtisches, während
sie ihre Jacke auszog und über die Seitenlehne ihres Stuhls warf. Sie hatten drei tote Frauen,
mit Schnittwunden und den postmortem eingeritzten Buchstaben NCIS. Irgendjemand
spielte hier ein Spiel mit ihnen und Cornelia hasste Spiele. Denn, wenn sie ihrer Mutter
tatsächlich Glauben schenken durfte, konnte sie bereits im zarten Kindergartenalter nicht
verlieren und nach jedem nicht gewonnenen Memoryspiel hatte sie angeblich regelmäßig
die Schachtel und die gesamten Karten wütend vom Tisch gefegt und stundenlang getobt.
Einmal hat sie laut Aussage ihrer Mutter sogar deswegen ihrer Lieblingspuppe den Kopf
abgerissen. Der Täter sollte sich also besser vor ihr in Acht nehmen, sie konnte sehr
unangenehm werden.
Zusammen mit einem Kollegen begann sie die Obduktion. Wenn es auch mitten in der Nacht
war und sie seit Tagen kein Auge mehr richtig geschlossen hatte, war sie jetzt wieder voller
Tatendrang. Das hier musste endlich ein Ende finden.
„Max? Hast du die Fotos fertig?“ Sie musste bei ihren eigenen Worten schmunzeln. Hatte sie
nicht noch vor wenigen Stunden die Tatsache bedauert, keinen Assistenten zu haben? ‚Eine
Fügung des Schicksals‘, fügte sie in Gedanken hinzu, obwohl sie sehr wohl wusste, dass der
Auftritt von Max Techner hier untern nur ein kurzer und seltener war. Sein Aufgabengebiet
lag woanders und das war auch gut so.
„Klar, Schneckchen. Alles paletti.“ Genau deswegen. Max war ein schmieriger Kollege, Mitte
fünfzig, immer mit einem flotten frauenfeindlichen Spruch auf den Lippen. Eigentlich fand
sie den Typen nur widerlich. Doch sie benötigte Hilfe und sie hatte noch etwas gut bei ihm.
Und das war auch der einzige Grund, wieso sie ihn vor einer Stunde aus dem Schlaf gerissen
und gebeten hatte, ihr hier zur Hand zu gehen.
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„Wir können sie ausziehen“, fügte er unverfroren hinzu und grinste sie dämlich an. Darauf
konnte Cornelia nur die Augen verdrehen und im gleichen Moment bereute sie ihre
Entscheidung schon sehr.
„Du solltest besser die Klappe halten“, murmelte sie verbissen und trat an den stählernen
Tisch. Sie ließ ihren Blick über die Leiche wandern. Die aufgerissene schwarze Bluse hing nur
noch in Fetzen an dem geschundenen Körper. Der zarte Baumwollstoff war vollgesaugt mit
Blut, der BH war am vorderen Mittelstück glatt zerschnitten. Vermutlich nutzte der Täter
dafür das gleiche Messer, mit dem er auch später dem Opfer die Schnittwunden zufügte.
Wie auch die Toten zuvor, hatte die Leiche genau diese glatten Schnitte am gesamten
Oberkörper und entlang der Oberschenkel. Die Nylonstrumpfhose war ebenfalls in der Mitte
zerschnitten und an den Beinen heruntergezogen. Auch wenn Cornelia die bisherigen
Befunde der anderen Opfer außen vor ließ, war es unschwer zu erkennen, dass der Täter es
auf einen sexuellen Akt abgesehen hatte. Der ebenfalls schwarze Rock war unversehrt,
vermutlich weil er ihm nicht im Weg war und leicht zur Seite geschoben werden konnte.
Max reichte ihr die Schere und ohne ihn eines Blickes zu würdigen, griff Cornelia danach und
zerschnitt seitlich das Kleidungsstück. Während sie danach um die Leiche herum ging, hörte
sie das zaghafte Räuspern ihres Kollegen. Ein leises ‚Ist ja schon gut, ich bin still‘, ergänzte die
dramatische Darbietung. Es wurde aber auch Zeit, dass ihr Kollege sich auf die wahren
Arbeiten konzentrierte. Schweigend hob er dann die Leiche seitlich an, damit Cornelia den
Rock unter der Leiche hervorziehen konnte.
Cornelia stutzte, bevor ein kurzes Lächeln durch ihr Gesicht huschte. Das hatte sie nicht
erwartet. „Max, ruf oben an. Wir haben etwas gefunden.“
*****
„Auf dem ersten Video erkennt man nur die Seitenfront des Wagens“, begann McGee seinen
Bericht. „Der Zeitpunkt stimmt mit den Zeugenaussagen überein.“ Während er mit seinem
Boss telefonierte, lief er in Abbys Labor auf und ab. Seit Stunden war er hier gefangen.
Natürlich nicht im wörtlichen Sinn, aber inzwischen fühlte er sich wie ein Tiger im Käfig.
Ohne Ausweg. Abby war nach ihrem letzten Caf!Pow noch hippeliger und nervtötender als
nach den vorangegangen zehn, oder waren es elf? Er hatte irgendwann aufgehört zu zählen.
Und das Coffeingetränk schien ansteckend zu sein, auch er konnte nicht mehr still sitzen.
„Ansonsten ist das erste Video unbrauchbar.“
„Und das Zweite?“
McGee lauschte in die Stille. Es war ja so angenehm. Eine kurze Frage, emotionslos und klar.
Was ihn früher vor Ehrfurcht erstarren ließ, kam ihm inzwischen sehr entgegen. Zumindest
als Ausgleich zu Abbys aufgebrachten Geschnatter. Ja, er mochte die ausgeflippte
Kriminaltechnikerin, sehr sogar, aber heute war ein Tag, an dem er sie am liebsten vierteilen
könnte.
„McGee?“
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„Das zweite Video bringt mehr. Der Wagen ist deutlicher zu erkennen. Aber es ist ziemlich
dunkel. Wir mussten das Bild mit diesem neuen Programm bearbeiten und die Helligkeit…“
„McGee!“
„Das Kennzeichen konnten wir nicht deutlich ermitteln. Der Winkel ist ungünstig. M für
München ist klar, danach würden wir es als PI oder RL deuten, gefolgt von den Zahlen 2086.
Das sind aber mehr als vage Vermutungen. Wir schicken euch das Bild.“
„Was habt ihr sonst noch?“
„Oh, Berge an Informationen über Arif Hasami“, seufzend blickte er zu dem Bildschirm, an
dem er die letzten Stunden verbracht hatte, nicht nur um die Dateien des israelischen
Mossad auszuwerten. Zusätzlich hatten sie weitere Recherchearbeit betrieben, um das
Leben des Mannes lückenlos aufzudecken. „Wir haben eine Verbindung nach Deutschland
gefunden. Diese ist aber noch sehr haltlos. In der Zeit seines Studiums hatte Arif wohl
Kontakt zu einem Kommilitonen, der aus Deutschland kam. Unter seinem alten Namen
‚Christoph Murak‘ ist dieser aber nicht mehr auffindbar. Wir vermuten, dass er den Namen
geändert hat. Aber das werden wir herausfinden.“
„Haltet mich auf dem Laufenden.“
„Na … klar“, wollte er noch sagen, aber das Klicken der Leitung war unverkennbar. Gibbs
hatte das Gespräch bereits beendet. Seufzend steckte McGee sein Telefon wieder ein und
drehte sich zu Abby um. „Lass uns weitermachen.“
*****
Ziva nutzte die kurze Unterbrechung. Während Kriminalhauptkommissar Steinberger
gemeinsam mit Felix auf dem Weg nach unten in die Pathologie war und Gibbs im
Nebenzimmer mit McGee telefonierte, starrte sie aus dem Fenster. Irgendwo da draußen
war Tony. Der Vater ihres Kindes. Was dieser nicht wusste, und noch nicht einmal erahnen
konnte, da er sich nicht an die gemeinsamen Stunden erinnerte, in denen sie sich so nahe
gekommen waren. ‚Tony erinnert sich nicht‘, wiederholte sie mehrmals ihre Gedanken.
Vermutlich machte sie sich also unnötige Sorgen und Tony war vielleicht nur so schnell aus
dem Zimmer geflüchtet, weil ihm die Situation einfach peinlich war. Seine Kollegin in den
Armen seines Freundes. Aber dieses Entsetzen in seinen Augen? Das war doch echt? Oder
deutete sie in diesen Blick vielleicht nur etwas hinein, was sie sich tief im Inneren so sehr
wünschte? Dass Tony ihr gegenüber doch noch Gefühle hatte?
„Du machst dir Sorgen um sie?“ Gibbs war an ihre Seite getreten und blickte ebenfalls aus
dem Fenster. „Wir werden sie finden, Ziva. Es gibt viele neue Ansätze.“
Ziva brauchte einen Moment um ihre Gedanken zu ordnen. Natürlich dachte auch Gibbs,
dass sie sich Sorgen um Ilena machte. Was sie ja auch tat, sie machte sich riesige Sorgen um
ihre Cousine, und dennoch kreisten ihre Gedanken gerade um ganz andere Dinge. Sie nickte
und bedachte Gibbs mit einem kurzen Seitenblick.
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„Hast du etwas von Tony gehört?“ Sie musste diese Frage jetzt einfach stellen, sie musste
wissen, dass es ihm gut ging.
„Mmh“, antwortete Gibbs. „Er nimmt sich eine kurze Auszeit. Ich habe es ihm angeordnet. Er
kann sich wohl wieder an alles erinnern.“
„Was?“, platzte es aus Ziva und sie hatte größte Mühe nicht sofort in Tränen auszubrechen.
Was aber auch egal gewesen wäre, denn ihre Reaktion blieb Gibbs auch so nicht verborgen.
„Er kann sich erinnern.“ Behutsam legte er seine Hand auf Zivas Schulter, die sich sofort
wieder zum Fenster gedreht hatte, um ihr Gesicht vor ihm zu verbergen. „Ziva, egal was
damals passiert ist, was immer auch vorgefallen ist, es wird endlich Zeit damit
abzuschließen. Du hast die ganze Zeit geschwiegen, wir alle haben es respektiert. Aber jetzt
ist der Zeitpunkt, der alles ändert. Rede mit ihm, klärt das. Das ist der einzige Weg um
wieder zum alten Leben zurückzukehren.“
„Es gibt kein Zurück“, flüsterte sie beinah unhörbar und schloss für einen Moment die
Augen. Es gab kein Zurück mehr, nicht für sie.
*****
Tony lief seit einer halben Stunde ziellos durch die Gegend. Letztendlich war es das einzige
was er für sich tun konnte. Sich still in seinem Zimmer zurückzuziehen wäre die Alternative
gewesen, aber sein Körper und sein Geist brauchten keine Ruhe, sondern stupide Bewegung.
Einen Schritt vor den anderen. Der Schwindel hatte sich inzwischen gelegt, und nachdem er
das Gefühl hatte, dass auch seine zittrigen Beine ihm wieder gehorchten und er nicht Gefahr
lief an der nächsten Ecke in Ohnmacht zu fallen, hatte er die Stufen der Feldherrnhalle
verlassen, war an der Seite des Odeonsplatz durch die Rundbogen gegangen, quer durch den
Hofgarten spaziert und letztlich durch einen dunklen Tunnel im Englischen Garten gelandet.
Dort befand er sich ganz in der Nähe des ersten Tatorts. Der Weg vorbei am Eisbach, dessen
Wasserrauschen pompös die Stille durchdrang, war nur spärlich beleuchtet und irgendwie
düster. Trotz der angenehm warmen Nachttemperatur lief ihm ein kalter Schauer über den
Rücken.
Was lief nur falsch in seinem Leben? Warum hatte sich das Schicksal so gegen diese eine
Liebe verschworen? Von Anfang an. Seit jenem ersten Moment, der ihm noch immer mit all
seinen Details im Gedächtnis war, als sei es gestern gewesen? Als die taffe Mossadagentin
im Büro des NCIS und in seinem Leben auftauchte und ihre gesamte Art sich unweigerlich in
sein Herz bohrte, schwebte eine dunkle Wolke über ihnen. Eine explosive Mischung von
Anziehung und Abstoßung, zwei Pole, die nicht mit und auch nicht ohne einander existieren
konnten. Und sobald auch nur ansatzweise ein einziger Sonnenstrahl versuchte die gefühlte
Finsternis zu durchdringen, schob sich eine weitere Wolke dazwischen und zerstörte
schmerzlich die aufkeimende Hoffnung. Jeanne, Michael. Und dieses Mal sollte sich
tatsächlich Ronald zwischen sie drängen? Jetzt, wo sie endlich zueinander gefunden hatten?
Nachdem sie es geschafft hatten, die inneren Barrieren zwischen sich zu überwinden, diese
riesigen Felswände einzureißen, sich endlich nahe waren? Ronald, ein gemeinsamer Freund?
Nein.
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Egal was da vorhin geschehen war. Es war nicht wichtig. Nicht für ihn. Wichtig war allein,
was in ihrer gemeinsamen Nacht passierte. Und er erinnerte sich ganz genau an diese
Stunden. An ihre braunen sehnsüchtigen Augen, als er sie an diesem besagten Tag zärtlich an
der Schulter berührte und sie dann in seine Arme zog. Er spürte noch immer die
Leidenschaft, die darin funkelte. Sie hatte sich ihm hingegeben, vollends, das hatte er bei
jeder zärtlichen Berührung gespürt, mit jedem innigen Kuss wuchsen sie zu einer
Gemeinschaft. Sie war etwas Besonderes. Es war besonders. Und er war nicht bereit, das
Ganze zu vergessen.
Er war bereit zu kämpfen. Jetzt wo er wusste, was er verloren hatte, würde er es sich
zurückholen. Jedenfalls wollte er nicht tatenlos zusehen, wie sein Glück wieder einmal mit
Füßen getreten wurde. Er wollte wenigstens herausfinden, ob es eine Chance gab. Für ihn,
für sie beide. Das war er seinem Herz schuldig.
Der Weg wurde immer dunkler, die wenigen Laternen am Wegesrand warfen nur noch
finstere Schatten. Tony empfand es wie das Spiegelbild seiner Seele. Licht, Schatten, Licht,
Schatten – Schritt für Schritt. Wieder einmal stand er vor einem Scherbenhaufen. Früher
wäre er davon gelaufen, hätte seinen Koffer gepackt und wäre getürmt. Doch dieses Mal war
er bereit die Scherben aufzusammeln und wieder neu zusammen zu setzen. Er wusste nur
noch nicht wie. Wie sollte er sich ihr gegenüber verhalten?
‚He Ziva, ich kann mich wieder an dich erinnern. Vergiss was die letzten Wochen passiert ist,
dreh einfach die Zeit zurück‘? Das war lächerlich.
Vorwürfe? Die sollte er sich wirklich sparen. Irgendwie war er ja auch wütend auf sie. Und er
war enttäuscht, maßlos enttäuscht und er wusste, diese Gefühle konnte er nicht vor ihr
verbergen. Sie las in seinen Augen, wie in einem Buch. Verstecken war zwecklos.
Ehrlichkeit. Er sollte von Anfang an nicht um den heißen Brei herumreden, sondern er
musste ihr direkt und unverblümt sagen, was er wollte. Was er für sie empfand. Er wollte sie,
er liebte sie.
*****
In Tanjas Wirbelsäule kribbelte es. Das tat es immer, wenn sie auf etwas gestoßen waren,
eine neue Spur hatten oder irgendetwas Wichtiges geschah. Gemeinsam mit ihrem Chef war
sie nach dem Anruf des Kollegen Max Schilling in die unterste Etage in die engen Räume der
Pathologie gegangen. Ein düsterer Ort, wie sie fand, und normalerweise hielt sie sich hier
nur sehr ungerne auf. Es roch nach Tod und Unglück, ein modernder Geruch, den sie sich
vermutlich nur einbildete. Aber er steckte nun mal in ihrer Nase und sie konnte es nicht
ablegen. Die kahlen gefliesten Wände fügten sich in das Muster des tristen grauen
Bodenbelags und das grelle Licht der einfachen Neonröhren machte die Atmosphäre in ihren
Augen noch unbehaglicher. Es war ein merkwürdiger Kontrast, denn als sie die Tür zu
Cornelias Arbeitsplatz öffnete, blickte sie in ein zufriedenes fröhliches Lächeln. Ein Lächeln,
das man an einem solchen Ort nicht erwartete. Aber das war Cornelia Rubin. Die junge
Pathologin arbeitete zwar noch nicht sehr lange bei ihnen im Haus, war ihr inzwischen aber
mehr als sympathisch. Sie arbeitete konzentriert und vor allem motiviert, etwas das Tanja
bei vielen anderen Kollegen vermisste.
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„Was haben Sie gefunden?“ Kriminalhauptkommissar Steinberger trat an den Tisch, auf dem
die zugedeckte Leiche lag. Insgeheim freute er sich darüber, dass ihm die erneute Sicht auf
den geschunden Körper der Frau verwahrt blieb und seufzte erleichtert aus.
„Hast du Spuren auf der Leiche gefunden?“, mischte sich Tanja ein und warf nebenbei Max
einen finsteren Blick zu, nur um ihn dann wieder zu ignorieren. Mit diesem Kerl hatte sie
schon genügend Ärger gehabt und sie wusste nur allzu gut, dass es besser für sie und ihn
war, ihm aus dem Weg zu gehen.
„Nein.“ Cornelia grinste stolz. „Besser.“ Sie ging zur seitlichen Arbeitsfläche und deutete den
Kollegen an, ihr zu folgen. „Beim Entkleiden der Leiche ist mir etwas aufgefallen. Modernes
Mädchen, sag ich da nur. Am unteren Saum des Rockes ist eine kleine Tasche eingenäht.
Irgendwo muss man ja hin mit dem Geld, wenn man so, mmh nennen wir es mal vorsichtig
‚leicht‘ bekleidet ist. Ich ärgere mich ja auch immer darüber.“
„Und wenn ein Typ an dein Geld will, dann wird er nicht nur wegen Diebstahl angezeigt,
sondern gleich auch wegen sexueller Belästigung“, schoss es aus Max und ein kurzes
Auflachen konnte er sich ebenfalls nicht verkneifen.
„Was war in der eingenähten Tasche? Ausweis? Bankkarte? Kennen Sie den Namen?“
Steinberger tat es seinen unterstellten Damen gleich und reagierte ebenso wenig auf den
dummen Kommentar des Mannes. Stattdessen blickte er Cornelia fragend in die Augen.
„Besser“, ein erneutes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ihr Name ist Raphaela Esposito. 26
Jahre alt. Aber!“ Sie hob den Zeigefinger, um ihrem Chef zu deuten, dass sie noch mehr
hatte. „Wir haben auch ihr Handy. Die letzte SMS kam um 23:05 Uhr, passt in den möglichen
Tathergang. Wortlaut …“ Sie blickte auf den Zettel, auf den sie zuvor die Nachricht gekritzelt
hatte. „In zehn Minuten im Castle.“
„Das ist ein Club in der Nähe vom Stachus, oder?“ Tanja riss die Augen auf. „Es passt zu dem
Aufenthaltsort von Julia Brandenburger. Laut den Aussagen der Freunde haben sie sich auch
in der Nähe aufgehalten.“
*****
Felix hämmerte mit Ungeduld auf den immer wiederkehrenden Buchstaben der Tastatur
herum. Die Kennzeichenkombinationen, die er soeben von den amerikanischen Kollegen
erhalten hatte, wollten einfach nicht passen. Egal welche Möglichkeiten er abfragte, er
bekam ein negatives Ergebnis. Wie er dieses plopp am Ende einer Suche hasste, jenes
Geräusch, das besagte ‚sie haben wieder nichts gefunden‘. Selbst die Angaben München und
die reine Zahlenfolge, auch mit und ohne Angabe des Fahrzeugherstellers, waren im System
nicht auffindbar. Die Liste spuckte zwar verschiedene Golfs aus, aber keiner passte zum Alter
und zur Farbe. Er kam hier nicht weiter.
Es kochte in ihm und irgendwie schämte er sich für seine stupide Arbeit. Was taten sie hier
eigentlich? Dieses Monster warf mitten in der Stadt eine Leiche aus dem Wagen, es gab
Zeugen, sie hatten ein Foto, viele Ansätze und die deutsche Polizei versagte bei einer
einfachen Suche nach einem Kennzeichen.
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Vollkommen in Gedanken stellte er seine Tasse wohl zu fest auf dem Schreibtisch ab und der
heiße Kaffee schwappte über. Fluchend kramte er in seiner Schreibtischschublade nach
einem Taschentuch. Er war müde und gereizt.
Der letzte Schlaf lag schon eine Weile zurück und war nicht sehr erholsam gewesen. Er hatte
diesen auch nur abwechselnd mit Tanja auf der ungemütlichen Eckcouch im Präsidium
verbracht, in größter Sorge um das kleine Mädchen.
Ein Lächeln huschte über das frustrierte Gesicht des Kommissars. Wenigstens wusste er,
wofür er sich hier die Nächte um die Ohren schlug und wenn am Ende die goldenen Augen
von Alisar wieder strahlten, weil sie ihre Mutter gefunden hatten, dann war es die Arbeit
wohl wert.
Er war müde, ja, aber noch lange nicht am Ende seiner Kräfte. Im Gegensatz zu den
Amerikanern, zumindest Ziva sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenklappen. Tony
war ja schon gar nicht mehr aufgetaucht, Ronald zählte von Anfang an nicht wirklich. Und
daher hatte er vor wenigen Minuten auch bekräftigend genickt, als Gibbs Ziva ins Hotel
zurückgeschickt hatte. Am Anfang hatte es der Grauhaarige noch freundlich versucht, doch
letztendlich hatte er der jungen Agentin beinahe befehlsartig zu verstehen gegeben, dass sie
hier erst wieder auftauchen sollte, wenn er sie telefonisch ins Präsidium zurückbeorderte.
Gleichzeitig hatte er ihr das Versprechen gegeben, sie über jede kleinste Neuigkeit zu
informieren.
Man spürte einfach, dass die Agenten um das Leben einer bekannten Frau bangten. Ziva
war sicherlich eine sehr gute Ermittlerin, das hatte er bei den Befragungen am Nachmittag,
bei den Besprechungen und eben am Tatort erkennen können, aber sie schien am Ende ihrer
Kräfte angekommen zu sein.
*****
Elli arbeitete schon sehr lange in der sogenannten Auffanggruppe des Münchner
Kinderheims. Die Abende liefen routiniert ab, es herrschte eine wohlige Atmosphäre, trotz
der unterschiedlichsten Problematiken und Lebensgeschichten. Die Kinder blieben in der
Regel nicht sehr lange, viele mussten zurück zu den Eltern, einige wechselten in eine feste
Gruppe. Diese Räumlichkeiten waren nur ein Übergang, aber Elli und ihre Kollegen hatten
sich schon vor langer Zeit das Ziel gesetzt, aus der grausamen hoffnungslosen Lage der
Kinder das Beste zu machen und knieten sich daher alle in die Arbeit. Statt weißer steriler
Wände strahlte dem Besucher ein schönes Sonnengelb entgegen, wenn er die gläserne
Eingangstür öffnete. Darüber stand in bunten Buchstaben ‚Herzlich Willkommen‘, ein
ernstgemeinter Gruß, denn hier war tatsächlich jedes Kind willkommen. Das gemeinsame
Wohnzimmer, der sogenannte Aufenthaltsraum war liebevoll eingerichtet, es war beinahe
alles vorhanden, für Jungs wie auch für Mädchen, für Säuglinge bis hin zu 14jährigen
Teenagern. Man wusste ja nie, welche Kinder vorübergehend den Schutz der Fürsorge
brauchten. Doch neben der ganzen schönen Gestaltung hatten sie in den letzten Jahren auch
sehr auf die Sicherheit des Hauses geachtet, hier kam niemand herein, ohne sich vorher
anzumelden. Die direkte Tür zur Gruppe hatte eine zusätzliche Sicherung.
Wie um Himmelswillen konnte das also geschehen? Elli ließ sie sich mit zitternden Knien in
den Schreibtischstuhl sinken und kramte nach dem Papier mit der Telefonnummer. Noch
immer schien das Blut in ihren Ohren zu rauschen und auch ihr Atem wollte sich ganz und
gar nicht beruhigen. Einatmen, ausatmen. Ihre bebenden Finger machten es ihr aber auch
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nicht gerade leichter, ihre riesige Tasche zu durchsuchen. Letztendlich verlor sie die Geduld
und kippte den gesamten Inhalt auf den Schreibtisch. Als sie den kleinen
zusammengefalteten Zettel endlich fand, seufzte sie erleichtert aus, hielt dann aber noch
einen Moment inne und lauschte in die Stille.
Es war nichts zu hören. Keine Schreie und kein Weinen. Scheinbar hatte sich Alisar nach
einer halben Stunde schrecklichster Tränen endlich beruhigt. Was sie von sich selbst nicht
unbedingt behaupten konnte, noch immer steckte ihr der Schreck in den Knochen. Zunächst
war sie ja nur verwirrt gewesen, als sie ihren letzten Rundgang durch die Zimmer gemacht
hatte und dann am Ende den Teddybär in der Mitte des Wohnzimmers sitzen sah. Verwirrt
deswegen, weil sie zuvor alles Spielzeug zur Seite geräumt hatte. An sich selbst zweifelnd
und etwas verwundert war sie näher getreten, als sie die leisen tapsenden Schritte Alisars
am Ende des Flurs hörte, die schnell näher kamen. Sie hatte sich umgedreht, das wusste sie
noch ganz genau, und sich aus ihren Gedanken gerissen, um dem Mädchen entgegen
gesehen. Zu niedlich. Das Kind steckte in einem etwas zu großen, dafür aber grünen
Schlafanzug, geziert mit kleinen bunten Luftballons. Barfuß. Nach dem Duschen kringelten
sich die braunen Haare ein wenig und fielen ihr zerzaust auf die Schultern. Wirklich niedlich.
Doch der Gesichtsausdruck des Mädchens jagte Elli noch immer kalte Schauer über den
Rücken. Ein kurzes Lächeln, ja sie hatte gelächtet, so als freue sie sich über das Wiedersehen
mit einem geliebten Kuscheltier, ein glückliches Lächeln, dass im selben Moment erstarrte
und wie eine Maske in ihrem zierlichen Gesicht verharrte, ein Gesicht, das nicht weiter dazu
fähig war, sich zu verändern. Dann der Schrei. Dieser schrille, ängstliche Schrei, der
herzzerreißende Ruf nach ihrer Mama. Die Panik in den Augen.
Elli schüttelte den Kopf um die Bilder endgültig los zu werden. Neben ihren Fingern und
Knien begannen nur auch ihre Lippen zu bibbern. Und merkwürdigerweise fror sie, obwohl
sich in ihrem Büro die Hitze des Sommers staute. Wie konnte das geschehen? Wie konnte
jemand hier reinkommen und ungesehen wieder verschwinden? War derjenige wirklich
wieder verschwunden oder immer noch hier? Und war Alisar in Gefahr?
„Hauptkommissar Steinberger?“ Elli versuchte sich zu konzentrieren, vor lauter
Überlegungen hatte sie jetzt doch tatsächlich nicht mitbekommen, wer sich am anderen
Ende der Telefonleitung meldete.
„Hier ist Felix Schwarz. Elli sind sie es?“ Man konnte beinahe durch die Leitung sehen, wie
Felix sich mit einem Mal angespannt im Stuhl aufrichtete.
„ähm, ja“, stammelte die Frau von der Jugendfürsorge. „Ich brauche hier dringend
jemanden. Wir brauchen Schutz. Irgendjemand war hier, hat einen Teddy in den
Aufenthaltsraum gesetzt, ist wieder verschwunden und Alisar dreht vollkommen durch.“
„Ganz ruhig, Elli“, versuchte sie Felix zu beruhigen, denn ihre Atmung war sichtlich erregt
und sie keuchte bei den einzelnen Sätzen, als hätte sie einen Marathon hinter sich. „Wo ist
Alisar jetzt?“
„In ihrem Zimmer. Eine Kollegin ist bei ihr“, fügte sie hinzu.
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„Ok. Elli, ich werde alles in die Wege leiten. Es wird gleich jemand bei ihnen sein. Lassen Sie
das Kind nicht aus den Augen. Versperren Sie die Eingangstür, öffnen Sie keinem
Unbekannten.“
Erleichtert ließ Elli den Hörer sinken. Hilfe war unterwegs. Ihre Finger zitterten zwar noch
immer, aber wenigsten das Beben ließ langsam nach. Während sie aufstand, fuhr sie sich
ungeschickt mit der Hand über die Stirn und strich ihre grauen Haare zur Seite, die in der
heutigen Nacht womöglich noch grauer wirkten, als normal. Vermutlich passten sie sich ihrer
Hautfarbe an, dachte sie nach einem kurzen, flüchtigen Blick in den Spiegel im Flur, der ihre
Vermutung untermauerte, das sie heute nicht unbedingt frisch und blendend aussah.
Sie ging zunächst zur Tür und kontrollierte das Schloss. Sicherheitshalber drehte sie den
Schlüssel ein zweites Mal herum. Vorsichtig lugte sie nach draußen. Doch sie sah nichts. Sie
hörte nichts. Es war still. Viel zu still.
*****
War es die ganze Zeit schon so dunkel gewesen? Die Deckenbeleuchtung im
Aufenthaltsraum war aus, nur ein schauriger Schimmer der kleinen Stehlampe schien sich
auf dem Muster des frisch versiegelten Parkettbodens zu spiegeln. Auch wenn sich Ellis Herz
schmerzend zusammenzog, sie musste sich überwinden. Sie musste das Zimmer und den
anschließenden Flur durchqueren. So schwer es ihr auch in diesem Moment fiel und sich ihr
ganzer Körper und Geist dagegen verbissen zu wehren schien. Sie musste nach dem Kind
sehen. Nicht mehr lange und es würde Hilfe kommen. Mechanisch setzte sie einen Fuß vor
den anderen. Kurz vor dem Übergang zum Flur blieb sie erstarrt stehen.
Hatte sie die Terrassentür im Esszimmer verschlossen? An heißen Tagen, wie heute, öffnete
sie die Tür doch am Abend immer zum Lüften, sobald alle Kinder in den Betten waren.
Elli kniff überlegend die Augenbrauen zusammen. Warum wollte es ihr nicht einfallen? Hatte
ein Teddybär ihr tatsächlich sämtliche Sinne vernebelt? Sie wägte ab. Doch die Tatsache,
dass schließlich auch ihre Kollegin die Tür geöffnet haben könnte, überzeugte sie von der
Notwendigkeit nachzusehen.
Ihr Weg führte sie zurück in den Aufenthaltsraum, doch dieses Mal drückte sie auf den
Lichtschalter und sofort verspürte sie die Sicherheit von Licht, reines klares Licht. Sie fuhr
sich mit eiskalten Fingern durch die Haare und betrat den kleinen Nebenraum, den sie für
die gemeinsamen Mahlzeiten nutzten, und in dem zur Zeit die Stühle noch auf den Tischen
standen, damit die Putzfrau die täglichen Essensspuren besser beseitigen konnte. Die
Putzfrau? Vielleicht hatte sie den Teddy mitgebracht? Jemand hat sie vor dem Haus
abgefangen und … Nein. Das passte zeitlich nicht, dafür war sie schon zu lange wieder weg.
Und Elli konnte sich noch ganz klar an die fluchenden Worte der Reinigungsdame erinnern,
die sich mal wieder über die Tomatensoße aufregte. Das war schon mindestens drei Stunden
her.
Am Abend hatte sich Alisar hier über die Spaghetti hergemacht und man konnte klar
erkennen, dass sie noch sehr wenig Vorerfahrung mit dieser Nudelsorte hatte. Am Ende war
nicht nur ihr Gesicht verschmiert gewesen, nein, auch ihre Haare hatten sich der Farbe der
Tomatensoße angepasst. Aber das glückliche Lächeln des Kindes ließen die schlechten
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Tischmanieren vergessen. Und das Baden war hinterher eh schon eingeplant gewesen. Dann
die Diskussion um den passenden Schlafanzug. Elli hatte ihr ein rotes, ein blaues, sogar einen
rosa Nachthemd angeboten, aber Alisar war beständig dagegen gewesen und hatte auf
einen grünen Schlafanzug bestanden, ob er passte oder nicht.
Die Erinnerung an die hitzigen Verhandlungen mit dem Kind ließen Elli für einen kurzen
Moment die Gefahr um sich herum vergessen und ohne weiteres Zögern ging sie zur
Terrassentür. Von weitem schien diese zwar verschlossen, doch wenn sie schon mal da war,
wollte sie es wenigstens kontrollieren. Gerade als sie im Halbdunkeln ihre Hand nach dem
Griff ausstreckte, knirschte es unter ihren Füßen. Ihr Blick huschte nach unten, erkannte die
Glasscherben, und ihr Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Sie hatte sich die ganze
Zeit nur an der Hoffnung festgehalten, jemand hätte diesen Teddy hereingeschmuggelt,
doch jetzt war klar ‚Es war jemand hier‘.
Und es kam Elli vor, als hätte mit dem Knirschen unter ihren Füßen jemand einen inneren
Schalter umgelegt. Vergessen war die Angst. Die Vorsicht, die sie bis eben so krampfhaft
gelähmt hatte, war verschwunden. Sie drehte sich um und rannte los. Sie rannte durch den
Aufenthaltsraum, durch den dunklen Flur.
*****
Mit jedem Schritt den sie sich der Pension näherte, spürte sie die Müdigkeit und
Erschöpfung durch ihren Körper strömen. Ziva fröstelte, trotz der noch immer anhaltenden
warmen Temperaturen. Ihre Gedanken und Gefühle waren inzwischen so vernebelt, dass
diese selbst für sie nicht mehr greifbar waren. Sie spürte nur noch Leere in sich. Doch statt
sofort in ihr Zimmer zu gehen, verharrte sie auf dem Flur, wagte sich letztlich bis zu Tonys
Tür vor. Lauschen. Sie wollte wissen, ob er da war, ob es ihm gut ging. Nichts weiter. Doch
kein Geräusch drang nach außen, es war still. Und diese Stille tat weh. Während sie ihre Stirn
abgekämpft gegen die Tür lehnte, ruhte ihre Hand auf dem silbernen Türgriff.
Tony ging langsam die Stufen hoch. Auf den Fahrstuhl hatte er verzichtet. Auch wenn sein
Körper nach Schlaf und Erholung schrie, wusste er, dass er ohne Bewegung gänzlich verloren
war. Und mit jedem weiteren Treppenabsatz wurde er wieder unsicherer. Seine Vorsätze,
die er noch vor wenigen Minuten für eindeutig und unumwerflich gehalten hatte,
zerplatzten wie Seifenblasen. Seine Lungen schmerzten und er hatte das Gefühl, das Feuer,
an das er sich endlich erinnern konnte, verbrannte ihn von innen. Als er um die Ecke bog, sah
er sie.
Sie lehnte an seiner Tür. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen. Aber sie war zu ihm gekommen.
Es tat ihr leid. Tony blieb stehen und beobachtet sie aus der Ferne. Was wollte sie hier?
Wusste sie, dass er sich erinnerte? Hatte Gibbs es ihr gesagt? Oder plagte sie das schlechte
Gewissen? War noch nicht alles zu spät? Wollte sie mit ihm sprechen? Wollte sie ihm sagen,
dass sie inzwischen keine Gefühle mehr für ihn hatte und Ronald jetzt der Mann an ihrer
Seite war? Was wollte sie? Reden? Tausend Fragen strömten durch seinen Kopf und mit
jedem Zentimeter, den er ihr näher kam, schienen sich diese zu verdoppeln. Millionen
Fragen. Doch als er direkt hinter ihr stand, wollte ihm keine einzige mehr einfallen.
*****
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Elli riss die Tür zu Alisars Zimmer auf. Und mit dem Anblick erlosch in ihr sämtliche
Selbstkontrolle. Sie war sich nicht sicher, was zuerst geschah. Ihre zuvor schnelle Atmung, ihr
rasender Puls, setzte mit einem Schlag aus. Ihre Beine gaben nach und konnten ihren
bleischweren Körper nicht mehr tragen. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer heißen Stirn,
während sie ungeschickt auf die Knie sank, ihre eiskalten Hände vor das Gesicht schlug und
somit zu verhindern versuchte, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Statt zu schreien, jammerte
sie erbärmlich, flehte zu Gott, dass alles nur ein schrecklicher Albtraum war.
Doch es war Realität. Grausame Realität. Zeit verstrich. Es dauerte Minuten bis Elli sich aus
ihrem Schockzustand reißen konnte. Bis sie wieder einen Hauch von Leben in sich spürte und
ihre betäubten Sinne wieder erwachten. Der Geruch des Blutes drang unweigerlich in ihre
Nase. Die Bilder kehrten zurück. Erst jetzt öffnete sie zögerlich die Augen und blickte schon
beinahe gefasst auf die Tote. Der leblose Körper, der rücklings auf dem kleinen Kinderbett
lag, war über und über mit Blut verschmiert. Blut. Der Kopf der Frau war beinahe ganz
abgetrennt und hing unnatürlich über die Bettkante nach unten.
*****
Ziva fühlte seine Nähe, spürte seinen warmen Atem auf ihrer Haut. Doch sie war nicht fähig,
sich zu ihm umzudrehen. Ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Was würde sie erwarten,
wenn sie in seine Augen blickte? Vorwürfe? Traurigkeit? So sehr sie sich danach sehnte, alle
Gefühle herauszuschreien und endlich nicht mehr schweigen zu müssen, war sie sich
hingegen auch sicher, in diesem Moment kein einziges Wort über ihre Lippen zu bringen.
Die vorsichtige Berührung an ihrer Schulter ließ sie innerlich zusammenzucken. Die
körperliche Aufforderung sich umzudrehen, der unsichere und doch bestimmende Griff um
ihr Handgelenk, ließ sie wehrlos über sich ergehen. Er zog sie in seine Arme. Kein Wort, kein
Blickkontakt, nur eine Umarmung.
*****
Es war schon enttäuschend. Wütend schnaubte Cornelia aus und während sie anschließend
die Nase rümpfte, blickte sie den davon stürmenden Kommissaren in Begleitung dieses
unhöflichen aufgeblasenen NCIS Agenten hinterher. Sie spürte den inneren Drang auf der
Stelle zu trampeln, so wie sie es früher getan hatte, wenn sie frustriert und zornig war.
„Na, na. Warum so ungehalten?“ Max runzelte die Stirn und hob gerade den Zeigefinger, so
als wolle er noch etwas hinzufügen. Als ihn aber der eiskalte Blick der Pathologin traf,
verstummte er. Mit ihren blonden Haaren sah sie zwar aus wie ein Engel, doch innerlich,
dessen war er sich bewusst, war Cornelia Rubin ein kleiner Teufel. Das falsche Wort, zur
falschen Zeit und er würde seine Männlichkeit vermutlich für immer verlieren.
Cornelia beantwortete seine Frage nicht. Stattdessen trat sie noch immer verärgert an ihren
Schreibtisch und nahm ihre Arbeit wieder auf.
Nur Tanja hatte kurz gelächelt. Zumindest eine klitzekleine Regung gezeigt. Die junge
Pathologin hatte für ihren Fund ja keine Blumen erwartet, schließlich war es ihre Arbeit, sie
verdiente ihre Brötchen damit, und vermutlich hätte jeder andere früher oder später das
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Handy gefunden, aber wenigstens das kleine Wörtchen ‚Danke‘ hätte ihrem Chef über die
Lippen kommen können. Es war ihr erster eigener Fall, sie stand hier unten alleine mit drei
Frauenleichen und Max Techner. Ein paar nette Worte wären also sicherlich nicht zu viel
verlangt.
Aber so war es bei der Kriminalpolizei. Ein wichtiger Anruf und es blieb alles, was man bis
dato für wichtig hielt, rücksichtslos an Ort und Stelle liegen. Und wenn sie die kurzen
Anweisungen von Steinberger, die er eben ins Telefon geknurrt hatte, ansatzweise richtig
verstanden hatte, ging es um das kleine Mädchen. Und dafür hatte sie dann doch
Verständnis.
*****
Alisar verkroch sich hinter dem Polster des Beifahrersitzes und saugte nervös an ihrer
Unterlippe. Ihren Teddy presste sie eng an sich, suchte ein wenig Schutz und Sicherheit in
seiner Umarmung. Ihr Arm brannte, sie hatte sich eben an der Fensterscheibe geschnitten,
aber der Schmerz war ihr egal. Sie wusste instinktiv, bei ihrem Vater war es besser, leise und
artig zu sein. Und das da vorne war ihr Vater. Sie kannte ihn von Fotos, ihre Erinnerungen
waren bereits sehr verschwommen, zu lange war er schon von zu Hause weg.
„Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen“, flötete Arif von vorne und warf einen
kurzen Blick nach hinten. Als er die vor Angst weit geöffneten und panisch vor sich hin
starrenden Augen seiner kleinen Tochter sah, musste er schmunzeln. Gleichzeitig machte
sich aber auch das winzige Gefühl von Mitleid breit. Vielleicht hätte er die Frau eben nicht
unbedingt vor den Augen des Kindes töten sollen? Aber diese Betreuerin wollte einfach nicht
still sein und irgendwann hatte er keinen anderen Weg mehr gesehen, sie ruhig zu stellen.
Schnell und effektiv. Auf diese Art machte selbst ihm das Töten keinen Spaß.
„Freust du dich deinen lieben Papi wiederzusehen?“ Arif trommelte mit den Fingern auf das
Lenkrad, während er an einer roten Ampel stand. Er wartete und lauschte. Als er aber keine
Antwort von Alisar bekam, drehte er sich erneut zu ihr um.
Alisar überlegte angestrengt. Was hatte ihre Mutter ihr immer zugeflüstert, früher? Keine
Widerworte. Auch wenn sie keine genauen Erinnerungen daran hatte, irgendwie fühlte sich
das, was ihre innere Stimme ihr das zuflüsterte, richtig an. Es kostete sie zwar Überwindung,
dennoch gelang ihr ein zögerliches Nicken. Irgendwie. Auch wenn es sich total merkwürdig
anfühlte weil es gelogen war.
„Braves Mädchen“, flüsterte Arif und trat auf das Gaspedal. Der Motor heulte auf. Gestern
wollte er noch darauf verzichten, das Kind in die Sache reinzuziehen. Doch nachdem Ilena
ihn vor wenigen Stunden dermaßen verärgert und provoziert hatte, brauchte sie dringend
einen Denkzettel. So sprach man nicht mit ihm. Er tat schließlich nur, was immer er tun
musste und seine Frau hatte nichts Besseres zu tun, als ihm deswegen Vorwürfe zu machen?
So hatte Ilena noch nie mit ihm gesprochen und so würde sie auch nie wieder mit ihm
sprechen. Es sollte ihr eine Lehre sein. Die Idee mit dem Kinderheim war ihm gekommen, als
er in der Tiefgarage die Leiche auf den Rücksitz verfrachtete. Da er die ersten Tage
aufmerksamer Beobachter war, wusste er in welches Kinderheim sie Alisar gebracht hatten,
alles andere war logische Kombination. Und ein wenig Spaß. Eigentlich wollte er nur die Frau
ein wenig verunsichern, ein bisschen Horrorfilm spielen und sich dann leise das Kind
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schnappen. Wer konnte denn auch ahnen, dass seine Tochter auftauchte und in hysterisches
Geschrei ausbrach?
*****
Ziva schlief in seinen Armen. Ihr Atem ging ruhig und ihre Hand ruhte auf seiner Schulter. So
als wolle sie ihm zeigen, dass sie ihn für immer festhielt. Vorsichtig strich Tony ihr eine
Haarsträhne, die sich nun endgültig aus ihrem lockeren Zopf gelöst hatte, aus dem Gesicht.
Er wusste nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Er fand es lächerlich, dass sich Tränen in
seinen Augen bildeten. Was war bloß mit ihm los? Das einzige was er wusste, war, dass er
sich in diesem Moment wohl fühlte. Hier in ihrer Nähe ging es ihm gut. Und auch wenn sein
Kopf immer wieder sagte, es sei besser, aufzustehen, wegzulaufen und die Sache lieber
langsamer und sachlicher anzugehen, war er schlichtweg machtlos. Sich von ihr zu lösen,
wollte ihm nicht gelingen.
Es war ein befreiendes Gefühl gewesen, sie in seine Arme zu ziehen. Und als er in jenem
Moment merkte, dass sie sich nicht ansatzweise dagegen wehrte, wurde ihm eine große Last
von den Schultern genommen. Jetzt spürte er noch immer ihre Finger, die sich verzweifelt in
den Stoff seines Hemdes krallten, ihren Atem, der immer wieder stockte, bevor sie sich
letztlich in der Umarmung entspannte und ruhiger wurde. Noch immer hatte kein Wort über
seine Lippen kommen wollen. Und auch sie hatte nicht gesprochen. Es waren keine Worte
nötig gewesen.
Er hatte sie nach einer Ewigkeit von sich weggedrückt, dabei aber nach ihrer Hand gegriffen.
Er wollte das Risiko nicht eingehen, dass sie die Möglichkeit, ihm dadurch zu entkommen,
nutzte. Und so hatten sich seine Finger um ihr Handgelenk geschlossen. Eine körperliche
Verbindung. Kein Wort, kein Blick. Nein, er hatte sie nicht angesehen. Zu groß war seine
Angst gewesen, mit einem unsicheren Blick alles zu zerstören. Festzustellen, dass sie
zweifelte? Dass er zweifelte? Dazu war er nicht bereit gewesen. Stattdessen hatte er
ungeschickt die Tür geöffnet, gewartet, bis sie an ihm vorbei ins Zimmer ging. Er hatte kein
Licht gemacht. Ihr den Rücken zugewandt. Seine Schuhe abgestreift, sich auf das Bett gelegt
und gewartet.
Tony beugte sich zärtlich vor und berührte mit seinen Lippen sanft ihre Stirn. Er wollte sie
keinesfalls wecken, die Erschöpfung der letzten Stunden und Tage waren ihr deutlich
anzusehen. Ihre Haut war blass. Sie brauchte ihren Schlaf. Und dass sie hier in seinen Armen
lag, war mehr, als er erwartet hatte. Es hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt, bis sie ihm im
Dunkeln gefolgt war, sich ebenfalls aufs Bett gelegt hatte und sich letztlich an seine Seite
schmiegte. Er hätte sie so gerne geküsst, sie berührt, doch irgendetwas hielt ihn zurück. Er
schloss die Augen, atmete ihren Duft tief ein und nach wenigen Minuten schlief auch er
vollkommen erschöpft ein.
*****
„Sie ist wirklich eine erstklassige Pathologin.“ Kriminalhauptkommissar Steinberger betrat
das Büro und trat zu Gibbs, der sich, gegen den Schreibtisch gelehnt, mit Elli unterhielt. Die
Frau zitterte noch immer am ganzen Körper, ihre Haut war blass und die Sorgenfalten in
ihrem Gesicht zeigten die ungeschönten Spuren der vergangenen Stunden. „Wahrlich kein
schöner Anblick. Es tut mir sehr leid. Wie geht es Ihnen Elli?“
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Die Frau hob den Kopf, doch mehr als ein kurzes Nicken brachte sie nicht zustande. Wie
sollte es ihr auch gehen? Ein Kind wurde aus ihren Räumen entführt. Eine Kollegin wurde
ermordet, man hatte ihr einfach die Kehle aufgeschlitzt. Irgendwie hatte sie es noch
geschafft, die restlichen Kinder auf andere Gruppen zu verteilen. Danach war sie restlos
zusammengebrochen. Ihr Kopf schien aus Watte zu sein, die Umgebung verschwamm
langsam. Es wimmelte von Polizisten. Seit Stunden. Zunächst war Felix mit einem Kollegen
aufgetaucht. Sie hatten die Räume gesichert. Wenig später folgten Steinberger mit Tanja und
Gibbs. Das machte die Sache zwar besser, das Kind aber blieb verschwunden und ihre
Kollegin tot. Endgültig. Doch die Gefahr war zumindest gebannt. Trotz der Leute war es in
der Gruppe still gewesen, nur das leise Weinen der kleinen Melanie war zu hören. Das war
der Moment, als Elli sich kurzzeitig aufraffte und anfing zu organisieren. Jetzt aber gab es
keine Arbeit mehr für sie. Inzwischen waren fremde Polizisten in den Gängen, und sie konnte
und durfte einfach nur Mensch sein.
Gibbs deutete Steinberger ihm ans Fenster zu folgen. Aus dem Augenwinkel sah er eine
Kollegin, die mit einer Tasse Tee auf Elli zuging und tröstend auf sie einredete. Innerlich
krampfte sich sein Herz zusammen. Elli machte sich Gedanken wegen dem verschwundenen
Kind und auch er machte sich große Sorgen. Sie hatten damals schon zu viele Stunden um
das Leben des Kindes gebangt, bis Abby Alisar endlich in der Wüste hatte lokalisieren
können. Es war damals mehr als knapp gewesen. Ein weiterer Schicksalsschlag könnte fatale
Folgen für das Kind haben. Wann durfte das quirlige Mädchen endlich einmal Kind sein?
Draußen wurde es langsam hell, die Morgenröte tauchte den Parkplatz des Kinderheimes,
der mit unterschiedlichsten Polizeiautos zugestellt war, in ein rosarotes Licht. Eine Farbe, die
Alisar so gar nicht mochte. Inzwischen war sie bereits über vier Stunden verschwunden.
Wenn das Kind überhaupt noch lebte, war sie in allergrößter Gefahr. Arif war
unberechenbar, er war krank. Man konnte und wollte sich nicht vorstellen, was er
tatsächlich gewillt war zu tun. Wozu brauchte er das Kind?
„Er hat so einige Spuren hinterlassen.“ Steinberger fuhr sich durch die Haare und presste
kurz die Lippen aufeinander. „Cornelia meint, der Schnitt an ihrer Kehle wäre im Vergleich zu
seiner sonstigen Präzision sehr überhastet. Er stand wohl unter Druck.“
„Er hat das hier nicht geplant“, fügte Gibbs hinzu. „Zu viele Spuren. Keine Nachricht. Anderes
Vorgehen.“
„Er wollte nur das Kind. Er muss sofort, nachdem er die Leiche im Tal abgeladen hat, hierher
gefahren sein. Woher wusste er, wo sich das Kind befand?“
„Wir dürfen ihn nicht unterschätzen“, knurrte Gibbs. „Er ist intelligent genug, heraus zu
finden, wo man Kinder wie Alisar unterbringt. Aber sie haben recht. Es weißt doch auf eine
gewisse Planung hin. Er muss die letzten Tage gut beobachtet haben.“
„Verdammt Gibbs“, entfuhr es Steinberger. „Wir müssen handeln. Wir haben inzwischen vier
Leichen, eine verschwundene Frau und ein entführtes Mädchen. Wie lange soll dieses Spiel
noch weiter gehen? Wenn ich ehrlich bin, ich bin ratlos. Und langsam verzweifelt.“
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„Wir werden handeln.“ Gibbs schenkte ihm ein Seitenblick. Ehrliche Worte. Dass ihre Lage
nicht die Beste war, war auch ihm bewusst. Aber dass waren Momente, in denen er und sein
Team zu Hochform aufliefen. Die Devise ‚nicht aufgeben‘ stand mal wieder an oberster
Stelle.
„Ok?“ Steinberger runzelte die Stirn.
„Ihre Leute sollen alles über diesen besagten Club herausfinden. Jede Kleinigkeit. Hören Sie?
Jedes winzige Detail ist wichtig. Meine Leute gehen Undercover. Er spielt mit uns. Jetzt
drehen wir den Spieß um und spielen mit ihm.“
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Der Sonnenschein drang durch die blickdichten Vorhänge. Ziva war schon seit geraumer Zeit
wach, traute aber nicht sich zu bewegen. Zu sehr fürchtete sie, Tonys Nähe aufgeben zu
müssen, der die Arme um sie gelegt hatte und dessen Kopf auf ihrer Schulter ruhte.
Mit Tonys Reaktion in der Nacht hatte sie nicht gerechnet. Sie hätte erwartet, dass er
wütend wird, ihr Vorwürfe macht oder sich, im klaren Gegensatz dazu, von ihr zurückzog wie
ein trotziges kleines Kind. Sein Schweigen hatte sie zunächst verwirrt, doch auch wenn sie
sich am liebsten alles von der Seele geredet hätte, auch sie war nicht in der Lage gewesen,
Worte zu finden. Seine Umarmung war so viel mehr wert. Doch was hieß die Umarmung,
welche Bedeutung hatten die letzten Stunden, die sie schlafend nebeneinander verbracht
hatten? Konnte er ihr verzeihen? Liebte er sie noch? Und war auch sie bereit, die
Geschehnisse der letzten Wochen zu vergessen, den eigenen Kampf gegen die Gefühle, die
Trauer und die Hoffnungslosigkeit? Stand ihr die Vergangenheit einmal mehr im Weg oder
war sie bereit für die Zukunft mit ihm?
„Warum?“ Tonys Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie brauchte einen Moment, bis
sie reagieren konnte. Sie hatte noch nicht einmal bemerkt, dass er neben ihr aufgewacht
war. Jetzt löste er sich aus ihrer Umarmung und setzte sich auf, lehnte sich mit dem Rücken
gegen das Kopfende des Bettes.
Ziva drehte sich zur Seite, wandte ihm den Rücken zu. Am liebsten wäre sie jetzt
aufgesprungen und weggelaufen. Doch sie wusste, eine Aussprache war unumgänglich. Sie
spürte den Kloß in ihrer Kehle und bemerkte die ersten aufsteigenden Tränen. Verdammt,
wann war sie nur so schwach geworden?
„Warum hast du mit Ronald geschlafen?“ Seine Stimme klang sachlich und emotionslos,
doch Ziva spürte seinen Blick, der in diesem Moment auf ihr ruhte. Sie musste ihm nicht in
die Augen sehen, sie ahnte, dass sich darin seine Enttäuschung wiederspiegelte. Sie kannte
Tony schon zu lange, ein sachlicher ernster Tonfall bedeutete bei ihm in der Regel, dass er
sehr verletzt war.
Ziva war sich bewusst, wie bitter diese Frage für Tony war und dennoch zögerte sie mit der
Antwort. Sie suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, war sich aber gleichzeitig sicher,
diese nie zu finden. Und statt ihm die Sache zu erklären, oder es zumindest zu versuchen,
stand sie auf und ging ans Fenster. Sie wollte nicht, dass er ihre Tränen sah. Und sie brauchte
dringend Luft zum Atmen.
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Tony lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Er hatte sie vertrieben. Wieso hatte er
nicht einfach die Klappe gehalten, ein ‚Guten Morgen‘ hätte es für den Anfang doch auch
getan. Nein. Ein DiNozzo musste sofort mit der Tür ins Haus fallen, kostete es was es wollte.
Aber er war nun mal ein DiNozzo. Und jetzt wo er endlich seine Erinnerungen wieder hatte,
wollte er auch wieder der sein, der er wirklich war. Mit seiner ganzen Vergangenheit, mit
seinen wahren Gefühlen. Mit seinem Wunsch nach Antworten.
„Warum Ronald?“, wiederholte er leise seine Frage. „Warum?“
Als er eine leichte Berührung an seinem Arm spürte, öffnete er die Augen. Ziva war
zurückgekommen und hatte sich seitlich auf das Bett gesetzt, das erste Mal sah sie ihm in die
Augen.
„Es hat nichts mit Ronald zu tun.“ Sie stockte, atmete tief durch. „Ich hätte vermutlich mit
jedem anderen Mann geschlafen, der mir in diesem Moment Nähe und Geborgenheit
gegeben hätte. Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, aber ich war einsam. Ich war
verzweifelt, Tony. Ich war einfach am Ende.“ Ihre Stimme verlor an Sicherheit und begann zu
zittern, so sehr sie auch nach Fassung rang, sie hatte längst verloren.
„Warum bist du nicht zu mir gekommen?“, flüsterte er und griff nach ihrer freien Hand.
Zivas verzweifeltes Auflachen hallte in seinen Ohren. Sie weinte.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich in den letzten Wochen den Wunsch hatte, zu dir
zu kommen. Jeden Tag, jede Stunde, verdammt jede einzelne Sekunde. Ich konnte nicht
schlafen, nicht essen. Tony?“ Ihre Augen sahen ihn flehend an.
„Du hättest es tun sollen“, antwortete er ruhig und gefasst. „Was hat dich daran gehindert?“
Ziva schüttelte den Kopf. „Na klar“, seufzte sie. „Hallo DiNozzo, alter Freund. Ich bin
eigentlich gar nicht mehr deine Partnerin. Auch wenn du es vergessen hast, eigentlich liebst
du mich und deswegen habe ich ein Recht darauf, dass du mich küsst und mit mir schläfst.
Toller Plan.“
„Ironie ist hier nicht angebracht, Ziva.“ Tony packte sie an der Schulter.
„Das ist keine Ironie. Es ist eine Tatsache.“ Zivas Augen funkelten, die Traurigkeit in ihnen
war gewichen und hatte für die verzweifelte Wut Platz gemacht. „Ich habe lange genug
darüber nachgedacht, was das Beste ist.“
„Und du hast entschieden, es ist das Beste, wenn du mir aus dem Weg gehst?“
„Ja“, sie wischte sich mit dem Handrücken durch das tränennasse Gesicht, „weil es weh tat,
weil es mir jedes Mal einen neuen Stich verpasste, wenn du mich angesehen hast. Nach
jedem Wort, nach jeder deiner verdammten kleinen Berührung, hatte ich das Gefühl, den
Boden unter den Füßen zu verlieren. Dir aus dem Weg zu gehen, war das Beste. Für mich. Als
ich dich nach der Rettung das erste Mal wieder gesehen habe … Ich dachte die ganze Zeit
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über du bist tot. Tony. Ich habe tagelang das Feuer vor mir gesehen, mir die größten
Vorwürfe gemacht. Dann erfahr ich, dass du lebst und …“
„… ich habe dich ziemlich unsanft weggestoßen.“ Die Erinnerung an die erste Begegnung
nach all den Geschehnissen war Tony noch bewusst. Er konnte damals ihre Nähe nicht
ertragen. „Wow … es ist ziemlich viel passiert, was?“
Seine Frage ließ sie lächeln. Oh Gott, sie liebte ihn so sehr für diese simplen Worte.
„Es ist schön, wenn du lächelst“, er strich ihr bei diesen Worten eine Haarsträhne aus dem
Gesicht und legte den Kopf ein wenig schief. „Ich habe dich schon lange nicht mehr lachen
sehen.“
Sie boxte ihm leicht gegen die Schulter und verzog das Gesicht. „Es gab ja auch keinen Grund
dafür.“
„Das stimmt“, fügte Tony hinzu und griff nach seinem Handy. „Da war ja noch was. Wir
sollten uns mal auf den neusten Stand bringen lassen.“
Ziva griff nach seiner Hand, zwang ihn in der Bewegung inne zu halten und suchte erneut
nach seinen Augen. „Wir müssen reden, Tony. Es gibt so viele Sachen, die wir …“
„Wir werden reden“, fiel er ihr ins Wort und küsste sie sanft auf die Schläfe. „Aber jetzt
retten wir zunächst Ilena. Damit sie dir dann den Kopf abreißen kann.“
Ziva starrte ihn an. „Deine Ironie ist auch nicht angebracht.“
„Es tut mir leid“, er zog sie in seine Arme, während er darauf wartete, dass am anderen Ende
Gibbs seinen Anruf entgegennahm.
*****
Ronald erwachte mit wahnsinnigen Kopfschmerzen. Stöhnend drehte er sich zur Seite und
versuchte den beißenden Sonnenstrahlen auszuweichen. Warum hatte er bloß gestern nicht
mehr die Vorhänge zugezogen? Jetzt brachte das Licht seinen Kopf beinahe zur Explosion.
„Scheiße“, entfuhr es ihm, als er sich an die letzten Stunden der Nacht erinnerte. Das war
wirklich übel. Mehr als übel. Und die Schmerzen, die von seinem Kopf durch den ganzen
Körper fluteten, schienen ihm nun als logische Konsequenz für sein Verhalten. Eine Strafe.
Was hatte er nur getan?
Er setzte sich stöhnend auf, fuhr sich mit den Händen durch seine Haare und versuchte, die
Bilder zu ordnen. Er hatte an der Bar zu viel getrunken, Ziva hatte ihn auf sein Zimmer
gebracht. Sie hatten Sex. Große Scheiße. Tony war aufgetaucht und dann wortlos
abgehauen. Ziva war ebenso verschwunden und er hatte sich noch ein oder zwei Drinks aus
der Minibar genehmigt. Das war alles.
Eigentlich war es an der Zeit aufzustehen, doch irgendetwas hinderte ihn daran. Sein
schlechtes Gewissen. Er hatte sich mal wieder nicht im Griff. Warum war das alles
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geschehen? Seitdem er Ilena kannte, war er doch zum ersten Mal in seinem verkorksten
Leben glücklich. Er hatte gedacht, nach all den Jahren, die er vor sich selber auf der Flucht
gewesen war, sämtliche Fehler ablegen zu können, Fuß zu fassen und endlich an der Seite
einer Frau sesshaft werden zu können. Er war doch auf dem besten Wege gewesen. Und was
machte er? Er trat sein Glück mit Füßen. Zerstörte mit einer unnötigen Handlung nicht nur
seine Beziehung. Nein, er zerstörte auch seine Freundschaft zu Tony, verlor alles, was ihm in
den letzten Wochen so wichtig erschienen ist. Mal wieder hatte er versagt. Auf ganzer Linie.
Falls, ja falls sie Ilena lebend finden würden, eine gemeinsame Zukunft rückte somit in weite
Ferne.
Ronald weinte. Die Tatsache Ilena betrogen zu haben, brachte das Fass zum überlaufen. Er
hoffte und bangte um ihr Leben, wandelte zwischen möglichem Vertrauen und Misstrauen.
Er liebte sie, und doch konnte er sich ihrer Liebe nicht sicher sein. Er sah ihre glücklichen
Augen, wenn sie in seinen Armen lag und erkannte doch die Angst hinter ihrer Fassade,
merkte, dass er nicht die ganze Wahrheit kannte. Dass sie ihn absichtlich belogen hatte,
brachte alles noch mehr zum wanken. Nein, es gab keine Entschuldigung für das, was er
getan hatte. Dessen war er sich bewusst. Aber es war ein Kampf an allen Fronten. Und am
liebsten würde er den leichten Weg nehmen, es tun wie immer. Seine Tasche packen und
untertauchen. Verschwinden.
*****
Felix Schwarz stand mit seinem schwarzen Nissan vor dem Eingang des Hotels. Seit geraumer
Zeit wartete er auf die amerikanischen Bundesagenten, die nach dem Telefonat vor wenigen
Minuten darauf bestanden, sofort ins Polizeipräsidium zu kommen, sich jetzt aber Zeit zu
lassen schienen. Oder kam es ihm nur so vor, weil er hier alleine im Auto saß, hilflos
aufgrund seiner Untätigkeit? Er trommelte unruhig mit den Fingern auf dem Lenkrad und
rückte seinen Körper zurecht. Doch die Bilder der vergangenen Nacht wollten ihn nicht
loslassen und drangen immer wieder in sein schmerzendes Bewusstsein. Bis zum
Morgengrauen waren sie damit beschäftigt gewesen den Tatort im Kinderheim zu sichern,
während die Spurensicherung langsam aber sicher an ihre Grenzen kam, rein personell
gesehen. Zwei große Tatorte, in einer Nacht, das war zu viel. Bisher hatte er Verständnis für
seinen Chef, Kriminalhauptkommissar Steinberger, dass dieser keine zusätzliche Verstärkung
anfordern wollte. Es war ja so schon unüberschaubar genug. Doch langsam wuchs ihnen die
Sache mächtig über den Kopf. ‚Du und dein übertriebenes Sicherheitsgefühl‘, grummelte er
leise vor sich hin. ‚No risk – no fun‘. Aber so war er nun mal. Deshalb hatte ihm die Trennung
von seiner Familie ja auch den Boden unter den Füßen weggerissen, jegliche Sicherheit war
von heute auf morgen weg gewesen. Und auch wenn er inzwischen damit klar kam, so fehlte
ihm das Gefühl der Gewissheit, abends nach Hause zu kommen, in liebevolle Augen zu
blicken und mit einem fröhlichen Lächeln seiner Tochter begrüßt zu werden. Und wenn man
sah, was passieren könnte, was anderen Kindern tatsächlich passierte, bestand das Leben im
Allgemeinen aus zu vielen unsicheren Faktoren. Niemand konnte einem eine Garantie
geben.
*****
„Er hätte mich anrufen sollen“ Ziva wandte sich im Fahrstuhl zu Tony und kniff die Augen
zusammen. „Er hat versprochen, sich zu melden, sobald es etwas Neues gibt. Und das Alisar
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verschwunden ist, halte ich für sehr wichtig.“ Seit dem Telefongespräch mit Gibbs, in dem sie
von den nächtlichen Ereignissen am Rande der Stadt erfahren hatten, steigerte sie sich
immer mehr in ihre Wut.
Tony ließ es zu. Die Empörung, die sie langsam aufbaute und die in ihrer Stimme klar zu
erkennen war, diente letztlich nur dazu, den inneren Schmerz zu überdecken.
„Wir finden sie“, flüsterte er geradezu ausgleichend, leise und ruhig. „Wir finden sie beide.“
Vorsichtig streckte er die Hand nach ihr aus und berührte ihren Arm.
„Warum hat er nicht angerufen?“ Ihre Stimme brach und sie musste tief durchatmen.
„Vermutlich damit du endlich schläfst und neue Kräfte sammelst. Ziva, du machst dich sonst
fertig.“ Jetzt war er es, der seine Worte mit äußerster Schärfe betonte. „ Es geht dir nicht
gut, du siehst aus, als …“
„Es geht mir gut“, fiel sie ihm ins Wort. Und bedachte ihn mit einem energischen Blick, der
ihn beinahe zurückschrecken ließ.
*****
Felix starrte noch immer auf den Eingang des Hotels, beobachtete die Leute, die an seinem
Auto vorbei schlenderten und stellte sich die Frage, was genau sein Chef und dieser Gibbs da
seit ein paar Stunden ausheckten. War es tatsächlich eine gute Idee, jemanden verdeckt in
diesem Club ermitteln zu lassen? Dieser Typ, der Mörder, Entführer, das Monster, oder wie
man ihn sonst betiteln wollte, war intelligent, gerissen und vermutlich ein guter Beobachter.
Diese Aktion wäre ein verdammt hohes Risiko, selbst wenn man ins Auge fasste, dass er
selber nicht gewillt war, ein Wagnis im Leben einzugehen. Wer sollte diesen Part
übernehmen? Diese beiden Amerikaner? Die waren doch längst am Ende ihrer Kräfte.
*****
„Pass auf dich auf“ Tony nutzte die Gelegenheit, als er Ziva die Tür nach außen öffnete und
sie sich an ihm vorbeidrücken musste, um ihr ein wenig näher zu kommen. „Es bringt nichts,
wenn du dich fertig machst.“
Ziva lachte auf und schnaubte. „Du weißt schon, was passiert ist, als ich das letzte Mal zu dir
gesagt habe, DU sollst auf dich aufpassen?“
Tony räusperte sich, während er Ziva folgte. „Mmmh, das ist mir weniger geglückt.“ Er
machte einen Sprung nach vorne, hielt sie am Arm fest und zwang sie stehen zu bleiben. Erst
als er festen Blickkontakt mit ihr hatte, sprach er weiter. „Aber immerhin habe ich es
überlebt.“
„Dann ist das ab sofort unsere oberste Devise?“ Sie konnte sich die Ironie nicht verkneifen.
„Überleben?“
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„Wenn es hart auf hart kommt. Ja!“ Tony griff nach ihren Schultern, „Ich …“, und
verstummte.
Ziva stand vor ihm, fühlte sich nicht fähig, sich von seinen grünen Augen loszureißen und
wartete. Sie ließ es zu, dass er ihr nach gefühlten Stunden endlich näher kam, seine Stirn
gegen die ihre legte und sie schließlich in seine Arme zog.
„Ich will dich nicht schon wieder verlieren“, flüsterte er ihr ins Ohr und küsste sie zärtlich auf
die Schläfe.
*****
Ok, damit hatte Felix nicht gerechnet. Doch es geschah tatsächlich vor seinen Augen, die
beiden Agenten umarmten sich, sie sahen fast aus wie ein Liebespaar. Das konnte nicht sein.
Er hatte in den letzten Tagen eher das Gefühl gehabt, die Beiden würden sich lieber aus dem
Weg gehen, als gemeinsam an dem Fall zu arbeiten. So konnte man sich täuschen. Verwirrt
runzelte er die Stirn und zuckte ertappt zusammen, als die Tür der Beifahrerseite aufgerissen
wurde.
„Hallo Felix“, schwungvoll stieg Ziva ein, bedachte ihn mit einem kurzen, aber freundlichen
Lächeln.
„Grüß Gott“, entfuhr es dem Kommissar und ignorierte daraufhin Zivas fragenden
Gesichtsausdruck, während er ungeduldig darauf wartete, dass Tony hinten Platz nahm und
die Tür schloss. Die Atmosphäre, im Gegensatz zum Abend davor, war anders und Felix
blickte zwischen Ziva und Tony hin und her.
„Grüß Gott ist doch diese bayerische Begrüßung“, kommentierte Tony von hinten, während
er den Sicherheitsgurt schloss. „Die ist doch auch ganz klein auf die Lederhose gestickt, die
ich dir damals von der Konferenz mitgebracht habe.“
Ziva verdrehte die Augen, ging aber nicht weiter darauf ein. Sie konzentrierte sich auf Felix.
„Harte Nacht?“
Dieser nickte nur und startete den Motor. Ja, es war eine harte Nacht gewesen, ein
anstrengender Morgen und es würde ein verdammt beschwerlicher Tag werden.
*****
Ilenas Körper schmerzte und dennoch wollte sie sich nicht bewegen. Es hatte zu lange
gedauert, bis die Tränen ihrer Tochter versiegt und sie endlich eingeschlafen war. Als Arif das
Kind in den Keller gebracht und Alisar dort ihre Mutter entdeckte hatte, hatte sich das
Mädchen in voller Wucht von dem Mann losgerissen und war zu ihr gelaufen. Auf ihrem
Schoß, das Gesicht in den Haaren, am Hals der Mutter vergraben, hatte sie geweint. Geredet
hatte sie seitdem kein Wort.
Zu gerne hätte Ilena tröstend die Arme um sie gelegt und ihr behutsam über den Kopf
gestreichelt, doch die Fesseln an ihren Handgelenken verhinderten es. Jeder Versuch die
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Fesseln zu lockern, scheiterte und brachte nur Verschlechterung. Ilena war sich sicher, auch
Alisar war nicht in der Lage, das Seil zu lösen, sonst hätte Arif sie nicht hierher gebracht und
sie beide alleine gelassen. Die Situation war ausweglos.
Ohne es zu wollen, entfuhr Ilena ein kurzes Stöhnen. Die qualvollen Beschwerden in ihrem
Unterleib und das Dröhnen in ihrem Kopf vermengten sich zu einem großen Schmerz. Das
zusätzliche Gewicht des Kindes auf ihrem geschundenen Körper nahm ihr die Luft zum
Atmen. Sie musste das Kind wecken, so schwer es ihr auch fiel. Und so sehr sie ihr auch den
erholsamen, friedlichen Schlaf und jede Sekunde, die sie diesem Drama hier entfliehen
konnte, gönnte, es war notwendig.
„Alisar“, flüsterte sie und so gut es ging, verrenkte sie ihren Kopf, um Alisar einen Kuss auf
die Wange zu geben. „Hey Mäuschen, du musst aufwachen.“
Ilena spürte wie Leben in den Körper des Kindes kam und wartete einen Moment, dann
sprach sie etwas lauter. „Alisar, bitte wach auf.“
Die Finger des Kindes krallten sich in ihre Haut und Ilena wünschte sich in diesem Moment,
wenigstens anständige Klamotten zu tragen und ihrem Kind, wenn es denn die Augen
öffnete, diesen erbärmlichen Anblick zu ersparen, doch mehr als die aufgerissenen
Kleiderfetzen und die Decke, die Arif ihr über die Beine gelegt hatte, hatte sie nichts zu
bieten.
„Mami?“ Alisar intensivierte ihre Umarmung und hob dann den Kopf. Das kurze Aufstöhnen
ihrer Mutter ließ sie zusammenzucken.
„Ja, mein Schatz.“ Ilenas Stimme zitterte. „Ich bin hier.“ Sie suchte den Blick ihrer Tochter
und sah ihr in die Augen. Dann gab sie ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. Als sie bemerkte,
dass Alisar sie wieder umarmen wollte, hielt sie sie aber zurück. „Setz dich bitte neben mich.
Du bist heute einfach zu schwer für mich.“
Alisar nickte und krabbelte vorsichtig vom Schoß ihrer Mutter. Sie setzte sich seitlich und sah
in ihr Gesicht. Ilena schloss für einen kurzen Moment die Augen und genoss die
Erleichterung, die durch ihren Körper floss. Von unnötigem Ballast erlöst, seufzte sie kurz
und erwiderte dann den Blick ihrer Tochter. „Okay“, sie schenkte ihrer Tochter ein kurzes
Lächeln. „So ist es besser.“
Wieder nickte Alisar. „Hat er dir weh getan?“, fragte sie leise und rührte sich nicht vom
Fleck.
„Ja“, Ilenas Stimme war brüchig, doch sie wusste, sie konnte Alisar nicht von der Wahrheit
fernhalten. „Ja, ein bisschen“, schwächte sie ihre Worte ab. „Aber er wird dir nicht weh tun.
Ja? Hab keine Angst. Du bist seine Tochter. Du musst nur…“
„… brav sein“, beendete Alisar den Satz und presste dann kurz die Lippen aufeinander.
„Einfach tun, was er sagt.“
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Ilena hätte ihre Tochter so gerne umarmt. Doch stattdessen atmete sie tief durch und
lächelte sie an. „Mein schlaue, kleine Maus.“
„Ich bin doch schon 7 Jahre alt.“ Ihre Enttäuschung, ihren Geburtstag mit niemandem feiern
zu können, versuchte sie zu unterdrücken.
„Da hast du recht. Wenn wir nach Hause kommen, feiern wir eine riesige Party“, griff Ilena
die Worte des Kindes auf. Es war sicher gut, wenn Alisar sich auf etwas freuen konnte, und
wenn sie so nur für ein paar Minuten die trüben Gedanken vertreiben konnte, war es besser
als nichts. Ob sie hier tatsächlich je wieder raus kämen, dessen war sie sich nicht sicher.
Die Augen des Kindes leuchteten für einen winzigen Moment auf, dann wurden sie
tieftraurig. „Nein, keine Party“, murmelte sie. „Ich bin doch daran schuld.“ Sie senkte ihren
Blick.
„Was?“ Ilena riss entsetzt die Augen auf, versuchte ihre Gedanken zu ordnen. „Nein Alisar.
Du bist nicht daran schuld. Das darfst du dir nicht einreden. Hörst du?“
„Aber Diana wollte MIR helfen und DESHALB ist sie tot“, schluchzte das Kind. „Er hat ihr
einfach mit dem Messer in den Hals geschnitten und dann ist sie auf das Bett gefallen.“
„Alisar!“ Ilena setzte sich aufrecht, so gut es ihr gelingen wollte. Sie zwang sich, ihre Stimme
bestimmend klingen zu lassen. „Schau mich an“, forderte sie ihre Tochter auf.
„Da war überall das Blut. Wäre ich freiwillig mitgegangen, dann …“
„NEIN! Du bist nicht daran schuld. Arif ist schuld. Es gibt keine Entschuldigung für das, was er
getan hat. Egal was du tust, oder nicht tust … hörst du?, es gibt keine Rechtfertigung einen
Menschen umzubringen.“
Alisar schien einen Moment lang die Alternativen abzuwägen, dann nickte sie, legte den Kopf
schief und runzelte die Stirn. „Darf ich dann Emely einladen?“
„Sicher, du darfst jeden einladen, den du einladen möchtest.“ Ilena atmete tief durch und
hoffte inständig, Alisar mit ihren vorangegangen Worten überzeugt zu haben. Dass das Kind
sich die Schuld an den Taten ihres Vaters gab, wollte sie unter keinen Umständen zulassen.
„Oh ja.“ Der kleine Lockenkopf legte sich auf den harten Boden und bettete ihren Kopf auf
den Beinen ihrer Mutter. „Dann lad ich Emely ein und Ronald und Ziva, meinst du Abby
kommt auch? Und Gibbs? Und Timmy? Und krieg ich dann eine Torte?“
Es war wie früher. Alisar lag neben ihr, den Kopf auf ihrem Schoß. Wie häufig hatte sie,
genau in solchen Situationen neuen Mut gefasst, Kraft geschöpft, weiter zu kämpfen und
nicht auf zu geben. In der Zeit der Schwangerschaft hatte Arif sie in Ruhe gelassen, ja, er
hatte sie fast mit Samthandschuhen angefasst und Ilena hatte die leise Hoffnung gehabt, er
würde seine groben, unberechenbaren Wesenszüge endgültig ablegen. Doch wie so oft,
hatte sie sich geirrt. Die Jahre danach wurden schlimmer denn je. Und wenn sie erschöpft
zusammenbrach, sich vor Schmerzen oder vor innerem Kummer nicht mehr rühren konnte,
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war Alisar an gekrabbelt, hatte ihre Nähe gesucht und sie auf ihre kindliche Art und Weise
beschützt. Es waren jene Momente, in denen sie sich schwach und hilflos zeigte. Und auch
jetzt liefen Ilena die Tränen die Wange hinab, während sie den aufgeregten
Geburtstagsplanungen ihrer Tochter lauschte.
*****
Kriminalhauptkommissar Steinberger zwirbelte das Telefonkabel um seinen Zeigefinger,
während er behutsam auf die Person am anderen Ende des Telefons einredete. In seinem
Gesicht waren erste Anzeichen von Augenringen zu erkennen. Doch in den vergangenen
Stunden hatte er sich vor Gibbs keine Blöße geben wollen und seine Müdigkeit ebenso, mit
starkem Kaffee und zusätzlichen Koffeinbonbons, immer wieder im Keim erstickt. Zumindest
hatte er es versucht, denn im Gegensatz zu dem amerikanischen Agenten schien das Zeug
bei ihm nur eine minimalistische Wirkung zu haben.
„Hören Sie“, ertönte nach einer kurzen Pause erneut seine Stimme. „Ich brauche diese
Kameras in spätestens vier Stunden. Es ist dringend. Übermorgen kommt gar nicht in Frage.“
Die Nachhaltigkeit in seiner Stimme stieg, doch er versuchte ruhig zu bleiben. Mit Ungeduld
und Druck erlangte man hier nichts, dessen war er sich bewusst und versuchte es daher mit
einem Trick. „In zwei Tagen liegen hier dann zwei weitere Leichen in der Pathologie … und
das entführte Kind, wer weiß, ob es solange durchhält.“
Es herrschte Schweigen. Sowohl im Raum selbst, als auch am anderen Ende der Leitung.
Steinberger ertappte sich dabei, dass er tatsächlich für einen Moment die Luft anhielt und
die Augen schloss. Die Stille hielt an und ein winziger Funke Hoffnung kam in ihm auf, kurz
bevor er die enttäuschenden Worte, gegen die er sich absolut machtlos fühlte und die er
hier unter keinen Umständen hören wollte, von seinem Telefonpartner vernahm. „Wir tun,
was wir können.“
‚Game over‘, dachte sich Steinberger und legte ohne ein weiteres Wort auf. Ohne die
Kameras war das Risiko in den Club zu gehen, nochmals angestiegen. Wer auch immer
verdeckt ermitteln sollte, sobald er die Räumlichkeit betrat, war er von der Außenwelt
abgeschnitten. Frustriert und wütend über das deutsche System hob er den Kopf und blickte
direkt in die blauen Augen des Bundesagenten.
Steinberger biss sich verärgert auf die Unterlippe. „Ist es bei euch in der Realität tatsächlich
wie in diesen neumodischen amerikanischen Krimiserien? Habt ihr Abhöranlagen und
jegliches Zubehör stets greifbar? Neueste Technik, immer und überall? Wenn ja, wieso habt
ihr euer Zeug nicht mitgebracht?“
„Haben wir doch.“ Gibbs nickte und deutete dann emotionslos mit dem Zeigefinger auf
einen kleinen silbernen Koffer, der in der hintersten Ecke des Büros stand.
Der deutsche Kommissar spürte wie er rot anlief und sich die Empörung in seinem Körper
ausbreitete. Er hatte also die letzten Minuten vergeudet, um an die Spezialausrüstungen zu
kommen. „Hätten Sie mir das nicht schon vor einer halben Stunde sagen können, ich hätte
mir unnötige Telefongespräche ersparen können.“
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„Zusätzliches Equipment hätte aber nicht geschadet.“ Gibbs ignorierte die Wut seines
Gegenübers. „In diesem Koffer befindet sich nur die Grundausstattung.“
„Nur die Grundausstattung“, knurrte Steinberger, schüttelte den Kopf und sah dann
provozierend auf seine Armbanduhr. „Die Besprechung beginnt in fünf Minuten. Sind Ihre
Leute schon da?“
„Wenn ihr Mann es geschafft hat, sie rechtzeitig abzuholen?!“, schnaubte Gibbs zurück und
stieg dann gemeinsam mit Kriminalhauptkommissar Steinberger in ein lautes Gelächter ein.
*****
„Eine Undercover Aktion?“ Tony riss entsetzt die Augen auf und sah zu seinem Boss. „Das ist
nicht dein ernst, oder?“ Unruhig fuhr er sich durch die Haare. „Ich habe von verdeckten
Ermittlungen echt genug.“
„Du hast also dieses Mal keine Lust, Zivas Liebhaber zu spielen und dir einen schönen Abend
in einem Club zu machen? Was ist denn nur in dich gefahren, DiNozzo?“ Gibbs konnte sich
eine leichte Kopfnuss für seinen Agenten nicht verkneifen.
„Ich … also …“, stotterte Tony. „Die Erfahrung zeigt, dass diese Aktionen selten bis gar nie
gut ausgehen. Und nach dem letzten Mal hab ich irgendwie die Schnauze voll.“
„Dann sollen wir deiner Meinung nach Ilena und Alisar weiterhin ihrem Schicksal
überlassen?“
„Nein! Natürlich nicht.“ Tony atmete tief durch. „Aber wir sollten einiges bedenken. Der Typ
ist gut, Boss. Wir sollten sehr wachsam sein. Falsch! Wir müssen mehr als wachsam sein, er
ist es nämlich auch. Er scheint uns zu beobachten, wie sonst hätte er Alisar finden können.
Was ist, wenn er weiß, wie wir aussehen. Er wird Ziva sofort erkennen.“
„Er weiß ganz sicher, wie wir aussehen“, wiederholte Gibbs und ließ seinen Blick durch den
Raum wandern, um auch die weiteren anwesenden Personen in das Gespräch mit
einzubeziehen.
Tanja Neumaier und Felix Schwarz saßen am Ende des Tisches, jeweils einen Stapel Papier
vor sich, bei denen Gibbs vermutete, dass es sich dabei um Informationen zum Club
handelte. Steinberger stand am Fenster und lehnte mit dem Rücken gegen die Wand. Seine
Hautfarbe hatte im Vergleich zu ihrem ersten Aufeinandertreffen einen leicht grauen Teint
und ließ ihn älter wirken, als noch wenige Tage zuvor. Ziva hingeben, die an der rechten
Seite saß, sah um Längen besser aus als am Vortag. Diese Tatsache beruhigte ihn ungemein.
Sorge bereitete ihm eigentlich nur Ronald, der vor wenigen Minuten im Polizeipräsidium
ankam und seither kein Wort mit ihm oder irgendeiner anderen Person gewechselt hatte. Er
vermied jeglichen Blickkontakt. Schweigend stand er am hintersten Fenster und sah auf die
Straße. Gerade als Gibbs fortfahren wollte, öffnete sich die Tür und Cornelia Rubin streckte
den Kopf herein. Steinberger deutete ihr, einzutreten.
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Tanja stand auf und bot Cornelia ihren Stuhl an, während sie anschließend nach vorne ging
und an den Pinnwänden stehenblieb. Dass Gibbs eine Augenbraue hochzog und sie kritisch
musterte, nahm sie zwar wahr, stellte dann aber erleichtert fest, dass dieser sich zurückzog
und ihr tatsächlich das Feld überlies.
„Felix und ich haben noch in der Nacht und heute Morgen sämtliche Informationen
zusammengefasst.“ Sie sah ihrem Chef in die Augen und fuhr nach dessen Nicken fort.
„Die drei Frauenleichen…“ Sie zeigte auf die Pinnwand, die an der hinteren Wand hing und
inzwischen von Fotos und Daten zu den jeweiligen Opfern bestickt war. „…haben uns Stück
für Stück zum möglichen Tatort geführt. Nicht zuletzt haben wir es Cornelia zu verdanken,
die das Handy von Raphaela Esposito, dem dritten Opfer, gefunden hat und wir somit die
letzten Nachrichten darauf mit den Angaben der Freunde von Julia Brandenburger…“ Sie
zeigte auf das Foto des ersten Opfers. „… kombinieren konnten. Das Castle scheint ein
zentraler Punkt des Dramas darzustellen.“
„Die Auswertungen der Proben liegen vor“, mischte sich Cornelia ein. „Wie wir bereits
vermutet haben, betäubt er seine Opfer mit einer neumodischen Droge, die sie zunächst
willenlos macht. Danach kommt es zum sexuellen Übergriff und den Schnittverletzungen.
Erst danach scheint er die tödliche Dosis zu verabreichen. Ein Club wie das Castle wäre für
dieses Vorgehen sicherlich geeignet.“
„Inwiefern geeignet?“ Tony runzelte die Stirn. Die ganzen Ausführungen überrumpelten ihn.
Sicherlich, er war nicht davon ausgegangen, dass die Anderen seelenruhig darauf warteten,
dass er wieder zum Ermittlungsteam zurückkehrte, dennoch war er überrascht über die
Anzahl der neuen Informationen.
„Der Club ist, mmh, nennen wir es ‘dunkel‘. Es gibt viele kleine Ecken, die sich hervorragend
dazu eignen, jemanden etwas ins Glas zu schütten.“ Cornelia zuckte mit den Schultern. „Wer
es darauf anlegt, hat sicherlich gute Erfolgschancen.“
„Da hast du recht“, übernahm Tanja wieder das Wort und deutete auf die zweite Pinnwand,
die vorne zentral stand, aber noch leer war. Ein Stichwort für Felix, der aufstand und mit
seinem Stapel Papier nach vorne kam.
„Das Castle befindet sich in der Luitpoldstraße. Eine Seitenstraße zwischen Stachus und
Hauptbahnhof.“ Während er sprach, pinnte er die Informationen an die Wand, Tanja
assistierte ihm dabei. „Der Laden wurde vor fünf Jahren eröffnet, genoss dann ein halbes
Jahr seine Glanzzeiten und entwickelte sich danach langsam aber sicher zu einem
mittelmäßig angesagten Club.“ Fotos von außen und innen verstärkten seine Aussagen.“
„Wem gehört das Ding?“, fragte Steinberger, und seine Stimme konnte den Stolz auf seine
Truppe nicht verbergen.
„Einem gewissen Christian Fiedler“, mischte sich Tanja wieder ein. „Der Typ scheint sauber
zu sein. Außer ein paar Anzeigen wegen Ruhestörung liegt bei ihm nix vor. Und als Betreiber
eines Clubs, sind diese auch wohl eher vorhersehbar. Leider ist es uns noch nicht gelungen
ihn zu erreichen. Vielleicht ist es aber auch besser, ihn von den verdeckten Ermittlungen
nicht in Kenntnis zu setzen.“
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„Ok!“ Tony rückte seinen Stuhl zurecht. „Das alles ändert aber nicht meine Meinung.“
Unsicher warf er Ziva einen Blick zu, doch sie schien noch abzuwägen. „Der Typ wartet doch
dort nur auf uns.“
„Das glaube ich nicht.“ Tony zuckte leicht zusammen, als er Ronalds Stimme vernahm. Bisher
war es ihm sehr gut gelungen, ihn zu ignorieren, in dem er sich voll und ganz auf die
Ausführungen der deutschen Kollegen konzentrierte, doch jetzt schnürte es ihm die Kehle
zu. Er musste all seine Willenskraft zusammennehmen, nicht aufzustehen und ihm seine
Faust in die Magengrube, oder doch lieber noch weiter unten, zu rammen.
„Ich bin Ronalds Meinung“, hörte er Ziva antworten. Was tat sie da? Stellte sie sich
tatsächlich auf Ronalds Seite? Sie gab ihm recht? Musste sie jetzt noch mit Füßen auf ihm
rumtrampeln? „Er weiß nicht, dass wir seinen Aufenthaltsort kennen. Er war doch bisher
akribisch damit beschäftigt, uns diese Informationen vorzuenthalten. Dass wir das Handy
haben, damit kann er nicht rechnen.“
„Ok!“, wiederholte Tony mit einem bissigen Unterton. „Aber ihr werdet mir doch recht
geben, wenn ich sage, dass er uns vermutlich kennt? Zumindest weiß er, wie wir aussehen.
Daran ist nichts zu rütteln!“ Er bedachte Ronald mit einem eisigen Blick.
„Deshalb werdet ihr euch auch im Hintergrund halten“, knurrte Gibbs und rollte leicht mit
den Augen.
„Im Hintergrund halten?“, blaffte Tony und rümpfte die Nase. „Wie sollen wir verdeckt
ermitteln und uns gleichzeitig im Hintergrund halten?“
„Ihr werdet beobachten.“ Gibbs machte eine theatralische Pause. „Und nur im Notfall
eingreifen.“
Tony schnappte nach Luft, wurde aber durch Gibbs Blick am Reden gehindert. Stattdessen
lehnte er sich im Stuhl zurück und ballte seine Hände zu Fäusten.
„Wir werden ihn von allen Seiten überrumpeln.“ Kriminalhauptkommissar Steinberger
drückte sich an der Wand ab und zog sich einen Stuhl heran. Mit einem leichten Stöhnen ließ
er sich darauf nieder und verschränkte seine Arme vor dem Körper. „Er wird, wenn er
tatsächlich mit unserem Auftauchen rechnet, sehr beschäftigt sein. Wir werden uns im
gesamten Club positionieren. Außerdem setzen wir einen Lockvogel auf ihn an.“
„Einen Lockvogel? Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?“ Tonys Stimme zitterte. Seine
letzten Erfahrungen hemmten seine Risikobereitschaft in einem Maße, den er sich selber
bisher nicht hatte eingestehen wollen.
„Cornelia ist bestens vorbereitet.“ Gibbs nickte der Pathologin zu.
Steinberger räusperte sich. „Und Gibbs und ich werden die Aktion von außen koordinieren.
Es ist unsere einzige Chance.“
*****
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Cornelia spürte die unsicheren Blicke auf sich. Typisch, dachte sie flüchtig und schenkte den
Männern und Tanja ein ironisches Lächeln. Ziva schien ganz abwesend zu sein. Es war ja
wieder klar, dass ihr Umfeld ihr nichts zutraute. Doch sie würde hier alle vom Gegenteil
überzeugen. Alle. Sie war es leid, gegen das Bild anzukämpfen. Sie war nicht das dumme
kleine Blondinchen, dumm und schwach, angewiesen auf sie stetige Hilfe der starken
Männerwelt. Nein. Sie war Cornelia Rubin. Blond? Ok, das konnte sie nicht abstreiten.
Dumm? Nun, ihr Studium und die zusätzlichen, mit brillantem Erfolg abgeschlossenen Kurse
in Kriminalistik, bewiesen wohl das Gegenteil. Schwach? Da sollten sie mal ihre drei Brüder
fragen, die würden bei einer solchen Frage vermutlich in Gelächter ausbrechen und mit
Geschwisterstolz ihre zahlreichen Narben zeigen. Schließlich hatte sie jahrelang
Karateunterricht und mit süßen 13 Jahren hatte sie dann auch noch mit Kickboxen
angefangen. Damals suchten die Eltern verbissen nach einer Möglichkeit, die unterdrückten
Aggressionen ihrer lieblichen Tochter in den Griff zu kriegen.
Die Augen der Pathologin strahlten. Und entschlossen nickte sie Gibbs ein weiteres Mal zu.
Endlich gab ihr jemand die Möglichkeit zu zeigen, was wirklich in ihr steckte. Es war ihr große
Chance, ihr Können, ihr Wissen und ihr gutes Aussehen miteinander zu kombinieren und
genau das zu tun, was sie immer tun wollte. Das Unmögliche möglich zu machen.
„Agent Gibbs und ich haben gemeinsam mit Abby heute Morgen ein kleines Profil von Arif
erstellt.“
Cornelia stand auf und trat vor die Gruppe. Ihr Auftreten war sicher und entschlossen. „Zur
Grundlage haben wir sowohl sein bisheriges Vorgehen bei den Morden, als auch die
Zeugenaussagen und verschiedene Videoaufnahmen, die Abby von früher aufstöbern
konnten, genommen. Von seiner Statur ist Arif eher ein schmächtiger Mann, wenn er in den
letzten Jahren nicht tägliches Krafttraining absolviert hat, sollte sich das auch nicht geändert
haben. Die Zeugenaussagen bestätigen zudem, dass Arif gewisse Anstrengungen aufbringen
musste, um die Leiche aus dem Auto zu zerren.“
„Und damit willst du uns sagen, dass du ihm gewachsen bist?“ Tanja zog die Augenbrauen
hoch. Felix schnappte gleichzeitig nach Luft.
„Ich weiß, dass ich ihm gewachsen bin“, antworte Cornelia knapp und verdrehte die Augen.
„Agent Gibbs konnte sich schon von meinen Fähigkeiten überzeugen.“
Wieder spürte sie die fragenden Blicke auf sich. Alle sahen sie verwundert an, nur Gibbs
schmunzelte leicht. Inzwischen wusste die Pathologin, dass ein winziges Hochziehen der
Mundwinkel dieses Mannes, die größte Anerkennung an sich bedeutete.
„Ich hätte sie doch sonst gar nicht in Erwägung gezogen für ein solches Vorgehen“,
grummelte der Chefermittler daraufhin den anderen Kollegen zu. „Erstklassige
Nahkampftechnik.“
„Außerdem hat mich Agent Gibbs in das Geheimnis eingeweiht, wie man trinkt, ohne
wirklich zu trinken.“ Sie zwinkerte dem Grauhaarigen zu. „Da die Proben inzwischen
analysiert wurden, wissen wir, dass Arif seine Opfer mit einer neumodischen Droge willenlos
macht. Sie sind ihm wohl mehr oder weniger freiwillig gefolgt.“
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Kriminalhauptkommissar Steinberger reichte ihr die Papierrolle, die er schon die ganze Zeit
in der Hand hielt. Cornelia nahm sie entgegen und rollte sie auseinander. Schweigsam pinnte
sie den Plan an die Pinnwand und stellte sich seitlich, damit alle einen guten Blick darauf
hatten.
„Das ist der Grundriss des Clubs“ Cornelia hielt einen Moment inne, in dem die Kollegen ihre
Stühle in die richtige Position brachten, Ronald näher kam und Tony seine Lippen fest
zusammenpresste. Dieser Macho schien noch immer nicht von ihr überzeugt zu sein. Sie
räusperte sich. „Das ist der zentrale Punkt, hier ist die Bar.“ Sie zeigte jeweils auf die Stellen.
„Tony wird auf der Empore stehen, und somit einen Gesamtüberblick haben. In diesem
Teilbereich, rechts neben der Tanzfläche werden sich Tanja und Felix aufhalten, Ziva und
Ronald werden sich genau hier positionieren.“
Cornelia atmete tief durch und blickte in die Gesichter ihrer Kollegen. Niemand schien
Einwände zu haben, auch wenn sie sich einbildete, dass Tony schwer schluckte und seine
Augen aggressiv funkelten. Eine kurze Berührung von Ziva ließ ihn aber scheinbar inne
halten.
*****
Tony hatte sich vor wenigen Minuten von der Gruppe abgesetzt und war im Waschraum des
Polizeipräsidiums verschwunden. Im Gegensatz zur Männertoilette im Navy Yard war der
Raum in tristem Weiß gehalten, auch die sanitären Anlagen waren nicht unbedingt auf dem
neuesten Stand. Aber es gab kaltes Wasser und seit geraumer Zeit ließ sich der NCIS-Agent
dieses tröpfchenweise über die Handgelenke laufen und genoss die erfrischende Wirkung. Er
gönnte sich eine kleine Pause, denn in ihm brodelte es unaufhaltsam. Sicher, sie waren
bestens vorbereitet, das Team hatte alle Eventualitäten abgesprochen. Und doch blieb eben
diese unterschwellige Gefahr. Risiko. In ihm flackerten immer wieder die Bilder des letzten
Undercoverauftrages auf, das Wagnis dort entpuppte sich als verdammt heiß und ziemlich
gefährlich. Und, es hätte ihn fast getötet. War er bereit, weiterhin solche Risiken in seinem
Leben zu tragen? Die Gefahr, die ihm bisher immer ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch
geschenkt hatte, ließ ihm inzwischen eher die Nackenhaare aufstellen.
Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich die Tür öffnete und wieder schloss. Doch er sah nicht
auf, er wollte jetzt nicht in fremden, fragenden Augen blicken, die den Amerikaner mustern
würden, als wäre er ein Außerirdischer. Ihre Anwesenheit hatte sich inzwischen in dem
Gebäude herumgesprochen.
„Hey!“ Sofort erkannte Tony die Stimme. Die Klangfarbe, die ihm die Kehle zuschnürte und
sofort wieder die Wut in ihm aufwallen ließ. Was wollte Ronald hier?
Er versuchte ihn zu ignorieren. Wortlos drehte er den Wasserhahn zu, griff nach einem
Papier, grob und recycelt, trocknete flüchtig seine Hände, da diese Tücher sowieso nicht
imstande waren zu trocknen, und schmiss es danach in den großen silbrigen Mülleimer, der
maßlos überfüllt zwischen den beiden Waschbecken stand. Der Halbitaliener konzentrierte
sich auf sein Handeln, begleitete in Gedanken jeden einzelnen Arbeitsschritt. Und
tatsächlich, es schien zu funktionieren, sein Pulsschlag beruhigte sich und er konnte tief
durchatmen.
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„Tony? Es tut mir leid.“
Das war zu viel. Ein schlichtes ‚Hey‘ konnte er vielleicht ignorieren, aber diese Worte aus
Ronalds Mund durchbrachen in ihm das sichere Eis und die tosenden Wellen der Wut
brachen erneut über ihm zusammen. In Sekundenschnelle wirbelte Tony herum, warf sich
gegen die Brust des Mannes und drückte ihn mit dem Rücken gegen die weiße Wand. Was
bildete sich der Typ bloß ein? Dachte Ronald ernsthaft, er könne ihm das verzeihen? Nein.
Ganz bestimmt nicht. Niemals! Sein Gegenüber hatte ihre Männerfreundschaft schließlich
mit Füßen getreten, er hatte sogar Stahlkappen dazu verwendet.
Ronald schnappte nach Luft. Er keuchte auf und versuchte mit dem Gewicht seines Körpers
dagegenzuhalten. Doch Tonys Unterarm hatte sich inzwischen unter sein Kinn gedrückt und
übte einen kontinuierlichen Druck auf seinen Kehlkopf aus. Die vor Zorn geweiteten Pupillen
funkelten ihn zornig an.
„Es tut dir leid?“ Tony erwartete keine Antwort. Es wäre sowieso egal, was Ronald ihm
entgegenbrachte. „Du gottverdammtes Arschloch.“ Sekundenlang starrten sie sich
gegenseitig in die Augen, während Ronald weiterhin nach Luft japste und erfolglos
versuchte, Tonys festem Griff zu entkommen. Dieser änderte abrupt seine Position, packte
Ronald am Kragen und schleuderte ihn dann mit Wucht gegen die Trennwand neben dem
Waschbecken.
„Du verlogener Mistkerl“, knurrte Tony und wollte sich gerade wieder mit aller Wucht gegen
Ronald werfen. Doch irgendwas hielt ihn auf. Jemand packte seine Schulter, griff nach
seinem Arm und noch bevor er die Situation verstand, wirbelte man ihn herum und drückte
ihn gegen die Wand, an der zuvor Ronald nach Atem gerungen hatte. Er wollte gerade
anfangen, sich gegen das Hindernis zur Wehr zu setzen, als er erkannte, wer ihn gerade
davon abhalten wollte, Ronald noch einen kräftigen Tritt in die Eier zu verpassen.
„Ziva“, keuchte er entrüstet und erwiderte den Blick, den sie ihm fordernd entgegenwarf.
Das wurde ja immer besser. Zunächst stellte sie sich in der Besprechung auf die Seite dieses
Möchtegernagenten, dann wurde sie von Gibbs in Ronalds Team eingeteilt und jetzt
hinderte sie ihn auch noch daran, dem Typ die nötigen Leviten zu lesen. Im Augenwinkel
vernahm er mit gnadenloser Genugtuung, dass Ronald sich langsam an der Wand
herabgleiten ließ und mit seinen Händen seinen Hals bedeckte.
„Bist du verrückt geworden?“, blaffte Ziva ihm entgegen. „Was ist nur in dich gefahren?“ Sie
konnte nicht behaupten, sie habe es nicht kommen sehen. Aber die Intensität von Tonys
Ausbruch überraschte sie doch sehr. Sie hätte sich nie im Leben vorstellen können, dass ihr
Partner so die Kontenance verlieren konnte.
Ungläubig riss Tony die Augen auf, versuchte sich aus ihrem festen Griff zu befreien und
stellte fest, dass es daraus wohl eher kein Entkommen gab. „Was in mich gefahren ist?“ Tony
lachte auf. „Der Typ ist für mich das Letzte.“
Ziva wägte ab. Was war sinnvoller? Schlichten und somit das schwelende Feuer nur zu
beruhigen, bis es erneut ausbrechen würde, oder aber zu provozieren und das Thema ein für
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alle Mal zu klären? Sie entschied sich für letzteres und stellte eine vermeintlich simple Frage.
„Warum?“
Tony stockte und startete dann einen weiteren Versuch sich aus ihren Armen zu befreien.
Doch auch der erneute Versuch misslang und steigerte seinen Zorn bis zur Obergrenze. „Lass
mich los“, fluchte er und stierte Ziva in die braunen Augen. „Verdammt, das ist eine Sache
zwischen Männern. Wir werden das auf unsere Art und Weise klären.“
„Das werdet ihr nicht“, sprach Ziva ganz ruhig. „Also, raus mit der Sprache. Was ist los?“
„Du machst dich gerade lächerlich“, knurrte Tony, der inzwischen nicht mehr wusste, wem
seine überschwappende Wut galt. Ronald oder der Frau, die ihn daran hinderte, seine Rage
zur Explosion zu bringen.
„Du machst dich lächerlich“, erwiderte Ziva.
„Ich mach mich sicherlich nicht lächerlich. Der Typ hat …“ Tony sah zwischen Ziva und Ronald
hin und her.
„Was hat er?“, Ziva hielt seinem entrüstenden Blick stand.
„Er hat mit meiner Freundin geschlafen“, entfuhr es Tony und als er die Worte
ausgesprochen hatte, hielt er inne und presste kurz die Lippen aufeinander. „Du weißt doch
genau was er getan hat.“
Ziva antwortete nicht sofort. Sah dem Halbitaliener in die grünen Augen, die mit einem
Schlag traurig zu werden schienen. Er hatte es ausgesprochen. Am liebsten wäre sie jetzt in
Tränen ausgebrochen und ihm um den Hals gefallen. Doch sie riss sich zusammen und
schüttelte entschieden den Kopf. „Das ist nicht fair.“
„Was?“ Irritiert runzelte Tony die Stirn. Ziva redete hier von Fairness? Er war es doch
schließlich, der hintergangen wurde.
„Wusstest du in dem Moment als ich mit Ronald geschlafen habe, dass ich deine Freundin
bin?“ Ziva wählte bewusst die Ichform, auch wenn es ihr dadurch noch schwerer fiel, die
Worte auszusprechen.
„Nein. Das weißt du doch auch. Verdammt, ich konnte mich doch nicht erinnern.“ Tonys
Stimme verlor an Kraft, wurde dann leiser und friedvoller. Er ahnte schon, was jetzt folgen
würde.
„Wie konnte Ronald es dann wissen?“, fragte Ziva leise und lockerte ihren Griff. Nach einer
kurzen Pause, in der niemand sprach, fügte sie hinzu: „Niemand wusste es. Außer ich. Also
wenn du jemanden die Schuld geben willst, dann mir.“ Mit traurigen Augen blickte sie ihm
entgegen, bemerkte nebensächlich, dass Ronald schweigsam und mit eingezogenem Kopf
den Raum verließ.
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Tony räusperte sich. Seine Wut war plötzlich verpufft. Doch er konnte auf Zivas Frage nicht
sofort antworten, er wusste gerade selber nicht, was er genau empfand. Sie war eine
wundervolle Frau. Dessen war er sich sicher. Und während er ihre weichen Gesichtszüge
beobachtete, ihre leicht zitternden Lippen, als würde sie jeden Moment in Tränen
ausbrechen, löste er sich vorsichtig aus ihrem standhaften Griff und fuhr mit den
Fingerspitzen zärtlich über ihre Wange. Mit einem Mal wirkte sie so zerbrechlich, ganz im
Gegensatz zu der Person, die sich noch vor wenigen Minuten zwischen Ronald und seiner
Wenigkeit gestellt und verbissen für die unausgesprochene Wahrheit gekämpft hatte. Und
genau das wollte auch er. Die Wahrheit. „Hast du es gewusst? Hast du gewusst, dass du
meine Freundin bist?“
Ziva schloss die Augen und als sie anfing zu sprechen, war es mehr ein Flüstern. „Es tat weh,
mehr als ich es in Worte ausdrücken kann, zu akzeptieren, dass ich eben nicht deine
Freundin bin.“ Sie sah ihm kurz in die Augen und senkte dann den Blick. „Es ist schwer einen
Traum zu begraben. Alles was ich in meinem Leben wollte, war, jemanden zu lieben und von
einem Menschen geliebt zu werden. Zu wissen, dass es jemanden gibt, der mich versteht.
Und der es ehrlich mit mir meint. Damit hatte ich nie besonders viel Glück. Ich bin vielen
Männern begegnet, doch der Funke ist nie richtig übergesprungen. Dieser Funke, der tief in
dir das Feuer entfacht, in dem Moment in dem du begreifst, das ist der Mensch auf den du
ein Leben lang gewartet hast.“ Wieder schloss Ziva die Augen. „Wenn du dein ganzes Leben
auf etwas Bestimmtes wartest und es dann endlich findest, erscheint es dir wie ein Wunder.
Es füllt dich aus, lässt dich zu einem anderen Menschen werden. Du hast das Gefühl endlich
angekommen zu sein. Zu leben. Das alles wieder zu verlieren, ist, als reiße jemand
gewaltsam dein Herz und deine Seele in Fetzen. Es zerstört dein Leben.“
Tony strich durch ihr Haar und griff dann nach ihrem Kinn. Sie hatte noch immer die Augen
geschlossen. „Ich …“, er verstummte sofort wieder, als er bemerkte, dass er nie seine
Gefühle und Gedanken in die richtigen Worte hüllen konnte. Stattdessen zog er sie an sich
und berührte vorsichtig mit seinen Lippen die ihren. Der erste Kuss. Ein Kuss, der mehr sagte,
als Worte jemals ausdrücken könnten.
*****
Alisar stand auf den Zehenspitzen und versuchte das winzige Kellerfenster mit ihren Fingern
zu erreichen, während Ilena noch immer schlief. Draußen war es langsam dunkel geworden
und das Kind wollte einen letzten Hauch Tageslicht ergattern. Einen winzigen Hauch. Zwar
hatte Arif das grelle Licht der Neonröhre angelassen, doch dieses war nichts im Vergleich
zum natürlichen Sonnenlicht, dessen Strahlen die pure Freiheit bedeuteten.
Frustriert gab Alisar auf und ließ sich seufzend auf die Matte fallen, zog die Beine unters Kinn
und betrachtete ihre Mutter. Die eine Gesichtshälfte leuchtete in allen Regenbogenfarben
und das Mädchen war sich sicher, dass Arif genau an dieser Stelle einmal mehr zugeschlagen
hatte. Ihr Kopf hing unbequem zur rechten Seite und ihre Arme schienen merkwürdig
verdreht. Die Fesseln hinderten sie daran, eine angenehme Sitzposition einzunehmen.
Stundenlang hatte sie im Laufe des Tages versucht, die Fesseln um Ilenas Handgelenke, die
inzwischen blutig und angeschwollen waren, zu lösen. Doch ihre kleinen Fingerchen konnten
nichts gegen die Kabelbinder ausrichten. Ohne Messer oder spitzen Gegenstand war sie
chancenlos und irgendwann hatte sie es aufgegeben. Sie hatte den Körper ihrer Mutter mit
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der Decke umhüllt und somit das Zittern ihres Körpers ein wenig gemindert. Sie war zwar
erst sieben Jahre alt, aber sie konnte schon erkennen und einschätzen, wie schlecht es ihrer
Mutter wirklich ging. Auch wenn Ilena ständig beteuerte, es wäre alles halb so schlimm und
sie würden das sicherlich durchstehen, Alisar glaubte ihre Mutter, dieses eine Mal, kein
einziges Wort davon. So sehr man es auch wollte, man konnte die Augen nicht davor
verschließen, wie sehr die vergangenen Tage Spuren hinterlassen hatten und Ilena sichtlich
am Ende ihrer Kräfte war. Immer wenn sie erschöpft die Augen öffnete und ihre Tochter
ansah, funkelte kurz die Willenskraft darin auf, verlor aber schnell wieder an Kraft und
Zuversicht. Zu viele Stunden, Tage, waren schon vergangen. Und doch versuchte sie mit aller
Macht dagegen anzukämpfen, endgültig aufzugeben. Gab alles daran, sich aufrecht zu halten
und sog jeden Hoffnungsschimmer in sich auf. Durch Alisars Erzählungen hatte sie erfahren,
dass Ronald, Ziva, Gibbs und Tony in München waren, auf der Suche nach ihnen. An dieser
Tatsache war trotz der misslichen Lage nichts zu rütteln und genau dieser Sachverhalt erwies
sich als Strohhalm, an dem sie sich beide festklammerten. Die Hoffnung auf Rettung hielt sie
am Leben.
Arif strich mit dem Zeigefinger über das edle Holz der Bar, malte gedankenlos Schleifchen
und Schlangenlinien. In der linken Hand hielt er eine Flasche Bier, gönnte sich die kühle
Flüssigkeit in kleinen Schlucken. Er war soeben von einem kleinen Spaziergang durch die
Stadt zurückgekehrt und genoss nun die Ruhe. Samstags füllten sich die Straßen der Stadt,
im Vergleich zu den Wochentagen, in einer noch unfassbareren Menge, es wimmelte überall
von Touristen. Und somit war es kein Vergnügen mehr durch die Stadt zu schlendern,
vielmehr wurde es zur Tortur, wenn man einen bestimmten Punkt anstrebte und sich nicht
mit der Menschenmasse treiben ließ. Zudem machte ihm die Hitze zu schaffen. Seit Tagen
kletterte das Thermometer über die dreißig Gradgrenze, die kurzen, aber heftigen Gewitter
brachten immer nur kurzzeitig Abkühlung und ließen eine zusätzliche, unerträgliche Schwüle
folgen. Da war es hier im Inneren des Clubs schon bedeutend angenehmer. Die Entlüftung
und die Klimaanlage kühlten dezent den Raum, der um diese Uhrzeit noch im Dunkeln lag. In
zwei Stunden würde es auch hier von Leuten wimmeln. Vermutlich maßlos überfüllt, wie
jeden Samstagabend. Normalerweise zog er sich in solchen Nächten zurück. Nutzte sie, um
einen ganz bestimmten Ort aufzusuchen. Das Kriegerdenkmal im Hofgarten zog ihn in diesen
Stunden magisch an, aber auch tagsüber ging er häufig an diesen Ort. Dort kam er zur Ruhe,
konnte seine Pläne schmieden und fühlte sich Admin nahe. Ob es nur daran lag, dass eine
übergroßer Bronzestatur, ein gefallener Soldat, auf einem Sockel thronte, der ihn an seinen
Mentor erinnerte? Oder doch an der, in die Deckenplatte gemeißelte Inschrift ‚sie werden
auferstehen‘? Selten bis nie verirrte sich jemand in die alte denkmalgeschützte Gruft, die
man zum Gedenken der Opfer des ersten Weltkrieges erbaut hatte. Von weitem waren die
engen Eingänge, die ins tiefe Innere führten, schlecht zu erkennen. Zum Glück, so war es zu
einem Ort der Ruhe geworden. Die harten Marmorstufen standen im Gegensatz zu den
weichen Ledersesseln in der Lounge, die Enge im Kontrast zur Weite der Tanzfläche und die
Stille, die dort herrschte, war vollkommen konträr zur lauten Musik, die bald in
unermesslicher Lautstärke den Raum hier fluten würde.
Arif fuhr sich über die schweißnasse Stirn und stöhnte. Was tat er hier eigentlich? Wer war
er? Diese Frage stellt er sich oft, unzählige Male. Wenn die Begierde in ihm brannte, der
Hass durch seine Adern floss. Er fragte es sich, vor und nach jeder Aktion. Und doch musste
er handeln, sein Inneres zwang ihn dazu, auch wenn sein Kopf dagegen ankämpfte.
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*****
Ilena schreckte auf, als draußen eine Tür ins Schloss fiel. Panisch blickte sie sich im Raum um,
erkannte ihre Tochter zusammengekauert auf der Matratze liegen. Sie schien zu schlafen.
Die drohende Gefahr ließ Ilena einen kalten Schauder über den Rücken laufen und ihren
Atem stocken. Sie lauschte. Doch nichts geschah. Es waren weder Schritte zu hören, kein sich
drehendes Türschloss - Nichts. Nur Stille. Bedrohlich. War Arif schon wieder gegangen, hatte
sie so tief geschlafen, dass sie ihn nicht bemerkt hatte und erst in dem Moment, als er die
Tür hinter sich geschlossen hatte, aufgewacht war? War sie tatsächlich so unaufmerksam
gewesen? Alisar schien ihn auch nicht bemerkt zu haben. Zum Glück. Sie durfte nicht
zulassen, dass sie die Kontrolle über sich verlor und somit ihre Tochter alleine ließ, im
Angesicht ihres Vaters. Egal, wie sehr die Schmerzen an ihr nagten, er durfte Alisar nicht zu
nahe kommen. Das würde sie nicht zulassen. Nein. Noch immer war nichts zu hören und
erleichtert atmete Ilena aus und versuchte ihre Sitzposition zu ändern.
Arif hatte die Tür hinter sich ins Schloss fallen lassen und lehnte nun mit dem Rücken gegen
die kühlen Steinplatten des Kellers. Er sog die feuchte, modrige Luft in seine Lungen und
kaute auf seiner Unterlippe. Noch immer war er unentschlossen. Auf der einen Seite
verspürte er den großen Drang in sich, eine weitere Frau zu verführen und sich seiner Triebe
hinzugeben. Andererseits hatte ihn die letzte Nacht ziemlich viel Kraft gekostet. Hatte er sich
da nicht einen Ruhetag redlich verdient? Bisher war alles glatt gelaufen, ok, bis auf diese
penetrante Erzieherin im Heim, das war ja auch nicht akribisch geplant gewesen, aber
wirklich schief gelaufen war auch das nicht. Sein angestrebtes Ziel hatte er damit sicherlich
erreicht. Die entsetzten Augen seiner Frau, als diese Alisar erkannte, waren Lohn genug
gewesen. Nie wieder würde Ilena ihn so anreden. Nie wieder!
Doch die, vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen, hatten sich für seinen Geschmack viel zu
schnell in Erleichterung gewandelt. Das Wissen, dass das geliebte Kind noch am Leben war,
verdammt, das erwies sich im Nachhinein als Belohnung. Sollte er die Nacht nicht besser
dazu nutzen, die beiden zu trennen? Ilena somit erneut mit Todesängsten quälen? Sicherlich
würde sie das gefügiger machen, er konnte ihr drohen und sie unter Druck setzen.
Außerdem war es doch bestimmt geschickter, die Beiden an unterschiedlichen Orten
unterzubringen, damit er, falls doch etwas schief laufen sollte, einen Joker in der Hand hätte.
Oder war es besser, dem NCIS-Geschwader noch eine weitere Leiche zu überbringen? Er war
einfach so unentschlossen …
*****
Die Mittagssonne stand stechend am Himmel. Seit Tagen hatte es nicht geregnet und die
Luft war zum schneiden. Jeder Bürger von Washington DC wünschte sich ein kühlendes
Gewitter herbei, das die explosive Atmosphäre ein für allemal zerschlug. Doch am Horizont
war kein einziges Wölkchen zu sehen, nichts, dass eine gewisse Erleichterung in greifbare
Nähe rückte.
Abby und McGee schlenderten langsam durch den Park, seit endlosen Minuten hatte
niemand ein Wort gesprochen. Die Kriminaltechnikerin hielt in der einen Hand einen riesigen
Becher CafPow und zog ab und zu gedankenverloren und geräuschintensiv an dem roten
Strohhalm, während McGee seine Zeit dazu nutzte, sie mitleidsvoll von der Seite zu
beobachten.
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Abby sah mitgenommen aus. Die letzten Stunden, die zahlreichen Dateien, die
Informationen über Arif, Ilena und sonstigen Menschen, die Gespräche mit dieser Cornelia
wegen dem Einsatz, die, aufgrund der Ferne so komplizierte Auswertung der Spuren; kein
Wunder, dass in der Frau, trotz des hundertsten Koffeingetränks, kein Funken Leben mehr zu
existieren schien. Hinzu kam die Sorge um Ilena und erneut die quälende Angst um Alisar.
Wo? Wo war dieses verfluchte Puzzleteilchen, nach dem sie seit Tagen suchten?
Irgendetwas musste doch zu finden sein, das ihnen endlich weiterhalf und sie Arif, diesem
Monster, näher brachte. Bevor die ganze Sache in Deutschland aus dem Ruder laufen
konnte.
McGee schluckte schwer. Auch wenn er es ungern zugab, auch ihm war diese geplante
Undercoveraktion nicht sehr geheuer. Die Auswirkungen der letzten verdeckten Ermittlung
saßen noch zu tief in seinem Innern und die Erinnerungen waren noch allzu greifbar in
seinem Kopf. Unbewusst griff er zu seiner linken Schulter, die er sich damals bei der
Explosion und dem daraus resultierenden Hauseinsturz schwer verletzt hatte. Der Schmerz
breitete sich soeben phantommäßig in seinem Körper aus und ließen die verdrängten Bilder
lebendig werden. Dabei waren seine Schmerzen damals wirklich das geringste Problem
gewesen. Tony beispielsweise musste nach dem Brand wiederbelebt werden, und auch Zivas
Rettung kam wohl in allerletzter Minute. Bei beiden Ereignissen war er damals vor Ort und
konnte, auch wenn er verletzt war, eingreifen, er konnte helfen. Und heute? Heute spazierte
er im Park umher, dazu verdammt, untätig zu sein.
Die Geschehnisse hatten das Leben aller verändert. Tony kämpfte tagein tagaus mit seinen
fehlenden Erinnerungen, die neue Männerfreundschaft mit Ronald tat ihm zwar gut, der
bisherige Kontakt zwischen Tony und McGee schien dagegen ein wenig einzuschlafen. Und
er musste schon zugeben, er vermisste die gemeinsamen Gespräch, die sie nach Feierabend
geführt hatten, irgendwie. Das aber würde Tony niemals erfahren.
Ziva war nicht mehr die alte Ziva. Es schien ihr nicht gut zu gehen, doch helfen lassen, wollte
sie sich auch nicht. Stattdessen zog sie sich immer mehr zurück. Die Einzige, die eine Bindung
zu ihr aufbauen konnte, schien Ilena zu sein. Ilena, die lang vermisste Cousine, die Tochter
des Mannes, dem sie das ganze Unheil zu verdanken hatten. Eine taffe Frau, die tagelang um
das Leben ihrer Tochter bangte, während das Kind in der Wüste nach einem Ausweg suchte,
die sich noch immer bitterste Vorwürfe machte und am Ende vielleicht mit Ronald
tatsächlich ein wenig Glück in ihrem verkorksten Leben fand. Endlich konnten sie und ihre
Tochter ein normales Leben führen. Wenn es ihnen gelang, sie lebend zu finden.
„Meinst du, er tut der Kleinen etwas an?“ Abby blieb stehen und senkte ihren Blick zu
Boden. „Er ist ein …“, statt weiter zu reden, biss sie sich auf die Unterlippe. „… ich habe noch
nicht mal Worte für ihn.“
McGee, der zunächst nicht bemerkt hatte, dass seine Begleiterin nicht mehr neben ihm war,
drehte sich nun zu ihr um. Er wünschte sich so sehr, ihr etwas Aufmunterndes sagen zu
können, etwas, dass ihr gut tat, aber auch er war vollkommen ratlos. „Wir werden sie
finden.“, stammelte er letztlich und legte jede Überzeugungskraft in seine Stimme, die er in
sich trug. Viel war es nicht.
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„Natürlich finden wir sie!“, motzte Abby und schüttelte langsam den Kopf. „Daran zweifele
ich nicht. Niemals!“ Ihre Augen funkelten entschlossen, verloren aber sofort wieder an
Glanz. „Ich will wissen, ob du der Meinung bist, er lässt das Kind in Ruhe oder er …“
McGee kam einen Schritt näher und zog Abby in seine Arme. „Die ganzen Informationen, die
wir gesammelt haben, die Krankenhausberichte über Ilena, die die Grausamkeiten des
Mannes ans Licht brachten …“ Abby schluchzte in seinen Armen. „ Abby bedenke, nicht ein
einziges Mal wurde dabei Alisar genannt. Er hat ihr anscheinend noch nie etwas körperlich
angetan. Seine Wut, seine Launen hat er bisher immer an Ilena oder anderen Frauen
ausgelassen, nicht an seiner Tochter.“
„Damals war sie noch klein. Jetzt ist sie schon sieben.“, murmelte Abby unter Tränen. „Sie
wird nicht mehr stillhalten, wie früher, sie wird …“
„Sie ist ein schlaues Kind. Und auch wenn ich es ungern als positiv darstelle, sie kennt solche
dramatischen Situationen; sie weiß, wie sie sich verhalten muss, um zu überleben.“ Zärtlich
strich er über die schwarzen Haare. „Sie wissen alle, was sie zu tun haben.“
„Du machst dir Sorgen wegen der Undercoveraktion, oder?“ Abby löste sich aus der
Umarmung und sah dem MIT-Absolventen in die Augen. Eine Antwort brauchte sie nicht,
sein Blick sprach Bände. „Warum?“
„Bauchgefühl.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wir haben so wenige Informationen. Wenn wir
wenigsten mit dem Clubbesitzer den Einsatz hätten besprechen können, uns günstige Plätze
suchen könnten, einfach vorbereiteter wären, … aber dieser Christian Fiedler ist nicht
aufzufinden.“
Abbys Gesicht schien für einen Moment zu erstarren, sie schnappte nach Luft, darauf
verengten sich ihr Augen zu Schlitze, ebenfalls nur für Millisekunden und kurz bevor sie sie
dann zu voller Größe aufriss. Im selben Moment drehte sie auf dem Absatz um und rannte,
wildfuchtelnd, wie man Miss Sciuto eben kannte, davon.
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Das größte Problem lag wohl darin, einen Parkplatz für den unauffälligen Lieferwagen in der
Nähe des Clubs zu finden, der nicht allzu weit weg war und die Funkverbindungen noch
reibungslos funktionieren ließ. Doch das Glück war ausnahmsweise einmal auf ihrer Seite
und nach der fünften gedrehten Runde um den Block wurde zufällig eine Lücke gegenüber
der Eingangstür frei.
‚Die Operation scheint unter einem guten Stern zu stehen‘, dachte Tanja Neumayer, die sich
bereits an der Straßenecke befand und die Szene aus den Augenwinkeln beobachtete. Lässig
lehnte sie gegen das harte Gestein des alten Hauses und tat so, als würde sie auf ihre
Begleitung warten. Was sie ja auch tatsächlich tat, aber dieses Mal wusste sie, dass Felix die
Anweisung hatte, erst in fünf Minuten am Treffpunkt zu erscheinen. Somit wäre sein
Zuspätkommen wohl entschuldigt. Dann sah es der Plan vor, dass sie gemeinsam
hineingehen und ihre Position neben der Tanzfläche einnehmen sollten. Inmitten des
Trubels.
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Tanja wäre der Platz auf der Empore lieber gewesen, dort konnte man sich sicherlich freier
bewegen. Die Enge, die an solchen Orten entstand, war ihr einfach zuwider. Vielleicht lag es
an der Tatsache, dass sie als Polizistin hinter jeder Ecke verborgene Ganoven vermutete,
auch wenn sie insgeheim wusste, dass der wahre Grund an anderer Stelle zu finden war. Ihr
waren vertraute Personen, die sie schon länger kannte und somit besser einschätzen konnte,
hundertprozentig lieber. Und zudem hatte sie sich eigentlich geschworen, nie wieder
gemeinsam mit Felix Schwarz einen Club zu betreten.
Die Auswirkungen der letzten gemeinsamen Veranstaltung zogen sich wie ein roter Faden
durch ihr Privatleben, hinterließen Lücken und Einsamkeit. Vor mehr als zwei Jahren hatte
Felix am Abend darauf bestanden, die Geburt seiner kleinen Tochter zu feiern und
kurzentschlossen die Kollegen in die Schrannenhalle zur Afterworkparty eingeladen. Unter
den Kollegen war auch Tanjas Schwester Sandra, die ebenfalls im Polizeipräsidium als
Kommissarin arbeitete. Es war zunächst ein ausgelassener Abend, die Stimmung war gut. Bis
zwei zwielichtige Gestalten neben ihnen eine Prügelei begannen und Felix, geblendet durch
seinen zu hohen Alkoholpegel, sich unbedingt schlichtend einbringen musste. Sandra wollte
ihn zurückhalten. Tanja selbst war viel zu weit entfernt und konnte nur aus der Ferne
beobachten, wie einer der Typen ein Messer zog und das Drama seinen Lauf nahm. Die Tage
und Nächte, die sie danach am Bett ihrer Schwester gesessen und gehofft hatte, sie würde
überleben, blieben ihr genauso klar in Erinnerung wie jener schöne Moment, als sie nach
dem langen Koma die Augen öffnete und sie müde anlächelte. Seit dem Vorfall machte sich
Felix die größten Vorwürfe, kümmerte sich rührend um Sandra, die lange brauchte, um
wieder auf die Beine zu kommen. Was darunter litt, war seine Ehe, auch wenn Malena, seine
Frau, viel Verständnis für seine Situation aufbrachte und versuchte, Felix ein harmonisches
Familienleben zu bieten. Letztlich war es Sandra, die einen Schlussstrich zog und auf einen
Neuanfang in ihrem Leben bestand. Sie packte ihre Sachen und verschwand an das andere
Ende der Welt, lebte seitdem in Australien. Felix, dem dadurch endlich die Augen geöffnet
wurden, versuchte noch zu retten, was zu retten war, verlor aber den Kampf und willigte
schließlich in die Scheidung ein.
„He.“ Felix berührte sie an der Schulter und riss Tanja aus ihren Gedanken. Zur Begrüßung
küsste er sie auf die Wange und musterte sie dann kurz. „Gut schaust du aus“, murmelte er
und zwinkerte ihr zu. Die traurigen Augen seiner Partnerin blieben ihm nicht verborgen.
Auch wenn es ihm eine leichte Gänsehaut verpasste, wusste er doch, dass es nicht der
richtige Augenblick war, darauf einzugehen.
Tanja nickte wissend, blickte dann ausweichend die Straße runter und erkannte die sich
nähernde Person sofort. Perfektes Timing. „Sie sieht klasse aus“, flüsterte sie Felix zu, der
daraufhin ebenfalls einen Blick wagte.
Cornelia hatte sich in Schale geworfen, ein kurzer schwarzer Minirock ließ ihre Beine
bestens zur Geltung kommen, ein grünes enges Top schmiegte sich locker um ihre zarte
Taille und passte perfekt zu ihren hohen Schuhen. Ihr Haar trug sie offen und die blonden
Strähnen fielen locker um ihr perfekt geschminktes Gesicht. Selbst der Lidschatten schien auf
das Grün der Kleidung abgestimmt zu sein. Einen besseren Lockvogel hätten sie wohl nicht
finden können.
Ohne die beiden eines Blickes zu würdigen, ging sie flotten Schrittes an ihnen vorbei und
steuerte auf den Eingang zu. Es war der Moment, in dem auch Tanja und Felix sich in
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Bewegung setzten und dicht hinter ihr her liefen. Alle würden sie dafür sorgen, dass Cornelia
ab jetzt nicht eine einzige Sekunde unbeobachtet war.
*****
Tony hatte seine Position bereits eingenommen und stand gegen einen Barhocker gelehnt
auf der Empore. Hier hatte er tatsächlich einen guten Blick. Sowohl die Bar, wie auch die
Tanzfläche und die seitliche Lounge waren von diesem Platz gut einsehbar. Nichts blieb ihm
verborgen. Und so bekam er natürlich auch die Ankunft von Ziva und Ronald mit. Und auch
wenn er sich geschworen hatte, heute Abend absolut professionell zu denken und zu
handeln, schadete es sicher nicht, auch die beiden ein wenig verstohlen zu beobachten,
solange Cornelia noch nicht anwesend war. Die Wut war zwar nach Zivas Worten in der
Zwischenzeit ein wenig abgeklungen, dennoch ließ ihn das Gefühl nicht los, er sollte Ronald
ab sofort im Auge behalten. Wahres Vertrauen konnte er ihm nie wieder entgegenbringen,
dessen war er sich sicher. Und verzeihen? Wenn ja, dann würde das noch hunderte von
Jahren dauern. Wenn es überhaupt möglich war.
Ronald schien gedämpft. Die sonstige Ausstrahlung des charmanten lockeren Playboys war
einem unsicheren, zurückhaltenden und abwartenden Verhalten gewichen. Vermutlich war
er sich Tonys Blicken sehr wohl bewusst, die auf ihm ruhten. Obwohl Tonys Augen eher in
Zivas Bann gezogen wurden.
Sie sah einfach umwerfend aus. Obwohl sie sehr blass wirkte und wenn man sie kannte, sah
man sofort, dass es ihr nicht unbedingt blendend ging, wenn auch besser als die Tage zuvor.
Dennoch konnte man bei ihrem Anblick dahin schmelzen. Ihre Haare hatte sie locker nach
hinten gebunden und ermöglichten somit eine Sicht auf ihre freien Schultern. Das bläulich
schimmernde, lange Top betonte nicht unbedingt ihre schlanke Figur, regte aber
hundertprozentig die Fantasie der Männerwelt an. Darunter trug sie eine enge Jeans, wenn
Tony es von weitem richtig erkennen konnte. Und eigentlich war es auch egal was sie
anhatte, Ziva sah in seinen Augen immer wunderschön aus.
*****
Das Schlüsselloch drehte sich so leise, dass Alisar weiterschlief, doch in Ilenas Ohren hörte
sich das Geräusch wie schrillende Alarmglocken an. Er war also doch hier. Arif war im Keller.
Warum aber zögerte er, die Tür zu öffnen?
Es war sekundenlang totenstill. Ilena zitterte, hielt die Luft an und beobachtete den Türgriff,
der sich nun langsam, ihrer Wahrnehmung nach in Zeitlupe, nach unten bewegte. Sie hatte
so gehofft, dass er sie für diese eine Nacht in Ruhe ließ, auch wenn sie natürlich wusste, dass
diese Hoffnung reinste Utopie war.
Wortlos betrat Arif den Kellerraum, lächelte Ilena liebevoll entgegen, bevor er die Tür von
innen verschloss und den Schlüssel in seine Hosentasche steckte. Danach blieb er einen
Moment mitten im Raum stehen und beobachtete Alisar, nickte zufrieden, als er sich sicher
war, dass das Kind tatsächlich tief und fest schlief. Erst dann drehte er dem Mädchen den
Rücken zu und ging vor Ilena in die Hocke. Sein fester Griff um ihr Kinn zwang sie, sich
aufzustellen. Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn, während er ihr behutsam über
die Wange strich. Heute würde sie sich unter keinen Umständen zur Wehr setzen, das
wusste er. Sie würde keinen Laut von sich geben, aus Angst ihre geliebte Tochter zu wecken.
Wenn Ilena etwas wollte, dann ihrem Kind diesen Anblick zu ersparen. Für einen winzigen
Moment kam auch ihm dieser Gedanke, das Kind war bestimmt noch zu jung für solche
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Sachen, aber das Kribbeln in seinem Körper hatte einmal mehr das Kommando über sein
Handeln übernommen und nachdem er sich eben entschlossen hatte, den Ermittlern heute
Nacht keine weitere Leiche zu schenken, wollte er wenigsten ein klein wenig Freude
verspüren. Er drückte seine Lippen fest auf ihren Mund, wobei er die vor Entsetzen weit
aufgerissenen Augen seiner Frau ignorierte, seine Hände wanderten fordernd über ihren
unbedeckten Körper.
„Mami, wo bist du?“, ertönte leise die Stimme des Kindes. Alisar hatte noch nicht
wahrgenommen, dass ihr Vater im Raum war, streckte sich ausgiebig und rieb sich danach
die Augen. Noch leicht orientierungslos setzte sie sich auf.
Ilena zuckte bei ihren Worten zusammen. Und soweit es ihr möglich war, drückte sie Arif von
sich, sah ihm flehend in die Augen. „Bitte“, flüsterte sie. „Bitte, tu das nicht vor ihren
Augen.“ Sie schämte sich nicht für die Tränen, die dabei über ihr Gesicht flossen.
Arif stöhnte auf. Wieder einmal stand ihm dieses Kind im Weg. Er hielt in seinen
Bewegungen inne und sah in Ilenas goldschimmernde Augen, fuhr mit seinem Daumen über
ihre tränennasse Wange und küsste sie dann auf die Nasenspitze. „Ok“, wisperte er Ilena zu
und verzog in diesem Moment seinen Mund zu einem gehässigen Grinsen. „Dein Wille sei
mir Befehl.“ Er legte den Kopf etwas schief und zwinkerte ihr zu. „Ich bring sie weg.“
*****
Ilena schrie. Zum ersten Mal seit ihrer Gefangenschaft schrie sie aus voller Kehle. Sie rief den
Namen ihrer Tochter. Immer und immer wieder, bis sie erschöpft zusammensackte. Was
hatte sie nur getan? Mit ihrer unüberlegten Bitte hatte sie Arif nur einen weiteren Trumpf in
die Hand gespielt, sie zu quälen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, hatte er sie stehen
lassen, nach Alisars Hand gegriffen und sie aus dem Kellerverlies geführt. Noch immer sah sie
die weit aufgerissenen Augen ihrer Tochter in Gedanken vor sich, der flehende Blick des
Kindes. Die letzten Worte, das leise ausgesprochene ‚Mama‘, die kapitulierende
Körperhaltung und das kurze Schluchzen, kurz bevor Arif die Tür schloss, bohrten sich
schmerzend in ihre Seele. Wo brachte er sie hin?
*****
Alisar tat, was ihre Mutter ihr vor wenigen Stunden nochmals bekräftigt hatte. Sie schwieg,
gehorchte und folgte den Anweisungen ihres Vaters. Dieser drückte sie sanft vor sich her,
wies ihr den Weg. Es war dunkel, schrecklich dunkel, und gerne hätte sie losgeweint, weil sie
sich so sehr fürchtete. Doch die Angst schnürte ihr die Kehle zu, erschwerte ihr zeitgleich das
Atmen. Und das Weinen wollte ihr nicht gelingen. Sie spürte, wie sich die Tränen
schmerzend sammelten, von innen gegen die Augen drückten, aber am Ende keinen Weg
fanden, ihr Erleichterung zu bringen. Während sie ihren Kiefer so fest aufeinander presste,
dass ihre Backen schon zu schmerzen begannen, gab sie der führenden Kraft, dem steten
Druck von hinten, den sie auf ihrem Rücken spürte, Schritt für Schritt nach.
Der Gang war eng und der Boden glitschig. Zunächst hatte Alisar gedacht, er bringe sie nur
einen Keller tiefer, nachdem sie die Kellertreppe hinuntergegangen waren. Er hatte sie auch
tatsächlich in diesen Kellerabschnitt geführt, bis ans Ende des Ganges, und hatte dann dort
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eine große Eisentür im Boden geöffnet. Mit einem Lächeln hatte er nach unten gedeutet,
aber ihr panisches Kopfschütteln dabei konsequent ignoriert. Auch wenn sie sich anfangs
wehren wollte, letztlich war sie doch eingestiegen.
Die Wendeltreppe, die sie soeben verlassen hatten, wollte zunächst kein Ende nehmen und
die Stufen führten immer tiefer und tiefer. Zweiundvierzig Stufen. Sie hatte jede davon
gezählt. Das war eine Angewohnheit von ihr, sie zählte gerne. Besonders Stufen. Ihre Mama
hatte ihr so das Zählen beigebracht, es gab auch einen kleinen Vers, den sie immer
zusammen gesungen haben, aber dieser wollte ihr zurzeit einfach nicht einfallen. Deshalb
hatte sie sich auf die Zahlen konzentriert. Zweiundvierzig.
Jetzt verkrampften sich ihre kleinen Finger um den Stiel der Taschenlampe und sie musste
sich zwingen zu atmen. Die Luft hier unten roch modrig und abgestanden, es war feucht und
kalt. Wo brachte Arif sie hin? Sie wollte nicht so weit weg. Sie wollte doch nur in der Nähe
ihrer Mama sein. Sie kam ins Rutschen und spürte zwei kräftige Hände unter ihren Achseln,
die sie vor dem drohenden Sturz retteten.
„Vorsicht“, murmelte Arif und stellte sie wieder auf die Beine. „Hier ist es ein wenig rutschig.
Nicht das du dir noch weh tust.“
Alisar biss sich unsanft auf die Unterlippe und schluchzte kurz auf, bevor sie langsam
weiterlief. Die Hand ihres Vaters ruhte nun auf ihrer Schulter und fühlte sich seltsam schwer
an. Es war ein Gefühl zwischen dringend benötigtem Schutz und der von ihm ausgehenden,
drohenden Gefahr. Ein merkwürdiger Eindruck, den das Kind nicht verstand.
Der Tunnel, der nur schwach durch Alisars Lichtstrahl und Arifs zusätzlicher Lampe
beleuchtet wurde und dadurch einen seltsamen und unheimlichen Eindruck machte, wurde
nur für wenige Meter breiter, bevor sie dann nach links abbogen und letztlich vor einer
weiteren Tür stehen blieben. Arif öffnete das verrostete alte Gitter gerade so viel, dass sie
beide sich durchzwängen konnten. Der Weg ging durch einen schmaleren Schacht weiter,
leicht bergab, und Arif musste in gebückter Haltung laufen, auch die Decke war nicht mehr
so hoch. Es wurde immer unheimlicher. Alisar spürte ihre starren Glieder, musste sich zum
Atmen zwingen. Ihr Herz pochte so fest in ihrer Brust, dass sie dachte, es würde irgendwann
zerspringen. Es war die Dunkelheit. Seit ihrer Nacht in der Wüste fürchtete sie nichts mehr
als die Finsternis.
„Gleich sind wir da“, flüsterte Arif ihr ins Ohr und strich dabei über die Haare des Mädchens.
„An diesem Ort bist du sicher. Dort findet dich niemand.“
Alisar wollte ihm antworten, dass sie sich hier niemals sicher fühlen würde, aber sie wusste
nicht, welche Wörter sie wählen sollte. Also nickte sie, brav und artig.
„Und wenn alles vorbei ist…“ Arifs Satz wurde durch ein lautes Brummen unterbrochen. Die
Erde vibrierte und Alisar schreckte zusammen.
Vor purer Angst hätte sie sich fast in die Arme ihres Vaters gerettet. Beinahe. Stattdessen
ließ sie sich auf die Knie fallen und rollte sich panisch zusammen. Es fühlte sich an, als würde
die Erde über ihnen zusammenbrechen, ein Grollen donnerte über sie hinweg. Alisar atmete
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nicht, betete still, dass es schnell vorübergehen sollte. Doch genauso rasant, wie der Lärm
aufgekommen war, verschwand er auch wieder. Nur Arifs hämisches Lachen war noch zu
hören.
„Steh auf“, brachte er unter seinen grausamen Lachsalven hervor. „Das war doch nur eine UBahn. Daran wirst du dich gewöhnen. Die hört man hier eben.“ Unsanft half er ihr auf die
Beine und stieß sie vorwärts. Seine Geduld schien langsam am Ende. Wenige Meter weiter,
bogen sie nach links und blieben vor dem Eingang einer runden Tür stehen.
*****
Zum gefühlten hundertsten Mal blickte Cornelia frustriert auf ihre Armbanduhr. Ihr Gefühl
sagte ihr allzu deutlich, dass es inzwischen viel zu spät war, als dass noch etwas geschehen
würde. Wenn Arif heute Nacht zugeschlagen hatte, dann nicht hier. Nicht mit ihr als Opfer.
Sollte die ganze Aktion sinnlos im Sand verlaufen sein? Machte sich da gerade tatsächlich in
ihrem Inneren das Gefühl der Enttäuschung breit, weil es ihr nicht gelungen war, sich in
Gefahr zu begeben? Wie dämlich bitte war das? Gescheitert?! In Gedanken sah sie das
verzogene Gesicht ihres Kollegen vor sich, der sie morgen früh vermutlich mit den Worten
‚Wie schön, dass meinem süßen Mäuschen nix passiert ist‘ begrüßen würde. Sein Mäuschen
würde ihm schon zeigen, dass sie in seiner Realität eher einer Ratte glich und ihm kräftig in
den Hintern treten. Max war genau der Typ Mann, dem sie es, aufgrund seiner Sprüche und
seinem hämischen Grinsen, am aller liebsten bewiesen hätte, dass sie nicht nur die dumme
Blondine von der Stange war. In ihr steckte so viel mehr. Es war einfach zum Haare raufen,
warum tauchte der Typ nicht auf, ihr Plan war doch gut. Verdammt gut. Sie zog trotzig ihr
Oberteil zurecht und bewegte sich weiter zur Musik. Tonys Blick, den sie dabei erhaschen
konnte, spiegelte ähnliche Überlegungen, sein Gesicht war starr und irgendwie emotionslos.
Und dennoch wirkte er da oben, lässig ans Geländer der Empore gelehnt, in ihren Augen
sehr professionell. Professionell in seiner Aufgabe. Gutaussehend, unauffällig. Er spielte die
Rolle perfekt. Neben ihm stand eine Frau, die ununterbrochen auf ihn einredete, aber von
dem NCIS-Agenten immer nur kurze und knappe Antworten erhielt. Dennoch gab die Gute
wohl nicht auf und Cornelia war sich sicher, wäre er nicht im Einsatz, würde die
Unterhaltung ganz bestimmt anders verlaufen. Mit einem Lächeln im Gesicht, vollführte sie
eine leichte Drehung nach links und konnte so Tanja und Felix sehen. Tanja, die gerade an
ihrem Cocktail nippte, selbstverständlich alkoholfrei, nickte ihr unauffällig zu. Soweit sie das
bei dem gerade wieder einsetzenden Flimmerlicht wirklich erkennen konnte. Felix stand
neben ihr, dicht gedrängt, sein Gesicht schien ernst und angespannt. Verständlich. Natürlich
kannte sie die Vorgeschichte der Beiden, wer wusste es im Polizeipräsidium nicht? Und wenn
auch inzwischen ein wenig Gras über die Sache gewachsen war, war es die oberste Priorität
des Klatsches, die Folgen des Dramas weiterhin im Auge zu behalten.
Cornelia seufzte laut, was im allgemeinen Geräuschpegel des Clubs einfach unterging. Die
laute Musik dröhnte inzwischen in ihren Ohren und langsam begannen auch ihre Füße zu
schmerzen. Noch eine halbe Stunde. In dreißig Minuten war die Deadline erreicht und sie
würden abbrechen. Vielleicht war Arif heute einfach nur spät dran.
*****
Er ließ das Kind zurück. Lief pfeifend durch die Tunnel zum Ausgang und war sich seiner
Sache vollkommen sicher: hier würde niemand die Kleine finden. Zumindest nicht so schnell.
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Der Kontrollgang durch diesen Bereich der Entwässerungskanäle war erst vor gut drei
Wochen geschehen und Arif hatte damals die Chance genutzt, sich in der Zeit, in der die
Arbeiter unten tätig waren, oben die Schlüssel zu stibitzen. Der alte Trick mit der Knetmasse
klappte perfekt, es waren ja auch alte Schlösser. Vermutlich hätte er das Schloss auch
einfach so knacken können, aber so machte es noch mehr Gaunerfreude. Auch wenn er da
noch nicht wusste, wozu er die Schlüssel letztlich bräuchte, er war seitdem schon öfter
unten gewesen, für sich. Er war gern an Orten, die niemand anderes gerne betrat. So war er
eben. ‚Du hast ja einen an der Klatsche‘ hörte er Admins Stimme in seinem Kopf. Oft hatte
der alte Mann diese Worte zu ihm gesagt und immer wieder den Zusatz hinzugefügt ‚und
irgendwie gefällt mir das an dir‘. Nie wieder würde jemand zu ihm sagen, wie toll er ist.
Admin war tot. Und daran war nur der NCIS schuld. Er sollte sich schnellstens wieder auf sein
eigentliches Vorhaben konzentrieren. Diese ganzen Nebenbaustellen lenkten ihn bloß ab.
Jetzt, wo er Alisar hier versteckt hatte, war sicherlich auch Ilena gefügiger. Aus Angst um ihr
Kind, war sie bestimmt wieder bereit, alles für ihn zu tun.
Während er die Wendeltreppe aufstieg, überlegte er, ob es vielleicht an der Zeit war, dem
NCIS statt einem Foto mit einer Leiche am Morgen ein Video von Ilena per Mail zu schicken.
Er schloss die Bodenluke, verzichtete aber darauf, das Schloss zu versperren. Er kannte
niemanden, der diesen Ort freiwillig aufsuchen wollte, es bestand also keine Gefahr eines
ungewollten Eindringlings. Ja, das Video schien ihm keine schlechte Idee. Es wäre an
Dramatik nicht zu überbieten. Die Kamera war oben, vielleicht sollte er auf dem Weg noch
kurz in den Club und sich etwas zu trinken holen. Der modernde Geruch im Kanal hinterließ
bei ihm immer eine trockene Kehle und einen ziemlich unangenehmen Nachgeschmack.
*****
„Aaaaah! Ich hatte recht! Ich hatte recht! Ichhatterechtichhatterechtichha…“ Abby
verstummte urplötzlich, als ihr Gegenüber sie fest an den Schultern packte und sie daran
hinderte, weiter auf der Stelle zu hüpfen. Für einen kurzen Moment starrte sie in McGees
Augen und fügte dann etwas kleinlauter hinzu: „Ich habe zwanzigtausend Liter CafPow in
meinen Adern, du solltest meinen Bewegungsdrang nicht länger am Entladen hindern, ich
könnte sonst explodieren.“ McGee ließ sie dennoch nicht los und hielt weiterhin
Blickkontakt. „Gleich macht es Krabumm“, moserte sie weiter und rümpfte die Nase,
„ehrlich“.
„Mmmh, bei mir auch“, ergänzte McGee, kniff leicht die Augen zusammen und versuchte ein
ernstes Gesicht zu machen. „Ich bin nämlich seit zwanzigtausend Minuten mit einer
Kriminaltechnikerin zusammen, die inzwischen zwanzigtausend Liter CafPow zu sich
genommen hat und die, statt mir Ergebnisse schnellstens mitzuteilen, lieber wie ein Flummi
im Ecstasy Rausch auf der Stelle hüpft. Das macht mich schier wahnsinnig. Und wenn ich
nicht gleich selbst explodiere…“, er rüttelte sie leicht, „krabumm!“, und grinste, „… werde ich
vermutlich zum Amokläufer.“
Abby legte den Kopf schief. „Das macht dann ja genau einen CafPow pro Minute. Irgendwer
von uns übertreibt hier maßlos.“ Sie schüttelte ihren Kopf, so wild, dass einer ihrer Zöpfe
mitten in McGees, seit Tagen unrasiertem Gesicht landete.
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„Es reicht, Miss Sciuto“, sagte er leicht amüsiert und zwinkerte ihr zu. „Was hast du
herausgefunden.“
„Wenn ich es dir sage, rasierst du dich dann wieder?“, grinste sie ihm frech entgegen und
löste sich aus seinem Griff.
„Mein Rasierzeug ist zu Hause und ich gehe erst zurück in meine Wohnung, wenn wir Ilena
und Alisar gefunden haben. Es liegt also an dir, wann…“
„Hör auf zu labern und hör mir endlich zu“, knurrte Abby und klickte bereits durch ihre Infos.
„Hier schau dir das an. Du hast doch vorhin diesen Namen erwähnt. Christian Fiedler, der
kam mir gleich irgendwie bekannt vor. Zunächst konnte ich mich aber nicht daran erinnern,
wo ich diesen Namen gelesen habe, es waren einfach zu viele Namen, die ich seit Tagen in
meinem Gehirn speicher musste, unwichtige und wichtige, arabische und deutsche,
Frauennamen, Männernamen …“
„Abby!“
„Oh ja! Kommen wir zurück zur eigentlichen Sache. Sorry.“ Sie fuchtelte kurz mit ihren
Händen durch die Luft und verschränkte sie dann theatralisch vor ihrer Brust. Lediglich ihr
Bein zuckte noch immer aufgeregt. „Jedenfalls bin ich die Studienfreunde von Arif nochmals
durchgegangen. Dieser Christoph Murak, der deutsche Kommilitone mit dem Arif während
des Studiums engeren Kontakt hatte, du erinnerst dich? Das ist der Bruder von diesem
Christian Fiedler. Du weißt schon, Murak verschwindet dann ja spurlos. Aber, und jetzt halte
dich fest, ich habe Bilder verglichen, und wenn Murak und Fiedler keine Zwillingsbrüder sind,
dann ist Murak Fiedler. Zwillingswahrscheinlichkeit habe ich inzwischen ausgeschlossen,
unterschiedliche Geburtsdaten. Also ist Murak Fiedler. Fiedler, der Clubbesitzer ist also
Christoph Murak.“
„Der Clubbesitzer steckt also mit drin?“ McGee verglich ebenfalls die Fotos, die Abby in der
Zwischenzeit auf den Bildschirm aufgerufen hat und nickte dann zustimmend. „Wir sollten
Gibbs anrufen.“
„Ich hab noch mehr.“ Die Kriminaltechnikerin hob den Zeigefinger und deutete McGee
weiterhin aufmerksam zu sein.
„Noch mehr? Wann bitte hast du das rausgefunden?“ Verwundert rieb sich McGee durch die
Haare.
„Während du auf dem Labortisch ein Nickerchen gehalten hast.“
„Ich habe nicht geschlafen, mich nur … „, er seufzte, „…ein klein wenig entspannt. Mensch,
Abby, auch ein Special Agent kann nicht gänzlich ohne Schlaf überleben.“
„Ich mach dir doch keinen Vorwurf“, sie legte den Kopf schief und lächelte den MITAbsolventen an. „Außerdem sah es total niedlich aus, wie du zusammengerollt, mit dem
Daumen im Mund…“
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„Das ist nicht wahr“, grummelte McGee dazwischen und funkelte sie böse an.
Abby drehte sich zu ihm und gab ihm ein Kuss auf die Wange. „Nun, ob es wahr ist oder
nicht, das, mein Lieber, wird für Ewigkeiten mein Geheimnis bleiben.“
Der Agent verdrehte die Augen. Sicherlich, Abby konnte hervorragend Dinge für sich
behalten. „Soll dein Ermittlungsergebnis auch für immer dein Geheimnis bleiben?“
Abby verzog kurz das Gesicht zu einer Grimasse und drehte sich zurück zum Bildschirm.
„Nein, ich kann doch keine Geheimnisse vor euch haben“, kicherte sie und klickte dann ernst
weiter. „Also, diesem Christian Fiedler, alias Christoph Murak – nennen wir ihn der
Einfachheit halber einfach mal Chris, ist nicht nur der Besitzer des Clubs, nein, ihm gehören
sowohl das Haus, in dem sich das ‚Castle‘ befindet, wie auch die beiden Nachbarhäuser. Ich
habe ein paar Grundrisse der Gebäude aufspüren können. Hier schau es dir an.“ Sie wartete
einen Moment und ließ McGee Zeit die Zeichnung zu sichten.
„Diese drei Häuser sind miteinander verbunden“, fasste er letztlich zusammen.
„Richtig“, bestätigte Abby. „Und wir haben auch das Rätsel gelöst, wie Arif die Leichen
ungesehen in sein Auto schafft. Diese drei Häuser haben eine gemeinsame Tiefgarage.“
„Er setzt also die Frauen unter Drogen, bringt sie in einen dieser zahlreichen Räume,
vergewaltig und tötet sie und kann sie dann, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden, in
seinen Wagen bringen. So schafft er es, die Opfer zu ‚entsorgen‘, bevor die Leichenstarre
einsetzt. Niemand in der Nachbarschaft schöpft Verdacht. Und, niemand sieht ihn, wenn er
den Club verlässt, weil er ihn auch nie durch die Eingangstür betreten hat.“
*****
Sally, die kleine naive Bedienung, reichte ihm ein Bier und nickte ihm kurz zu. Es war
genauso, wie er es sich gedacht hatte, der Club war voll. Das Wochenende brachte
zusätzliche Gäste. Und irgendwie konnte er Chris verstehen, dass dieser sich an solchen
Tagen gerne auf sein Segelboot am Chiemsee zurückzog und das Partyvolk seinen
Angestellten überließ. Chris war schon ein schlauer Fuchs. Er lebte das Leben seines Bruders
in Perfektion, während Christian in einem Zimmer vor sich hin dämmerte. Nein, Christoph
kümmerte sich liebevoll um seinen Bruder, das musste man ihm doch zugestehen. Es war
eben ein Schicksalsschlag zur richtigen Zeit gewesen und Christoph hatte seinen Vorteil
ausgespielt. Nach einem Schlaganfall war Christian an den Rollstuhl gefesselt und brabbelte
nur noch unverständliches Zeug. Der Arme. Eine privat bezahlte Krankenschwester aus der
Ukraine pflegte ihn seitdem und bei ihrem guten Stundenlohn stellte sie keine unnötigen
Fragen.
Arif ließ seinen Blick über die Tanzfläche gleiten und blieb an einer Blondine hängen. ‚Ganz
nach meinem Geschmack‘, schoss es ihm durch den Kopf und spürte wie das Kribbeln in
seinen Körper zurückkehrte. Nur zu schade, dass er für heute Nacht schon andere Pläne
hatte. Aber es wurde Zeit, den NCIS etwas zu schockieren und das funktionierte nun mal nur
mit Ilena. Obwohl. Vielleicht sollte er das ganze miteinander kombinieren? Wäre es
schockierend genug, wenn er filmte, wie Ilena seine Taten ausführte und er so die liebe
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Seele, treuherzig und gut, zur Mörderin machte? Egal wie, er brauchte zunächst seine
Kamera. Genüsslich trank er einen weiteren Schluck aus der Flasche.
*****
Ziva hielt die Luft an, als sie ihn zu erkennen glaubte. Aber um ganz sicher zu gehen, musste
sie näher an ihn heran. Sie gab Ronald ein Zeichen, dass er auf Cornelia aufpassen sollte und
drängte sich an den Leuten vorbei. Ein kurzer Blick nach oben, zeigte ihr, dass sie sich auf
Tony einmal mehr voll und ganz verlassen konnte. Ohne dass er eine Regung zeigen musste,
wusste sie, dass er wusste, was sie tat, beziehungsweise was sie vorhatte zu tun. Sie würde
die Arbeit mit ihm wirklich vermissen. Und auch wenn der Gedanke sie quälte, in der
nächsten Zukunft und vermutlich für längere Zeit keine Außeneinsätze wie diese mehr
durchzuführen, war es auch gleichzeitig ein angenehmes beruhigendes Gefühl. Zu lange
hatte sie sich nach Halt und Sicherheit in ihrem Leben gesehnt. Ob Tony ebenso dachte, war
fraglich. Sie hatten sich gerade erst wieder angenähert. Wer weiß, vielleicht funktionierte
das Zusammensein im Alltag gar nicht, sie waren sehr verschieden und auch wenn die
Anziehung vom ersten Tag ihres Kennenlernens an zu spüren war, so war sie sich der
unterschiedlichen Charaktere natürlich bewusst. Streit war vorprogrammiert, auf allen
Ebenen.
Ziva lächelte bei diesem Gedanken. Mit wem machte es mehr Spaß sich zu streiten, als mit
Anthony DiNozzo? Schützend legte sie die Hand auf ihren Bauch. Und auch wenn dieser
Moment so ziemlich der unpassendste war, zum ersten Mal dachte sie mit Freude an das
ungeborene Kind.
Tonys Augen folgten Ziva, die sich durch die Mengen schob, um näher an den Tresen zu
kommen. Der Mann, der dort vor wenigen Minuten aufgetaucht war, konnte aus der
Entfernung tatsächlich Arif sein, aber mit Sicherheit konnte auch er das nicht bestätigen. Ziva
wollte vermutlich Missverständnisse ausschließen und Arif schnellstens identifizieren, daher
versuchte sie jetzt näher an ihn ranzukommen. Er schenkte der netten Dame neben sich ein
kurzes Lächeln und versprach ihr, gleich wieder zu ihr zurück zu kehren. Um seinen
Blickwinkel zu verbessern, ging er nun die Empore entlang und blieb kurz vor der Treppe, die
nach unten führte, stehen. Ziva bestätigte ihm mit einem kurzen Blick, dass sie seine
Anwesenheit bemerkt hatte und brachte die letzten Meter hinter sich.
Tony spürte wie ein kalter Schauer über seinen Rücken lief. Verdammt, es waren genau
diese Anzeichen, die er immer gefürchtet hatte. Vermutlich hatte Gibbs einfach recht mit
seiner engstirnigen Ansicht, eine Beziehung zwischen zwei Agents, noch dazu im gleichen
Team, könne auf Dauer nicht gut gehen. Es störte nicht nur die Konzentration, sondern
trübte die Wahrnehmung. Er machte sich Sorgen um Ziva, die sich nur wenige Meter von Arif
befand und sich von dem Psychopaten unbemerkt, am anderen Ende des Tresens einen
Drink bestellte. Früher wäre ihm dieser Gedanke nie gekommen. Er hätte blind auf ihr
Können vertraut. Jetzt sah er die Situation mit anderen Augen. Nein, es war nicht die Frage
des Vertrauens, es war etwas anderes, etwas, das sich tief in ihm regte. Es war Angst. Er
hatte verdammte große Angst um sie. Und er wusste, diese Angst war nicht ganz
unbegründet.
*****
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Gibbs saß im Wagen, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt, damit er einen besseren Blick
auf den Eingang hatte. Sie hatten vermutet, dass Arif die Opfer erst in dem Club kennen lernt
und diesen dann auch wieder mit ihnen verlässt. Was Abby ihm allerdings eben am Telefon
mitteilte, machte die ganze Sache nicht unbedingt leichter, ganz im Gegenteil.
„Ach verdammt“, knurrte der Chefermittler und öffnete die Beifahrertür, schwungvoll
buxierte er seinen durchtrainierten Körper auf den Gehweg. Sein Blick ließ er über die
Fassade der alten Häuser gleiten, die sich ihm riesig und gewaltvoll entgegen stellten. Hier zu
stürmen, wäre vermutlich nicht sinnvoll. Laut Abbys Bericht, die sich auch mit seinen jetzigen
Erkenntnissen deckte, befanden sich in der zweiten und dritten Etage Büroräume, im
rechten Haus zusätzlich eine Arztpraxis. Nur in der obersten Etage waren Wohnungen. Somit
hatten sie hier als möglicher Tatort ein nächtlich leer stehendes Haus, Arif konnte sich
vermutlich unbemerkt darin bewegen, wie es ihm gerade beliebte.
Als Kriminalhauptkommissar Steinberger von Innen gegen die Scheibe klopfte, drehte sich
Gibbs zu ihm um. Der Mann deutete ihm, sofort wieder ein zu steigen. Was Gibbs dann auch
mit einem verbissenen Gesichtsausdruck tat.
„Ronald hat gerade durchgegeben, dass Arif vermutlich aufgetaucht ist“, murmelte der
Deutsche und bedachte sein Nebenan mit einem besorgten Blick. „Ziva versucht die
Zielperson eindeutig zu identifizieren. Die Lichtverhältnisse sind wohl eher schlecht. Sie geht
näher ran.“
„Er ist spät dran.“ Gibbs ließ sich in den Beifahrersitz zurücksinken. „Irgendwas hat ihn heute
aufgehalten, aber was?“
„Das Kind?“, kam es zaghaft von Steinberger, der sich mit nervös zuckenden Fingern durch
die Haare fuhr. „Meinen sie wirklich, er würde das Kind töten?“
„Wenn er heute Nacht erneut getötet hätte, wüssten wir es bereits. Er schreit nach
Aufmerksamkeit, oder glauben Sie, er vergräbt seine nächsten Leichen im tiefen Wald, damit
wir sie nicht finden? Ich rechne eher damit, dass er uns die Opfer ab sofort auf einem
Silbertablett serviert.“
*****
Ziva ließ ihn nicht aus den Augen. Sie beobachtete, wie Arif sein Bier in einem weiteren
langen Zug leerte, die Flasche auf dem Tresen abstellte und dann noch für einen winzigen
Moment verharrte. Ein gehässiges Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht und Ziva spürte,
dass sein Interesse an jemanden auf der Tanzfläche eindeutig geweckt schien. Dennoch
drehte er sich um und ging. Es waren Millisekunden, die Ziva nutzen musste, zu entscheiden,
was sie tat. Und sie entschied sich, ihm zu folgen. Sie wollte ihn unter keinen Umständen
wieder aus den Augen verlieren.
Tony hingegen kämpfte sich durch das Gedränge an der Treppe und verfolgte jeden Schritt
seiner Partnerin. Ihm war ebenfalls nicht entgangen, dass Arif einen Weg eingeschlagen
hatte, mit dem sie alle nicht gerechnet hatten. Wo wollte dieser Mistkerl hin?
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*****
Alisar rüttelte am Gitter. Sie hatte aufgehört nach Hilfe zu schreien, hatte aufgehört zu
weinen. Nur noch ihre kleinen Fingerchen umklammerten die verrosteten Eisenstäbe und
wollten nicht aufgeben, einen Ausweg zu finden. Doch Arif hatte den Eingang verschlossen.
Die Taschenlampe, die er bei ihr zurückgelassen hatte, hatte sie vorsichtshalber
ausgeschaltet, um Batterien zu sparen. So langsam gewöhnten sich ihre Augen an die
anhaltende Dunkelheit. Ein winziger Hauch von Licht fiel durch ein Loch in der Tunneldecke,
in welchen sie aus ihrem Gefängnis blicken konnte. Doch es war eigentlich weniger als ein
Hauch. Wenn sie zuvor nicht gesehen hätte, dass genau an dieser Stelle Stiegen in die Mauer
geschlagen und irgendwie nach oben führten, würde sie vermutlich denken, es sei nur
Einbildung, dass es an dieser Stelle tatsächlich heller war. Doch bevor Arif sie herunter
geführt hatte, war es Nacht gewesen. Und in sich spürte sie die winzige Hoffnung, dass
sobald die Sonne aufging, auch hier Tageslicht eindringen könnte. Wirklich verstehen konnte
sie das alles eh nicht. Wo war sie? Was war das für ein Keller?
Warum? Diese Frage stellte sie schon lange nicht mehr. Eigentlich wollte sie nur wissen,
wann es zu Ende ging. Erst als das erneute Grollen aus der Ferne zu hören war, ließ sie das
Gitter los. Stattdessen presste sie ihre Hände auf die Ohren und rollte sich zusammen.
*****
Sie war Arif bis ins Treppenhaus gefolgt und lauschte. Auf den alten Holzdielen der Treppe
knarzte jeder Schritt, mit ein Grund, wieso sie ihm nicht weiter unbemerkt folgen konnte.
Doch wenn sie die Lage richtig einschätzte, musste sich Arif jetzt im vierten Stock befinden.
Die Anzahl der Schritte und der Pausen, pro Etage zwei Abschnitte. Ja, sie war sich sicher, er
befand sich im vierten Stock. Das Treppenhaus war in einem guten gepflegten Zustand. Die
weiß gestrichenen Wände wurden mit gerahmten Bildern geziert und das abgeschliffene
Holz der Treppenstufen passte sich dem edlen Stil an.
Die Tür zum Club öffnete sich ein weiteres Mal und Ziva presste sich in einer dunklen Ecke an
die Wand, um von der Person nicht bemerkt zu werden. Mit angehaltenem Atem versuchte
sie einen Blick um die Ecke zu werfen und gerade als sie Tonys Statur erkannte, ging das Licht
im Treppenhaus aus. Ziva verfluchte innerlich solch unnütze Erfindungen, wie etwa
Zeitschalter, diese erschwerten nur ihre Arbeit. Sie hörte wie die Tür hinter Tony ins Schloss
fiel.
„Ich bin hier“, flüsterte sie so leise, dass sie selbst nicht daran glaubte, Tony könnte es hören.
Doch sie spürte in der Dunkelheit die Wärme seines Körpers, der sich nur Sekunden später
neben ihr befand.
„Wo ist er?“
„Er ist oben, vierter Stock“, antworte Ziva auf seine Frage und genoss die kurze Berührung
seiner Finger, die sie auf ihrer Hand fühlen konnte.
„Ok, ich informiere die anderen. Du bleibst hier. Sobald Arif die Wohnung verlässt, kommst
du nach. Kein Risiko, Ziva, denk bitte daran, dass du unbewaffnet bist“, fügte er noch hinzu
und entfernte sich von ihr.
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Ziva nickte schmunzelnd, auch wenn sie wusste, dass ihre Reaktion Tony in der Dunkelheit
verborgen blieb. Sie liebte das Risiko und die Tatsache, dass sie keine Waffe bei sich trug,
störte sie ganz und gar nicht. Sie vertraute ihrer Nahkampftechnik. Dennoch war sie heute
gewillt, der Bitte ihres Partners Folge zu leisten.
„Scheiße“, schimpfte Tony leise aus der Entfernung. Dann nahm sie in der Finsternis eine
Bewegung wahr und der Halbitaliener kehrte zu ihr zurück. „Verdammt“, fluchte er weiter.
„Die Tür ist von hier aus nicht zu öffnen“, versuchte er zu erklären, wobei er die leichte Panik
in seiner Stimmer nicht verbergen konnte. „Wir sitzen fest.“
„Es wird ja sicherlich noch einen anderen Ausgang geben“, murmelte Ziva, doch bevor sie
den Satz zu Ende sprechen konnte, bemerkte sie, wie Tony sich bereits von ihr entfernte und
möglichst leise die Stufen nach unten ging. Sein Ziel war ganz sicher die Eingangstür des
Hauses. Ziva folgte ihm unaufgefordert.
„Verschlossen“, knurrte er kurz darauf. „Meinst du, du kannst das Schloss knacken?“
„Mit was, Tony, mit den Fingernägeln?“ Sie saßen in der Patsche. Und auch wenn sie sich
eines besseren wissend zur Vernunft rufen wollte, keimte Ärger in ihr auf. „Warum bist du
mir gefolgt? Deine Aufgabe wäre gewesen, die Tür zu sichern. Das steht in jedem Handbuch.
Du hättest hier nicht einfach ohne zu überlegen rein rennen dürfen. Wo bleibt deine
Professionalität?“
„Das gleiche könnte ich dich fragen“, knurrte Tony zurück. Er machte sich sowieso schon
Vorwürfe, aber Zivas Anschuldigungen machten die Lage nicht besser. „Warum bist du denn
bitte hier rein?“
„Ich muss die beiden finden“, Ziva seufzte. „Ich mach mir eben Sorgen.“ Es war eine
emotionale Erklärung, beruflich gesehen miserabel.
„Ach und was denkst du, was ich gemacht habe?“, Tonys Stimme war kaum hörbar. „Ich hab
mir auch Sorgen gemacht…“, er zog die Luft ein, „um dich.“
*****
Sie hatten drei Möglichkeiten. Entweder bemerkte Ronald ihr Wegbleiben und öffnete
irgendwann die Tür. Sollte Arif vorher zurückkehren, mussten sie genau den Moment
abpassen, bevor die Tür wieder ins Schloss fiel, ohne dass er sie bei dieser Aktion bemerkte.
Oder aber sie überrumpelten ihn. Das Überraschungsmoment lag bei ihnen. Sie hätten den
Täter, einen eiskalten Serienmörder, der inzwischen alleine hier in München drei junge
Frauen ermordet hatte. Wie viele Opfer es noch gab, in Deutschland und in Israel, war kaum
abzuschätzen. Jede Chance dieses Monster zu ergreifen, durfte also nicht vertan werden.
Doch, was dagegen sprach, sie wüssten immer noch nicht, wo er Ilena und Alisar zur Zeit
festhielt.
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„Es tut mir leid“, flüsterte Ziva und berührte mit ihren Fingern vorsichtig Tonys Hand. Es war
im Treppenhaus stockdunkel, nur leichte Konturen waren zu erkennen. Am liebsten hätte sie
sich in seine Arme geschmiegt und alles um sich herum vergessen.
„Was macht der Kerl eigentlich da oben?“, raunte der Agent. Er erwiderte den kurzen
Händedruck und zeigte seiner Partnerin dadurch, dass auch sein Ärger bereits wieder
verklungen war. Zum Streiten waren jetzt ganz sicher nicht die richtige Zeit und vor allem
nicht der richtige Ort. Zudem wollte er mit Ziva nicht streiten. Ihm fielen tausend bessere
Sachen ein.
„Ich weiß es auch nicht. Vielleicht wohnt er ja doch hier im Haus“, riss sie ihn aus seinen
Gedanken, bevor er sich für etwas Bestimmtes entscheiden konnte.
„Dann sind Ilena und Alisar vielleicht ganz in unserer …“, er verstummte, als er Geräusche
hörte.
*****
Gibbs war noch für einen kurzen Moment neben Steinberger im Wagen sitzen geblieben,
doch er war einfach nicht für die Untätigkeit geschaffen. Inzwischen war er wieder
ausgestiegen und hatte die Einfahrt der Tiefgarage überprüft. Neue Erkenntnisse hatte es
ihm nicht gebracht, aber auf dem Rückweg fiel ihm das gegenüberliegende Juweliergeschäft
auf. Wenn sie Glück hatten, waren diese Geschäftsräume videoüberwacht. Ein kurzer Blick
auf die Eingangstür zeigte ihm, dass eine Sicherheitsfirma dafür zuständig war. Er prägte sich
den Namen ein und kehrte zum deutschen Hauptkommissar zurück.
Er stieg ein und klappte sein Handy auf. Bereits nach dem ersten Klingeln meldete sich
McGee. Ein Zeichen dafür, dass man auch am anderen Ende der Welt fieberhaft mit der
Aufklärung dieses Falls beschäftigt war. Und auch dass dieses Ende wesentlich schneller sein
konnte, als die deutsche Bürokratie, welche er unbedingt umgehen wollte.
„Tim, du musst dich in das System von Polar-Security-Net hacken“, gab er kurz und knapp
seinen Befehl. Die Zweifel am anderen Ende der Leitung ignorierte er, wie immer. „Mach es
einfach“, sprach er weiter, „Juwelier Perl. Wir müssen wissen, ob auf den Aufnahmen Arifs
Wagen zu sehen ist.“
Er beendete das Gespräch und amüsierte sich nebenbei über den verwirrten Ausdruck auf
dem Gesicht von Steinberger, der das Telefonat zwar mit angehört hatte, daraus aber nicht
wirklich schlau zu werden schien.
„Abwarten“, grummelte er nur und hob lässig die Schultern. Gibbs wusste, was sein Team
zaubern konnte, und dass Unbekannte am Können und an ihren Fähigkeiten zweifelten,
beziehungsweise sie aufgrund von Unwissenheit nicht richtig einschätzen konnten, war ihm
ebenfalls nicht neu.
Nur zwei Minuten später vibrierte sein Handy und Gibbs legte den Kopf triumphierend ein
wenig schief. „Ja“, war alles was er sagte. Darauf folgte „Ok“ und eine längere Pause. Gibbs
legte überlegend die Stirn in Falten und drehte sich zu seinem Nebenmann.
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„Wie lange braucht man vom Kinderheim bis hier her?“
„mmh …“ Steinberger überlegte angestrengt. „Ich schätze in etwa 25 Minuten. Nachts. Am
Tag kann es doppelt so lange dauern.“
„25 Minuten“, gab Gibbs bereits weiter, bevor Steinberger seinen Satz zu Ende sprechen
konnte. Ungeduldig trommelte er dabei auf das schwarze Armaturenbrett und starrte auf die
Straße. Vielleicht erhielten sie ein weiteres kleines Puzzleteilchen und konnten so Stück für
Stück ein klares Bild zusammenfügen.
„Ich hab ihn“, hörte man Abby durch den Hörer quietschen. Selbst Steinberger vernahm
noch ihre Stimme, obwohl Gibbs den Hörer fest an sein Ohr gedrückt hielt.
„Findet raus, ob er danach den Wagen nochmal benutzt hat.“ Er legte wieder auf.
„Guter Ansatz“, ertönte die Stimme des Hauptkommissars, der jetzt endlich die
Zusammenhänge begriff. „Aber sagen Sie mal, haben sich ihre Leute noch nie beschwert,
dass sie einfach ein Gespräch so vollkommen abrupt unterbrechen?“
Gibbs lachte auf. „Zeit ist Gold wert, jedenfalls bei uns. Mein Team weiß das zu schätzen.“,
‚oder haben sich einfach daran gewöhnt‘, fügte er gedanklich hinzu. Jedenfalls wussten sie
alle, dass er einfach nicht die kommunikativste Spezies auf diesem Planeten war. Erst recht
nicht am Telefon.
*****
Arif bedachte sich mit einem kurzen Blick im Spiegel. Er stand im Flur der Wohnung seines
Freundes und verfluchte einmal mehr seine eigene Unordnung. Auch wenn er sonst sehr
strukturiert und teilweise sogar penibel zu sein schien, in der Bewältigung
hauswirtschaftlicher Tätigkeiten war er schlichtweg miserabel. Und wenn Chris seine
verlängerten Wochenenden am See verbrachte, war er hier auf sich selbst gestellt. Bis
Montag sollte er ansatzweise Ordnung schaffen, sonst flog er hier wohl endgültig raus. Chris
war nie begeistert gewesen, ihn hier aufzunehmen und die Geduld, die er bisher aufgebracht
hatte, war sicher bald zu Ende. Aber Arif hatte ihn in der Hand und sein Freund war ihm
einen riesen Gefallen schuldig. Das war sein Vorteil und gewissermaßen seine Sicherheit.
Die letzten zehn Minuten hatte Arif damit verbracht, sein Gästezimmer komplett zu
durchwühlen. Er war auf der Suche nach seiner Digitalkamera, die er benötigte, um das
kleine Filmchen für den NCIS zu drehen. Inzwischen aber wurde die Zeit knapp. Sehr knapp.
Selbst wenn er Glück hatte und die hübsche Blondine, die ihm auf der Tanzfläche ins Auge
gefallen war, noch da wäre, aber wenn er die Zeitspanne mit einrechnete, die die Droge zum
Wirken brauchte und er erst dann seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, wäre es zu knapp,
um die Leiche noch heute Nacht verschwinden zu lassen. Und eins hasste Arif besonders.
Leichen. Er wollte nicht für längere Zeit eine Leiche im Keller haben.
In einem explodierenden Anfall seiner aufkeimenden Wut, wischte er mit seinem Unterarm
über die vor ihm stehende Kommode. Briefe und Schlüssel flogen zu Boden, gefolgt von
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einer Blumenvase, die geräuschvoll auf den Steinfließen in tausend Stücke zersprang. Heute
war einfach nicht sein Tag. Mit bebenden Lippen stützte er seine Ellenbogen auf dem
Schränkchen ab und blickte sich, vorn übergebeugt, böse an. Wenigstens sein Spiegelbild tat
ihm den Gefallen und passte sich seiner miesen Laune an.
*****
Ronald wurde sichtlich unruhig. Sein Blick wanderte immer wieder von der Tür, durch die
zuletzt Tony und zuvor auch Ziva verschwunden waren und Cornelia hin und her. Irgend so
ein schmieriger Typ machte sich gerade an die hübsche junge Frau ran, aber sein Aussehen,
versuchte er sich zumindest einzureden, passte nicht zu dem Arifs. Auch wenn er bisher nur
Fotos von ihm kannte, die zudem noch entweder alt oder aber total verschwommen waren,
hatte der Mann keinerlei Ähnlichkeiten mit dem Gesuchten. Oder? In diesem Flimmerlicht
konnte er sich auch leicht irren. Und diese Überlegungen ließen ihn zögern.
„Wie sieht´s aus bei euch?“, hörte Ronald die leise Stimme in seinem Ohr. Und der Agent
rollte leicht genervt mit den Augen, während er seinen Hemdkragen richtete, damit sein
Mund näher ans versteckte Mikrofon kam. Prima, es war der perfekte Moment für ein
Statement. Er war unwissend und unentschlossen.
„Sie sind noch nicht zurück“, nuschelte er. Er war Profi und fast nahezu meisterhaft darin, zu
sprechen, ohne die Lippen zu bewegen. Deshalb hatte man auch ihm den Knopf zur
Außenwelt, wie er die Mikroanlage gerne nannte, verpasst, obwohl Tony und Ziva sie jetzt
wohl dringender bräuchten.
„Wir haben neue Erkenntnisse“, Gibbs Stimme erklang klar und deutlich in seinem Ohr. „Das
Haus ist vermutlich auch der Tatort.“
Ronald schluckte schwer. Wenn das Haus der Tatort der Morde war, dann war es vielleicht
auch der Ort, an dem Ilena festgehalten wurde. Sie war vielleicht ganz in seiner Nähe. Sein
Herzschlag schien für einen kurzen Moment aus zu setzen und er musste sich
zusammenreißen, um seine professionelle Haltung nicht zu verlieren. „Hält er die Beiden
hier gefangen?“
„Wir warten noch auf eine Bestätigung. Doch er scheint den Wagen seit Alisars Entführung
nicht mehr bewegt zu haben.“
Er bestätigte mit einem kurzen „ok“, dass er Gibbs verstanden hatte.
„Cornelia?“
„Hat alles im Griff“, antwortete Ronald und ein winziges Lächeln huschte über sein Gesicht,
als er beobachtete, wie die Pathologin sich soeben von ihrem nervenden Verehrer
entledigte, der scheinbar seine Hände nicht mehr bei sich behalten konnte. Der Mann
torkelte nun frustriert davon, gefolgt von Cornelias verachtenden Blicken. Mit dieser Frau
sollte man sich besser nicht anlegen.
*****
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Tanja und Felix waren die Einzigen, die ihre Dienstwaffen bei sich trugen. Die
amerikanischen Agents waren hier nicht befugt, Waffen zu tragen, oder sonstige polizeiliche
Ermittlungen durchzuführen. Es war zwar ein gewisses Risiko gewesen, die Waffen an den
Türstehern vorbei zu schmuggeln, denn man wollte auch diese Clubarbeiter nicht in die
verdeckte Aktion einweihen, doch man hatte ihre Taschen zum Glück nicht durchsucht. Felix
hatte den Wortwechsel zwischen Gibbs und Ronald mit angehört und gab seiner Partnerin
soeben seine neugewonnenen Informationen weiter. Wenig später deutete er Tanja ihm zu
folgen.
*****
Cornelia schüttelte angespannt den Kopf. Die Frage, warum Männer immer so viel trinken
mussten, nur um dann die Grenzen im Kontakt zu Frauen nicht mehr wahrzunehmen, war ihr
schleierhaft. Mussten sich die starken Typen tatsächlich so viel Mut antrinken, um jemanden
anzusprechen? Ihrem Kopfschütteln folgte ein kurzes Schulterzucken. Es war sinnlos dieses
Verhalten zu analysieren. Sie konzentrierte sich lieber wieder auf ihr eigentliches Vorhaben.
Die Zeiger der Uhr liefen unaufhaltsam und sie näherten sich dem verabredeten Zeitpunkt,
an dem sie die Aktion einstellen wollten. Sie wagte einen Blick zu Tony, doch dieser war
nicht mehr auf seiner Position. Zunächst etwas verwirrt, drehte sie sich in die Richtung, in
der sie Ziva und Ronald vermutete. Doch auch dieser Platz war leer. Verdammt, hatte sie
etwas verpasst? War sie durch den Betrunkenen so abgelenkt gewesen? Sie spürte das
Adrenalin durch ihre Adern fließen. Sie hielt den Atem an. Etwas stimmte hier nicht. Sie
atmete kurz erleichtert aus, als sie Tanja und Felix seitlich des Tresens entdeckte. Doch auch
die beiden schienen nicht mehr so entspannt, wie noch vor wenigen Minuten. Cornelia
folgte Tanjas Blick und entdeckte Ronald auf der anderen Seite der Bar. Er stand dicht an der
Wand, neben einer Tür.
*****
Die Türen zum Club mussten schallgeschützt sein, nur so konnte Tony sich die Stille im
Treppenhaus erklären. Nur gedämpft war das dumpfe Hämmern der Bässe wahrzunehmen,
doch wenn man bedachte, dass man durch die Tür auf direktem Weg ins Zentrum des Clubs
vorstieß, war es eine wahre Meisterleistung der Isolation. Es war still. Und die Stille schien
unwirklich und unecht, wie die Momentaufnahme in einem Hitchcockthriller, kurz bevor das
Grauen los tobte und man die Hände vor Entsetzen vor die Augen schlug.
Tony drückte seinen Oberkörper fest gegen die Wand, versuchte in der absoluten Dunkelheit
zu versinken und überlegte verzweifelt, mit was er sich zur Not bewaffnen sollte. Unter
keinen Umständen wollte er sich diesem Monster wehrlos entgegenstellen. Vielleicht war er
früher risikobereiter gewesen, doch seine Einstellung hatte sich inzwischen geändert. Er hing
plötzlich an seinem Leben, hatte das erste Mal das Gefühl, mit Freude in die Zukunft zu
starten und war wirklich neugierig darauf, was das Schicksal ihm von nun an bescheren
wollte. Nein, er wollte sein Leben nicht mehr leichtfertig aufs Spiel setzen. Zu oft war er
schon knapp dem Tod von der Schippe gesprungen. Irgendwann waren auch seine sieben
Leben aufgebraucht.
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Ziva hatte etwas weiter oben, schräg gegenüber der Eingangstür zum Club, ihre neue
Position eingenommen. Wäre es nötig, Arif zu überwältigen, hätte sie gute Karten und wäre
näher dran als Tony. Sie hätte es zwar bevorzugt, sich zurückzuziehen und aus der
Gefahrenzone zu entfernen, doch sie wusste auch, dass sie, wenn man bedachte, dass sie
keine Waffen bei sich trugen, im Vergleich zu ihrem Partner die bessere Nahkampftechnik
beherrschte. Außerdem war Tony noch immer nicht vollkommen gesund. Und wenn es zu
einem Kampf kommen sollte, dann hatten sie nur wenige Sekunden um Arif dingfest zu
machen. Diese Sekunden mussten sie bestmöglich mit ihren individuellen Stärken bestücken.
Tony konnte hören, wie sich oben eine Tür öffnete und kurz darauf wieder zugeschlagen
wurde. Das Licht ging an. Die Schritte kamen schnell näher. Jede einzelne Stufe knarzte
bedrohlich. Nur noch wenige Meter trennten sie voneinander, nur noch wenige Sekunden
bis zu jenem Moment, in dem sie sich entscheiden mussten. Arif überwältigen oder doch
versuchen, die Tür zu erreichen, bevor sie wieder ins Schloss fiel? Tony hielt den Atem an. Er
selber war zur Untätigkeit verdammt. Er konnte nur warten, wie Ziva weiter oben reagierte.
Dass sie an vorderster Front kämpfte, machte ihn zur Randfigur. Er musste ihr blind
vertrauen und konnte sie bloß weitestgehend unterstützen.
Ziva zählte die Schritte, wusste, Arif war auf der letzten Ebene. Noch eine Treppe und er
befand sich in ihrer Reichweite. Der Mann, der ihre Cousine entführt und inzwischen auch
die kleine Alisar in seiner Gewalt hatte. Der Mörder von mindestens drei Frauen, der größte
Handlanger ihres Onkels, der immerhin für den Tod ihrer Mutter und ihrer Schwester
verantwortlich war. Er war nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Sie traute sich kaum zu
atmen und sie spürte, wie sie jeden Zentimeter ihres Körpers anspannte. Bereit, jederzeit
wie eine Raubkatze aus der Dunkelheit zu springen und den Dämon zu Fall zu bringen.
Noch zwölf Stufen. Sie musste nur auf den richtigen Moment warten. Auf den richtige
Zeitpunkt, wann immer er kommen sollte. Gab es ihn, wann war sie bereit? War sie bereit
für ein Kind? War sie bereit das Dasein einer Agentin abzulegen, einen Start in ein neues,
anderes Leben zu wagen? Gemeinsam mit Tony?
Noch acht Stufen. Seit langer Zeit sehnte sie sich nach etwas Geborgenheit, nach Nähe und
vor allem nach dem Gefühl von Sicherheit. Konnte Tony ihr das bieten?
Noch vier Stufen. ‚Reiß dich zusammen‘, rief sie sich in Gedanken zur Ordnung. Die vorletzte
Stufe, ein letzter Atemzug. Sie sah, wie sich der Türgriff bewegte und Arif auf der letzten
Stufe verharrte. Zu früh. Das Timing war miserabel.
Arif brauchte nicht lange, um die Gefahr zu erkennen. Er ließ die Kamera achtlos fallen,
stattdessen zog er sein Messer aus der Hosentasche und ließ es aufschnappen. Er wartete
bis sich die Tür ein Stück öffnete und preschte dann vor. Weder Ziva noch Tony konnten
etwas dagegen tun. Der Vorteil des Überraschungsmoments, auf den sie zuvor gesetzt
hatten, war schlagartig verebbt und schlug sich nun auf Arifs Seite. Dieser stürzte auf die Tür
zu, riss sie ganz auf, womit er Ziva den direkten Weg versperrte, und versuchte Ronald zur
Seite zu stoßen. Auch Tony war zu weit entfernt, um schnell genug eingreifen zu können.
Ronald stellte sich Arif in den Weg, versuchte ihn mit einem gezielten Schlag ins Gesicht
außer Gefecht zu setzen. Doch es hatte nicht den gewünschten Erfolg. Seine Faust streifte
das Kinn, ließ den Kopf gefährlich nach hinten schnellen, hatte aber am Ende nicht genügend
Angriffsfläche um den Gegner ernsthaft zu verletzen. Viel zu schnell hatte sich Arif wieder
unter Kontrolle und anstatt zu Boden zu gehen, verpasste er Ronald einen schweren Tritt
gegen seine Kniescheibe.
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Ziva verließ ihr Versteck und brachte sich hinter Arif in Position. Sie riss ihn gekonnte an den
Schultern herum. Ein Tritt traf Arif und brachte ihn für kurze Zeit ins straucheln. Doch dann
schrie er auf und warf sich mit aller Gewalt gegen sie. Ein weiterer heftiger Stoß ließ Ziva
schließlich zu Boden gehen. Im letzten Moment nahm sie das Blitzen in seinen dunklen
Augen war und konnte erkennen, dass Arif nicht der Mensch war, der sich bei einem Kampf
aufgab. Sie wusste, niemand könnte Arif bremsen, wenn er nicht bis zum äußersten bereit
wäre.
Ronald, der sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte, brachte sich erneut in Stellung,
musste dann aber mehreren gezielten Messerstichen ausweichen. Arifs Attacken nahmen
einfach kein Ende. Wie geistesgestört preschte er mit dem Messer voran. Im Club brach
Panik aus und die Menschen, die sich in der Nähe der Rangelei aufhielten, trieben
auseinander. Die Angriffe zeugten von einer gewissen Sicherheit, er musste Erfahrungen in
Kampftechniken haben, seine Beinarbeit war gut und vor allem war er schnell. All das schoss
Ziva gleichzeitig durch den Kopf, während Tony vergebens einen Weg suchte Ronald zu
unterstützen, doch auch er musste immer wieder den Stechattacken ausweichen. Doch es
schien ihnen irgendwie zu gelingen, Arif unter Druck zu setzen und in die Enge zu treiben.
Man merkte, wie er vergeblich versuchte, einen Ausweg zu finden.
Ein letzter Rempler und Ronald ging zu Boden. Arif nutzte die Gelegenheit und versuchte sich
in Richtung Ausgang vorzukämpfen. Als er den Lauf der Waffe sah, die ihm entgegen
gestreckt wurde, hechtete er zur Seite und griff nach der erstbesten Person, die er schützend
vor seinen Körper zog.
*****
Cornelia hielt den Atem an. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, eine starke
Gänsehaut kroch über ihre Arme hinauf und setzte sich in ihrem Nacken fest. Ihr einziger
Gedanke galt dem verschwundenen Kind. Sie kannte Alisar zwar nicht, doch sie war von
Anfang an bereit gewesen, ein Risiko einzugehen, um das Leben der beiden vermissten
Personen zu retten. Es hörte sich so einfach an: Mutter und Kind retten, dem Täter eine Falle
stellen, ihn hinters Licht führen. Ein kalkulierbares Risiko, das sich in diesem Moment jedoch
zu verdreifachen schien. Arif hatte die Oberhand. Panisch starrte sie in die Augen der NCIS
Agentin, die vor wenigen Sekunden zu Boden gegangen war. Wie in Zeitlupe sah sie die eben
stattfindende Szene erneut vor ihren Augen, sah Arif, der, als er Tanjas Waffe sah, zur Seite
hechtete und sie mit sich zog, ihr damit die Möglichkeit nahm, zu flüchten. Keine Sekunde
zum Überlegen. Keine Zeit für eine Reaktion. Wehrlos. Jetzt spürte sie die scharfe Klinge an
ihrer Kehle, sie hörte Arifs kurzes Aufstöhnen und spürte den heißen, schnellen Atem an
ihrem Hals. Ihr Herz raste und während sie ihre lackierten Fingernägel in den Unterarm des
Mannes krallte und versuchte dessen Griff ein wenig zu lockern, hielt sie weiterhin
Blickkontakt mit Ziva. Deren Augen erschienen ihr vollkommen ruhig und konzentriert und
wie durch Zauberhand nahmen sie Cornelia die Angst, brachten sie dazu, selbst ruhiger zu
werden und tief einzuatmen. Sie konnte aus dieser Situation nur entkommen, wenn sie sich
dazu zwang, nicht den Kopf zu verlieren.
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„Lassen Sie sie los!“ Tanja war die erste, die die beunruhigende Stille, die sich in Windeseile
ausbreitete und durch das Ausschalten der lauten Musik vollkommen unreal wirkte,
durchbrach. Ihre Waffe war auf Arif gerichtet.
„Sie werden wohl kaum schießen und damit unschuldige Mädchen in Gefahr bringen.“ Arif
ging rückwärts zur Wand, und versuchte so, für sich eine bessere Position einzunehmen. Er
zog Cornelia mit sich, die sich nicht wehrte. Er lachte kurz auf, dann wandte er sich an Ziva.
„Der NCIS ist schneller als ich dachte. Ich muss gestehen, ich habe mit eurem Auftauchen
noch nicht gerechnet.“
Tony, der inzwischen an Zivas Seite war und ihr den Rücken stärkte, schnaubte erleichtert
aus. Aus dem Seitenwinkel konnte er erkennen, wie Gibbs und Hauptkommissar Steinberger
den Club betraten und die Eingangstür verschlossen. Das Castle war inzwischen bis auf die
direkt am Geschehen beteiligten Personen leer. Felix hatte zunächst dafür gesorgt, dass alle
Schaulustigen, mit dem Hang zur puren Sensationslust, ebenfalls hinaus gingen und stärkte
nun seiner Kollegin den Rücken.
Ziva ging einen Schritt auf Arif zu. „Wo sind Ilena und Alisar?“ Auf seine vorherige Anspielung
ging sie nicht weiter ein. Sie wollte keine umschweifenden psychologischen Tricks
anwenden, nein, sie drängte voran, wollte das leidige Thema endlich zum Abschluss bringen.
Als er nicht antwortete, wiederholte sie die Frage mit lauterer Stimme: „Wo sind sie?“
Als Antwort bekam sie ein Lächeln, das mehr einem bestialischen Grinsen glich und Ziva
spürte die pure Wut in sich aufsteigen. Immer wieder wechselte sie zwischen Arifs und
Cornelias Blick.
Die junge Frau hielt sich tapfer, schien ruhig und gefasst zu sein. Das war ihr einziger Vorteil.
Arif wusste nicht, dass Cornelia zu ihnen gehörte, wusste nichts von ihrer Kampferfahrung
und ihrem Mut, den sie bereits gezeigt hatte, als sie sich für diese Aktion zur Verfügung
stellte. Arif wusste nicht, dass er in seinen Armen eine tickende Zeitbombe hielt. Doch noch
war nicht der richtige Moment der Explosion gekommen.
Die Tür öffnete sich und weitere Polizisten kamen herein. Hauptkommissar Steinberger, der
in der Hand, ebenso wie Felix und Gibbs, seine Waffe hielt und auf Arif richtete, gab laut
Anweisungen. Er wollte Arif seine ausweglose Lage verdeutlichen. „Durchsuchen sie die
Häuser. Und die gemeinsame Tiefgarage. Wir wissen, dass er seit der Entführung des Kindes
das Gelände nicht mehr verlassen hat. Sie müssen also hier sein.“
Cornelia spürte, wie sich Arifs Haltung anspannte. Nur für einen winzigen Bruchteil einer
Sekunde und vermutlich für andere nicht ersichtlich, doch er zeigte ihr damit deutlich, dass
Steinberger mit seiner Vermutung recht hatte. Ilena und Alisar waren ganz in der Nähe.
Nicht mehr lange und die beiden wären in Sicherheit.
„Wie heißen Sie?“ Ziva ging einen weiteren Schritt auf Arif zu und sprach nun Cornelia direkt
an. Sie hoffte inständig die Pathologin würde mitspielen.
„Cornelia“, murmelte sie ihren Namen und zeigte mit einem längeren Augenaufschlag, dass
sie Zivas Spiel verstand.
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„Ok, Cornelia. Bleiben Sie ruhig.“ Sie trat einen weiteren Schritt vor. In ihrem Rücken spürte
sie die Blicke ihrer Kollegen und ja, sie bildete sich ein, besonders Tonys besorgten Blick
wahr zu nehmen. Was tat sie hier eigentlich? „Ich denke nicht, dass er Ihnen etwas tun wird.
Sie sind seine letzte Hoffnung auf Flucht.“
Cornelia versuchte zu nicken. Inzwischen war jegliche Gesichtsfarbe aus ihr gewichen, sie
war kreidebleich, doch noch immer hielten ihre Augen dem Blick stand. Sie vertraute Ziva.
Und sie vertraute auf ihr Wissen und Können. Sie wusste, es kam auf den richtigen Moment
an, der Hauch eines Atemzugs, das Aufblitzen eines winzigen Zeitfensters, um dann
zuzuschlagen. Sie musste sich nur gedulden und nicht zweifeln. Sie ließ ihre Arme sinken und
versuchte mit den Füßen einen besseren Stand zu bekommen.
„Lass das Gequatsche“, fuhr Arif dazwischen und schien sichtlich nervöser zu werden.
Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn und sein Blick wurde unkonzentrierter,
schwankte zwischen den auf ihn gerichteten Waffen und Ziva fordernden Antlitz.
„Gequatsche?“ Einen weiteren Schritt nach vorne, dieses Mal zaghafter, weil sie die Unruhe
ihres Gegenübers spürte. „Wir werden Ilena und Alisar finden. Und wir werden nicht
zulassen, dass du weiter mordest. Gib mir das Messer!“ Sie streckte die Hand nach ihm aus,
trat unbemerkt einen weiteren Schritt auf ihn zu.
Cornelia hob die linke Hand nach oben, griff aber noch nicht nach Arifs Handgelenk, sondern
legte sie auf ihren Brustkorb. Sie fühlte ihren eigenen rasenden Herzschlag, merkte, wie sich
ihre Brust in ungewöhnlich schnellem Takt hob und senkte. Nur für wenige Sekunden
schloss sie die Augen. Der genaue Ablauf des Selbstverteidigungskurses spulte sich in ihrem
Kopf ab. Niemals hätte sie gedacht, dass sie einmal die Theorie in die Praxis umsetzen
müsste. Sie sah wieder auf. Noch konzentrierter als zuvor. Sie schob ihre Finger zwischen
ihren Hals und Arifs Handgelenk.
Zivas Augen verengten sich. Im Gegensatz zu allen anderen Agenten und Kommissaren,
schien sie die Einzige zu sein, die vollkommen ruhig diesem Monster gegenüber stand. Sie
schien sich ihrer Sache absolut sicher zu sein und zeigte keinerlei Zweifel, weder in ihrer
Haltung, noch in ihrer festen Stimme war auch nur ein Funke davon zu erkennen.
Ein kurzes Nicken von Ziva und Cornelia griff zu. Sie zog mit aller Kraft das Handgelenk
herunter und verpasste Arif gleichzeitig mit dem Ellenbogen ihres anderen Arms einen
kräftigen Hieb in die Magengrube. Bevor Arif reagieren konnte, war Ziva an ihrer Seite. Ein
gezielter Schlag in den Nacken ihrerseits ermöglichte Cornelia Arifs Arm endgültig nach
hinten zu biegen und zwang ihn damit das Messer fallen zu lassen. Der Mann sackte auf die
Knie, versuchte sich noch ein weiteres Mal aufzubäumen, musste sich dem festen Griff der
Frauen aber letztlich hingeben. Zivas Knie presste ihn auf den schmutzigen klebenden Boden
des Clubs, als sich die Tür zum Treppenhaus öffnete und ein Polizist die erlösende Nachricht
überbrachte, man habe sie gefunden.
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Ziva beobachtete von weitem, wie man Arif Handschellen anlegte. Am liebsten hätte sie ihm
das wahnsinnige Grinsen aus dem Gesicht getreten, die Wut auf ihn war noch immer nicht
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wirklich verpufft und lief in Wellen durch ihren Körper. Nur das Gefühl der Angst, dass seit
Tagen in ihrem Körper wühlte und sie gefangen hielt, machte sich allmählich rar und ließ sie
aufatmen. Das Stimmengewirr drang wie ein stetes Summen in ihr Ohr, überall wimmelte es
von Polizisten.
Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Gibbs und Ronald waren dem Polizisten gefolgt und
auf dem Weg nach unten zu Ilena und Alisar. Cornelia wurde von Tanja und Felix liebevoll
versorgt, sie brachten ihr ein Glas Wasser und redeten beide beruhigend auf die junge
Pathologin ein. Alles schien geregelt. Wieso fühlte sie sich dann so leer? Warum fehlte das
Glücksgefühl, das sich sonst bei ihr einstellte, wenn das Team einen Fall erfolgreich
abschloss, wenn es einen brutalen Täter überführte?
Ziva zuckte zusammen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte und als sie daraufhin ihren
Kopf drehte, blickte sie in Tonys smaragdgrüne Augen. Ein zaghaftes Lächeln umspielte seine
Lippen und übte auf sie eine solch enorme Anziehungskraft aus, dass sie sich vermutlich
ohne Zögern von ihm hätte in seine Arme ziehen lassen. Aber er zog sie nicht in seine Arme
und Ziva spürte plötzlich, wie sich das Gefühl der Enttäuschung in ihr ausbreitete. Tony
hatte andere Pläne und deutete ihr, ihm zu folgen. Anfangs war sie etwas verwirrt, doch
dann ging sie ihm hinterher.
Schweigsam zog Tony sie die Straße entlang, bis zur nächsten Straßenecke. Die kühle
Nachtluft ließ eine zarte Gänsehaut auf ihrer Haut entstehen. Doch ihr erhitzter Körper
empfand es nicht als unangenehm, und die Kälte der Nacht fügte sich in das Kribbeln ihrer
sonstigen Empfindungen ein. In einer Seitenstraße zog er sie in einen Hauseingang.
Langsam, die Augen immer auf sie gerichtet, fuhr er mit seinen Fingern durch ihr Haar, strich
zärtlich über ihre Wange und streichelte die zarte Haut ihres Halses. Zivas Augen waren
anfangs geschlossen, doch ihr bebender Atem und ihre zitternden Lippen zeigten ihm, dass
sie seine Nähe ebenso genoss wie er. Fordernd und liebevoll zugleich, zog er sie ganz nahe
an sich heran. Er wollte sie spüren, wollte fühlen, dass sie bei ihm war. Vielleicht für immer?
Doch auch wenn die Zukunft ungewiss war, sie keinerlei Garantie hatten gemeinsam
glücklich zu werden, er wusste, was jetzt zählte, war die Gegenwart. Das Hier und Jetzt. Er
hielt sie in seinen Armen und es fühlte sich richtig an.
Er schloss kurz die Augen, genoss das innige Gefühl, bevor er ihr Gesicht mit beiden Händen
umfasste und sie zwang, ihn anzusehen. Wieder sprach keiner von ihnen ein Wort. Wieder
einmal genügten ihre Blicke, um die jeweiligen Gefühle des anderen zu verstehen und die
eigenen mitzuteilen.
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und dachte mit einem gewissen Bedauern, dass dieser
Moment sicher nicht ewig dauern konnte. Irgendwann würden die anderen nach ihnen
suchen. Sie spürte seine Lippen, die sanft ihre Schläfe küssten und empfand plötzlich eine
ungewohnte Ruhe in sich. Das Geschehen um sie herum wurde zur Nebensächlichkeit und
verschwamm in ihrem Bewusstsein. Als Tonys Hand ihr Kinn ergriff und es anhob, wusste sie,
dass all ihre Zweifel unbegründet waren. Sie spürte seine Lippen auf den ihren und gab sich
seinem zärtlichen und zugleich fordernden Kuss hin.
*****
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„Ich kann das nicht, Ziva.“ Tony drehte seinen Kopf zur Seite, um ihren Lippen zu
entkommen. Er sog die kühle Abendluft in seine Lungen und versuchte seine Gedanken zu
ordnen. „Ich, … du.., ach verdammt, wir können so nicht weitermachen.“
„Lass uns jetzt nicht darüber reden“, flüsterte sie und zog ihn wieder fester an sich, ihr Mund
streifte über seine heißen Wangen, glitt herab, um seinen Hals mit kleinen sinnlichen Küssen
zu bedecken. Doch seine Worte hatten einen tobenden Sturm in ihrem Innern entfacht und
zu dem anfänglichen Gefühl der Geborgenheit mischte sich wellenförmige Angst und
Unsicherheit. Sie versuchte dagegen anzukämpfen, doch schnell wurde ihr klar, dass sie
diesen Kampf nicht gewinnen konnte. Zitternd löste sie sich aus seiner Umarmung und wich
ein Stück von ihm zurück. „Was meinst du damit?“
„Es tut mir leid“, flüsterte er leise und griff nach ihrer Hand. Er brauchte diese
nebensächliche Berührung. Er fühlte sich plötzlich leer und verlassen, obwohl ihre Körper
nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Er hätte sie einfach zurück in seine
Arme ziehen können, doch er tat es nicht.
Ziva spürte den Kloß in ihrem Hals und versuchte in Tonys Augen zu lesen, was er ihr mit
diesen Worten eigentlich sagen wollte. Doch er hatte den Blick gesenkt und blieb ihr die
Antwort schuldig. Was genau tat ihm leid? Hier mit ihr zusammen zu sein? Bei ihr zu sein?
Die letzten Stunden oder die Nacht, die sie vor langer Zeit miteinander verbracht hatten? Die
Nacht, die ihr Leben veränderte und in der sie so glücklich war? Tat es ihm leid, dass er keine
Gefühle mehr für sie hatte?
Seine Hand, die noch immer ihre Finger umfasste, fühlte sich plötzlich seltsam heiß an und
ruckartig löste sie auch diese letzte Verbindung. Sie konnte ihr nicht mehr länger
standhalten. Langsam ging sie rückwärts, entfernte sich immer weiter von ihm, bis sie die
kühlen Steine der Mauer an ihrem Rücken spürte, die sie in ihrer Bewegung stoppten und
hinderten, vor ihren eigenen Gefühlen und der zahlreichen unausgesprochenen Frage weg
zu laufen.
Tony blickte auf seine leere Hand, der Moment, in dem sie die Berührung löste, spulte sich
wie in Zeitlupe vor seinen Augen ab. Doch er hob nicht den Kopf, stattdessen ließ er sich an
der Wand herabgleiten und vergrub sein Gesicht in den Händen.
*****
Ilena weinte nicht. Sie starrte geradeaus an die Wand und schien gedanklich weit weg zu
sein. Die Polizisten, die sie vor wenigen Minuten gefunden hatten, hatten ihr die Decke
übergelegt und die Fesseln gelöst. Doch noch immer hatte sie das Gefühl, sich nicht
bewegen zu können. Irgendetwas in ihr hielt sie noch immer gefangen und Ilena wusste, es
gab kein Entkommen. Nichts und niemand konnten das Geschehene rückgängig machen und
aus ihren Erinnerungen verdrängen. Wie in Trance nahm sie die Bewegungen um sich wahr,
hörte das Flüstern der Männer, die sich im Flur unterhielten. Sie spürte die unbekannte
Hand, die auf ihrer Schulter ruhte. Doch sie fühlte sich nicht sicher.
„Es ist alles gut“, vernahm sie eine fremde Stimme an ihrem Ohr. Doch was wusste diese
Stimme schon. Nichts. Nichts war gut. Die Vergangenheit hatte sie unweigerlich eingeholt
und auch wenn sie es körperlich überlebt haben sollte, in den letzten Tagen waren nicht nur
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große Teile der Fassade, die sie mühselig aufgebaut hatte, zerbrochen. Der Spiegel ihrer
Seele war zersprungen und sie saß vor einem riesigen Scherbenhaufen. Vielleicht, wenn sie
ihre Tochter unversehrt in ihren Armen halten konnte, dann wäre sie vielleicht dazu in der
Lage, die letzten Kraftreserven zu nutzen und einen weiteren Neuanfang zu starten. Doch sie
war sich sicher, dass sie nicht mehr die Kraft aufbringen konnte vor der Vergangenheit davon
zu laufen. Die Menschen, die ihr in den letzten Monaten so sehr ans Herz gewachsen waren,
würden nach Erklärungen suchen, wieso das alles hier geschehen war. Und ob sie wollte
oder nicht, auch ihr Kind würde ab sofort Fragen stellen. Früher konnte sie sie schützen,
doch inzwischen war Alisar längst kein kleines Mädchen mehr.
„Alisar“, brachte Ilena über ihre Lippen. „Wo ist sie?“
„Wir werden sie finden.“ Ronald ging vor ihr auf die Knie und zog sie in seine Arme. „Alles
wird gut. Hörst du Ilena? Wir haben den Kerl. Es ist vorbei.“ Behutsam strich er ihr über die
Haare, küsste sie zärtlich auf die Schläfe. Es war ein unbeschreiblich gutes Gefühl sie in den
Armen zu halten und all seine Zweifel, die sich in den letzten Tagen in ihm breit gemacht
hatten, waren plötzlich verflogen. Das Einzige was zählte, war die Tatsache, dass es ihr gut
ging. Sie war am Leben und sie war in Sicherheit.
„Er hat sie weggebracht. Ich hätte ihn nicht verärgern dürfen“, wisperte Ilena und begann
am ganzen Körper zu zittern. „Hätte ich doch bloß …“ Sich schluchzte und verstummte, ohne
den Satz zu Ende zu sprechen.
„Ruhig Ilena“, versuchte Ronald sie zu trösten und wiegte die Frau in seinen Armen. Es war
ein grauenvoller Anblick, der sich ihm bot. Es war ihr anzusehen, wie sehr sie gelitten haben
musste, körperlich, wie seelisch. „Wir finden sie, ganz sicher“, versuchte er sie zu beruhigen
und blickte auf. Er sah direkt in Gibbs Gesicht, der in der Tür stand, und die Szene
beobachtete. Dessen entschlossen wirkende Augen minderten den Zweifel, den er an seinen
eigenen Worten hatte.
*****
Ziva lehnte gegen die Wand und beobachtete ihn. Doch Tonys Körperhaltung, sein gesenkter
Blick, die zitternden Hände – alles an ihm, passte nicht zu seinem ausgesprochenen Satz, der
noch immer in ihr nachhallte. Es tut ihm leid, wiederholte sie mehrmals in Gedanken seine
Worte und schüttelte dann den Kopf. Sie durchblickte es nicht. Seine Worte verletzten sie
auf eine Art und Weise, die sie selbst nicht verstand. Sie war traurig und wütend zugleich. Sie
wollte ihn anschreien, doch plötzlich tat er ihr nur noch leid. Tony schien verzweifelt zu sein
und auch wenn sie wusste, dass sie vermutlich daran schuld war, war sie nicht fähig ihm zu
helfen. Vermutlich brauchte er Zeit und ob sie wollte oder nicht, sie musste ihm diese Zeit
geben. Wieder war sie dazu verbannt, abzuwarten. Machtlos. Sie hatte keine Karte in der
Hand, die sie hätte überlegt ausspielen können. Es war ein Glücksspiel. Man konnte
entweder alles verlieren oder eben gewinnen.
Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos rissen sie aus ihren Gedanken. Sie drückte
sich von der Wand ab und nickte Tony zu, auch wenn sie wusste, dass er es nicht sehen
konnte. Es fiel ihr schwer, ihn hier zurück zu lassen und doch musste sie gehen. Bevor sie um
die Ecke bog, hielt sie kurz inne und sah zu ihm zurück.
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„Ich hatte schon immer Angst davor, dass unsere Beziehung zu eng wird und ich die
Kontrolle verliere.“ Ihre Blicke trafen sich. „Ich habe seit Jahren versucht, diese Gedanken zu
verdrängen und ja, ich wünsche mir, ich könnte es erneut tun. Ich will dass es wieder
verschwindet.“ Er musste es ihr erklären, auch wenn er es selbst nicht wirklich verstand.
Seine Gefühle waren unergründlich und ließen seine Stimme zittern. „Ich will mir keine
Sorgen mehr machen. Ich will keine Angst mehr haben. Denn genau das hindert mich daran,
meinen Job gut zu machen und zwingt mich zu Fehlern. Verdammt, ich habe heute Nacht
viele Fehler gemacht. Weil ich geblendet war von meinen Empfindungen. Weil ich Angst
hatte, dir könnte etwas passieren. Ich…“ Er stoppte und atmete tief durch, seine folgenden
Worte waren im Vergleich zu dem bisherigen Erklärungsversuchen sehr sicher und
überzeugend. „… ich werde den NCIS verlassen. Gibbs hat recht, wir können nicht in einem
Team arbeiten. Seine Regeln haben einen Sinn.“
Ziva presste, während Tony sprach, die Lippen fest aufeinander. So langsam lichtete sich der
Schleier des Unverständnisses und ließen sie erleichtert aufatmen. Am Ende lächelte sie
sogar. Tony zweifelte nicht an ihrer Beziehung, sondern an der gemeinsamen Arbeit. „Du
hast recht, seine Regeln sind gerechtfertigt.“ Sie kehrte zu ihm zurück und wartete bis er
aufstand, um ihm tief in die Augen zu blicken. „Aber…“, flüsterte sie und strich über seine
Wange. „… ich vermute, er wird uns umbringen, wenn wir beide das Team verlassen.
Deshalb wirst du schön weiter deine Arbeit machen und ich…“
„Nein Ziva“, fiel er ihr ins Wort. „Das werde ich nicht zulassen. Du liebst deinen Job. Ach
mach dir nichts vor, du lebst für die Arbeit. Und du bist gut, du bist verdammt gut. Du
machst keine Fehler. Es gibt keinen Grund, wieso du …“
Sie legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen, hinderte ihn daran seinen Satz zu beenden und
lächelte ihn glücklich an. „Doch, ich habe einen Grund.“ Sie atmete tief durch und zögerte.
Darauf war sie nicht vorbereitet, sie wusste nicht, wie sie es ihm sagen sollte. Ob sie es ihm
schon sagen sollte. Doch gab es einen besseren Moment als diesen? Und warum um
Himmels Willen wollten ihr die richtigen Worte nicht einfallen?
„Bitte Ziva.“ Er schob ihren Finger zur Seite und sah sie eindringlich an. „Ich will nicht daran
schuld sein, dass du alles aufgibst, was du dir in den letzten Jahren erarbeitet hast. Du hast
so hart dafür gekämpft, Agentin beim NCIS zu werden. Das soll nicht umsonst gewesen sein.“
„Diese Diskussion ist zwecklos“, flüsterte sie beinahe lautlos und schmiegte sich in seine
Arme. „Ich kann nicht abstreiten, dass du eine gewisse Mitschuld an meiner Entscheidung
trägst. Aber egal ob du beim NCIS bleibst oder nicht, auf mich wird Gibbs in Zukunft nicht
mehr zählen können.“
Gerade als er sie an den Schultern packen wollte, um sie wach zu rütteln und etwas auf ihre
vorangegangenen Worte erwidern wollte, nur um ihr unmissverständlich klar zu machen,
dass sie den NCIS nicht verlassen durfte, vibrierte das Handy in seiner Hosentasche.
Seufzend kramte er danach und blickte auf die Anzeige. „Gibbs zählt aber jetzt auf uns“,
knirschte er und nahm den Anruf entgegen.
*****
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Die letzten acht Stunden hatten sie zur Suche des Kindes genutzt. Jeder Winkel, jede Ecke,
sogar die Schränke der Büroräume wurden von einem Großaufgebot deutscher Polizisten
durchkämmt. Doch auch eine eiligst herbeigerufene Hundestaffel scheiterte, aufgrund der
zahlreichen Gerüche fremder Menschen waren die Tiere im Haus vollkommen überfordert
und konnten die Spur nicht klar identifizieren. Alisar blieb verschwunden.
Nebenbei war die Spurensicherung damit beschäftigt, jeden Zentimeter des Kellers, des
Clubs und der Wohnung umzudrehen, Begebenheiten und Spuren zu dokumentieren. Doch
mit jeder weiteren Minute sank die Hoffnung das Kind tatsächlich im Haus zu finden.
Kriminalhauptkommissar Steinberger verhörte seit mehreren Stunden den
Festgenommenen, aber Arif schwieg eisern. Dieser zeigte keinerlei Regung, nur hin und
wieder erlaubte er sich, kurz und laut aufzulachen. Und murmelte dabei unermüdlich mit
heiserer Stimme ‚ihr werdet sie nicht finden‘. Die pulsierenden Adern am Hals des Ermittlers
zeigten, dass er sich größte Mühe gab, nicht zu explodieren und dem Täter an die Gurgel zu
gehen. Einmal mehr wünschte er sich, nicht in Deutschland tätig sein zu müssen und seiner
üblen Laune, seinem Zorn, der sich in seinem Inneren zu einem Kloß ballte, endlich ein Ventil
zu gewähren. Am liebsten hätte er ihn in der eiskalten Isar ertränkt, oder den Löwen im
Tierpark Hellabrunn vorgeworfen. Oder gar mitten im Zentrum der Stadt auf der
Mariensäule aufgespießt, mit der Botschaft an die Bevölkerung ‚Schaut her, liebe
Münchener, das geschieht mit Menschen, die die Ruhe unserer friedvollen Stadt stören‘.
Vielleicht sollte er seine Leiche unter dem Friedensengel vergraben. Steinberger fühlte eine
solche Wut, einen solchen Hass. Nur seine jahrelangen Erfahrungen und die Routine in
seiner täglichen Arbeit halfen ihm heute, die Kontrolle zu behalten.
Das Ganze war so frustrierend. Nach tagelangen Ermittlungen war sein Team, in
gemeinsamer Mission mit dem NCIS-Team aus Washington D.C., dem dreifachen Mörder
innerhalb von drei Tagen nahe gekommen, ja, sie hatten ihn sogar gefasst. Ob ihnen dabei
zusätzlich zum Können seiner Leute auch das Glück gesonnen war, war ihm relativ unwichtig.
Das Monster, dass hier vor ihm saß, sollte ab sofort hinter eisernen Gittern versauern, nie
wieder das Gefühl der Freiheit fühlen und das hoffentlich länger als ‚lebenslänglich‘. Die
Welt da draußen war wieder um einen winzigen Hauch sicherer. Ende gut, alles gut. Doch
diese Geschichte schrie nicht gerade nach einem Happy End. Sie drohte, sich zum absoluten
Drama auszuweiten.
Die Gespräche mit Ilena, die sich inzwischen in ärztlicher Obhut befand, schwer geschwächt
und mit den Nerven am Ende, wiesen deutlich auf eine Zeitspanne hin, die viel zu kurz war,
um das Kind an einen weiter abgelegenen Ort zu bringen. Noch dazu, ohne dass der Täter
sein Auto bewegte, einen der drei Eingänge oder die Auffahrt der Tiefgarage nutzte. Das
Mädchen war wie vom Erdboden verschluckt.
*****
Felix Neumayer lehnte mit dem Rücken gegen die kalte Kellerwand und starrte in die
Dunkelheit. Tanja und er hatten die Keller der drei Häuser durchsucht. Verschlossene Türen
aufgebrochen, sich durch altes Gerümpel gewühlt, Getränkekisten umgeschichtet,
Staubflusen inhaliert. Vergebens. Nichts war zu finden. Und doch hatte er das Gefühl, sie
waren ganz in der Nähe. Irgendetwas schienen sie zu übersehen. Einen Hinweis, eine Tür,
irgendetwas, das ihnen bisher verborgen blieb und dadurch auf die schlimmste Art und
Weise, nämlich die Hilflosigkeit der eigenen Person, das Leben des Kindes bedrohte.
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„Verdammt“, entfuhr es Felix und er fuhr sich mit den Fingern durch sein staubiges Haar.
„Wo steckt sie nur?“ Auch nach stundenlanger erfolgloser Suche, war er nicht im Ansatz
bereit, aufzugeben. Er war ratlos, ja, aber noch lange nicht willenlos. „Irgendwo muss sie
sein. Fangen wir wieder von vorne an!“
Tanja, die wenige Meter von ihm entfernt, der Spurensicherung über die Schulter sah,
drehte sich zu ihm um. „Felix. Wir haben die Räume jetzt dreimal durchsucht. Ich verstehe,
dass du nicht aufgeben willst und ich will das genauso wenig. Aber ist es sinnvoll, leere
Räume anzustarren?“ Sie kam auf ihn zu und zuckte mit den Schultern. „Lass uns lieber
überlegen, wie man hier ungesehen rein oder raus kommt.“
*****
Tony saß auf der letzten Stufe im Treppenhaus. Er fühlte sich unwohl. Nicht nur, dass der
leichte Schwindel zurückkehrte, weil er vermutlich dringend Schlaf brauchte. Er hatte seit
Stunden nichts gegessen und getrunken. Sein angeschlagener Kehlkopf brannte. Er fühlte
sich wie ein ausgelaugtes altes Wrack. Er hoffte so sehr, dass Ziva nicht allzu lange sauer auf
ihn wäre, denn am meisten sehnte er sich nach Nähe und Geborgenheit. Nach ihr. Aber er
hatte mal wieder seine Zunge nicht zügeln können und ins Telefon gesagt: ‚oh Gott, mit
Kindern hat man doch immer nur Probleme‘. Fettnäpfchen, ein verdammt großes
Fettnäpfchen. Ziva machte sich Sorgen um ihre Nichte und er hatte nichts Besseres zu tun,
als blöde Sprüche zu reißen. Typisch DiNozzo. Als er seinen Fauxpas bemerkt hatte und
unsicher auf seiner Unterlippe kaute, hatte sie ihn nur mit traurigen ungläubigen Augen
angesehen. Eine entschuldigende Umarmung hatte sie nicht zugelassen. Wortlos waren sie
zum Club zurückgekehrt.
Ziva befand sich in der oberen Etage und versuchte sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Was
ihr äußerst schwer fiel. Immer wieder hallten Tonys Worte in ihrem Kopf wider. Hatte er
diesen Satz ernst gemeint? Oder war er nur so daher gesagt? Ein ironisches Lächeln legte
sich auf ihre Lippen, als ihr bewusst wurde, dass Tony ihr ausgerechnet in dem Moment, als
sie ihm von ihrer Schwangerschaft erzählen wollte, mitteilte, dass Kinder nur Probleme
machten. ‚Wie recht er damit hat‘, dachte sie zynisch und blickte auf die Scherben der Vase,
die durch den kleinen Flur verteilt, auf dem Boden lagen. Doch ihr Leben bestand schon
immer aus kleineren und größeren Problemlagen und bisher hatte sie jede Schwierigkeit
gemeistert. Und auch diese Aufgabe war sicherlich nicht unlösbar. Doch jetzt galt es
zunächst, Alisar zu finden und Arif seine Taten nachzuweisen.
In der gegenüberliegenden Wohnung hatten sie einen Mann gefunden, vermutlich einer der
Brüder, pflegebedürftig, nicht in der Lage zu sprechen. Ein Pflegenotdienst hatte ihn bereits
vor fünf Stunden abgeholt. Inzwischen strahlte die Sonne durch die großen Fenster und
ließen die Wohnung wahrlich schön und freundlich aussehen. Hier oben war nichts
brauchbares, was sie voran brachte.
*****
Alisar knipste die Taschenlampe an und leuchtete auf ihre blutigen Finger. Die Kratzaktionen
hatten sichtbare und vor allem schmerzhafte Spuren hinterlassen, der Fingernagel des
rechten Zeigefingers war eingerissen und die Haut zerfetzt. Aber sie kam voran. In der
Dunkelheit hatte sie das kleine Verließ systematisch abgesucht und festgestellt, dass ein
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Stein am Gitter leicht wackelte. Wenn es ihr irgendwann gelang, den Mörtel zwischen den
Steinen zu entfernen, konnte sie ihn vielleicht vollständig lösen. Sie wollte hier raus. Sie
musste hier raus. Der Durst wurde langsam unerträglich.
Das Mädchen schniefte und wischte sich mit der Hand durch das tränennasse Gesicht.
Hoffentlich ging es ihrer Mama gut. Sie hatte so schwach gewirkt, wenn sich nun niemand
mehr um sie kümmerte, sie zudeckte, was geschah dann mit ihr? Alisar klemmte die
Taschenlampe zwischen ihre Knie und widmete sich wieder ihrer Aufgabe. Sie musste nur die
Zähne zusammen beißen und kratzen.
*****
Cornelia Rubin ballte ihre Hände zu Fäusten. Angespannt blickte sie auf das vor ihr liegende
Bündel Kleidung. Sie war Pathologin und normalerweise war die Obduktion von Leichen ihr
Aufgabengebiet. Aber spezielle Situationen benötigten eine spezielle Vorgehensweise. Sie
war ebenso wie alle anderen nicht bereit, auf zu geben. Sie wollte alles tun, um das
Mädchen zu finden. Zwar waren ihre Mittel beschränkt, aber mit Abbys Hilfe stand sie
zumindest nicht alleine da. Zu zweit würden sie das Kind schon schaukeln. Sie mussten nur
eine Spur finden. Diese richtig deuten, ihr folgen und dann Alisar retten. Hörte sich doch
einfach an. Mit angehaltenem Atem entnahm sie das Hemd, die Hose und die Schuhe, die
Arif noch wenige Minuten zuvor getragen hatte. Und auch wenn sie wusste, dass man ihm
Ersatzkleider gegeben hatte, stellte sie sich einen zitternden frierenden Arif vor, der nackt,
wie Gott ihn schuf, im Verhörraum vor Kriminalhauptkommissar Steinberger saß und soeben
ein Geständnis ablegte. Sie persönlich würde die Klimaanlage noch ein paar Grad kälter
stellen. Aber da machte sie sich nichts vor, die Pathologie war mit größter Sicherheit der
einzige klimatisierte Raum in diesem alten Gebäude.
„Glaub mir, auf den ersten Blick denkt man, da ist nix. Aber wenn man genauer hinsieht,
erzählen die Dinge Geschichten“, ertönte Abbys Stimme aus der Freisprechanlage ihres
Telefons. „Ist wie bei einer Autopsie.“
„Du vergisst aber die Tatsache, dass ich eben nur dieses Studienfach absolviert habe und
nicht forensische Wissenschaft. Selbst wenn ich hier irgendetwas finde, es würde Ewigkeiten
dauern, es aus zu werten. Vor Montag wird im forensischen Labor niemand …“
„Deswegen helfe ich dir ja“, fiel ihr Abby ins Wort. „Hör auf zu Zweifeln Cornelia. In einer
Minute …“
Abrupt wurde die Tür zum Raum aufgestoßen und Max kam mit einem Laptop und diversen
Anschlüssen herein.
„Ich verbessere mich“, flötete die Stimme weiter aus dem Telefon, „jetzt bekommst du eine
mobile Webcam. Ab sofort heißt es, was du siehst, sehe auch ich. Ich hoffe, du hast keine
Heimlichkeiten vor uns?“ Am anderen Ende der Leitung war ein Kichern zu hören.
Cornelia blickte an sich herab. Noch immer hatte sie die Kleider an, die sie am Abend zuvor
getragen hatte. Sie hatte noch keine Zeit gefunden, nach Hause zu gehen und sich
umzuziehen. Zumindest die Spuren der verlaufenen Schminke hatte sie notdürftig vor dem
Spiegel in der Damentoilette beseitigt, damit niemand sehen konnte, dass sie nach all diesen
Strapazen das ein oder andere Tränchen verdrückt hatte. Die Geiselnahme hatte sie
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kurzfristig aus der Bahn geworfen, doch sie hatte sich schnell wieder gefasst. „mmh“,
knurrte sie zur Antwort auf Abbys ironische Frage und zog den weißen Kittel, den sie bisher
lässig über die Schultern getragen hatte, enger um sich. Dabei warf sie Max einen bösen
Blick zu, der sie grinsend beobachtete.
„Du sollst die Technik anschließen und nicht deine Zeit mit rumstehen vergeuden“, zischte
sie ihn an und nahm zufrieden wahr, dass er sich unverzüglich ans Werk machte.
„Pack schon mal aus“, kam das Kommando aus Washington. Cornelia streifte die sterilen
Gummihandschuhe über und trat an den Tisch. Sie riss die Tüte auf und nahm die Kleider
einzeln heraus.
„Wir haben ein grauschwarz gestreiftes Hemd, eine Jeanshose, ein Paar schwarze Socken,
ein paar schwarze Halbschuhe.“ Cornelia versuchte laut und deutlich zu sprechen, damit sie
über die Freisprechanlage gut zu verstehen war. Sie nahm jedes Stück vorsichtig in die Hand
und legte es auf ihren stählernen Tisch, auf dem sonst die Leichen lagen. Das Bild war ihr
fremd, aber irgendwie erschien es ihr passend, statt einem leblosen Mensch lag jetzt eben
die leblose Hülle eines Menschen auf ihrem Tisch. Beim nächsten Kleidungsstück verzog sie
ein wenig das Gesicht und rümpfte dabei die Nase. „Und eine Boxershort. Hellblau mit
Sternchen bedruckt.“ Unwillkürlich musste sie grinsen. Eine solche Unterhose passte so gar
nicht zu ihrer Vorstellung eines Serienmörders.
„Aaaaha, ich kann es auch sehen. Sehr gut. Fangen wir an.“
„Nach was suchen wir?“, mischte sich Max ein, der jetzt neben Cornelia stand und die
Webcam festhielt.
„Nach allem was uns hilft, Alisar zu finden. Und nach Beweisen, die ihn mit den Morden in
Verbindung bringen. Sichtbare Spuren, DNS, Sperma und …“
„und nach merkwürdigen Schlüsseln?!“, beendete Cornelia dieses Mal Abbys angefangenen
Satz. Mit verwirrtem Gesichtsausdruck zog sie den Schlüssel aus der Hosentasche. Es war
kein herkömmlicher Schlüssel, eher alt und mit vielen Gebrauchsspuren, zudem etwas
größer. Cornelia tütete ihn ein.
„Ist sonst noch was in den Hosentaschen?“
Cornelia schüttelte den Kopf.
„Hey“, quiekte Abby. „Ich sehe was du siehst, aber ich spüre nicht wenn du den Kopf
schüttelst.“
Cornelia lachte auf. „Verzeihung. Nein, die Taschen sind ansonsten leer.“
„Dann machen wir mit den Schuhen weiter.“ Abby räusperte sich. „Und Max, halte das Ding
ruhig, mir wird sonst übel, wenn du mit der Kamera ständig hin und her schwankst. Hast du
keine Kontrolle über deine Gliedmaße?“
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Cornelia schnaubte kurz, ignorierte aber ansonsten das Kommentar der Kriminaltechnikerin,
auch wenn ihr bereits tausend Ergänzungen auf der Zunge lagen, die so gerne nach draußen
sprudeln würden. „Sollten wir nicht die anderen erst über den Schlüssel informieren?
Vielleicht hilft er ihnen weiter.“
„Keine Angst Cornelia“, bekam sie zur Antwort. „Gibbs wird in spätesten drei Minuten bei dir
auf der Matte stehen und wenn wir zügig arbeiten, können wir ihm vielleicht noch mehr
bieten als nur einen Schlüssel.“
*****
Tony war vollkommen in Gedanken versunken und bemerkte nicht, wie Ziva die Treppe
herunterkam und sich neben ihn auf die Stufen setzte. Erst als sie seine Hand auf sein Knie
legte, zuckte er erstaunt zusammen und musterte sie mit einem kurzen Seitenblick. Noch
immer tobten die Gewissensbisse in ihm. Er wusste, er hatte ihr wieder einmal in einem
unbedachten Moment weh getan. Er hätte auf sie eingehen müssen, ihr zur Seite stehen
müssen. Doch er hatte es nicht getan. In diesem Moment kämpfte er aber viel mehr mit sich
selber. Er fühlte sich nicht in der Lage, auf die Gefühle anderer Rücksicht zu nehmen, wenn
er seine eigenen Einstellungen überdenken musste, nicht mehr wusste, was richtig und was
falsch in seinem Leben war. Er fühlte sich schlicht und ergreifend ziellos. Der Entschluss den
NCIS zu verlassen, fühlte sich auf der einen Seite zwar richtig an, doch das Wissen was er
damit verlor, war ebenso vorhanden und schnürte ihm die Kehle zu.
„War wohl ein dummer Spruch eben?“ Er schloss die Augen. „Nein, entschuldige, es war ein
absolut dämlicher Spruch. Du machst dir Sorgen um Alisar und ich bin nicht fähig, erst zu
denken und dann zu reden.“ Verlegen fuhr er sich durch die Haare.
„So bist du eben“, flüsterte Ziva. Die Worte waren mehr an sich selber als an Tony gerichtet.
Doch dieser nickte zustimmend.
„So bin ich“, wiederholte er und lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand. „In den letzten
Wochen ist so viel passiert.“
Sie griff nach seiner Hand und strich zärtlich mit ihren Fingern über seine Haut. „Und genau
deswegen ist es wichtig, dass du dich nicht verlierst.“
„Es kommt mir vor, als hätte ich die Richtung verloren. Alles um mich herum verändert sich.
Ich komm nicht mehr mit, es ist beinahe wie Achterbahnfahren. All die Geschehnisse reißen
an mir, schleudern mich durcheinander. Und ob ich will oder nicht, nicht nur alles um mich
herum wandelt sich, es verändert auch mich.“
Ziva lehnte sich zu ihm rüber und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Zögerlich legte er den
Arm um sie und zog sie näher an sich heran. Sie genoss seine Nähe.
„Tony?“ Ziva hielt den Atem an und verlor wieder einmal den Mut weiterzusprechen.
„Mmh“, kam es von Tony und sie spürte, wie er ihr einen kleinen Kuss auf den Haaransatz
hauchte. „Was?“
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„Ich möchte dir gerne etwas sagen, wenn du noch mehr Veränderung erträgst.“ Ziva spürte
die Angst. Ja, sie hatte Angst vor dem nächsten Satz. Es half ihr, es zuzugeben, es zu
akzeptieren. Zu wissen, dass sie sich noch nie zuvor in ihrem Leben so gefürchtet hatte,
einen Satz auszusprechen. Doch sie war entschlossen, dieses Mal nicht nachzugeben.
Unbehaglich, weil ihre Stimme so ernst klang, öffnete Tony die Augen und blickte sie an. Er
spürte ihre Anspannung und auch wie sie dagegen ankämpfte. „Okay?“
„Das ist vielleicht nicht der beste Moment“, während sie verzweifelt nach den richtigen
Worten suchte, senkte sie den Blick. Spürte aber wie Tony sofort nach ihrem Kinn griff und
ihren Kopf zu sich drehte. Es gab kein Entkommen mehr.
„Was willst du mir sagen?“ Ein unsicheres Lächeln legte sich auf seine Lippen, während er
ihr mit der anderen Hand über die Haare strich.
„Ich bin schwanger.“ Ziva stieß den Atem aus, endlich war es raus. Gleichzeitig wappnete sie
sich für Tonys Reaktion. Sie rückte ein Stück von ihm weg. Wenn er jetzt aufstehen und
weglaufen wollte, dann würde sie ihn nicht aufhalten. Wenn er etwas sagen sollte, mit dem
sie nicht zurecht kam, hätte sie jederzeit die Möglichkeit zu gehen.
Sein Herz hatte einen kleinen Sprung gemacht. Doch jetzt schwappte eine Welle von
Gefühlen über ihn. Es ging alles zu schnell, und deutlich spürte er die Panik in sich
aufsteigen. Er war nicht fähig eine Reaktion zu zeigen, stattdessen starrte er sie nur
ungläubig an.
„Wenn es dir jetzt leid tut …“ Ziva senkte den Blick und kämpfte gegen die Tränen, die sich
wieder einmal in ihre Augen drängten.
Tony umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, zwang sie den Kopf zu heben und ihn
anzusehen. „Warum sollte es?“, fragte er leise und seine Stimme unterstrich seine eigene
Unsicherheit.
„Es ist nur, nachdem was du vorhin am Telefon gesagt hast.“
„Kinder machen nur Probleme?“ Ein vorsichtiges Lächeln zeigte sich in seinem Gesicht und er
wischte mit dem Daumen eine Träne von ihrer Wange. „Ist doch auch so.“ Er zuckte
unschuldig mit den Schultern. „Sie machen ständig Probleme und ehrlich, eine DavidDiNozzo-Kombination … oh Gott Ziva, das wird die Hölle.“ Er zog sie an sich und küsste sie
sanft auf die Stirn. „Gut, dass du eine Mossadausbildung hast.“
*****
Kriminalhauptkommissar Steinberger warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Ihnen lief die
Zeit davon, mit jeder Minute, die Arif schweigend vor ihm saß, sank auch die Hoffnung, Alisar
zu finden. Doch wenn ihm seine Berufserfahrung eines sagte, dann, dass er trotz seiner
guten Verhörtechniken hier und heute scheitern würde. Ihm gegenüber saß kein normaler
Mörder, kein Täter, den man einfach nur knacken musste, nein, dort saß ein kranker Mann,
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der sich an ihrer Verzweiflung ergötzte und mit jeder verstreichenden Sekunde stärker
wurde. Es machte nunmehr keinen Sinn, die Zeit sinnlos zu vergeuden. Mit einem gespielten
Lächeln auf den Lippen stieß der Kommissar sich vom Tisch ab, stand auf und verließ
wortlos, ohne eine weitere Erklärung in Richtung des Beklagten, den Raum.
Gibbs, der während der Befragung hinter der Scheibe stand und die ganze Szene
beobachtete, nickte Steinberger zu, als dieser an seine Seite trat. In Gedanken ging der
Grauhaarige die unterschiedlichsten Möglichkeiten durch, nippte dabei an seinem Kaffee
und grummelte ungehalten vor sich hin. Er hatte gehofft, Arif würde ihnen Informationen
zuspielen, vielleicht um seine schier ausweglose Lage ein wenig zu verbessern, doch auch der
NCIS Agent war inzwischen davon überzeugt, dass das Verhör keinerlei Sinn machte.
Seufzend fuhr er sich durch das Haar. Arif hatte nicht versucht, die Leichen zu verstecken,
hatte nicht versucht, seine Taten zu vertuschen, vielmehr hatte er sie für das Team und für
die Münchner Kommissare richtiggehend inszeniert. Er wollte Aufmerksamkeit. Seine
Tochter war sein größter Trumpf, den er jetzt auszuspielen versuchte. Sie nur zu töten,
reichte ihm nicht aus. Zu sehr sehnte dieses Monster sich nach der Qual anderer Menschen.
Stumm gingen die beiden Chefermittler durch den kahlen Flur, verzichteten auf den
Fahrstuhl und stiegen die Stufen der alten Steintreppe nach unten. Beide hofften sie auf ein
Wunder, auf ein Zeichen, eine Spur, die sie zu dem Mädchen führte. Gerade als Steinberger
etwas sagen wollte, drangen Geräusche aus der Pathologie.
„Oah, eklig. Diese Schuhe stinken wie Scheiße“, tönte gerade Max und hielt sich mit seiner
freien Hand die Nase zu, während er sich sichtlich bemühte, die Webcam ruhig zu halten.
„Danke für den Tipp, Abby, dass man Geruchstests immer von Assistenten ausführen lassen
sollte“, kicherte Cornelia und schnupperte vorsichtig an der Sohle. „Max hat recht. Es riecht
ziemlich streng.“
„Was habt ihr?“, erklangen die Stimmen von Gibbs und Steinberger beinahe synchron und
Cornelia blickte lächelnd auf.
„Und du hattest mal wieder recht, Abby. Da sind sie.“ Sie nickte den beiden Männern zu und
winkte sie an den Stahltisch heran. „Wir haben euch schon erwartet.“
Da keiner etwas darauf erwiderte, rümpfte Cornelia die Nase und warf ihrem Boss einen
wissenden Blick zu. Inzwischen hatte sie sich an die Einsilbigkeit der Chefermittler gewöhnt.
„Wir haben zwei Aspekte, die es zu verfolgen gilt. Leider sehen wir den Zusammenhang noch
…“
„Das ist es“, quietschte Abby. Während Steinberger, Max und Cornelia sichtlich
zusammenzuckten, stand Gibbs seelenruhig am Tisch und betrachtete die Kleidungstücke. Er
kannte seine Kriminaltechnikerin und wusste, nach dem Schrei kam der Vortrag.
„Alisar ist wie vom Erdboden verschluckt. Ihr habt ausgeschlossen, dass er das Haus, bzw. die
miteinander verbunden Häuser verlassen hat. Ihr habt jeden Raum durchsucht, die
Zeitspanne berücksichtigt. Wirklich merkwürdig, beinahe wie in einem Gruselroman. Es ist
…“
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„Abbs, komm auf den Punkt“, knurrte Gibbs in Richtung Telefon.
„Der Schlüssel! Cornelia, zeig ihnen den Schlüssel. Wir haben ihn eben in Arifs Hosentasche
gefunden.“
Die junge Pathologin hob die Plastiktüte, in der sich das Beweisstück befand, nach oben und
runzelte die Stirn. „Du hast recht“, schlussfolgerte sie und tippte sich gegen die Stirn.
„Außerdem riechen seine Schuhe nach Abwasser. Alisar ist also nicht nur sprichwörtlich vom
Erdboden verschluckt?!“
„Die Kanalisation?“ Max schnappte hörbar nach Luft. „Ich dachte immer, das gibt es nur in
Horrorfilmen. Kommt schon Leute, hier verschwinden doch keine Kinder in der Unterwelt.
Das ist unmöglich.“
„Sagen Sie das nicht!“, zischte Steinberger. „Das Entwässerungsnetz der Stadt ist über 2300
Kilometer lang. Und wenn ich mich recht erinnere, sind ca. sechzig Prozent davon begehbar.
Es gibt schmale Gänge, breite Gräben, Überlaufkanäle bis hin zu Fußballfeld großen
Regenauffangbecken. Das System wird ständig überwacht, gesäubert und gewartet. Wenn
große Regenmassen niedergehen, verwandeln sich die kleinen Rinnsale unter uns zu
reißenden Flüssen. Wenn dieser Schlüssel also zu einem Einstieg in die Kanalisation passt, …“
„Hey … ah, mann,… au …“, hörte man Abby am Telefon leise meckern und fluchen, im
Hintergrund hörte man McGee stöhnen. ‚Mach Platz, lass … Abs … da…‘
Hauptkommissar Steinberger, der sich in seiner Vortragshaltung gestört fühlte, blickte
seinen Kollegen streng von der Seite an, Gibbs allerdings hob nur unbedarft die Schultern
und setzte ein unschuldiges Gesicht auf.
„Wenn der Schlüssel zu einem Einstieg passt …“, hörte man nun klar und deutlich McGees
Stimme, der sich scheinbar den besten Platz vor dem Telefon erzwungen hatte, „… haben wir
viel zu tun. Während ihr über das, im Vergleich zu anderen Städten wahrlich
bemerkenswertes Kanalsystem philosophiert habt, habe ich mich in das System der
Münchner Stadtentwässerung gehackt. In diesem Moment schick ich euch den Plan der
Kanalisation per Mail.“
*****
Ilena versuchte gegen den Nebel anzukämpfen. Im Krankenhaus hatten sie ihr ein starkes
Beruhigungsmittel gespritzt, gegen ihren Willen, zunächst, doch später hatte sie die
erlösende Wirkung des Mittels mit Erleichterung vernommen. Ihr Herz bebte, ihre Finger
zitterten und ihre Gedanken rasten. Jedes Mal wenn sie Schritte auf dem Flur hörte, hob sie
schwerfällig den Kopf und blickte hoffnungsvoll zur Tür. Bittend und flehend, dass ein Bote
die Nachricht überbringen könnte, dass ihre Tochter noch lebte, dass man sie endlich
gefunden hatte.
Ronald strich ihr in gleichmäßigen Zügen über den Kopf, versuchte sie zu beruhigen und zu
trösten. Doch auch er schien hilflos und in Momenten, in denen Ilena ihn mit traurigen
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Augen ansah, presste er stets seine Lippen fest aufeinander, um seine eigene innere
Schwäche zu verbergen. Am liebsten hätte er geweint, ein Gefühl, dass nur durch kurze, aber
starke Phasen der Wut überdeckt wurde und ihn emotional auffraß. Jetzt und hier, an Ilenas
Seite, neben ihrem Krankenhausbett sitzend, verstand er sein Handeln nicht mehr, konnte
sich nicht mehr erklären, warum er auch nur einen Moment an ihr gezweifelt hatte. Neben
der Angst, der Sorge und der Unwissenheit, kämpfte er mit seinem schlechten Gewissen.
Vielleicht hatte er alles zerstört, bevor es richtig anfangen konnte.
„Es tut mir leid“, riss die leise Stimme Ilenas ihn aus seinen Gedanken. „Ich hätte …“
„Pst!“ Ronald beugte sich vor und strich ihr über die Wange, griff nach ihrer Hand und
drückte diese sanft.
Ilena schüttelte vorsichtig den Kopf. Sie wollte nicht mehr schweigen. Zu lange Zeit hatte sie
geschwiegen und wohin sie das geführt hatte, sah man hier. „Ich hätte es dir sagen müssen,
alles, ich hätte … ich hatte Angst dir von meiner Vergangenheit zu erzählen.“ Sie richtete sich
ein wenig auf und spielte nervös mit Ronalds Fingern. „Du verstehst mich doch, oder?“,
fragte sie mit leiser Stimme.
Das Zimmer verdunkelte sich abrupt, als sich draußen die Wolken vor die Sonne schoben.
Schon von weitem hörte man leisen Donner, der ein vermutlich heftiges Gewitter
ankündigte. Ein unaufhaltsames Unwetter, vor dem man nicht davon laufen konnte. Man
musste sich ihm stellen. Ronald atmete tief durch, das Unwetter in ihm tobte schon zu lange
und er hatte keine Kraft mehr die dunklen Wolken zu verdrängen. Er wollte eine Beziehung,
gezeichnet von Vertrauen und Ehrlichkeit. Er wollte Ilena, und er wollte eine gemeinsame
Zukunft.
Er seufzte und beugte sich zu ihr herüber. „Nein, wenn ich ehrlich bin, ich verstehe dich
nicht. Ilena, ich liebe dich, sehr sogar. Ich fühle mich mit dir verbunden. Und ich hatte den
Eindruck, das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich habe wirklich daran geglaubt, wir würden
daraus etwas machen. Ich dachte, wir hätten eine Chance.“
„Haben wir denn noch eine Chance?“ Ilena senkte den Blick. „Ich weiß, ich hätte dir
vertrauen sollen, aber ich wollte einfach vergessen.“
„Du hast mich angelogen“, Ronald presste die Worte heraus. Er wusste, es war nicht der
richtige Zeitpunkt für eine Aussprache, aber Ilena schien reden zu wollen und er wollte nicht
die gleichen Fehler begehen, die sie zuvor gemacht hatten, er wollte nicht lügen, nichts
verschleiern und ihr nichts verbergen. „Ich habe dich damals nach Alisars Vater gefragt und
du hast mir geantwortet, er sei tot. Warum sagst du nicht die Wahrheit? Hast du so wenig
Vertrauen zu mir, dass du mir so wichtige Teile deiner Vergangenheit, von der ich weiß Gott
schon weiß, dass sie nicht die schönste ist, verschweigen musstest?“
„Haben wir noch eine Chance?“, wiederholte Ilena ihre Frage und blickte ihn mit
tränennassen Augen an. „Kannst du mir meine Fehler verzeihen?“, fügte sie flehend hinzu.
Ronald hob ihre Hand hoch und küsste sanft die Finger. Beinahe unhörbar flüsterte er: „Ich
hoffe, du kannst mir meine Fehler verzeihen.“
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*****
„Ja, Chef. Klar. Wir leiten alles in die …“ Felix runzelte die Stirn, was sich da vor seinen Augen
bot, überraschte ihn doch sehr. Eigentlich hatte er gedacht, die beiden NCIS Agenten hätten
kein sehr inniges Verhältnis, eher das Gegenteil, aber diesbezüglich hatte er sich wohl geirrt.
Verwirrt blickte er Tanja an, die sich ebenfalls ein kleines Lächeln nicht verkneifen konnte,
als sie im Hausflur auf Tony und Ziva trafen. Die Zwei waren unwillkürlich zusammengezuckt
und lächelten ertappt zurück.
„Ähm, was?“ Felix schüttelte den Kopf, um die Gedanken wieder frei zu kriegen und drehte
sich ein wenig weg, um sich besser auf das Telefongespräch zu konzentrieren. „Ja, wir leiten
es in die Wege. Wann kommt der Mann?“
Während er das Handy in seiner Hosentasche verstaute, ruhten die fragenden Blicke seiner
Kollegen auf ihm. Felix räusperte sich. „Wir müssen etwas übersehen haben.“
„Was du nicht sagst“, entgegnete Tanja zynisch, während sie sich neben die anderen auf die
Treppenstufen fallen ließ. Die Müdigkeit war nicht nur ihr anzusehen.
„Aber“, Felix hob den Zeigefinger, eine Geste die bei ihm sehr oberlehrerhaft wirkte. „Aber
jetzt wissen wir wonach wir suchen müssen.“
„Wonach?“ Tanja war mit einem Schlag wieder hell wach und sah ihn mit scharfen
fordernden Augen an. „Rede endlich“, schnaubte sie als ihr Kollege mit seinen langen
Sprechpausen unwillkürlich an ihrem Geduldsfaden zerrte.
Der Kommissar verdrehte genervt die Augen und zog eine Grimasse in ihre Richtung, dann
nahm er jedoch sofort wieder eine professionelle Haltung an und nickte. „Die Labormädels
haben Beweise sichergestellt, die darauf hindeuten, dass Arif in der … ähm …“, er schüttelte
sich leicht, „… in der Kanalisation unterwegs war. Seine Schuhe weisen darauf hin und
außerdem wurde ein Schlüssel bei ihm gefunden, der zu einem dieser Eingänge passen
könnte.“
Tanja wurde bleich und biss sich verlegen auf die Lippe. „In Haus 3, Flur 2 befindet sich so ein
Eingang. Ich habe ihn gesehen, aber das habe ich nicht für möglich gehalten. Ich war mit den
Hunden unten, und die haben auch nicht angeschlagen.“
„Es sind wohl alle daran vorbei gerannt. Und der modernde Geruch war vielleicht zu viel für
die empfindlichen Nasen der Tiere“, kommentierte Tony. „Worauf warten wir noch?“ Er
stand auf und ging bereits die ersten Stufen nach unten.
„Auf den Fachmann“, rief ihm Felix hinterher. „Die Kanalisation darf nur von Fachleuten
betreten werden. Und die brauchen irgend so einen Gasmesser, weil die Chemikalien … und
… das was da durchgespült wird … ach, was weiß ich.“ Er hob resigniert die Schultern, weil
ihm eh niemand mehr zuhörte und folgte, wie auch die Anderen, dem Agent in den Keller.
*****
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Gibbs stand an der roten Ampel und beobachtete die vorbeilaufenden Passanten. Die Stadt
war im Vergleich zur etwas ruhigeren Nacht wieder zum gewohnt pulsierenden Leben
erwacht und es wimmelte auch jetzt von Menschen, die sich dicht am obersten Ende der
Fußgängerzone tummelten. Einige standen wartend an der Seite, viele saßen auf den großen
Steinen am Brunnen, in den Händen große Papiertüten des bekannten Fastfood-Restaurants
und stopften genüsslich Burger und Pommes in sich hinein. Der NCIS Agent schüttelte den
Kopf. Niemand hier schien dem bedrohlichen Gewitter am Himmel weitere Beachtung zu
schenken. Die grellende Sonne hatte sich längst verabschiedet, dicke grüne Wolken zogen
über die Stadt und tauchten die alten Häuser des Zentrums in ein unheimliches, graues und
fahles Licht. Die Münchener wussten, innerhalb weniger Sekunden konnten sie im
Untergrund der U-Bahn den drohenden Tropfen entkommen, zuvor genossen sie einfach die
aufkommende Kühle an dem schwülen heißen Sommertag.
Gibbs Finger trommelten nervös auf das Lenkrad. Wäre er in seinem Reich, hätte er die
Grünphase sicherlich nicht abgewartet, doch Kriminalhauptkommissar Steinberger würde
ihm gewiss den Kopf abreißen, wenn er sich nicht an die deutschen engstirnigen Regeln
hielt. Er war nun mal nur Gast in einem fernen Land. Aber wenn es um das Leben eines
Kindes ging, waren ihm Bestimmungen in der Regel ziemlich schnuppe. Gerade in dem
Moment, als er sich entschied sich gegen die Verkehrsgrundsätze zu widersetzen, sprang die
Ampel um. Seufzend ließ Gibbs den Motor aufheulen und raste über die Kreuzung, bog
rücksichtslos um die Ecke und kam mit quietschenden Reifen vor dem Clubeingang zum
Stehen. Der erste dicke Regentropfen, der beim Aussteigen vor ihm auf den Asphalt tropfte,
entging ihm nicht.
Alisar biss sich zum wiederholten Male auf die Unterlippe. Irgendwie musste sie es schaffen,
nicht einzuschlafen. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie sich schon hier unten befand,
konnte nicht einschätzen, wie lange sie schon den Mörtel um diesen, inzwischen wackligen
Stein herum bearbeitete. Sie merkte auch schon lange den Schmerz in den aufgerissenen
Fingerkuppen nicht mehr. Sie war einfach nur müde. Dieser leicht modrige Geruch fraß sich
durch ihren Körper und vernebelte ihre Gedanken. Doch sie kämpfte dagegen an. Sie durfte
sich dem Schlaf nicht hingeben, denn wenn man sie genau in diesem Moment finden sollte,
könnte sie sich wohlmöglich bei ihren Rettern nicht bemerkbar machen. Und sie glaubte fest
daran, gerettet zu werden. Wie damals, in der Wüste, würde im letzten Moment jemand
neben ihr auftauchen und sie nach Hause bringen. Damals hatte sie der Mossadoffizier
sofort ins Krankenhaus begleitet, nebenbei sogar den abgestürzten Teddy gerettet und sie
anschließend nach Amerika zu ihrer Mama gebracht. Nur die Farbe des Gipses hatte auch er
nicht verhindern können.
An das nahe Grollen der U-Bahn hatte sie sich inzwischen gewöhnt und das immer
wiederkehrende leichte Vibrieren der Wände versuchte sie zu ihren Gunsten zu nutzen.
Sobald die Mauern bebten, drückte sie mit all ihrer verbleibenden Kraft gegen den Stein, den
sie insgeheim den ‚Stein der Hoffnung‘ getauft hatte. Wenn sie hier tatsächlich rauskäme,
wusste sie schon ganz genau, was sie mit ihm tun wollte. Er wäre dann ab sofort ihr
Glücksbringer, gebettet unter ihrem Kopfkissen. Und bei ihrer Geburtstagfeier sollte er oben
auf der riesigen dreistöckigen Torte thronen. Alisar hoffte nur, dass dieser Stein ihr wirklich
Glück brachte.
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„Wir brauchen Taschenlampen“, raunte Felix die Polizisten an, die ihnen auf dem Weg nach
unten begegneten. „Bringt sie in Haus 3, zweiter Flur“, schrie er ihnen noch von weitem nach
und erhöhte dann sein Tempo, um den Anschluss zu den Kollegen nicht zu verlieren.
Beinahe wäre er, völlig außer Atem, gegen die Kellertür gelaufen, die sich gerade vor seiner
Nase schloss. Innerlich schimpfte er auf das unkollegiale rücksichtslose Verhalten seiner
Partnerin, fuhr sich durch die Haare und öffnete seufzend die dicke Tür. Er betrat den Flur
und boxte Tanja leicht gegen den Oberarm.
„Ok, McGee schickt mir gerade den Plan der Kanalisation.“ Tony blickte vom Handy auf und
sah in die Runde. „München ist ja komplett untertunnelt.“ Er seufzte.
„Hoffentlich hält er sie an einem bestimmten Ort gefangen“, flüsterte Tanja. Die Worte
waren eigentlich nicht für die anderen bestimmt, und sofort erntete sie dafür auch von allen
Seiten böse Blicke. Die Kommissarin zuckte schuldbewusst mit den Schultern. „Was denn? Ist
doch wahr“, versuchte sie sich zu verteidigen. „Wenn er sie irgendwo festhält, haben wir
zumindest eine Chance sie zu finden. Wenn er sie aber in diesem Labyrinth ausgesetzt hat
und sie da unten jetzt frei rumläuft, wird es hundertmal schwerer. Was, wenn sie in die
falsche Richtung läuft? Was, wenn sie durch Rohre krabbelt, durch die wir nicht durch
passen?“
„Sie hat recht“, mischte sich Ziva ein, doch ihre Stimme war leise und brüchig. „Könnte sie
sich irgendwie bemerkbar machen? An Stellen mit Kanaldeckeln vielleicht?“
„Schwierig“, antwortete Felix. „Die Regenwasserabflüsse sind entweder mit Filtern versehen,
oder eben so konstruiert, dass es nicht direkt nach unten geht. Ob ein Kind in der Lage ist,
diese Hindernisse zu überwinden?“
„Dann fällt auch kein Tageslicht in die Kanalisation“, stellte Ziva frustriert fest und sah
flehend zu Tony. „Alisar hat große Angst vor der Dunkelheit seit ihr Onkel sie in der Wüste
zurückließ.“
*****
Ronald hatte gedacht, es würde ihm vielleicht besser gehen, sobald er den Satz über seine
Lippen gebracht hätte. Er hatte tatsächlich die vage Hoffnung verspürt, alles würde ganz
problemlos verlaufen, wenn er erst die Wahrheit ans Tageslicht brachte. Ilena würde
kooperativ und vernünftig sein und Sätze sagen wie ‚Wir haben doch alle Fehler gemacht‘
oder ‚Das kann doch in einer solchen Situation passieren‘. Oder aber sie würde auf der Stelle
wütend und aggressiv werden, ihn beschimpfen und ihn rausschmeißen. Auch das hätte er
verstanden.
Doch Ilena tobte nicht, und sie sagte zunächst auch nichts. Sie war, wenn das überhaupt
möglich war, noch blasser geworden als zuvor, lag stumm auf ihrem Krankenbett und starrte
wieder in Richtung Tür. Vielleicht war es doch nicht der richtige Moment gewesen, ihr sein
Fehlverhalten zu beichten und den Ausrutscher mit Ziva zu gestehen? Doch gab es dafür je
einen geeigneten Zeitpunkt?
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„Ilena, es … es tut mir leid“, stammelte er und setzte sich wieder auf den Stuhl neben dem
Bett. Zärtlich berührte er ihre Schulter und stellte erleichtert fest, dass sie sich nicht gegen
seine Berührung wehrte. „Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich war fertig, ich hab
mich volllaufen lassen und dann …“
„Musstest du ausgerechnet mit Ziva schlafen“, beendete Ilena in scharfem Ton seinen
angefangenen Satz. Die Bitterkeit war nicht nur hörbar, sie war spürbar. Ihre Stimme bebte.
„Warum sie?“
„Sie war da. Sie war zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie wollte mir nur Mut zusprechen,
mich trösten. Sie brachte mich auf mein Zimmer und dann …“
„Seid ihr übereinander hergefallen.“ Zum ersten Mal seit seinem Geständnis blickte sie ihn
mit finsteren Augen an.
Ronald schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich habe sie nicht mehr gehen lassen.“
Als sich die Tür öffnete, setzte sich Ilena abrupt auf. Das Gespräch war sofort vergessen und
Ilenas Konzentration auf etwas anderes gerichtet. Es war eine Krankenschwester in
Begleitung einer jungen Polizistin. Während die Pflegerin auf sie zukam und den Puls fühlte,
blieb die Frau in Uniform am Fußende des Bettes stehen und wartete.
„Gibt es etwas Neues?“ Ilena konnte keine Geduld aufbringen und ignorierte die
Krankenschwester. „Habt ihr sie gefunden?“
Die Polizistin schüttelte den Kopf. „Wir haben eine Spur. Ich muss mit Ihnen nochmals den
genauen Zeitplan durchgehen. Vielleicht fällt Ihnen noch etwas ein. Eine Kleinigkeit, die uns
noch weiterhilft?“
„Wir sind das doch alles schon hundert Mal durchgegangen“, flüsterte Ilena und ihre Hand
griff Halt suchend nach Ronalds. Auch wenn er sie maßlos enttäuscht hatte, so war er
momentan der einzige Mensch, der sie stützen konnte.
„Ich dachte, es wäre klar, dass Arif das Haus nicht verlassen hat?“, mischte sich Ronald ein
und erwiderte Ilenas Händedruck.
„Wir vermuten Alisar in der Kanalisation.“ Die Frau schluckte schwer und presste dann die
Lippen aufeinander. „Es gibt in einem dieser Häuser einen Einstieg in das unterirdische
Tunnelsystem der Stadt. Deshalb ist es wichtig, die Zeitschiene detailgenau zu betrachten,
um herauszufinden, in welchem Radius wir suchen müssen.“
*****
„Steinberger und Gibbs sind schon unterwegs. Sie bringen den Schlüssel mit.“ Nachdem sich
alle sekundenlang angestarrt hatten, durchbrach Felix die Stille. „Sie haben den Schlüssel in
Arifs Hosentasche gefunden.“
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Tony ließ sich auf die Knie sinken und hob die Tür leicht an. „Unser Psychopath hat wohl
vergessen abzuschließen.“ Mit einem leisen quietschenden Geräusch öffnete er diese dann
komplett und blickte in die Dunkelheit. „Das wird kein Vergnügen“, presste er hervor, als ihm
ein Hauch des süßlich modrigen Geruchs in die Nase stieg. „Wer will vorgehen?“
„Niemand“, wies Felix an und grummelte vor sich hin. „Wir haben die klare Anweisung, auf
den Fachmann zu warten. Er wird erst eine Messung vornehmen. Vorher dürfen wir die
Kanalisation nicht betreten. Oder habt ihr Lust da unten drauf zu gehen?“
„Arif hat es auch überlebt“, zischte Ziva. „Ich gehe vor, ich bin nämlich die Einzige, die eine
Taschenlampe hat.“ Sie wollte sich gerade an Tony vorbeidrücken, als dieser sie am Arm
zurückhielt.
„Ich halte es für keine gute Idee, dass du da runter gehst.“ Sein Griff war nicht fest, aber
bestimmt und zog sie vom Einstieg weg. „Wenn die Gase doch gefährlich sind …“
„ … müssen wir schnellstens handeln und Alisar da rausholen.“ Ziva drehte sich zu ihm um.
Doch statt den funkelnden Augen, die sie bei einer solchen Diskussion mit dem Haltitaliener
eigentlich erwartet hätte, überraschte sie Tonys besorgter Blick.
„Ich werde nach unten gehen.“ Seine Hand fuhr langsam über ihren Bauch, verharrte einen
winzigen Moment und zog dann die Taschenlampe aus ihrem Gürtel. „Kann ich mich darauf
verlassen, dass du hier oben bleibst?“ Er sah ihr fragend in die Augen und erst als sie
zögerlich nickte, löste er sich von ihr und trat auf die erste Stufe der Wendeltreppe, die in
die Kanalisation führte.
„Haltet ihr euch eigentlich nie an irgendwelche Regeln?“, knurrte Felix und schüttelte
energisch den Kopf. Das Verhalten der Amerikaner war ihm fremd, aber irgendwie fand er es
auch imposant. Die Agenten hatten ein klares Ziel vor Augen und ließen sich nicht durch
unnötige Floskeln oder bürokratische Plänkeleien ablenken. Handeln statt Reden. So hatte er
sich seinen Polizeialltag immer vorgestellt.
„Ich hoffe doch“, hörte man Gibbs aus einiger Entfernung murren. „Zumindest an meine
Regeln halten sie sich im Großen und Ganzen. Nicht wahr, Tony?“
„Mmh, ja Boss.“ Tony hielt inne und schien in seiner Bewegung zu erstarren. Im Seitenwinkel
sah er, wie Ziva grinste. „Im Großen und …“
„Hin und wieder …“, fiel ihm Ziva ins Wort. „… fällt es Tony eben schwer, sich an alle zu
erinnern.“
„Mein Gedächtnis ist eben zur Zeit nicht das Allerbeste“, meckerte der Beschuldigte und zog
eine Schnute, wie ein kleines bockiges Kind. Zugleich atmete er aber erleichtert durch, da es
Ziva gelungen war, von diesem ‚heißen‘ Thema des Regelbruchs abzulenken. Diese Thematik
stand ihnen noch bevor und auf die Unterredung mit Gibbs freute er sich ganz und gar nicht.
„Aber wenn ich mich recht erinnere, sind wir hier, um Alisar zu retten und nicht um über
Regeln zu debattieren. Können wir also?“
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„Der Fachmann braucht noch ca. eine halbe Stunde“, klagte Hauptkommissar Steinberger,
der in diesem Moment zur Gruppe dazu stieß. „Verdammt, das dauert zu lange. Es regnet
draußen schon in Strömen. Je länger wir warten, umso schwieriger und gefährlicher wird
diese ganze Suchaktion.“
Ein Polizist, der Steinberger dicht auf den Fersen gefolgt war, hielt fünf Taschenlampen in
den Händen. Gibbs griff nach einer. „Lass mich vor“, raunte er dann Tony an und wies seinen
Agenten mit einer Kopfbewegung an, nochmals umzukehren und ihm somit auf der Treppe
den Vortritt zu lassen. „Ich vertreib für dich die Ratten.“
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Auch wenn ihre Augen sich in der Zwischenzeit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte
sie nur schemenhaft ein paar Umrisse der Mauern und der Gitterstäbe. Vielleicht bildete sie
sich das aber auch nur ein. Sie hatte sofort, als Arif sie hier zurückließ, mit der Taschenlampe
die Umgebung abgeleuchtet und versucht, sich alles genau einzuprägen. Das hatte sie in der
Wüste gelernt. Es war wichtig zu wissen, wo alles war, wenn die Sonne unterging. Doch hier
half ihr auch die aufgehende Sonne nicht weiter. Seit ein paar Stunden fiel zwar tatsächlich
ein winziger Hauch Tageslicht durch das kleine Loch in der Decke, für das Alisar kein
bestimmtes Wort kannte. Auch wenn es nicht ausreichte, die Umgebung zu erhellen, es war
zumindest da. Und ermöglichte ihr, ohne Taschenlampe etwas zu erkennen. Und jede
Minute war kostbar, um Batterien sparen, denn wenn ihr ein Fluchtversuch glücken sollte,
bräuchte sie den Lichtstrahl um durch dieses glitschige Labyrinth zurück zu ihrer Mutter zu
finden. Die machte sich ganz sicher schon riesige Sorgen.
Alisar konnte nicht mehr einschätzen, wie lange sie bereits hier unten war. Sie war sich auch
nicht sicher, ob sie inzwischen tatsächlich geschlafen oder eben nur für einen kurzen
Moment eingenickt war. Sie spürte nur, dass sie müde und schwach war. Der pelzige Belag
auf ihrer Zunge schmeckte bitter und sie musste sich hin und wieder zwingen, die eigene
Spucke hinunterzuschlucken. Ihr Hals brannte, das Atmen fühlte sich schwerer an als sonst.
Erschöpft legte sie sich gegen die Mauer und lauschte in die Dunkelheit. Wenn nicht gerade
die Erde bebte, weil eine U-Bahn vorbeirauschte, war es bisher vollkommen ruhig gewesen.
Doch seit wenigen Minuten mischten sich merkwürdige Geräusche in die unheilvolle Stille.
Irgendetwas war anders. Das Mädchen ballte ihre zittrigen Hände zu Fäusten und
konzentrierte sich auf die Geräusche, die sich schnell intensivierten. Es war ein Dröhnen, das
näher zu kommen schien. Es hörte sich an, wie ein kleiner Bach, wie Regentropfen, wie
sprudelndes Wasser, dann wie ein reißender Fluss. Alisar musste an die Isar denken, an
deren Ufer sie vor wenigen Tagen mit ihrer Mutter einen Nachmittag verbracht hatte. Sie
war zwischen den hellen Kieselsteinen umher gehüpft und hatte sogar einmal kurz die Füße
in die leichte Strömung strecken dürfen. Bitterkalt war das Wasser gewesen.
*****
Tony folgte seinem Boss nach unten. Die Wendeltreppe war schmal und knirschte unter dem
schweren Gewicht mehrerer Männer, denn dicht hinter dem Halbitaliener folgte bereits
Felix. Dieser hatte seine Bedenken scheinbar schnell über Bord geworfen und noch nicht mal
ansatzweiße versucht, sie weiterhin zurückzuhalten.
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Je tiefer sie kamen, umso intensiver wurde der süßlich modrige Geruch. Tony hatte sich
immer vorgestellt, dass es in der Kanalisation rein nach Scheiße stank. Doch hier
übertrumpfte die Chemie den Gestank und roch noch ekliger. Er spürte sofort, wie sich ein
Schleier auf seine Lungen legte. Ob es tatsächlich eine gute Idee war, hier unten
rumzuspazieren? Vielleicht wäre doch ein Fachmann angebracht? Doch bereits am Ende der
Treppe, waren seine Überlegungen und der Blitzgedanke umzukehren wieder
verschwunden. Während Gibbs nach rechts abbog, leuchtete er die linke Seite mit der
Taschenlampe aus. Sie waren an der ersten Weggabelung. An der ersten Stelle, an der sie
über Leben und Tod entscheiden mussten. Wenn sie jetzt in die falsche Richtung liefen, wäre
es fatal. Sie würden kostbare Zeit opfern, Alisar zu finden und in Sicherheit zu bringen.
„Schau auf den Plan, den McGee dir geschickt hat“, gab Gibbs die Anweisung und drehte sich
zu seinem Agenten um.
Tony kramte nach seinem Handy, warf einen Blick auf das Display und schüttelte den Kopf.
„Kein Empfang Boss“, gab er kleinlaut von sich. „Ich muss nach oben, die Datei komplett
downloaden, damit ich sie auch im Offlinemodus zur Verfügung habe.“
Felix, Steinberger und Tanja rückten zur Seite um den Bundesagenten vorbei zu lassen.
Stöhnend schritt er die Stufen hinauf und fluchte leise vor sich hin. Oben angekommen ließ
er sich wie ein nasser Sack auf den Boden nieder, seine Füße baumelten noch immer im
Loch. Ein kurzes Husten konnte er nicht unterdrücken.
„Alles ok?“, hörte er hinter sich Zivas beunruhigte Stimme. „Was ist los?“ Sie kniete sich
neben ihn.
„Wir brauchen den Plan von der Kanalisation. Und unten bin ich nicht, wie sagst du immer so
schön, empfängnisbereit.“ Tony grinste sie von der Seite an. Warum er ausgerechnet jetzt an
den Tag denken musste, in dem sie beide in einem Container eingesperrt waren? Er senkte
seinen Blick und stierte auf den Balken, der den Bearbeitungsfortschritt anzeigte.
Ziva beugte sich vor und küsste ihn leicht auf die Wange. Dem anwesenden Polizisten warf
sie dabei einen vielsagenden bösen Blick zu und nahm zufrieden wahr, dass dieser sich sofort
ein Stück zurückzog. „Pass da unten auf dich auf“, flüsterte sie leise.
Tony strich mit seiner freien Hand über ihre Wange. In ihren Augen konnte er lesen, dass sie
sich große Sorgen machte. Er strich mit seinen Lippen zart über ihre und hielt dann inne. „Es
wird alles gut“, hauchte er ihr ins Ohr und zog sie in eine Umarmung. Seine Arme legten sich
um sie, ließen sie an seinen Körper gleiten, während seine Lippen erneut ihren Mund
fanden. Und für einen kurzen Moment genossen sie die Zweisamkeit, bis ein leises Geräusch
bestätigte, dass der Download abgeschlossen war, Tony den Kuss schließlich beendete und
sie sanft von sich schob.
*****
Seit dem Zeitpunkt, als die Polizistin das Krankenzimmer verlassen hatte, herrschte
Schweigen. Während der erneuten Befragung hatte Ronald Ilena die Hand gehalten,
versucht sie mit sanften Berührungen zu beruhigen, doch sobald sich die Tür geschlossen
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hatte und sie wieder alleine waren, entriss sie ihm die Hand und drehte sich von ihm weg.
Sie strafte ihn mit Nichtachtung und auch wenn er wusste, dass er dieses Verhalten mehr als
verdiente, tat es weh. Verdammt weh. Ihr ausgerechnet in der Zeit der Suche nach ihrer
geliebten Tochter keine Stütze zu sein, ganz im Gegenteil, ihr noch mehr Schmerz zuzufügen,
schnürte ihm die Kehle zu.
Ronald hatte die Nachtischlampe angeknipst, weil draußen dunkle Gewitterwolken den
Himmel verdeckten und es plötzlich, am helllichten Tag, stockdunkel zu werden schien. Klare
Blitze durchzuckten den Himmel und Donner durchbohrte in unregelmäßigen Abständen die
Stille.
Was war er nur für ein Mensch? Vor wenigen Wochen war er noch bereit gewesen, seinem
alten Leben den Rücken zu kehren, von vorne anzufangen. Dem flüchtigen Dasein eines
Undercoveragenten zu entfliehen und sich auf eine Frau einzulassen, die sich, wie er, der
Vergangenheit entgegenstellte und für eine gemeinsame Zukunft bereit schien. Er liebte
diese Frau. Mit Haut und Haaren, mit allem, was sein Verstand und sein Herz aufbringen
konnte. Und er hatte sich so in die Tatsache verrannt, endlich glücklich zu sein, endlich
einem wunderschönen harmonischen Leben entgegen zu gehen, dass er die Gefahren nicht
erkannte und bei der erstbesten Gelegenheit scheiterte, sein neugewonnenes Vertrauen in
die Welt zu beweisen.
Er hatte versucht, sich zu ändern, ja, für Ilena und für sich selbst. Und vielleicht war es zu
früh gewesen, auf vollste Aufrichtigkeit zu hoffen. Er hatte früher hinter allem eine
Verschwörung gesehen; eine Eigenschaft, die er sich in seinem unglückseligen Leben
angeeignet hatte und die ihm viele Male das Leben gerettet hatte. Vielleicht durfte er
einfach nicht glücklich sein? Nicht in diesem Leben? Ilena würde ihm sein Vertrauensbruch
nie verzeihen. Das hätte er in seinen Augen auch nicht verdient. Er löschte das Licht, strich
ihr ein letztes Mal über das Haar und schloss leise die Tür hinter sich.
*****
Vorsichtig setzte Gibbs ein Fuß vor den anderen. Der ansonsten glitschige Boden wurde
durch den Regen immer nasser und rutschiger und zum wiederholten Male musste er sich
mit den Händen an den Wänden abfangen, um nicht komplett in der Regenrinne zu landen.
Hinter ihm hörte er in beinahe regelmäßigen Abständen seine Kollegen fluchen. Auch sie
schienen nicht talentierter zu sein als er selbst. Seine Lungen hatten sich mittlerweile an die
feuchte modrige Luft gewöhnt und auch der Gestank war erträglich. Er fragte sich allerdings
die ganze Zeit, wie ein Mensch jemals auf die Idee kam, diesen Ort freiwillig zu betreten.
Zwei Nebengänge hatten sie abgesucht, mit Sprühfarbe die Wände markiert. Doch bisher
war ihre Suche absolut erfolglos verlaufen. Und wieder kamen sie an eine Weggabelung.
„Tony, wo führt der rechte Schacht hin?“, schrie Gibbs nach hinten. Inzwischen war es durch
die Wassermassen, die in Rinnsalen aus allen Rohren flossen, lauter geworden. Der
Chefermittler blieb stehen und leuchtete zur rechten Seite. Doch wie zuvor in den anderen
Gängen, waren nur Backsteinmauern zu erkennen.
„Rechts gibt es nur diesen langen Tunnel, davon gehen einzelne Rohre ab.“ Tony blieb neben
ihm stehen und versuchte sein Gleichgewicht zu halten. Dadurch dass er sowohl
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Taschenlampe, wie auch seinen IPod festhalten musste, war es ihm nicht möglich, sich mit
den Händen irgendwo abzustützen.
„Gib her“, raunte Gibbs und nahm ihm die Taschenlampe ab. „Wie sieht es links aus?“
„Erfolgsversprechender“, schrie Tony gegen die Geräuschkulisse an, als ein Dröhnen das
plätschernde Wasser beinahe verstummen ließ. Er presste kurz die Augen zusammen, um
sich dem bebenden Gefühl in seinem Kopf entgegen zu stemmen. „Es gibt ungefähr in 100
Meter eine weitere Weggabelung und wenn ich es richtig deute, gibt es dort jeweils kleine
Zwischenräume. Keine Ahnung was das genau ist. Der Plan ist ziemlich nichtssagend.“
„Dann sehen wir nach“, befahl Gibbs. Endlich wurde es wieder etwas leiser. Er drehte sich zu
den anderen um. „Um sicher zu gehen, sollten Tanja und Sie die rechte Seite abgehen,
ungefähr 200 Meter, danach kehren sie zu uns zurück.“ Er wartete, bis Felix nickte, bevor er
sich an Steinberger wandte. „Sie bleiben zunächst hier, warten auf die beiden und folgen uns
dann ebenfalls. So bilden wir eine Kette. Nicht dass wir hier noch jemanden verlieren“, fügte
er zynisch hinzu. Er drückte Tony die Taschenlampe in die Hand und stapfte weiter. Nach
wenigen Metern drehte er sich erneut um. „Wo zum Teufel steckt eigentlich Ziva?“
„Sie, ähm … sie ist…“, stammelte Tony und überlegte fieberhaft, was er antworten sollte.
Seinem Boss hier unten mitzuteilen, dass er seine aller heiligste Regel gebrochen hatte, war
sicher nicht gut. Er brauchte eine Ausrede, eine gute, und zwar sofort. „Sie koordiniert das
Eintreffen der Spezialisten, Boss“, schoss es schließlich aus ihm hervor. Zufrieden sah er,
dass Gibbs sich wieder in Bewegung setzte und ihm die Lüge abkaufte. Na ja, vielleicht war
es ja gar keine Lüge. Angewidert, mit einem Hauch schlechten Gewissens, blickte er auf den
Boden. Inzwischen standen sie mit beiden Füßen komplett im Wasser, hin und wieder
bildeten sich auf der Oberfläche leichte Schaumkronen oder die merkwürdigsten Dinge
flossen an ihnen vorbei. Tony versuchte es zu ignorieren, doch eklig fand er es trotzallem.
*****
Ilena erwachte mit einem Ruck, und im ersten Moment verspürte sie die Hoffnung, alles
wäre nur ein Albtraum gewesen. Doch die Realität holte sie schnell wieder ein. Ihr Blick
wanderte durch das Zimmer, auf der Suche nach Antworten. Sie war alleine. Niemand war
bei ihr und ein weiteres Mal fühlte sie einen brennenden Stich in ihrem Herzen. Wie lange
hatte sie geschlafen? Wie weit war die Suche nach Alisar fortgeschritten? Hatten sie sie
inzwischen gefunden?
Sie stand auf, ging barfuß zum Fenster und beobachtete die dicken Regentropfen, die mit
einem leichten Platschen auf die Fensterbank tropften. „Wo bist du?“, flüsterte sie leise und
berührte mit den Fingerspitzen die Glasscheibe. Auch wenn sie wusste, dass sie keine
Antwort erhalten würde, hoffte sie im Stillen auf ein Zeichen. Ihre Knie fühlten sich
ungewöhnlich weich an und eine merkwürdige bleierne Müdigkeit hatte ihren Körper
erfasst. Doch sie musste stark bleiben. Sie durfte nicht zusammenbrechen. Dann hätte er
gewonnen. Arif hatte sie schon zu viele Male zu Boden gestoßen, und immer hatte sie klein
beigegeben, doch jetzt war alles anders. Er war hinter Gitter, sie war nicht mehr alleine und
sie war endlich bereit mit ihrer Vergangenheit abzuschließen.
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Ronald lief durch die menschenleeren Straßen. Inzwischen waren seine Kleider vollkommen
durchnässt, dennoch war er nicht bereit stehenzubleiben. Das Gefühl davonzulaufen, bohrte
sich in seine Gedanken. Er wusste nicht, was er tun sollte. Am liebsten wäre er wieder
abgehauen, wie früher, geflüchtet vor der Auseinandersetzung, aber irgendetwas hielt ihn
heute davon ab. Hielt ihn fest.
Er wischte sich mit dem nassen Ärmel seines Hemdes durch das Gesicht, blickte zu Boden
und fasste innerlich einen Entschluss. Als er wieder aufsah, erkannte er den Ort, an dem er
sich befand. Auch wenn er ziellos durch die Gegend gelaufen war, stand er nun auf der
gegenüberliegenden Straßenseite des Clubs. Er nickte entschlossen und rannte über die
Straße, schob sich an den Polizisten vorbei und betrat den Ort, an dem sie in der Nacht Arif
festnehmen konnten. Für einen Moment stierte er in den hellerleuchteten Raum.
„Die anderen befinden sich im Keller“, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken. Ein
Polizist, den er bereits von der Rettungs- und Suchaktion kannte, trat neben ihn.
Ronald schüttelte sich leicht, um ein paar Regentropfen loszuwerden und zog sein Hemd
zurecht. Es fröstelte ihn leicht, doch das machte ihm nichts weiter aus. Es gab Menschen, die
hatten zurzeit weitaus größere Probleme.
Der Polizist klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter, sein Blick war voller Mitleid.
„Wie geht es der Frau, die wir im Keller gefunden haben?“, fragte er gerade raus.
„Es würde ihr besser gehen, wenn wir endlich ihre Tochter fänden“, knurrte Ronald zurück
und fuhr sich durch die nassen Haare. „In welchem Keller?“, erkundigte er sich daraufhin.
„Kommen Sie, ich bring Sie hin.“ Der etwas korpulentere Mann deutete, ihm zu folgen und
ging schnellen Schrittes voraus. „Das ist ja wirklich unvorstellbar. Ein Kind in der Kanalisation
auszusetzen. Ich mein, wie irre muss der Typ denn sein? Seine eigene Tochter, sein eigen
Fleisch und Blut, hach, mir wird´s ganz übel, wenn ich daran denke.“
*****
„Oh verdammter Mist“, stöhnte Tony auf, als eine Ratte an ihm vorbei schwamm. „Werde
ich diese Viecher denn nie los?“ Er schluckte schwer und versuchte das Bild abzuschütteln.
„Ich vermute du wirst hier keine Enten zu Gesicht bekommen“, gab Gibbs ihm gehässig zur
Antwort. „Rechts oder links?“ Gibbs drehte sich zu ihm um.
„Woher soll ich das wissen?“ Tony hob die Schultern und kniff die Augen zusammen, als der
Lichtstrahl der Taschenlampe sein Gesicht streifte und Gibbs einmal aufblinkte. „Die
Zwischenräume, ja klar. Sie sind auf der rechten Seite, Boss. Rechts, wir müssen rechts
abbiegen.“
„Ich habe es verstanden“ Gibbs stierte ihn an. „Was ist bloß los mit dir?“ Er schüttelte kurz
den Kopf und bog dann rechts ab.
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„Alles in Ordnung“, sagte Tony laut und setzte sich ebenfalls wieder in Bewegung. ‚Du wirst
mich in naher Zukunft vermutlich vierteilen, oder köpfen, ich habe eben erst mein
Gedächtnis wieder erlangt, Ziva hat mit Ronald geschlafen, ich werde Vater und …‘
„Was murmelst du da?“ Erneut drehte sich Gibbs um. „Ich versteh kein Wort bei dem
Getöse.“
„Ratten machen mich eben immer total nervös“, schrie Tony und quetschte sich an seinem
Boss vorbei. Unter keinen Umständen wollte er preisgeben, was soeben hoffentlich leise
genug über seine Lippen gekommen war. „Und wenn ich nervös bin, dann rede ich eben
gerne mit mir selbst. Da geht es weiter“, versuchte er abzulenken und zeigte trotzig in die
Richtung, in die sie ohnehin gehen wollten. „Die Strömung ist hier allerdings auch stärker.
Verdammt.“ Tony spürte, wie Gibbs nach seinem Arm griff.
„Oh Scheiße!“ Gibbs krallte sich an seinem Agenten fest, doch seine Sohlen fanden auf dem
Untergrund keinen Halt mehr. Schließlich gab er den Versuch, doch noch das Gleichgewicht
wiederzuerlangen auf und landete in der dunklen Brühe. „Das wird mir Arif büßen“, schallte
es durch die Münchener Kanalisation.
*****
Ziva, die seit Minuten nach unten in das schwarze, große Loch starrte und immer noch mit
sich haderte, nicht doch noch den anderen zu folgen, sah auf, als Ronald den Flur betrat. Sie
wunderte sich über seine Anwesenheit und schüttelte zur Begrüßung nur kurz den Kopf.
„Was machst du hier?“, fragte sie ihn schließlich und presste die Lippen fest aufeinander.
Sicherlich wollte er wissen, wie weit die Suche war, ob sie Alisar inzwischen gefunden
hatten, doch sie war es leid, ständig diese unbefriedigten und leider auch noch immer
ungewissen Antworten zu geben.
Ronald trat an den Einlass der Kanalisation und schwieg. Seine Hände waren zu Fäusten
geballt und seine ganze Körperhaltung schien verkrampft.
„Warum bist du so nass?“ Zivas Stimme war leiser als zuvor und mit einer Antwort rechnete
sie nicht mehr, nachdem er die vorherige Frage ebenso im Raum stehen ließ. Umso
erstaunter war sie, als Ronald sich zu ihr drehte.
„Es regnet in Strömen da draußen und ich bin vom Krankenhaus hierher gelaufen.“
Insgeheim hoffte er, dass Ziva nicht nach den Gründen fragte, denn er wollte ihr jetzt nicht
erklären müssen, was zwischen Ilena und ihm vorgefallen war, dass er ihr den Fehltritt
gestanden und somit vermutlich sein Leben ein für alle Mal zerstört hatte.
„Hält sie durch?“ Ziva sah ihm nun direkt in die Augen. Das Zögern, das sie darin erkannte,
beunruhigte sie.
„Ja“, und um seine Antwort zu bekräftigen, nickte er noch zusätzlich mit dem Kopf. „Sie
haben ihr zunächst etwas zur Beruhigung gegeben, die Befragungen waren anstrengend und
als ich gegangen bin, hat sie geschlafen. Seit wann sind sie da unten?“ Er deutete in die Tiefe
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und hoffte, Ziva endgültig von Ilena abzulenken. Zum ersten Mal war er dankbar, dass ein
Telefon ein Gespräch unterbrach.
„Ca. 10 Minuten“, nebenbei nahm Ziva den Anruf entgegen. „Ja, McGee. Wie sieht es aus?
Konntest du was finden?“ Sie hörte einen Moment zu und klappte dann wortlos das Handy
wieder zu. Sie atmete tief durch und schloss kurz die Augen, bevor sie weitersprach. „Das
war McGee. Er hat berechnet, wie schnell der Wasserpegel in diesem Bereich der
Kanalisation ansteigt.“
„Und?“ Ronald trat auf die erste Stufe.
„Sehr unterschiedlich. In diesem Abschnitt gibt es Tunnel, die nur das direkte Regenwasser
transportieren, andere sind für die Weiterleitung in ein erstes Auffangbecken zuständig. Dort
kann der Pegel rasant ansteigen, bis hin zur vollständigen Überflutung. Je nachdem wo sich
Alisar aufhält, kann es bereits zu spät sein.“
„Oder aber es geht ihr gut“, schlussfolgerte der Undercoveragent. „Und ich glaube nicht,
dass Arif sich selbst in Gefahr bringen würde.“ Seine Stimme zitterte merklich.
„Ich glaube nicht, dass Arif bei Regen hier unten rumspaziert ist“, konterte Ziva und
wunderte sich selber über ihren harten Ton. Wo waren ihre positive Einstellung und ihr
Kampfgeist geblieben? Doch all ihre sonstigen Gefühle wurden mit einem Schwall purer Wut
überspült.
„Ich werde jedenfalls nicht hier rumstehen und warten. Ich geh runter.“ Ronald zögerte.
„Was ist mit dir?“ Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die Tatsache Ziva oben anzutreffen
eigentlich nicht zur NCIS Agentin passte. In der Regel kämpfte sie an der Front und nichts
und niemand konnte sie davon abhalten.
Ziva gab ein verächtliches Schnauben von sich. Es fiel ihr schon schwer genug, nicht
loszustürmen, unnötige Fragen diesbezüglich zu beantworten, setzte dem ganzen die Krone
auf. „Ich warte auf den Speziallisten. Und du solltest auch warten. Wenn du alleine da unten
rumirrst, wirst du keine große Hilfe sein.“
Ronald hielt inne und überlegte. „Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Hier rumsitzen
und warten?“ Doch noch bevor Ziva darauf reagieren konnte, sprach er weiter. „Ich will nicht
mehr warten. Verdammt, ich will nicht mehr zusehen, wie all das Unheil über mir
zusammenbricht. Ich will Alisar finden, zurück zu ihrer Mutter bringen, ich will Ilena glücklich
sehen. Wenn sie ihre Tochter sieht, verzeiht sie mir vielleicht, dass ich mit dir geschlafen
habe.“
Ziva sah ihm mit offenem Mund entgegen. „Du hast es ihr erzählt? In dieser Situation? Bist
du…“, sie zögerte, „… verrückt geworden?“, beendete sie flüsternd ihren Satz.
„Findest du nicht, es wird Zeit für die Wahrheit? In jeglicher Hinsicht? Egal wie schmerzhaft
sie ist, am Ende kann man sein Leben nicht auf Lügen aufbauen. Irgendwann bricht es ein
und man steht nur noch vor einem Trümmerhaufen. Schau uns doch an, Ziva.“ Ohne ein
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weiteres Wort, stieg er die Treppe hinab. Erst als er unten ankam, sah er nochmals zurück.
„Ich pass schon auf mich auf!“
*****
„Diese Amerikaner sind doch echt merkwürdig.“ Felix stiefelte hinter seiner Partnerin her.
„Ich versteh die nicht. Mal giften sie sich an, mal liegen sie sich in den Armen. Wirst du
schlau aus den Beiden? Und dieser Gibbs, also wenn das mein Chef wäre, dann …“ Intensiv
suchte er nach den richtigen Worten. „Ich glaube, er würde mich verrückt machen.“
Vorne hörte er Tanja auflachen. Sicherlich machte sie sich gerade wieder lustig über ihn. Und
er wartete nur auf das Kommentar, er wäre doch bereits verrückt, doch die Worte blieben
unausgesprochen. Schulterzuckend folgte er ihr weiter. „Und dieser Donald, oder Ronald,
wie auch immer, also der ist ja noch komischer.“
Abrupt blieb Tanja stehen und Felix wäre beinahe gegen sie gerannt. „Man“, stöhnte er,
„pass doch auf. Warum bleibst du einfach stehen?“, meckerte Felix weiter.
„Weil hier ein Mauer ist, du Depp.“ Tanja drehte sich um und sah in mit zu Schlitzen
verengten Augen an. „Ich frag mich ehrlich, wer hier merkwürdig ist.“ Kopfschüttelnd stieß
sie ihn vor. „Los, gehen wir zurück. Dieser Tunnel war eine Sackgasse.“
Tanja ließ ihrem Partner, der ihr Nervenkostüm mal wieder unnötig belastete, einen kleinen
Vorsprung und leuchtete in der Zwischenzeit den Boden des Tunnels ab. Der Pegel war
bereits um mindestens 10 Zentimeter angestiegen. Wenn sie das Mädchen nicht bald
fanden, käme es wahrscheinlich zur Katastrophe. Wütend schnaubte sie auf. Und ihr Kollege
hatte gerade nichts Besseres zu tun, als sich über die NCIS Agenten lustig zu machen? Sie
wollte unter keinen Umständen in deren Haut stecken. Es war schlimm genug, ein Kind in
der Kanalisation zu suchen, aber persönlich betroffen zu sein, steigerte das Drama leider ins
Unermessliche. Auch wenn sie wusste, dass Felix mit seinem Redeschwall nur versuchte,
seine eigenen Gefühle im Zaum zu halten, ärgerte sie sich über sein Verhalten maßlos. Und
doch beneidete sie ihn gleichzeitig auch, denn sie selber kämpfte seit Minuten gegen die
Tränen an, die sich unweigerlich nach außen drängten. Zum Glück war es dunkel und so
konnte sie ihre eigene Angst versteckt halten. Innerlich zog sie ihr Resümee. Drei Leichen,
die mitten in der Stadt entsorgt wurden, eine tote Erzieherin, die in der Ausübung ihrer
Pflicht ihr Leben geben musste. Eine, wie sie inzwischen wussten, mehrfach vergewaltige,
verletzte und psychisch instabile Mutter, die um das Leben ihres Kindes bangte. Ein nettes
Mädchen, das nach anfänglichen Schwierigkeiten Vertrauen gefasst hatte und einfach nur
herzensgut war, verloren in einem dunklen, stinkenden Tunnelsystem einer Stadt, die bis
dato in ihren Augen friedlich und freundlich erschien. Doch aus der Weltstadt mit Herz
wurde mit einem Schlag eine Großstadt mit Schmerz. Und auch wenn das Drama bereits
fortgeschritten war, hoffte Tanja, wie so viele, auf ein Happy End.
*****
Ilena hatte gespürt, wie die letzten Kraftreserven aus ihrem Körper flossen und ihre Beine
nachgaben. Alles um sie herum war plötzlich schwarz gewesen. Nur ein dumpfes Grollen
hatte sie tief in sich gehört. Nun lag sie auf dem Rücken, versuchte das Zittern ihres Körpers
zu unterdrücken und ihre schweren Augenlider ein kleines Stück weit zu öffnen. Doch das
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gleißende Licht schickte stechende Schmerzimpulse durch ihren Körper und vor ihren Augen
flimmerte es, ein graublauer Nebelschleier brach sich mit weißem blendendem Licht. Sie
spürte, dass jemand bei ihr war, ihren Arm anhob, ihre Wange tätschelte, aber sie konnte
nicht erkennen, wer es war. Und genau das machte ihr Angst. Wie kleine Nebelfetzen flogen
Erinnerungen an ihr vorbei. Der Keller, in dem sie die letzten Tage gefangen gehalten wurde,
die Leiche der Frau, die vor ihren Augen ermordet wurde, der Geruch von Blut. Und ihre
momentanen Empfindungen, die verzerrte Sicht, der pulsierende Schmerz im Kopf, alles
passte zu dem Gefühl, das sie an dem Abend empfand, als der Unbekannte sie im
Hotelzimmer überwältigt und danach zu Arif gebracht hatte. Es fing von vorne an. Plötzlich
war alles wieder lebendig.
Ihr eigener Schrei vertrieb die Bilder, presste sich gegen ihre Schädeldecke. Sie zwang sich
zurück in die Realität, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, doch die schrecklichen
Bilder hatten sich unweigerlich in ihren Kopf gebrannt. Lohnte es sich überhaupt zu
kämpfen? Was erwartete sie da draußen in der grausamen Welt? Wenn sie ihre Tochter
verlor, wollte auch sie sterben. Das Leben wäre ohne sie ohnehin nicht mehr lebenswert.
Alisar war seit dem Tag der Geburt ihr immer wiederkehrender Rettungsanker gewesen, ihr
Sinn des Lebens. Und auch wenn sie für Ronald tiefe Gefühle empfand, so könnte er die
Lücke in ihrem Herzen niemals schließen. Wie oft hatte sie den Drang verspürt wegzulaufen,
oder aufzugeben. Einen Schlussstrich zu ziehen. Doch wenn ihr kleines Mädchen sie mit
ihren großen braunen Augen ansah, so wusste sie immer, was das Leben lebenswert machte.
Und sie kämpfte weiter.
Ilena spürte eine Wärme, die sich langsam in ihrem Körper ausbreitete und die Kälte, die sie
zuvor erbeben ließ, zog sich immer weiter in ihr zurück. Hände schoben sich unter ihren
Rücken, hoben sie hoch und legten sie zurück in die weichen Kissen des Krankenbettes. Noch
immer sah sie das weiße, blitzende Licht, bis die Müdigkeit sie schließlich übermannte.
*****
Unweigerlich folgte die Taschenlampe seinem Blick und leuchtete Gibbs in die Augen. Tony
unterdrückte den quälenden Reiz, laut los zu lachen. Denn er wusste, sollte ihm jetzt auch
nur ansatzweise die Gesichtszüge entgleisen, erhielte er mehr als nur simple harmlose
Kopfnüsse. Gibbs wäre sicher bereit dafür zu töten, jedenfalls versprach das sein zu einer
Grimasse verzogenes Antlitz. Stattdessen biss sich der Halbitaliener schmerzhaft auf die
Zunge und hätte dabei beinahe die Taschenlampe fallen lassen. Doch nach der ersten
Schrecksekunde streckte er artig die Hand aus und bot seinem Boss Hilfe an.
„Ich kann selber aufstehen“, knurrte Gibbs und versuchte ungelenk wieder auf die Beine zu
kommen. Durch die Feuchtigkeit und die überfluteten Gänge war es immer rutschiger
geworden. „Wehe, irgendjemand erfährt davon.“ Sein Blick durchbohrte seinen Senior
Fieldagent.
„Ähm“, Tony räusperte sich. „Ich denke, jeder hat deinen Schrei gehört. Ich muss da gar …“
Eine erste Kopfnuss traf ihn, gefolgt von Gibbs bärigen Gegrummel, das vermutlich jeden
Menschen auf der Stelle zum Schweigen gebracht hätte. Doch Anthony DiNozzo war eben
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ein DiNozzo; die Charaktereigenschaft, an wichtigen Stellen einfach mal den Mund zu halten,
war ihm nicht vergönnt.
„Die anderen werden deine nassen Klamotten …“ Gekonnt versuchte er auszuweichen, was
ihm aber nur teilweise gelang. Stattdessen kam er selber ins Schlittern und konnte sich nur
in letzter Sekunde retten, indem er sich am Rand abstützte.
„Schluss jetzt.“ Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, marschierte Gibbs in nassen
Klamotten an ihm vorbei. „Lass uns die Seitenwände ableuchten, da, wo angeblich diese
Kammern sein sollen.“
Tony folgte ihm mit kurzem Abstand. Für einen winzigen Moment hatte er das Unheil zur
Seite schieben können. Es hatte gut getan, an etwas anderes zu denken und zumindest
innerlich kurz zu lachen, doch jetzt war alles wieder da. Und das beklemmende Gefühl
kehrte zurück. Seine Gedanken kreisten um die Ereignisse und immer wieder blieb er bei der
Frage hängen, wie man sich wohl fühlte, wenn man sein Kind vermisste, wenn man wusste,
dass es in höchster Gefahr ist, vielleicht sogar um sein Leben kämpfte. Wie fühlte eine
Mutter, oder ein Vater? War er selber bereit, eine solch enorme Verantwortung zu
übernehmen? Seufzend sah er auf.
Gibbs war wenige Meter vor ihm stehen geblieben und leuchtete in ein Rohr. Erst als Tony
näher kam, erkannte er die seitliche Abzweigung. Der runde Eingang war mit verrosteten
Gitterstäben verschlossen und mit einem Schieber verriegelt. Der Raum war winzig, doch
sicher groß genug, um ein Kind darin einzusperren. Gibbs Finger verhakten sich in die Stäbe
und er versuchte daran zu ziehen. Doch die Konstruktion war stabil. Wer nicht an den
äußeren Riegel kam, um diesen zu öffnen, hatte keine Chance die Abdeckung zu öffnen.
Wortlos starrte Tony in das Verlies. Bis zu diesem Moment hatte er tief in sich die winzige
Hoffnung verspürt, Alisar irgendwo am Ende eines Tunnels anzutreffen, vielleicht auf einer,
mit Kerzen beleuchtenden kleinen Erhebung sitzend, zwar verängstigt, weil sie eben noch
ein Kind war, aber dennoch gefasst. Doch die Gewissheit, dass das Kind hier unten auf die
übelste Weise gefangen war, traf ihn wie ein Blitz. Und Übelkeit stieg in ihm hoch.
„Lass uns weiter, Tony“, vernahm er die Stimme seines Bosses. Sie klang anders, beinahe
betroffen und sanft. „Es gibt in diesem Tunnelabschnitt noch mehr von diesen Kammern.“
Tony nickte stumm und wollte tief durchatmen, doch die Luft blieb im Hals stecken und er
musste husten. „Hoffentlich finden wir sie bald“, brachte er stoßend hervor und blickte ein
letztes Mal in das leere Verlies. „Bitte“, flüsterte er.
*****
Ronald stapfte durch den Tunnel. Da er durch den Regen draußen eh schon vollkommen
durchnässt war, machte ihm das Wasser an den Beinen nichts mehr aus. Er hatte kein Ziel,
kein Plan, er hoffte einfach auf das Glück, in die richtige Richtung zu laufen. Doch an der
ersten Weggabelung hielt er inne. Was machte er eigentlich hier? Was brachte es Alisar,
wenn er in der Unterwelt herumirrte? Ok, er war ein Einzelkämpfer, schon immer gewesen,
deshalb hatte er auch den Undercover-Job bevorzugt. Stets auf sich allein gestellt, ohne oder
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nur mit geringer Rückendeckung. So war er es gewohnt, doch gewonnen hatte er dadurch
nichts. Nie. Vielleicht sollte er sich dieses eine Mal anpassen und im Team mitarbeiten?
Vermutlich war das der bessere Weg. Er leuchtete die Wände ab, doch nirgends war eine
Markierung zu sehen. War er bereits an der Wendeltreppe in die falsche Richtung gelaufen?
Schnaubend drehte er um. Es war keine gute Idee gewesen, einfach so loszulaufen. Jetzt
musste er erst zurück zum Einstieg und sich neu orientieren.
„Ja sann sie denn alle mitternand verrückt gworden?“, bellte ihm eine Stimme entgegen, die
Worte ergaben für Ronald keinen Sinn. Zudem blendete ihn das helle Licht der Lampe, die
der Fremde an seinem Helm befestigt hatte. Kopfschüttelnd hielt die Gestalt ihm einen
Mundschutz entgegen.
„Es iss der Wahnsinn, ohne a gscheite Messung hier unten rumzukraxeln. Seids ihr denn
lebensmüd?“ Unentwegt schimpfte er weiter vor sich hin, während er seine Gerätschaften
bediente.
Dicht hinter dem Experten stand der Polizist, der Ronald zuvor in den Keller geführt hatte.
Auch er war mit einem Helm und Mundschutz ausgestattet und versuchte anfangs ins
Englische zu übersetzen. Doch irgendwann gab er es auf und winkte nur noch ab. In der
Zwischenzeit drängten immer mehr Männer die Treppe nach unten, mit großen Rucksäcken
bepackt und allerlei Utensilien ausgestattet.
„Die Werte sann guad. Ihr könnts losmarschieren“, quäkte die Stimme und die Horde
Männer setzte sich in Bewegung. Als Ronald der Truppe folgen wollte, spürte er einen festen
Griff um seinen Unterarm. „Na, sie net. Des überlassen wir jetzt mal den Profis. Sie warten
fei oben.“ Der Mann deutete auf die Treppe. „Es sann schon gnuag fremde Leit unterwegs.“
*****
Zögernd folgte Tony seinem Boss. Er konnte nicht leugnen, dass seine Knie inzwischen aus
sowohl körperlichen wie auch beängstigten Gründen zitterten. Er versuchte sich innerlich auf
die grausamen Bilder vorzubereiten. Arif war ein Sadist und wenn er bedachte, wie er die
Frauen zugerichtet und Ilena im Keller festgehalten hatte, traute er ihm alles zu. Und zudem
ging es hier um ein Kind.
Jedes Mal wenn Gibbs stehen blieb und eine weitere Kammer ausleuchtete, hielt Tony
panisch die Luft an. Und erst wenn der Grauhaarige den Kopf schüttelte, konnte er die Luft
wieder aus seinen Lungen weichen lassen. Viermal hatten sie dieses Prozedere jetzt hinter
sich gebracht, waren immer wieder erleichtert gewesen, die Kammer leer vorzufinden, auch
wenn sie wussten, dass es die Zeit der Suche nur unnötig verlängerte.
„Tony, wie viele Kammern gibt es hier unten noch?“ Gibbs stützte sich Halt suchend mit
einer Hand an der Mauer ab. Seinen anderen Arm ließ er nach unten sinken, die
Taschenlampe beleuchtet das vorbeifließende Regenwasser und seine nasse Hose, mit den
Füßen stand er inzwischen fast knietief im Wasser. Gegen die Strömung zu laufen war
anstrengend und sie kamen immer langsamer voran.
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Tony fuhr über das Display um die Tastensperre aufzuheben. „Laut McGees Plan sind es in
diesem Gang acht Kammern. Fehlen also noch drei.“ Er hob seine Lampe und leuchtete an
den Wänden entlang.
*****
Alisar fuhr erschrocken zusammen. Irgendetwas hatte sie aus ihrem Dämmerzustand
gerissen und doch konnte sie nicht mehr sagen, was genau es gewesen war. Vielleicht fing
sie jetzt schon an zu fantasieren. Oder sah sie Gespenster? Gab es Gespenster hier unten?
Wieder huschte ein Lichtstrahl an der gegenüberliegenden Wand entlang. Wieder erhellte er
für einen winzigen Moment die Kammer. Kam Arif zurück? Holte er sie hier raus? Ihr Herz
raste. Was hatte er als nächstes mit ihr vor? Wollte er ihr weh tun, so wie er ihrer Mama
Schmerzen zugefügt hatte? Auch wenn diese versucht hatte, vor ihrer Tochter tapfer zu sein,
wusste Alisar, wie schwer sie in Wirklichkeit verletzt war. Ihre Tränen hatte sie nicht vor ihr
verstecken können.
Vielleicht kam aber auch Hilfe? Mit zitternden Händen griff sie die Taschenlampe, die sie
inzwischen neben sich gelegt hatte und suchte den Schalter. Wenn jemand sie suchte, dann
musste sie ihm ein Zeichen geben. Jetzt. Sie richtete die Taschenlampe aus und schaltete sie
kurz an, dann wieder aus, und wieder an. Aus, an … eins, zwei, drei, vier – zählen half ihr
ruhig zu bleiben. Denn lieber hätte sie schreiend am Gitter gerüttelt und damit ihre letzten
Kraftreserven verschwendet. Sie musste ruhig bleiben und warten.
*****
„Gibbs, was war das?“ Tony hielt in seiner Bewegung inne. „Da vorne war Licht. Los, schalte
deine Lampe aus.“
Im Dunkeln blickten beide durch den Tunnel. Und da war es wieder. Ein Lichtstrahl, ein
Blinken, jemand gab ihnen ein klares Zeichen. Der Lichtkegel war noch weit entfernt. Nach
dem Kanalisationsplan musste es die letzte Kammer in diesem Tunnelabschnitt sein.
Gibbs atmete erleichtert aus. Alisar lebte, sie war in der Lage, sich bemerkbar zu machen. Ein
leichtes Kribbeln lief ihm über den Nacken und dann kalt den Rücken hinunter. Die Suche
hatte sich letztlich gelohnt. Egal was passierte, und egal was diesem Kind erneut Grausames
widerfahren war, es war am Leben und hatte von nun an die Chance, ein glücklicheres
Dasein zu führen.
Tony quetschte sich an Gibbs vorbei. „Worauf wartest du?“, grummelte er leise vor sich hin
und kämpfte gegen die Fluten an. Das Gefühl auf der Stelle zu gehen, übermannte ihn. Durch
das immer schneller fließende Wasser war das Weiterkommen erschwert. Doch er wollte
keine einzige Sekunde vergeuden, um zu dem Kind zu gelangen. Er würde es aus dem Loch
ziehen, an die Oberfläche tragen und in die Arme der Mutter legen.
Er kämpfte sich an zwei weiteren Kammern vorbei, inzwischen vollkommen atemlos.
Zweimal haderte er mit seinem Gleichgewicht, weil er am Boden keinen sicheren Halt fand.
Er gewann den schier ausweglos glitschigen Kampf gegen den Schlamm und strebte immer
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weiter. Er war nicht zu stoppen, nicht so kurz vor dem Ziel. Erst eine weitere Welle
Abwasser, die den Pegel mit einem Schlag um fast fünfzehn bis zwanzig Zentimeter
ansteigen ließ, übertrumpfte ihn. Seine Beine wollten ihm endgültig nicht mehr gehorchen
und der Druck drängte ihn ab. Er prallte mit dem Rücken gegen seinen Boss, der sich ihm
entgegen stemmte.
„Scheiße!“, stöhnte Gibbs auf, dem es gerade so gelungen war, nicht ebenfalls den Halt zu
verlieren. „Wo kommt das Wasser denn her?“
Tony ließ die Frage unbeantwortet und rappelte sich wieder auf. Sie waren nur noch wenige
Meter von der Kammer entfernt, aus der die Lichtsignale kamen. Ein, aus, ein, aus –
unermüdlich betätigte das Kind den Schalter.
Der Halbitaliener leuchtete auf das Gitter. Die Eisenstäbe sahen aus wie die bei den
vorherigen Kammern. Sie mussten also nur den Riegel öffnen und die Abdeckung lösen. Als
Tony das Vorhängeschloss erkannte, setzte sein Herzschlag für einen Moment aus.
*****
Das dumpfe Licht der Taschenlampe warf gruselige Schatten an die seitlichen Mauern und in
Kombination mit dem tosenden Wasser glich die Atmosphäre inzwischen einer tragischen
Endszene eines gutgemachten Horrorstreifens. Gibbs bemerkte in diesem Moment, dass
man ihnen die Rettung ein weiteres Mal nicht leicht machen würde. Fluchend stapfte er die
letzten Meter durch das Wasser und ließ Tony unbemerkt hinter sich.
Der Chefermittler versuchte ein erstes Mal, ihren Namen zu rufen. Doch durch den
ansteigenden Wasserpegel hatte es weiter an Lautstärke zugenommen. Selbst DiNozzo, der
direkt neben ihm stand, musste er anbrüllen, damit dieser etwas verstehen konnte. Es war
also sinnlos hier unten rumzuschreien. Mit diesem Wissen blieb ihm der Name im Kehlkopf
stecken, brannte und löste dann einen unwillkommenen Hustenreiz aus. Gibbs verharrte
einen Moment, um seine letzten Kraftreserven zu mobilisieren. Er streckte seinen freien Arm
aus. Es fehlten nur noch wenige Zentimeter bis zu den verrosteten Gitterstäben. Wenn er
dort Halt fände, könnte er sich heranziehen.
Tony sah die kleinen Finger des Kindes, die sich um die Eisenstäbe klammerten. Ein
zusätzlicher Energieschub schoss durch seinen Körper. Doch er fühlte, wie die Erschöpfung
durch seine Beine langsam nach oben floss und es ihm bald nicht mehr gelingen wollte,
weiter gegen die Strömung anzukämpfen. Unermüdlich riss das Wasser an ihm. Unermüdlich
blinkte das Licht. Ein, aus, ein.
Gibbs streckte sich ein letztes Mal und ließ seinen Oberkörper leicht nach vorne fallen. Seine
Finger fanden Halt. Endlich. Er zog sich an das Loch heran und noch bevor er Alisar sehen
konnte, spürte er eine vorsichtige Berührung an seinem Handrücken. Ein kleiner scheuer
Körperkontakt, so als wolle das Kind feststellen, dass die Hand, die es da sah, tatsächlich
vorhanden war.
Ein, aus, ein. Das Licht blieb an. Tony beobachtete wie sein Boss sich breitbeinig versuchte
sich vor der Kammer zu positionieren, ihm deutete, endlich näher zu kommen und letztlich
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dann noch seine Hand ausstreckte, um ihm beim Vorankommen zu helfen. Stöhnend zog der
Grauhaarige ihn vorwärts, bevor er sich ganz dem Mädchen widmen konnte.
Ihre Blicke trafen sich. Gibbs sah in die braunen Augen des Kindes. Blut unterlaufen, müde
und am Ende aller Kräfte. Ein winziges Lächeln huschte durch Alisars Gesicht, bevor ihr
zierlicher Körper von einem bebenden Weinkrampf erschüttert wurde. Noch immer krallten
sich die Finger um den verrosteten Eisenstab, sie ließ nicht los.
„Wir holen dich da raus, Alisar“, schrie Tony in die Kammer. „Hörst du? Gleich hast du es
geschafft.“ Doch das Kind war nicht in der Lage zu antworten. Ihr Körper zitterte.
Die beiden Männer nickten sich zu und brachten sich in Stellung, zogen am Gitter und
merkten sofort, dass dies ein schier auswegloses Unterfangen war. Der Riegel, der mit einem
dicken Vorhängeschloss zusätzlich gesichert war, hinderte sie daran, das dunkle Gefängnis zu
öffnen.
*****
Ronald kehrte murrend zurück an die Oberfläche. Er war wütend. Diesem aufgeblasenen
Kanalarbeiter war es tatsächlich gelungen, ihn aufzuhalten. Der Mann in Orange hatte sich
ihm in den Weg gestellt und ihm schlichtweg verboten, auch nur einen weiteren Schritt
durch die Tunnel zu wagen. Er würde nur unnötig die Suchaktion behindern, wenn sie jetzt
noch auf durchgeknallte Agenten aufpassen müssten. So, oder so ähnlich hatte der Polizist
ihm das Gerede übersetzt. Aber es ging hier um Alisar. Es ging nicht um irgendein Kind. Und
das Gefühl nichts tun zu können, raubte ihm schier den Verstand. Seine Wut staute sich in
seiner Magengegend und als er die endlos wirkende Wendeltreppe hinter sich gebracht
hatte, schlug er mit der Faust in einer gewaltigen Explosion gegen die Bretterwand eines
abgetrennten Kellerabteils. Der Schmerz, der daraufhin durch seinen Körper floss, war im
ersten Moment wie eine Erlösung.
Ziva beobachtete ihn still. Ihr fiel es schon schwer genug, sich selber zurückzuhalten und
nicht loszustürmen. Sie konnte sich denken, dass alles in Ronald in purer Rage war.
Bruchstücke des unten geführten Gesprächs hatte sie mitbekommen. Ihn bei der Suche nach
Alisar zu hindern, war einer Folter gleichzusetzen. Sie rutschte von dem Eingang weg und
lehnte sich gegen die kühle Betonwand. Ihrer kontinuierlichen Übelkeit waren deftige
Kopfschmerzen gefolgt. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie wischte sich mit dem
Handrücken durch das Gesicht und ballte danach ihre Hände zu Fäusten. Gerne hätte sie
etwas Aufmunterndes gesagt, ihrem Gegenüber durch eine Geste oder ein Lächeln beruhigt.
Doch ihr wollten beim besten Willen keine passenden Worte einfallen. Alles klang zu lapidar
und abgedroschen. In dem Moment als Ronald sich zu ihr umdrehte, senkte sie den Blick.
„Was ist das für ein Gottverdammtes Leben?“ Ronalds Augen waren ebenso ausdruckslos.
Erschöpft und traurig ließ er sich an der Holzfassade herabgleiten. Er war todmüde und
gleichzeitig aufgeputscht von reinem Adrenalin.
Ziva sah zu ihm auf. Sie schüttelte langsam den Kopf und schloss die Augen. Ja, was war das
für ein Leben? Tage und Nächte, in denen man die Gefahr witterte, die jederzeit akut
werden konnte? Stunden des Bangens und Sekunden des Schreckens, die sich den wenigen
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schönen Momenten entgegenstellten. Wie viele Minuten ihres Lebens war sie wirklich
richtig glücklich gewesen? Und waren die glücklichen Zeiten ein Segen oder verstärkten sie
das spätere Leid umso mehr?
Sie dachte an die Nacht mit Tony, erinnerte sich an das Gefühl des Angekommen seins und
doch verband sie es sofort mit dem darauf folgenden Schmerz. Die einsetzende Einsamkeit,
das Hoffen und Bangen, der Kummer und schließlich die Angst, für immer unglücklich zu
sein.
*****
Kriminalhauptkommissar Steinberger hatte an der verabredeten Stelle auf sein Ermittlerduo
gewartet und folgte den beiden Jüngeren nun durch den Tunnel. Auch hier war der
Wasserpegel in den letzten Minuten um ein paar Zentimeter angestiegen, knöcheltief
wateten sie durch die glitschige Brühe. Unentwegt spielte er dabei mit dem Schlüssel in der
Hosentasche. Warum, wusste er auch nicht. Vielleicht zehrte diese Suchaktion so sehr an
seinen Nerven, und fand mit diesem nervösen Spiel ein Ventil.
Felix und Tanja legten ein gutes Tempo vor und der ältere Mann musste zugeben, dass es
ihm schwer fiel, hinterher zu kommen. Immer wieder blieben die anderen stehen und
warteten, bis er wieder Anschluss fand. Je näher sie dem Tunnelabschnitt kamen, umso
lauter hörten sie das Brausen. Erst jetzt bemerkten sie, dass sie stetig bergab liefen. Immer
mit der Strömung vorwärts.
An der nächsten Tunnelabzweigung bekam Steinberger erneut große Zweifel. Wenn Gibbs
und Tony diesen Weg genommen hatten, wie zuvor besprochen, steckten die beiden NCIS
Agents ganz schön in der Patsche. Das vermeintliche Rinnsal hatte sich zwischenzeitlich zu
einer enormen Strömung ausgewachsen und der normale Menschenverstand untersagte
den deutschen Kommissaren auch nur einen Schritt weiterzugehen. Der Wille war zwar da,
aber sie kämen keine fünf Meter mehr.
„Oh verdammte Scheiße“, entfuhr es Felix, der an vorderster Front stand und bereits beim
Rückstau des Wassers ins Straucheln geriet. Und unwillkürlich suchte er den Blickkontakt zu
seiner Kollegin. Der panische Ausdruck in seinen Augen blieb in der Dunkelheit allerdings
verborgen. Er hasste es, in seinem Tatendrang gestoppt zu werden. Und hier wurde er schon
wieder gezwungen, inne zu halten.
„Sind die da wirklich rein gegangen?“, fragte Tanja ungläubig. Sie musste schreien, um
überhaupt verstanden zu werden.
„Da sie nicht mehr da sind und uns auch nicht entgegen gekommen sind, vermute ich doch
glatt: Ja, die sind da rein gegangen.“ Seine Antwort klang gereizt, doch Tanja sah
geflissentlich darüber hinweg. Schließlich waren sie alle angespannt. Die Suchaktion zehrte
nicht nur an den Nerven, sie entzog einem einfach alles, was man bisher für wichtig
empfunden hatte. Und jetzt entpuppte sich diese schrecklich anmutende Suchaktion als
aussichtslose Rettungsaktion. Denn wenn sie die vorbeifließenden Wassermassen sah,
wusste sie, ein gutes Ende konnte das alles nicht mehr nehmen.
*****
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In den letzten drei Minuten hatte Tony eine Menge Wasser geschluckt, dennoch brannte
seine Kehle und das trockene, kratzende Gefühl wollte nicht weichen. Ein Würgereiz
erschwerte ihm zudem das Atmen, während er sich erneut nach oben stemmte und dabei
versuchte nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
„Boss“, stöhnte er und drückte mit aller Kraft seine Knie durch. „Wie lange brauchst du
noch?“
Gibbs konnte nicht antworten. Um die Hände frei zu haben und trotzdem etwas sehen zu
können, hatte er sich kurzerhand die Taschenlampe zwischen die Zähne geschoben. Was er
inzwischen bitter bereute, denn der Griff schmeckte genauso, wie die Luft der Kanalisation
roch. Den übelerregenden Gedanken zur Seite schiebend, versuchte er auf den Schultern
seines besten Fieldagent sitzend, das gusseiserne Schloss zu knacken. Auch in Deutschland
hielt er sich strikt an seine Regeln, und er ging auch hier nicht ohne sein Messer aus dem
Haus. Aber besonders effektiv war die Klinge nicht, immer wieder rutschte er ab. Fluchend
startete er einen neuen Versuch die Schrauben der Verriegelung zu lösen. Doch die
Feuchtigkeit hier unten hatte treue Dienste geleistet und der Rost hatte sich unendlich tief in
die Furchen eingefressen.
Tonys Finger umklammerten die Gitterstäbe und er presste seinen Körper eng an die Wand
um dem vorbeirauschenden Wasser keinen Widerstand zu leisten. Sein Blick ruhte auf dem
Mädchen, das sich inzwischen ein wenig beruhigt hatte und ihm mit leeren Augen
entgegenblickte. Lange würde das Kind nicht mehr durchhalten.
„Hey“, presste Tony hervor. „Alisar, wir haben deine Mami schon gefunden. Es geht ihr gut.“
Ein wenig Aufheiterung sollte nicht schaden.
Das Mädchen nickte gefühllos. Noch nicht einmal ein Lächeln zierte das kleine Kindergesicht.
„Und Teddy wartet auch auf dich!“, startete Tony einen weiteren Versuch. Doch er hätte
genauso gut mit einer leblosen Schaufensterpuppe reden können. Jegliche Reaktion blieb
aus. Nicht gerade verwunderlich, dachte sich der NCIS Agent. Wenn man bedachte, was das
Kind in seinem bisherigen Leben durchgemacht hatte. Und noch dazu musste sie dieses Leid
wegen ihres Vaters ertragen. Wie konnte ein Vater so etwas tun? Seinem eigenem Fleisch
und Blut ein solches Leid zufügen?
Er würde ein besserer Vater werden, viel besser. Ach was, der beste Vater auf der ganzen
Welt. Seine Tochter würde er auf Händen tragen, eine kleine, vermutlich ziemlich verzogene
Königin würde heranwachsen und nicht eine einzige Träne sollte über das Gesicht seines
Kindes rinnen. Kein Schmerz, keine Traurigkeit. Nur friedvolles Lächeln. Glück und
Zufriedenheit.
Eine weitere Welle zerrte an Tonys Körper und er presste fest die Zähne aufeinander. Seine
Finger schmerzten inzwischen mehr als die Last auf seinen Schultern. Gibbs machte sich
nicht gerade leicht und immer wieder stieß sein Boss mit den Versen in seine
angeschlagenen Rippen. Doch weiterhin versuchte er tapfer Alisar entgegenzulächeln.
*****
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Felix starrte in die Fluten und ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten wäre er losgerannt,
doch die Logik hatte letztlich über ihn gesiegt; gegen die Wassermassen war er machtlos. Es
hatte keinen Sinn noch mehr Leben unnötig in Gefahr zu bringen. Gerade als er auf dem
Absatz umkehren wollte, sah er die hellen Lichter am Ende des Tunnels. Hilfe nahte.
Erleichtert wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn.
„Das müssen die Fachleute sein“, rief Steinberger seinen Leuten zu. „Wird aber auch höchste
Zeit“, fügte er wesentlich leiser und für die anderen vermutlich nicht gut hörbar hinzu. So
langsam fing er an, an dem positiven Ausgang der Rettungsaktion tatsächlich zu zweifeln.
Tanja dagegen marschierte sofort los. Je schneller sie den Arbeitern der Kanalisation den
neuesten Stand mitteilen konnten, umso schneller könnten diese weitere Schritte einleiten.
Felix und Steinberger blieben zunächst verwirrt zurück, folgten ihr dann aber nur wenige
Augenblicke später.
„Wir haben ein Problem“, rief die Kommissarin den Männern entgegen, sobald sie dachte,
sie wäre in Hörweite. Das Wasser quatschte bei jedem Schritt in ihren Schuhen, was ihr jetzt
noch mehr auffiel, weil sie in den Tunnelabschnitt zurückkam, in dem das Wasser noch nicht
weiter angestiegen war.
„Ach ne“, kam es vom vordersten Mann. „Wie kommens denn da drauf?“
Tanja spürte den ironischen Blick des Mannes, der anfing sie von oben bis unten zu mustern.
Am liebsten hätte sie ihm eine schlagfertige Antwort gegeben, aber hinsichtlich ihres
Zeitproblems schluckte sie die bitteren Worte herunter. „Unsere Kollegen befinden sich im
angrenzenden Tunnelabschnitt.“ Sie deutete in die Richtung aus der sie zuvor gekommen
war. „Der Wasserpegel ist dort inzwischen stark angestiegen.“ Sie spürte wie die pure Wut in
ihr aufkochte, der Typ lächelte ihr tatsächlich entgegen. Es gab aber keinen Grund auch nur
ansatzweise die Mundwinkel nach oben zu ziehen.
„Des is koa Wunder. Abschnitt F, Rohr zwei, des ist eine Hauptabflussader. Bei starken
Regenfällen werden diese Tunnelabschnitte komplett geflutet.“
Tanja wunderte sich kurz, wo der Mann so plötzlich seinen bayerischen Akzent gelassen
hatte, auch das Lächeln verschwand und mit einem Schlag erschien er ihr viel kompetenter
und fähiger. Selbst die Körperhaltung des Arbeiters hatte sich zum Positiven verändert. Die
Kommissarin beobachtete, wie ihr Gegenüber das Funkgerät zum Mund hob und den
Sprechknopf drückte.
„Peter?“ Ein Knacken war zu hören, dann ein kaltschnäuziges ‚Ja‘. „Gib die Meldung an die
Zentrale: Vermisste Personen…“ Er blickte Tanja finster in die Augen, die sofort antwortete.
„…ein Kind und zwei Männer in Abschnitt F, Rohr zwei. Starker Pegelanstieg. Sieh zu, dass die
was machen können.“
‚Geht klar Boss‘, war aus dem Funkgerät zu hören.
„Wetterprognose?“ Der Mann drehte sich ein wenig von den anderen weg, aber Tanja war
nahe genug, um die Worte deutlich verstehen zu können. Rauschen. ‚Es regnet weiter, …
eine neue Gewitterfront ist im Anmarsch. … Echt ein scheiß Timing!‘ Rauschen.
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*****
„Das Wasser steigt, Boss.“ Die Worte von Tony glichen einem gehaltvollen Stöhnen. „Es
fließt schon in die Kammer.“ Er versuchte den Kopf zu drehen und nach oben zu sehen, um
festzustellen, ob Gibbs ihn verstanden hatte. „Beeil dich!“ Ein Tritt in seine Rippen war die
Antwort. Er übersetzte es für sich im stillen mit einem saloppen ‚Halt still DiNozzo!‘. Diese
Rippenschupser waren weitaus schmerzhafter als die Kopfnüsse, die er bisher immer
einstecken musste.
„Alisar, es wird ein bisschen nass bei dir da drin. Aber keine Angst, wir holen dich da
rechtzeitig raus. Gibbs dreht die Schrauben auf, dann öffnen wir den Riegel und dann …“ Ja,
was dann? ‚Dann ertrinken wir alle in der scheußlichen Brühe‘, schoss es ihm durch den
Kopf. Hätte er den Kopf bewegen können, hätte er ihn geschüttelt um die trüben Gedanken
zur Seite zu schieben. „Kannst du schwimmen Alisar?“
Ein Nicken. Tony war zweifach erleichtert. Zum einen war es sehr viel wert, dass das Kind
schwimmen konnte, zum anderen zeigte es endlich eine Regung. Erstaunt beobachtete er
daraufhin, wie Alisar ein wenig näher rutschte und sich dann zu ihm vorbeugte.
„Hat mir meine Mami beigebracht“, flüsterte sie ihm mit klarer Stimme ins Ohr. Auf die
Tatsache, dass sie schwimmen konnte, schien sie mächtig stolz zu sein. Vermutlich konnten
viele ihrer Schulfreunde das noch nicht.
„Das ist sehr gut.“ Tonys Wange presste sich angestrengt gegen die Gitter und sein Lächeln
sah vermutlich ziemlich verzerrt aus. „Wir müssen wahrscheinlich ein Stück schwimmen um
hier raus zu kommen.“
*****
Das knarzende Geräusch der Stufen riss Ziva aus ihrer Lethargie. Ihr Blick wanderte nervös
von Ronald zu dem Kanalisationseingang und wieder zurück. Ihr Herzschlag beschleunigte
sich und sie biss sich nervös auf die Unterlippe. Sie hatte das Gefühl, als würde die Welt in
Zeitlupe vor ihr ablaufen.
Sie kehrten zurück. Zunächst die Männer, die vor einer gefühlten Ewigkeit zur Rettung des
Kindes geeilt waren; in ihren orangenen Overalls stapften sie seelenruhig an ihr vorbei.
„Habt ihr Alisar gefunden?“ Ziva vernahm Ronalds Stimme wie in einem Nebelfeld.
Übertrumpft von dem Geräusch ihres eigenen Atems. Die Männer schüttelten den Kopf,
doch es hätte genauso ein ‚Ich versteh deine Sprache nicht‘-Schütteln sein können. Vielleicht
hatten sie sie doch gefunden?
Es folgten Felix, Tanja und Steinberger. Ihre Gesichter schrieben Bände. Und es wurde
wieder zur schrecklichen Tatsache, dass das Mädchen noch immer vermisst wurde. Das
Gefühl riss Ziva ein weiteres Stück den Boden unter den Füßen weg. Denn sie war sich
bewusst, je länger die Suche dauerte, umso geringer war die Chance, das Kind noch lebend
zu finden. Und wenn die Fachleute aufgaben, standen die Sterne nicht sehr günstig. Alles
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was sie jetzt wollte, nach dem sie sich sehnte, war, sich in Tonys Arme zu flüchten. Dort, an
der Brust des Mannes, den sie so sehr liebte, einen Moment inne zu halten und neue Kraft
zu tanken.
Sie wartete. Doch nach Steinberger stieg keine weitere Person die Treppe hinauf. Es war kein
Knarzen mehr zu hören, keine bekannten Stimmen. Das Loch blieb finster.
„Wo sind sie?“ Ziva sah zu Ronald auf, dem im gleichen Moment bewusst zu werden schien,
dass Tony und Gibbs nicht mit zurückkehrten. Sie spürte Tanjas Hand, die sie leicht am
Handgelenk berührte. „Wo ist Tony?“, flüsterte sie und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Tränen der Angst und der Verzweiflung.
Tanja schien nach den richtigen Worten zu suchen. Es war ihr im Gesicht anzusehen, dass sie
mit sich haderte. Sie wollte die NCIS Agentin nicht unnötig beunruhigen. Doch ihr Zögern
sagte vielmehr aus, als es ihr vermutlich lieb war. Und Ziva verlor die Geduld. „Sag mir
einfach, wo sie sind“, zischte sie die Frau an.
Felix trat an ihre Seite und Tanja machte ihm bereitwillig und ein wenig erleichtert Platz.
„Wir wurden getrennt. Ein Tunnelabschnitt ist komplett überflutet und wir konnten ihnen
nicht mehr folgen. Die Arbeiter versuchen jetzt einen Einstieg etwas nördlicher.“
„Warum?“ Ziva versuchte einen klaren Kopf zu bekommen, doch es wollte ihr nicht ganz
gelingen. Das ungute Gefühl hatte Besitz von ihr ergriffen und ließ sie nicht mehr los.
„Man kommt nicht gegen die Strömung an, jetzt wollen sie am anderen Ende einsteigen und
sich mit Seilen in den Tunnel vorwagen. Auch Taucher haben sie schon verständigt. Das
Problem liegt darin, dass sie nicht wissen, wo genau die drei stecken. Gehen sie zu früh
runter, verpassen sie sie vielleicht, je weiter hinten sie aber reingehen, umso länger dauert
es.“ Felix sah Ziva in die Augen. Er konnte klar erkennen, dass sie sich wieder im Griff hatte,
doch noch immer kämpfte sie mit ihren Emotionen. Ronald dagegen erschien ihm wie ein
Gespenst, kreidebleich und stumm, den Blick stur auf das Loch gerichtet.
„Die Zentrale hat sich gerade gemeldet.“ Steinberger stieß zur Gruppe hinzu und bedachte
Ronald und Ziva mit einem kurzen mitleidenden Blick. „Sie können Teile des Wassers
umleiten, aber wirklich viel versprechen sie sich dadurch nicht. Höchsten 5 bis 10
Zentimeter.“
*****
„Okay, so müsste es gehen“, schrie Gibbs und löste die letzte Schraube. Die Taschenlampe
hatte er zwischen Schulter und Kinn geklemmt, doch diese Haltung war nicht sonderlich
bequem. Er fragte sich immer, wie Frauen stundenlang telefonieren konnten, ohne davon
Nackenbeschwerden zu bekommen. Aber Schmerzen und Unbehagen zählten heute nicht.
Zweimal hatte er sich in den Finger geschnitten, weil der Messergriff durch die Feuchtigkeit
rutschig geworden war. Sein linker Zeigefinger blutete still vor sich hin. „Halt dich fest,
Tony.“ Er musste viel Kraft aufwenden, da der Riegel durch den Rost noch immer nicht zu
lösen war. Ein weiteres Mal setzte er die Klinge an, bohrte damit unter den Rand und stieß
dagegen. Er hoffte auf die Hebelwirkung.
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Tony stand das Wasser inzwischen bis zum Kinn. Wieder kam eine Welle und überspülte sein
Gesicht. Zwar gelang es ihm dieses Mal kein Wasser zu schlucken, dafür ging ihm Alisars
Schrei durch Mark und Bein. Das Wasser drängte unaufhaltsam in das Verließ und das Kind
bekam so langsam Panik.
Gibbs hielt den Atem an und zog. Es kam ihm wie Stunden vor, die er hier vor einem simplen
Riegel saß, der sich endlich bewegte. Millimeter für Millimeter löste er sich. Der Rost
bröselte am Rand ab und rieselte nach unten. Er musste sich beeilen, denn lange würde Tony
es nicht mehr durchhalten. Sein Gewicht drückte den Agenten zusätzlich nach unten, der
Wasserpegel war erneut gestiegen. Ein letzter Ruck, bei dem er notdürftig versuchte das
Gleichgewicht zu halten. Der Riegel gab vollends nach.
„Lass mich runter“, befahl Gibbs und krabbelte ungelenk von seinem Agenten. Zuvor
verstaute er das Messer wieder sicher in seiner Innentasche. Unten angekommen, sah er
Tonys blasses Gesicht. Sichtlich erleichtert, dass er kein zusätzliches Gewicht mehr zu tragen
hatte, nickte er seinem Boss zu und versuchte, ihm vor dem Verließ Platz zu machen, damit
auch er sich besser festhalten konnte.
„Und jetzt?“ Tony drehte den Kopf von Alisar weg, in der Hoffnung, dass das Kind seine
eigene Unsicherheit nicht mitbekam. Wie sollten sie hier raus kommen? „Wenn wir das
Gitter öffnen, haben wir nichts mehr, an dem wir uns festhalten können.
*****
Ilena schreckte aus dem Schlaf auf. Das Zimmer war dunkel und nur das seichte Licht aus
dem Flur erleuchtete durch die milchige Glasscheibe der Tür ein wenig die Finsternis. Sie
wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Vorsichtig setzte sie sich auf. Doch sofort setzte
ein pulsierender Kopfschmerz ein und sie ließ sich wieder zurücksinken. Schritte waren auf
dem Flur zu hören und jeder einzelne davon machte ihr angst. Was, wenn jemand kam um
ihr zu sagen, dass Alisar es nicht überlebt hatte? Bei jedem leisen Geräusch zuckte sie
zusammen. Was war sie nur für eine Mutter, die nicht daran glaubte, ihr Kind bald wieder
lebend in den Armen zu halten? Sie spürte den Druck auf ihrer Brust, das unerträgliche
Gefühl nicht atmen zu können und das Brennen ihrer Augen nahm zu. Sie weinte. Alles um
sie herum verschwamm, sie bemerkte nicht, wie die Tür leise geöffnet wurde.
Cornelia war eine Stunde lang durch die Räume des Polizeigebäudes getigert. Sie wusste
nichts zu tun. Ihre Arbeit war beendet, sie hatte ihren Beitrag geleistet und mehr konnte sie
nicht von sich geben. Und genau das ließ sie einfach nicht zur Ruhe kommen. Machtlos dem
Schicksal ausgeliefert zu sein, machte sie schier rasend.
Durch regelmäßige Anrufe bei Abby und McGee hielten sie sich gegenseitig auf dem
Laufenden. Doch wirklich gute Nachrichten gab es bisher nicht. Jeder Blick, den sie
hoffnungsvoll aus dem Fenster warf, verstärkte die Dramatik, denn noch immer goss es aus
Kübeln. Es gab keinen Halt, Abby weinte am anderen Ende, teilweise konnte man durch das
Geschlurze nichts mehr verstehen, McGee hörte sich dagegen leer und abgedroschen an.
Alle waren sie erschöpft und einfach hilflos. Selbst ihr sonst so ‚netter‘ Kollege Max war
ungewöhnlich friedlich. Er hatte sich zurückgezogen, ihr sogar etwas zum Essen gebracht
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und hatte dann ohne blöde Sprüche und Murren die Geräte desinfiziert. Die Welt hatte sich
gedreht.
Ein erneuter Anruf aus Washington hatte sie schließlich dazu hinreißen lassen, Abby einen
Gefallen zu tun. Mit schwerem Herzen hatte sie sich auf den Weg ins Krankenhaus gemacht.
Und nun stand sie am Bett einer ihr fremden Frau, von der sie bereits alles wusste. Sie
kannte Ilenas Vergangenheit, wusste Details aus der Kindheit, von der Hochzeit, der
gescheiterten Ehe. Ja, sie kannte die Qualen dieser Frau, der sie bisher noch nie begegnet
war. Und doch oder gerade deswegen fühlte sie sich mit ihr tief verbunden.
Als Ilena die Frau am Ende des Bettes bemerkte, hielt sie die Luft an. Ein Kribbeln durchfuhr
ihren Körper, der sich schwach und träge anfühlte. Doch irgendwas im Blick der Frau
beruhigt sie sofort und sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
Langsam setzte sie sich auf, versuchte den Schmerz in ihrem Kopf zu ignorieren, in dem sie
sich zwang, tief durchzuatmen.
„Hey“ Cornelia lächelte sie an. Ein höfliches Lächeln, kein glückliches. Eben eine Geste, die in
dieser Situation angebracht war und doch fühlte es sich in ihren Augen merkwürdig an, die
Mundwinkel nach oben zu ziehen. „Ich bin Cornelia. Abby schickt mich.“ Sie trat an die Seite
des Bettes. „Sie meint, du sollst nicht alleine hier sein.“
Auch Ilena lächelte kurz. Doch das Lächeln ging in Tränen über. „Abby ist ein Schatz.“
Die junge Frau setzte sich auf die Matratze und strich über Ilenas Arm. „Ich bin Pathologin,
ich habe bei dem Fall mitgearbeitet. Ich habe Alisar nur kurz kennen gelernt. Sie ist ein
wundervolles kleines Mädchen. Und Gibbs, Tony, Ziva, Ronald und meine Kollegen setzen
alles daran sie zu finden. Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben.“
Ilena griff nach Cornelias Hand. Es war gut, jemanden bei sich zu haben. Und das Wissen,
dass Ronald bei der Suche nach Alisar mithalf, beruhigte sie zudem. Nein, sie würde
zuversichtlich auf die Rettung ihres Kindes warten. Sie hoffte nur, bis dahin nicht den
Verstand zu verlieren.
*****
„Halt dich an diesem Ende fest“, schrie Gibbs und deutete Tony, welche Stelle genau er
meinte. „Und gib mir deinen Gürtel.“
Tony reagierte mechanisch. Er krallte sich ins Gitter und versuchte mit der linken Hand seine
Gürtelschnalle zu lösen. Irgendwie gelang es ihm auch. Wortlos streckte er wenig später
Gibbs den Lederriemen entgegen, beobachtete, wie dieser ihn an den Eisenstangen
befestigte und mit dem zweiten Ende um sein Handgelenk wickelte. Es glich einem
Rettungsseil, nur leider fehlte die Boje, die sie letztendlich auch über Wasser halten konnte.
„Was wird das?“, fragte Tony bleiern.
„Risiko! Da drüben auf der anderen Seite sind diese Einbuchtung und ein Schacht, der nach
oben führt. Wenn wir es bis dorthin schaffen, ertrinken wir wenigstens nicht. Gib mir deine
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Hose.“ Ein eisiger Blick folgte Gibbs Worten. „Keine dummen Kommentare Tony, wir
brauchen alles um eine Rettungsleine zu knüpfen.“ Im gleichen Moment zog er seinen
eigenen Gürtel hervor. „Kommst du an deine Schuhe, ohne weggespült zu werden? Dann her
mit den Schnürsenkel.“
Sie banden alles aneinander, was zu gebrauchen war. Und irgendwie war es ihnen gelungen,
genügend Stoff aufzutreiben. „So müsste es gehen.“ Gibbs fuhr sich durch die nassen Haare
und nickte Alisar zu. „Jetzt holen wir dich da raus.“
„Wird vielleicht ein bisschen ungemütlich, Alisar“, übernahm Tony das Wort, der eine
bessere Position hatte, um sich dem Kind verständlich zu machen. „Wir können das Gitter
nur einen Spalt öffnen, du musst dich da durchzwängen.“
Alisar presste die Lippen aufeinander, aber gab durch ein stummes Nicken ihre Zustimmung.
„Okay“, machte sich Gibbs wieder bemerkbar. „Ein Ende für dich, das andere für mich. Ich
seile mich bis zu dieser Stelle ab, dort finde ich Halt.“
„Ich binde Alisar fest. Und du kannst sie dann zu dir ziehen“, ergänzte er Gibbs Worte.
„Tony?!“ Gibbs warf ihm einen besorgten Blick zu. Sein Agent wirkte immer blasser, die
Erschöpfung war ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Der Schein der Taschenlampe
brachte die tiefen Augenringe noch mehr zur Geltung. DiNozzo sah aus wie ein Zombie.
Gruselig.
„Binde euch beide fest“, sagte Gibbs nach einem kurzen Moment des Schweigens, mit einem
entschlossenen, fast befehlsartigen Tonfall. Er wusste, das, was sie vorhatten, war ein
gefährliches Unterfangen. Doch diese Einbuchtung, dieser Schacht, der nach oben führte,
war in seinen Augen die einzige Möglichkeit, dem Wasser zu entkommen. Und somit dem
sicheren Tod. Inzwischen hatten sie keinen Bodenkontakt mehr, das einzige was sie hinderte
von der Strömung weggerissen zu werden, war das eiserne rostige Gitter, welches Alisar im
Inneren des Verlieses weiterhin gefangen hielt. Die Kammer war schon zu dreiviertel
geflutet. Sie hatten keine Zeit mehr.
Gibbs Finger schmerzten, die Arme und Schultern brannten, auch seine Lunge war durch den
schwefligen Geruch des Abwasserkanals geschwächt. Und der Teamleiter wusste diese
Zeichen zu deuten. Tony war vor dem Einsatz noch nicht wieder im Besitz seiner alten Kräfte
gewesen. Wenn es ihm selber also schon schlecht ging, ging es dem Halbitaliener noch sehr
viel schlechter.
*****
Ziva war den anderen auf die Straße gefolgt und sah noch von weitem, wie der Firmenwagen
der Kanalarbeiter um die Ecke bog. Ein krachender Donner ließ sie zusammenzucken. Sie
lehnte sich an die kühlen Steine des Hauses und ließ sich den Regen ins Gesicht tropfen.
Irgendetwas in ihr stimmte nicht, ganz und gar nicht. Ein Gefühl, das sie nicht kannte,
breitete sich immer mehr in ihr aus, schnürte ihr den Atem und benebelte ihren Geist.
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Langsam ließ sie sich an der Mauer hinab gleiten, zog ihr Handy aus der Hosentasche und
ohne weiter zu überlegen, drückte sie die Schnellwahltaste 3. Sofort wurde am anderen
Ende abgehoben.
„Habt ihr sie gefunden, geht es ihr gut?“, Abbys Stimme dröhnte aus dem Hörer und ließ die
NCIS Agentin ein weiteres Mal zusammenzucken.
Ziva antwortete zunächst nicht, stattdessen liefen ihr dicke Tränen über die Wangenknochen
und mischten sich mit den Regentropfen, die unaufhaltsam vom Himmel fielen. Regen,
Wasser, nicht enden wollende Schauer, die das Leben der von ihr geliebten Menschen
bedrohten.
„Ziva? Ziva, bist du´s?“, die zuvor aufgeregte Stimme wurde immer leiser und vorsichtiger,
beinahe ängstlich.
„Ja“, flüsterte Ziva in ihr Handy. „Ich meine ‚Nein‘, sie haben sie noch nicht gefunden.“ Was
machte sie hier eigentlich? Sie wusste, wie leicht Abby zu beunruhigen war, wie sehr sie mit
ihren Freunden litt, wenn diese bei Außeneinsätzen in Gefahr gerieten. Und sie hatte gerade
nichts Besseres zu tun, als es ihr noch schwerer zu machen?
„Wie geht es dir?“ Abby schien besorgt zu sein. Ihre Frage kam ungewohnt unsicher.
Über Zivas Gesicht huschte ein Lächeln. Tony hatte damals die gleiche Frage gestellt. ‚Gut…‘
hörte sie sich jetzt flüstern und schweifte mit ihren Gedanken ab. ‚Genau genommen fühle
ich mich sogar sehr gut. Und jetzt hör endlich auf, dir Sorgen zu machen.‘, war ihre Antwort
auf seine Frage. Sie hatte ihre Hand zu seiner Wange gehoben. Liebevoll über sein Gesicht
gestrichen, behutsam sein Kinn berührt und ist dann sanft mit dem Finger über seine Lippen
gefahren. Zögernd hatte sie schließlich ihre Finger über seinen Hals in den Nacken gleiten
lassen. Und ihn vorsichtig an sich heran gezogen, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick
in seine Augen zu unterbrechen. Sein Mund war dem ihren immer näher gekommen, bis sie
sich endlich berührten.
Am anderen Ende war es still. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte Ziva ein kurzes Schlurzen.
Darauf folgte ein verheultes: „Was kann ich für dich tun?“.
Ziva rieb sich mit dem Handrücken durch das nasse Gesicht. Jeder Tropfen, der auf ihre
Wangen fiel, nahm ihr die Hitze, die von ihrem Körper Besitz ergriffen hatte und ließ die
Welt wieder realer erscheinen. Doch die Realität war nicht weniger schmerzhaft. Im
Gegenteil. Ihre Finger und ihre Stimme zitterten.
„Ich bin schwanger“, brachte die ehemalige Mossadagentin schließlich atemlos hervor.
„Tony und ich bekommen ein Kind.“ Ein unsicheres Lachen entrann ihrer Kehle. Warum
erzählte sie das gerade jetzt? Am anderen Ende blieb es still.
„Ich liebe ihn.“ Sie sprach schüchtern den Satz aus, den sie in Gedanken schon so häufig
formuliert hatte, und fühlte sofort das Gefühl der Erleichterung. Ja, sie liebte Tony. Mit Haut
und Haaren, mit allem, was sie zur Verfügung hatte. Und es endlich auszusprechen, tat
unendlich gut.
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„Ich …“ Abby schien nach den richtigen Worten zu suchen. „… ich versteh nicht. Seit wann …“
„Wir … während …“ Die Sprachlosigkeit schien ansteckend zu sein, dennoch fiel Ziva der
Kriminaltechnikerin letztlich ins Wort. „… während des letzen Undercovereinsatzes, vor der
Entführung.“
Die Bilder der Nacht blitzten in ihrer Erinnerung auf. Tony hatte sie an der Zimmertür in
seine Arme gezogen, um daraufhin seine Hände unter ihren Pullover gleiten zu lassen und
zärtlich ihre Haut zu berühren. Langsam fuhr er mit seinen Fingern über ihre Hüfte und strich
zärtlich ihren Rücken hinauf. Sie hatte ihn irgendwann vorsichtig von sich geschoben, von
der Tür weg, denn sie hatte nur ein Ziel gehabt, das große einladende Bett am anderen Ende
des Zimmers.
‚Ziva?‘, Abbys Stimme riss sie erneut aus ihren Gedanken. Sie hatte ungewollt eine lange
Pause gemacht.
„Aber Tony hat es vergessen“, ergänzte sie traurig. Ja, er hatte vergessen, wie seine Lippen
über ihren Körper gewandert und er ihre Haut mit leichten, zärtlichen Küssen bedeckt hatte.
Er hatte sich nach dem Einsatz nicht an das befreiende Gefühl erinnern können, endlich alle
Bedenken über Bord zu werfen und sich den tiefen Gefühlen, die sie beide in sich trugen,
hinzugeben.
„Deshalb warst du danach so merkwürdig“, stellte Abby fest und seufzte kurz auf. „Kein
Wunder.“
Ziva erinnerte sich an die Zeit zurück. Es war schmerzhaft gewesen, Tony nicht nahe sein zu
können. Alles in ihr hatte nach ihm geschrien. Doch er hatte sich, nachdem er aus dem
Krankenhaus entlassen wurde, immer weiter von ihr entfernt, und wenn er sich ihr doch
einmal näherte, hatte sie ihn von sich gestoßen. Aus Angst. Dabei hatte sie seine Nähe so
sehr vermisst.
„Aber jetzt kann er sich daran erinnern, oder?“ Die Stimme im Telefon wurde wieder
munterer. „Er hat doch sein Gedächtnis wieder. Habt ihr schon miteinander geredet?“
„Ich habe mit Ronald geschlafen.“ Noch bevor sie sich Gedanken machen konnte, was diese
Aussage bei ihrer Gesprächspartnerin auslösen würde, war der Satz bereits über ihre Lippen.
„Was?...“, jetzt dröhnte die Stimme wieder, von der Zurückhaltung der Kriminaltechnikerin
war nichts mehr übrig und wurde von reiner Wut und dem eigenen Unverständnis abgelöst.
„…wieso?“
„Tony hat uns erwischt“, kam es trocken über Zivas Lippen, obwohl sie den Blick, den Tony
ihr an diesem Abend zugeworfen hatte, wohl so schnell nicht vergessen würde. „Daraufhin
hat er sich an alles erinnert… Und ist zu mir gekommen… Heute Morgen hat er Ronald
verprügelt und ich…“ Sie atmete tief ein. Sie war dazwischen gegangen und die Prügelei der
beiden Männer war am Ende in eine Liebeserklärung ihrerseits übergegangen. ‚Wenn du
dein ganzes Leben auf etwas Bestimmtes wartest und es dann endlich findest, erscheint es
dir wie ein Wunder‘, hörte sie ihre eigenen Worte widerhallen und spürte zugleich den
Schmerz, der sich im selben Moment bitter in ihr ausbreitete. ‚Es füllt dich aus, lässt dich zu
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einem anderen Menschen werden. Du hast das Gefühl endlich angekommen zu sein. Zu
leben.‘ So hatte sie sich damals gefühlt, und sie hatte es erneut empfunden, in der letzten
Nacht im Türeingang und heute im Flur, als sie ihm die Schwangerschaft beichtete. Er hatte
sie in seine Arme gezogen und geküsst. ‚Das alles wieder zu verlieren, ist, als reiße jemand
gewaltsam dein Herz und deine Seele in Fetzen. Es zerstört dein Leben.‘, ergänzte sie in
Gedanken ihre Erinnerungen. Nicht schon wieder. Ziva biss sich auf die Unterlippe und
versuchte den Gedanken aus ihrem Kopf zu wischen. Doch es wollte ihr nicht gelingen.
„Ich habe Angst. Abby, ich habe schreckliche Angst ihn schon wieder zu verlieren. Tony und
Gibbs sind von den anderen abgeschnitten, der Tunnelabschnitt, in den sie wollten, ist
überflutet. Und …“ Und ich habe ein merkwürdiges Gefühl, fügte sie in Gedanken hinzu.
Worte, die sie niemals laut auszusprechen wagte.
*****
Der erste Schritt war getan. Tony ließ das Licht der Taschenlampe über die notdürftig
zusammengeknotete Rettungsleine wandern. Gibbs hatte losgelassen, und war sofort von
der Strömung mitgerissen worden. Und erst jetzt als er in der Weite die Umrisse des
Hinterkopfes seines Bosses erkannte und die Spannung am Seil ein wenig nachließ, stieß er
die Luft aus seinen Lungen, ließ den Atem entweichen, den er unbewusst angehalten hatte.
Ein brennender Hustenanfall folgte und er musste für einen Moment die Augen schließen
um den Schwindel unter Kontrolle zu kriegen, der ungehalten zurückkehrte.
„Jetzt sind wir dran.“ Er wendete seinen Blick vom Seil ab und konzentrierte sich auf Alisar.
In deren Augen funkelte der Kampfgeist. Oder sollte er besser sagen, der pure Lebenswille?
Das Kind war für ihn ein Phänomen. „Du bist jetzt eine kleine NCIS Agentin.“
Alisars Mundwinkel zuckten nach oben und runzelte dann verwirrt die Stirn. Vermutlich
hätte sie im normalen Leben jetzt mit einem ‚Warum‘ ihr Unverständnis untermalt.
„Ja“, er lächelte ihr zu. „Weißt du, wir NCIS Agenten geraten immer in höllische
Schwierigkeiten, aber wir lassen uns niemals unterkriegen. Wir kämpfen einfach so lange, …
bis es vorbei ist.“ Er wusste nicht, ob er das jetzt nur zu Alisars Beruhigung ausgesprochen
hatte, oder ob er sich selber an diesem dünnen Strohhalm festklammern wollte. In der Regel
betete er sich diesen Satz mit dem Zusatz ‚Gibbs wird uns schon finden‘. Und genau das
machte ihn unruhig. Gibbs war hier, er saß selber in der Patsche. Konnte er auf die anderen
vertrauen, dass sie sie hier rechtzeitig rausholten?
„Bist du soweit?“ Eine weitere Welle traf sein Gesicht und Alisar quietschte auf. Doch sofort
hatte sie sich wieder gefangen und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. Tony ignorierte das
Pochen in seinen Lungen und stemmte die Beine gegen die Wand. Er musste sich extrem
anstrengen, aber nur so gelang es ihm, das Gitter gegen die Strömung ein Stück weit zu
öffnen. Hoffentlich war der Spalt breit genug, dass das Kind durchklettern konnte.
Er nahm Bewegungen wahr. Doch er war nicht in der Lage die Augen richtig zu öffnen, zu
sehr musste er sich auf seine Atmung konzentrieren und dem Drang widerstehen, endlich
loszulassen. Wie lange krallten seine Finger sich bereits in das rostige Gitter? Seine
Fingerkuppen fühlten sich bereits taub an, jeder Versuch die Haltung zu ändern, schickte
zusätzliche Schmerzimpulse durch seinen erschöpften Körper. Oh Gott, er würde die
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nächsten Tage seine Finger nicht bewegen können, das wusste er mit ziemlicher Sicherheit.
Verdammt schlechter Zeitpunkt, wo er sich doch so auf Ziva freute. Er sehnte sich doch so
sehr danach, sie zu berühren. Er wollte sie in seinen Armen spüren und ihre weiche Haut
berühren. Über ihren Bauch streicheln und das Baby willkommen heißen.
*****
Ronald stand etwas abseits und beobachtete Ziva, die sich sichtlich bemühte, nicht komplett
zusammenzubrechen. Sie saß an die Wand gelehnt, das Gesicht, in dem sich die
Regentropfen mit ihren Tränen mischten, gen Himmel gestreckt.
Ein erneuter Donner war in der Ferne zu hören. Die Straßen waren wie leergefegt. Nur
wenige Passanten hasteten mit Schirmen an ihnen vorbei, warfen ihnen fragende, teilweise
missbilligende Blicke zu, nur um dann mit eilenden Schritten ihren Weg fortzusetzen und
sich ins Trockene zu flüchten. Verständlich. Normalität. Keiner dieser Menschen, wusste von
der Dramatik, die sich unter ihnen abspielte; sie fühlten die Angst nicht, die einem die Luft
zum Atmen nahm. Die Panik, einen geliebten Menschen zu verlieren, nie wieder glücklich zu
sein. Nein, sie vermissten niemanden.
Vorsichtig kam Ronald näher und setzte sich ebenfalls auf den Boden. Tröstend griff er nach
ihrer Hand und strich über die kühle nasse Haut ihres Unterarms. Ziva zeigte keinerlei
Reaktion. Erst als er den Arm um sie legte und sie zu sich zog, öffnete sie die Augen. Doch ihr
Blick war leer.
*****
Er spürte ein zusätzliches Gewicht auf seinem rechten Bein, dann folgte eine kurze
Berührung am Arm und Tony zwang sich endgültig die Augen zu öffnen. Er entspannte
ruckartig seine Beine und das Gitter schlug wieder zu. Dabei presste sich sein Körper gegen
Alisars zierliche Statur, doch das war nicht vermeidbar. „Sehr gut“, presste er atemlos
hervor. „Das wäre geschafft.“
Alisar klammerte sich um seinen Hals und drückte ihm zusätzlich die Luftwege ab. Oh Gott,
er freute sich auf frische Luft. Vielleicht sollte er, wenn er hier raus war, einen schönen
langen Spaziergang machen, mit Ziva händchenhaltend durch den Englischen Garten
flanieren. Ja, das wäre es. Sie würden sich eine Parkbank suchen und sie würde ihren Kopf an
seine Schulter lehnen. Er musste ihr dringend sagen, dass er sie liebte. Dass er bereit war,
sein weiteres Leben mit ihr zu verbringen und er unbewusst schon immer wusste, dass sie
die richtige für ihn war. Und dass nichts und niemand mehr ihr Glück in Gefahr bringen
konnte. Alles würde er ihr sagen. Doch jetzt musste er sich konzentrieren.
„Kannst du die Taschenlampe festhalten?“ Vielleicht war es ganz gut, das Kind in die
notwendigen Aktivitäten einzubinden. Wo er selbst alle Hände voll zu tun hatte. Irgendwie
war es ihm gelungen, das Ende des improvisierten Seils um den Körper des Kindes zu
schlingen. „Schaffst du es, da einen Knoten rein zu machen?“, stöhnte Tony, der bemerkte
dass das Unterfangen drohte, ziemlich kompliziert zu werden. Er musste sich mit einer Hand
festhalten, gleichzeitig das Kind stützen, dabei durfte er unter keinen Umständen das Seil
loslassen. Und die Strömung riss unaufhaltsam an seinem Körper. Und an Alisar. „Ich halte
dich fest und du….“
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Im Augenwinkel sah er, dass Alisar seinen Anweisungen folgte, es ihr aber nicht gelang,
dabei noch weiter die Taschenlampe festzuhalten. Im nächsten Moment war es stockdunkel.
Das Kind schrie auf. Die Finsternis kroch in die letzten Ecken der Kanalisation und verstärkte
in ihm das Gefühl der Ausweglosigkeit. Es schien, als könnten nichts und niemand mehr dem
Schatten entkommen. Schwärze umgab sie und Tony bildete sich ein, den pulsierenden
Herzschlag des Kindes zu spüren.
„Kein Problem“, versuchte Tony sie zu beruhigen. „Wir schaffen das auch im Dunkeln.“ Er
spürte wie der Körper des Kindes erzitterte. Vielleicht aus Angst, oder aber die klirrende
Kälte, die er längst nicht mehr spürte, hatte nun auch von ihrem kleinen Körper endgültig
Besitz genommen.
„Und du?“, kam die zögerliche Frage aus der Dunkelheit und Tony wunderte sich einmal
mehr über die Tapferkeit des Kindes. „Wo bindest du dich fest? Das Seil ist viel zu kurz.“
Eine wichtige Frage, schoss es Tony durch den Kopf und er spürte eine weitere Panikwelle
durch seinen Körper fließen. Es lohnte sich, kurz darüber nachzudenken. Ruhig bleiben. Wo
sollte er sich festbinden? Richtig, das Seil war zu knapp und selbst Alisar war nur an einem
einzigen Knoten gesichert. Das war wichtig! Das Kind war in Sicherheit. Und so wie es
aussah, gab es für ihn heute keinen doppelten Boden.
„Ich halte mich fest.“ Er hatte einen Entschluss gefasst, zog das Kind fest an sich und
umklammert es von hinten, vorne hielt er sich am Stoff fest. „Bist du soweit? Es wird eine
kurze wilde Fahrt.“
Der Halbitaliener hoffte, sich das Nicken des Mädchens nicht nur einzubilden. Einen winzigen
Moment zögerte er noch, doch dann ließ er los. Und die Strömung riss sie mit.
Er spürte, wie sein Rücken an der Mauer entlang schrammte und die Haut aufriss. Doch er
empfand keinen Schmerz. Alles drehte sich; auch wenn er nichts sehen konnte, fühlte er, wie
er Stück für Stück das innere Gleichgewicht verlor. Er konzentrierte sich auf seine Hände, die
sich fest in den Stoff krallten. Durchhalten. Einfach durchhalten. Er durfte unter keinen
Umständen aufgeben, nicht nachlassen. Gibbs würde sie gleich aus dem Wasser ziehen, er
würde sich auf den Vorsprung retten und sich ausruhen. Gleich. Es würde nicht mehr lange
dauern. Durchhalten.
*****
Gibbs hatte es geschafft. Vor Anstrengung hechelnd brachte er sich in Position; es war ihm
gelungen in die Einbuchtung zu kriechen. Jetzt kontrollierte er zum wiederholten Male den
provisorischen Knoten um seinen Bauch, suchte an der glitschigen Wand mit den Füßen nach
sicherem Halt und hielt sich dann verkrampft an einer Stiege fest. Unter allen Umständen
wollte er dem baldigen Ruck gewappnet sein. Wenn er es nicht schaffte, sich an Ort und
Stelle richtig festzuhalten, würden die anderen ihn einfach mit sich reißen. Und dann wären
sie alle verloren.
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Der Pegel stieg zwar nicht weiter an, doch inzwischen war es immer schwerer sich noch über
Wasser zu halten. Gibbs versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen und leuchtete
mit der Taschenlampe in den schmalen Schacht, der nach oben führte. Einzelne Tropfen
rannen an der Seite herunter, nicht viel, aber draußen schien es immer noch zu regnen. Wie
um nicht den Verstand zu verlieren, zählte er die Tropfen. Versuchte sich zu konzentrieren
und wartete auf Tonys Zeichen, dass es los gehen sollte. Der Grauhaarige bemerkte den
leichten Ruck, der ihm verriet, dass Tony los lassen wollte und hielt angestrengt die Luft an.
Sekunden. Schneller als er erwartet hatte, huschte der Schatten an ihm vorbei.
Tony wurde wieder gegen die Wand geschleudert. Mit einem lauten Krachen schlug sein
Kopf gegen die Steine. Es ging weiter, immer weiter auf die unbekannte Schwärze zu. Tony
fröstelte, er zitterte, wieso war ihm mit einem Mal so schrecklich kalt? Er spürte, wie sein
ganzer Körper taub wurde. Wie er immer mehr die Kraft verlor. Es ging weiter.
Schmerzensblitze zuckten durch seinen Schädel. Doch er durfte sich nicht hinreißen lassen.
Wollte nicht aufgeben. Nicht jetzt, nicht heute. Nicht hier! Doch wie ein Sog zog ihn die
Dunkelheit des Tunnels an.
Schmerzhaft zerrte das Seil am Körper des Grauhaarigen, schnürte sich in seine Rippen. Er
wusste, er brauchte jetzt alle Kraft, die er aus seinem tiefsten Inneren noch mobilisieren
konnte. Gibbs stemmte die Beine gegen die Wand, presste seinen Rücken an die
Gegenüberliegende und zog an der Rettungsleine. Millimeter für Millimeter arbeitete er sich
vor. Ein Kraftakt gegen den Strom, in mühevoller Kleinarbeit, die schnell anfing, eine
frustrierende Form anzunehmen. Er griff dreimal nach, musste dann verschnaufen. Wieder
wenige Zentimeter, einen halben Meter. Einen Meter, noch weiter. Irgendwann stöhnte
Gibbs auf. Das Ziehen wurde mehr und mehr zur Tortur für ihn. Seine Muskeln brannten wie
Feuer. Doch er konnte bereits Alisars Gesicht sehen. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, um
kein Wasser zu schlucken; den kleinen Mund weit aufgerissen. Vermutlich schrie sie aus
Angst und purer Panik. Doch durch die Geräusche des reißenden Stroms konnte er den
Schrei nicht hören. Nur erahnen. Und dennoch ging er ihm durch Mark und Bein. Im selben
Moment sah Gibbs Tonys Arme, erkannte die schattenförmigen Umrisse der Finger, die sich
in den Stoff krallten. Und er zog weiter, vergaß den eigenen Schmerz.
Gibbs biss die Zähne zusammen. Er presste seine Kiefer so fest aufeinander, dass es ihm
schwerfiel den Atem einzuziehen. Alles an ihm verkrampfte. Alles in ihm schrie immer
wieder auf. Alisar streckte verzweifelt die Arme nach ihm aus und instinktiv packte er das
Kind am Handgelenk. Gleichzeitig schoss ein weiterer heißer Schmerz durch seinen Körper,
füllte ihn beinahe aus. Doch Gibbs wusste, wenn er sich ihm ergab, waren sie alle verloren.
Er wollte nach Tonys Hand greifen, spürte schon seine Finger, doch er bekam ihn nicht richtig
zu fassen. Unaufhaltsam riss das Kind an ihm, das Wasser riss an dem Kind. Und Tony
kämpfte. Sein bester Agent blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und was er in seinen
Augen las, riss den Chefermittler in tausend Stücke. Beide wussten sie, dass es ein
auswegloses Unterfangen war. Gibbs konnte sie nicht retten, nicht beide.
Endlos dehnte sich die Sekunde, in der Gibbs sich entscheiden musste. Zwei Alternativen.
Das Leben eines Kindes lag in seinen Händen. Und unter anderen Umständen hätte er
niemals an einer Entscheidung gezweifelt. Das Kind musste gerettet werden. Doch dieses
Mal war es anders. Schwerer. Unlösbar. Tony, der ihm immer wie ein eigener Sohn war,
brauchte ebenfalls seine Hilfe. Denn auch das Leben des Halbitalieners lag in seinen Händen.
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Doch er war nicht fähig dazu, er war nicht in der Lage die Verantwortung für beide zu tragen.
Gibbs bäumte sich ein letztes Mal auf, nicht bereit, sich dieser ausweglosen Situation
hinzugeben. Und wurde immer weiter mitgezogen, verlor mehr und mehr den eigenen
sicheren Halt.
Und letztlich traf Tony die Entscheidung. Für ihn, für Alisar und für sich selber. Er blickte
seinen Boss aus traurigen Augen an und wie in Zeitlupe beobachtete Gibbs die darauf
folgenden Momente. Sein Agent nickte ihm müde aber entschlossen zu, atmete tief ein und
löste seinen Griff. Gibbs starrte wie in Trance vor sich hin, als es geschah. Er blickte in die
Dunkelheit, in der Tony verschwand. Das musste ein Traum sein. Wach auf, befahl er sich
immer wieder. Doch als er Alisars Schreien das erste Mal richtig hörte, zwang er sich in die
Realität zurück. Er zog das Kind aus dem Wasser, zog es in seine Arme und strich ihm
tröstend über den Kopf. Er selber wollte schreien, er wollte weinen, doch er lag nur wie aus
Eis gemeißelt in der Einbuchtung, auf ihm das siebenjährige Mädchen, und konnte sich nicht
bewegen.
Es war keine einfache Entscheidung für Tony gewesen. Nicht heute, nicht unter diesen
Umständen. Doch hätte er den Entschluss nicht gefasst, hätte er mit der Gewissheit niemals
weiterleben können. Sein verkorkstes Leben gegen die Reinheit eines Kindes. Wenn sein
eigener Sohn, oder womöglich seine Tochter, einmal in diese Lage käme, so hoffte er, dass
es auch dann einen Menschen gab, der mutig genug war, sein Leben zu opfern. Das Wasser
rauschte und ließ alles andere verblassen. Das schummrige Licht spiegelte sich auf den
schäumenden Strömungen des Abwassers, die Augen hatten sich inzwischen an die
Dunkelheit gewöhnt. Doch es blieb ein finsterer Ort. Tony spürte wie die Energie aus ihm
floss, wie sein Körper sich zunehmend leichter fühlte. Er wusste, dass nichts und niemand
mehr das Schicksal aufhalten konnte, er schloss die Augen, ergab sich den Fluten und
wartete darauf, dass es vorbei war. Sein letzter Gedanke galt seinem ungeborenen Kind und
seiner großen Liebe.
*****
Bildete er es sich ein, oder tropfte das Wasser aus dem Schacht im Gleichtakt mit Alisars
Herzschlag? Wie lange lagen sie beide schon hier? War es draußen inzwischen wieder dunkel
oder bereits wieder hell? Der Tag raste an ihm vorbei, die Bilder der Nacht flogen dahin und
jegliches Zeitgefühl hatte sich inzwischen verabschiedet. Alisar war vor lauter Erschöpfung
irgendwann eingeschlafen, sie zitterte zwar vor Kälte, doch ihr Atem ging ruhig und
gleichmäßig. Wer wusste schon, wann das Kind das letzte Mal die Augen geschlossen hatte.
Gibbs dagegen konnte sie nicht schließen, egal wie müde sein Körper und sein Geist auch
waren, er konnte den Blick nicht von dem Schacht wenden. Er spürte mit den Fingerspitzen
seiner linken Hand, dass der Pegel bedeutend gefallen war. Doch es war zu spät. Viel zu spät.
Nicht fähig, etwas zu unternehmen, legte er schwerfällig seinen Arm um den zierlichen
Körper des Kindes, hoffte, das Mädchen auf diese Art warm zu halten.
Wie als wäre es absolut nebensächlich, bemerkte er den Lichtkegel, der gefolgt von
weiteren, über die Decke des Tunnels wanderte. Weiterhin starrte er nach oben. „Sie
kommen“, murmelte er dennoch leise und wiederholte die Worte in seinem Kopf. „Sie
kommen, Alisar. Sie holen uns hier raus.“
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Alisar hob ganz leicht den Kopf an, nur um ihn sofort wieder auf Gibbs Brust zu senken. Ihr
war kalt und ihr Körper fühlte sich merkwürdig hart an, schwer, wie aus purem Stein. Doch
Gibbs leise Worte flossen wie warmes Wasser durch ihren Körper. Die Stimme rüttelte sie
sachte wach. Im nächsten Moment nahm sie eine Hand an ihrem Arm wahr, bemerkte wie
man sie von ihrem Beschützer herunterzog. „Wir bringen dich hier raus.“ Die klaren Worte
eines Mannes ließen sie aufatmen, doch noch immer war sie zu schwach die Augen zu
öffnen. Willenlos ließ sie sich aus dem Tunnel tragen. Als ihre Zehenspitzen das kühle Wasser
berührten, zuckte sie zusammen. Doch es waren nur die Zehenspitzen.
Von weitem hörte sie Gibbs flehende Worte und ihr kleines Herz zog sich immer mehr
zusammen. Selbst als sie endlich das lang ersehnte Tageslicht erblickte und ein leichter Wind
ihr frische Luft zuwehte, dachte sie an Tony. Sie spürte seine Arme um ihren Körper. Er hätte
sie niemals los gelassen. Alisar konnte sich nicht freuen, endlich gerettet zu sein. Sie waren
noch nicht komplett. Es fehlte einer. Tony fehlte.
*****
Es hatte aufgehört zu regnen. Klarer dunkelblauer Himmel begleitete die aufkommende
Abenddämmerung. Die Luft war kühl. Es roch noch immer nach Regen, nach feuchter Stadt.
Doch nur die nassen überfluteten Straßen wiesen auf das vergangene Unwetter hin. Es war
merkwürdig still. Steinberger, der telefonischen Kontakt mit dem Rettungsteam hatte,
deutete ihm zu folgen. „Sie haben sie gefunden“, bestätigte er als sie alle an dem, am
Straßenrand provisorisch geparkten Polizeiwagen ankamen. Als er das erfreute Aufatmen
seiner Kollegen hörte, senkte er seinen Blick. „Dem Kind geht es den Umständen
entsprechend gut, Gibbs wohl auch. Sie sind schon auf dem Weg ins Krankenhaus“, seine
Worte waren mehr ein Flüstern und man konnte erkennen, wie schwer ihm das Reden fiel.
„Was ist mit Tony?“ Es war Ronald der die unweigerliche Frage stellte, die wohl allen auf der
Zunge brannte. Unterbewusst griff der Undercover Agent nach Zivas schlaffer Hand und
drückte sie vorsichtig.
Steinbergers Antwort wurde von einem traurigen Kopfschütteln begleitet. „Sie haben ihn
etwas nördlicher gefunden.“ Dann presste er die Worte hervor: „Er hat es nicht geschafft.“
Sein toter Körper ist in einem Absperrgitter hängen geblieben, nur wenige Meter von der
Stelle entfernt, an der wir standen und nicht mehr weiterkamen, ergänzte er in Gedanken.
Doch diese Worte wollte er niemals laut aussprechen. Er wusste, für viele Menschen brach
mit dieser Nachricht eine Welt zusammen. Der Tod des Agenten bohrte sich wie ein Nagel in
die brennende Wunde aller an der Suche beteiligten Leute und hinterließ einen üblen
Nachgeschmack der geglückten Rettungsaktion. Das Kind war in Sicherheit. Doch zu
welchem Preis?
*****
Eine halbe Stunde später saß Ziva auf einem der schwarzen Sessel im Warteraum des
Krankenhauses. Sie wünschte, Tränen könnten über ihre Wangen strömen. Dieses Mal
würde sie keine Anstrengung unternehmen, diese abzuwischen, geschweige denn zu
unterdrücken. Sie kamen nicht.
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Nur ihre Hände hatte sie krampfhaft zwischen die Oberschenkel geklemmt, damit niemand
sah, wie sehr ihre Finger zitterten. Felix saß an der gegenüberliegenden Wand und warf ihr
immer wieder besorgte Blicke zu. Kein Wunder, vermutlich sah sie aus wie eine wandelnde
Leiche, blass, mit nassem zerzaustem Haar. Ihr Blick, leblos und leer. Ihr Gesicht, gezeichnet
von der bitteren schockierenden Nachricht. Wie sah man aus, wenn man mit dem Tod eines
geliebten Menschen konfrontiert wurde, wenn der Verlust des Seelenverwandten an der
Seele nagte?
Tanja betrat das Zimmer. Sie hatte Ziva trockene Kleidung besorgt und reichte sie ihr mit
einem weißen Handtuch. „Du kannst dich im Waschraum umziehen“, flüsterte Tanja leise.
Fast als hätte sie Angst mit ihrer Stimme die sich ausbreitende Trauer zu durchbrechen.
Ziva nahm das Handtuch und die Kleider stumm entgegen und nickte abwesend. Auch wenn
ihr die nassen Klamotten schlichtweg egal waren, tat sie mechanisch, was man von ihr
verlangte. Und die anderen wollten, dass sie sich umzog. Als ob das die Welt wieder gerade
rücken könnte.
Mit weichen Knien stand sie auf und torkelte in Richtung Tür. Um dem matten Gefühl
auszuweichen und das Gleichgewicht nicht zu verlieren, stützte sie sich für einen kurzen
Moment am Türrahmen ab. Sofort waren die anderen an ihrer Seite. Felix fragte, ob alles in
Ordnung wäre.
Wie sollte alles in Ordnung sein, fragte sie stumm zurück. Sie wehrte die helfenden Hände ab
und ging weiter. Sie wollte jetzt nur kaltes Wasser auf ihrer Haut spüren und alleine sein.
Alleine sein mit sich und ihrem Schmerz.
Das dunkle eintönige Quietschen der Tür zum Waschraum passte zu ihrem Gefühl der
bizarren Ausweglosigkeit. Und so wie diese sich langsam hinter ihr schloss, sperrte Ziva ihre
Umwelt immer weiter aus. Sie kroch zurück in ihr sicheres und beschütztes Ich. Sie trat vor
den Spiegel, stützte sich auf dem Waschbecken ab. ‚Wie geht es dir?‘, hallte Tonys Stimme in
ihrem Kopf. Seine Stimme hörte sich so echt, so lebendig an. Ziva beobachte im Spiegel, wie
sie emotionslos mit den Schultern zuckte. Was sollte sie antworten? Sie hatte keine Ahnung,
wie es ihr ging. Sie war leer und einsam. Schrecklich einsam. Sie sah sich, auf dem Boden
sitzend, still darauf vorbereitend, sich in ihr wiederholt tragisches Schicksal zu fügen. Sie sah,
wie Felix und Tanja auf sie zukamen, ihre Münder sich bewegten und doch konnte sie die
Worte nicht mehr verstehen. Um die Szene in ihrem Kopf zu vertreiben, trat sie einen Schritt
zur Seite, lehnte sich gegen die kühlen weißen Kacheln und ließ sich daran hinab gleiten.
Und dann traf es sie. Eine plötzliche Welle der Übelkeit, rasch gefolgt von der nächsten und
einer weiteren, jede heftiger als die vorherige und begleitet von stechendem Schmerz. Sie
rang nach Atem, und Tränen brannten in ihren Augen, als sie versuchte sich aufzurichten.
*****
Ilena erwachte aus einem unruhigen Traum. Der Blick aus dem Fenster bestätigte ihr, dass es
schon spät sein musste. Die Dunkelheit kroch durch das Fensterglas und wölbte sich über ihr
Gemüt. Cornelia war nirgends auszumachen. Sie war alleine. Der Schwindel hatte sich gelegt
und vorsichtig bewegte sie ihre Finger. Auch das taube Gefühl war verschwunden. Sie hatte
Durst, ihre Lippen waren spröde und trocken. Gerade als sie nach dem Wasserglas auf dem
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Nachttischchen greifen wollte, öffnete sich die Tür und mattes Licht fiel in das karge
Krankenzimmer. Zunächst geblendet, blinzelte Ilena sachte und drehte den Kopf zur Seite.
Vermutlich kehrte Cornelia zurück, die sich einen Kaffee geholt oder kurz die Beine vertreten
hatte. Doch das leise Kinderglucksen ließ sie aufhorchen. Diese Stimme kannte sie, besser,
als irgendjemand sonst.
„Mami, Mami“, Alisar zappelte unaufhörlich in Ronalds Armen. Zwar war sie müde, aber sie
wollte unbedingt sofort zu ihrer Mutter. Sie wollte sich an ihren warmen weichen Körper
kuscheln. Nur dort fühlte sie sich wohl.
Ronald ließ das Kind runter, stellte sie auf den Boden und beobachtete mit einem wohligen
Gefühl im Bauch, wie das Mädchen barfuß über den hellen Fußboden auf ihre Mutter zulief,
schwungvoll auf das Bett krabbelte und ihrer Mutter um den Hals fiel.
Ilena legte schluchzend die Arme um ihr Kind. Mit einem Schlag war die Leere in ihr wie
weggeblasen. Glücklich strich sie Alisar über die Haare. Jetzt konnte alles gut werden. Ihr
Leben konnte neu beginnen. Während sie das Mädchen an sich drückte, streckte sie ihre
rechte Hand aus und blickte in Ronalds Augen, die vor Tränen glänzten. Ein liebevolles
Lächeln huschte über sein Gesicht und er trat näher. Vorsichtig griff er nach ihrer Hand und
setzte sich auf die Bettkannte. Hier vor ihm spielte sich das Happy End ab, dass er sich seit
Stunden, seit Tagen erhofft hatte und dem er stetig entgegen gestrebt war. Er schluckte den
bitteren Nachgeschmack seiner Gedanken runter, beugte sich vor und küsste Ilena auf die
Stirn. Ilena zog ihn an sich.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie zärtlich in sein Ohr. „Egal was passiert ist, ich will einen
Neuanfang. Mit euch beiden.“
Ronald löste sich aus der Umarmung und blickte ihr tief in die Augen. Nach einem Moment
des Zögerns, nickte er. „Ich liebe dich auch.“ Ein Seufzen entrann seiner Kehle und eine
einzelne Träne rann über seine Wange. Womit hatte er dieses Glück nur verdient? Ja,
verdammt, er war glücklich, obwohl es tief in ihm zur gleichen Zeit höllisch rumorte und das
bange Gefühl und die Trauer um Tony ihn in tausend Stücke zu reißen drohten. Es war das
reinste Gefühlschaos, das von ihm Besitz ergriffen hatte, Freude durch Alisars Rettung,
Verzweiflung durch Tonys Tod. Welchem Gefühl sollte er sich hingeben, was sollte er
empfinden?
„Was ist los?“ Ilena hatte längst den Zweifel in Ronalds Gesicht erkannt. Vorsichtig küsste sie
Alisar auf den braunen Haaransatz, zog sie erneut mütterlich an sich. Doch als sie die Frage
stellte, schluchzte auch ihre Tochter leise auf.
„Tony hat es nicht geschafft.“ Ronalds Stimme zitterte. Für weitere Erklärungen fühlte er sich
nicht fähig.
„Er hat mich gerettet, Mami.“ Alisar setzte sich ruckartig auf, ihre müden Augen waren mit
Tränen gefüllt. „Er hat mich gerettet, er ist ein Held. Tony ist mein Held.“ Weinend ließ sie
sich wieder in die Umarmung ihrer Mutter sinken. „Er hat gesagt, ich bin eine NCIS Agentin,
und die kämpfen bis zum Schluss, aber Gibbs konnte uns nicht beide rausziehen. Und dann
hat er einfach das Seil losgelassen. Mami, er hat losgelassen und dann konnte Gibbs mich
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hochziehen.“ Ein Weinkrampf durchzuckte den Körper des Kindes. „Er ist mein Held“,
wiederholte sie immer wieder.
Ilena hatte vor Entsetzen den Mund weit aufgerissen. Und als Ronald die Worte ihrer
Tochter durch ein stummes Nicken bestätigte, begann auch sie zu weinen. Ihr kleines
Mädchen war in Sicherheit, aber ein Freund hatte sein Leben dafür gegeben.
*****
Cornelia hatte sich aus dem Zimmer geschlichen, als ihr Telefon läutete. Steinberger hatte
ihr kurze Anweisungen gegeben und ohne sich von Ilena zu verabschieden, hatte sie sich auf
den Weg zum Einstieg der Kanalisation gemacht. Das mulmige Gefühl in ihrem Herzen schob
sie zunächst gekonnt zur Seite. Doch je näher sie dem Ziel kam, umso schwerer fiel es ihr. Im
ersten Moment blendete sie das grelle Licht der Scheinwerfer, als sie den kleinen Platz
betrat, an dem soeben die Leiche aus der Kanalisation geborgen wurde. Der Kloß in ihrem
Hals nahm unwirkliche Ausmaße an und wäre sie alleine gewesen und nicht von Kollegen
und Kanalarbeiter umzingelt, hätte sie sich vermutlich übergeben. Doch stattdessen brachte
sie ihre schauspielerische Gabe an vorderste Front und setzte den professionellen
emotionslosen Gesichtsausdruck auf, den sie so sehr an sich schätzte. Damit hatte sie bisher
die Männerwelt weitestgehend überzeugen können. Die eiskalte, gefühllose Pathologin, die
Frau, die Leichen aufschnitt und den Inhalt heraus stülpte als sei es das Normalste der Welt,
im Körper eines Menschen zu wühlen. Doch dieses Mal war es anders. Sie war als private
Person betroffen. Sie kannte die Leiche, kannte bereits das tragische Schicksal hinter dem
leblosen Körper und hatte die Menschen kennen gelernt, die jetzt um ihn, um Anthony
DiNozzo trauerten.
Wie in Trance wanderten ihre Augen entlang der steinernen Häuserfront, beobachtete aus
dem Augenwinkel, wie die Trage nach oben gereicht wurde. Zum Glück hatte man nicht von
ihr erwartet, dass sie nach unten ging, um den Fundort zu inspizieren. Es war so schon
schlimm genug. Fast lautlos stellten die Männer die Trage ab, darauf der Leichensack aus
grünem Plastik, der mit Gurten befestigt war und die Leiche großflächig umhüllte.
„Sie können dann“, knurrte ein Polizist neben ihr und riss Cornelia aus ihren Gedanken. ‚Sie
können dann‘ wiederholte sie wortlos den befehlsartigen Satz. Ihre imaginäre Stimme klang
bitter. Sie könnte, ja, aber sie wollte nicht. Doch letztendlich musste sie es tun. Es war ihr
Job.
‚Es ist dein Job, reiß dich gefälligst zusammen‘, rief sie sich zur Ordnung. Schnell straffte sie
die Schultern, versuchte nochmals tief durchzuatmen und ging eilenden Schrittes auf die
Trage zu. Sie wollte unter keinen Umständen Schwäche zeigen.
Die Männer, die um den Leichensack herumstanden, traten sofort zur Seite. Max gesellte
sich zu Cornelia und nickte betroffen. Inzwischen war auch er zu keinen Späßen gleich
welcher Art mehr aufgelegt. Wortlos zog er am Reißverschluss der Plane und öffnete das
oberste Stück. Süßlicher Leichengeruch kam ihnen entgegen. Verwirrt blickten Cornelia und
Max auf.
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„Stinkt die Kanalisation da unten echt so extrem?“, grummelte Max vor sich hin und zog ein
zweites Paar Gummihandschuhe über. „Riecht ja, als wäre er schon seit Tagen tot.“
Cornelia musste ihrem ungewollten Assistenten recht geben. Sie rümpfte ebenso die Nase
und zog das Plastik ein weiteres Stück zur Seite. Vor ihr lag eine Wasserleiche, männlich,
soweit sie das noch erkennen konnte. Mehr aber war sie nicht in der Lage mit professioneller
Überzeugung zu urteilen. Nur bei einer Sache war sie sich absolut sicher: der Mann, der hier
vor ihr lag, war bereits länger als ein Tag tot. Und somit war ausgeschlossen, dass es sich hier
um den NCIS Agenten Anthony DiNozzo handelte.
******
Gibbs saß, in eine Rettungsdecke gewickelt, auf der Ladefläche des Krankenwagens. Die
Notärzte wollten ihn zwar mitnehmen, doch er hatte sich erfolgreich dagegen gewehrt. Es
war eine hitzige Diskussion gewesen, doch letztlich hatten die Männer, die dem
Grauhaarigen zur Hilfe geeilt waren, aufgegeben. Er wollte nicht weg. Alles in ihm schrie
danach, hier zu bleiben. An Ort und Stelle. Er musste es mit eigenen Augen sehen, auch
wenn diese durch die Müdigkeit und die Gase in der Kanalisation brannten wie Feuer.
Steinberger war kurz bei ihm gewesen, hatte ihm mitgeteilt, dass Ziva und Ronald im
Krankenhaus auf ihn warten würden. Er hatte nicht versucht, ihn davon zu überzeugen, sich
ebenfalls dorthin bringen zu lassen. Der deutsche Kommissar hatte ihm bloß mitleidig auf die
Schulter geklopft und sich dann zu den Kanalarbeitern gesellt, um die Bergungsaktion aus
polizeilicher Sicht zu koordinieren. Kurze Zeit später war auch Cornelia Rubin, die nette
Pathologin, aufgetaucht. Und so sehr er Ducky und Cornelia auch mochte, an einem Tatort
bedeuteten sie verdammt nochmal nie etwas Gutes.
Als er die ersten Spitzen der Plane erkannte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken und
sein notdürftig erwärmter Körper erzitterte erneut. Wie sollte er nach D.C. zurückkehren,
ohne Tony? Er machte sich nichts vor, alles wäre verändert. Das Team bräche auseinander.
Tim wäre anders, weil der Schmerz zu sehr an ihm nagte. Abbys Tränen würden vermutlich
nie versiegen. Für sie war Tony wie ein großer Bruder. Für Ziva wäre es der finale Dolchstoß,
vermutlich würde sie alles hinschmeißen. Zu sehr haderte sie zurzeit mit sich, mit ihrem
Beruf und ihren privaten Gefühlen. Und er selber? Nein, darüber wollte er nicht nachdenken.
Denn es würde bedeuten, Tony aufzugeben. Ihn für immer zu verlieren.
*****
Es war der erste Blick, den Cornelia als alltägliche Hürde in ihrem Beruf ansah. Zu sehen, wer
da tot vor ihr lag, mit wem sie es die nächsten Stunden zu tun hatte – ja der erste Blick, die
erste Kontaktaufnahme mit einer Leiche, fiel ihr immer schwer. Danach war es ihre Arbeit,
kontinuierliche und strukturierte Vorgänge, die sie erlernt hatte. Dann war alles gut. Doch
jetzt fühlte sie sich schlichtweg erleichtert. Ein tonnenschweres Gewicht schien von ihr
abzufallen. Endlich konnte sie wieder atmen. Ein solch gutes Gefühl hatte sie noch nie erlebt,
nicht vor den starren Augen einer Leiche.
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Und doch war sie zunächst zu keiner Regung fähig. Sie betrachtete das aufgedunsene
Gesicht der Wasserleiche, die schrecklichen Gestank verbreitete, und versuchte ihre
Gedanken und Gefühle zu ordnen.
„Hey Leute“, hörte sie Max neben sich rufen. Ein Pfiff folgte und somit hatte er die
Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen. Sofort. Innerlich lachte Cornelia auf, so einfach ging
das also. Sie hatte ja auch ihre Tricks, z.B. das Schütteln ihrer blonden Haare, aber das
brachte nur bei Männern etwas und Frauen ignorierten es gekonnt. Nicht sehr effektiv.
„Mensch macht euch an die Arbeit. Ihr habt die falsche Leiche gefunden“, schrie ihr Kollege
aus voller Kehle aus der scheinbaren Dunkelheit in Richtung der ausgeleuchteten Stelle, wo
sich die Kanalarbeiter soeben ans Einpacken ihrer Materialien machen wollten. „Nicht
einpacken Jungs, weitersuchen!“
„Wer ist dann das da?“ Wenige Sekunden später stand Kriminalhauptkommissar Steinberger
an ihrer Seite, warf einen kurzen Blick auf den Toten und drehte angewidert den Kopf zur
Seite.
„Jemand anderes“, murrte Max und zog die Plane wieder zu.
„Es kann jedenfalls nicht Tony sein.“ Cornelia warf ihrem Assistenten einen argwöhnischen
Blick zu und schüttelte leicht den Kopf. Seine Manieren waren so, ach ihr fehlten die Worte,
so ungehalten. „Wer genau es ist, müssen wir wohl herausfinden.“ Sie seufzte schwer.
„Es bleibt uns wohl keine Arbeit erspart“, knurrte Steinberger und griff zu seinem Handy.
„Ihr beiden begleitet die Leiche in die Pathologie. Ich muss schnellstens wissen, ob der Mann
hier etwas mit unserem Fall zu tun hat und wenn, WAS er damit zu tun hat. Ich informiere
Tanja und Felix, die beiden sollen euch helfen. Im Krankenhaus werden sie ja wohl nicht
gebraucht.“
*****
Im Krankenhausflur lief Tanja wie ein Tiger im Käfig auf und ab. Ihr Handy ans Ohr gepresst,
lauschte sie den Anweisungen ihres Chefs. Immer wieder warf sie einen unsicheren Blick in
Richtung Waschraum. Wo blieb Ziva nur? Sollte sie besser nachsehen? Kopfschüttelnd
konzentrierte sich auf ihr Gespräch.
„Wie, das ist jemand anderes? Wer soll das denn sein?“, reagierte sie ungläubig auf
Steinbergers Bericht. „Das heißt, Tony ist … er könnte noch am Leben sein?“
Dieser Satz erweckte Felix Neugier und er trat neben sie. „Die Leiche ist nicht Tony“,
wiederholte Tanja flüsternd und hob verwirrt die Schultern. „Cornelia meint, der Mann ist
seit mindestens einem Tag schon tot. Vielleicht schon länger.“
Felix deutete seiner Partnerin, dass er nach Ziva sehen wollte und nachdem Tanja ihm durch
ein Nicken zugestimmt hatte, klopfte er an die Tür des Waschraums. Als keine Reaktion kam,
klopfte er erneut, öffnete die Tür einen winzigen Spalt und lauschte. „Ziva, alles ok?“, fragte
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er. Sie antwortete nicht. Er trat ein und fand Ziva auf dem Boden kauernd. Mit einem Satz
war er an ihrer Seite, während er nach Tanja schrie, sie solle Hilfe holen.
Ziva versuchte sich aufzurichten. Die rechte Hand presste sie auf ihren Bauch. Sie fühlte sich
Hundeelend, die Übelkeit wallte in ihr. Alles drehte sich.
„Gleich ist ein Arzt bei dir“, versicherte ihr Felix, als sich bereits die Tür öffnete und das
Klinikpersonal hereinstürzte. Er trat zur Seite und beobachtete, zur Untätigkeit verbannt, das
Geschehen. Der Arzt fühlte ihren Puls, leuchtete in die Augen der Agentin, maß den
Blutdruck und stellte zahlreiche Fragen. Ziva ließ die Prozedur willenlos über sich ergehen,
antwortete aber nicht.
„Sie spricht kein Deutsch“, mischte Felix sich ein und trat einen Schritt näher. Kein Wunder,
dass sie nicht auf die Fragen reagierte.
„Wann hat sie das letzte Mal etwas gegessen?“, fragte der Arzt ihn.
‚Gute Frage‘, schoss es Felix durch den Kopf. Wann hatten sie alle das letzte Mal gegessen?
„Ist wohl länger her“, antwortete er stirnrunzelnd.
„Und getrunken?“, während der Arzt sich auf das Gespräch mit Felix konzentrierte, zog die
Schwester eine Spritze auf.
„Genauso lange her“, zumindest vermutete er das. Nebensächlich nahm Felix wahr, wie Ziva
die Spritze zunächst abwehrte, sich dann aber mit ihrem Schicksal abfand und es zuließ.
„War wohl alles zu viel“, fasste der Arzt zusammen. „Geschlafen hat sie wohl auch nicht. Das
ist ein leichtes Beruhigungsmittel. Ich werde ihr noch ein Aufbaupräparat verabreichen und
eine Infusion geben, um den Flüssigkeitshaushalt auszugleichen. Sie sollte ein paar Stunden
schlafen.“
Die Krankenschwester stand auf und orderte eine Trage. Felix nutzte die Gelegenheit ihren
Platz an Zivas Seite einzunehmen und griff sofort nach ihrer zitternden Hand. „Hey, es gibt
Neuigkeiten. Die Leiche war nicht Tony. Tony ist nicht tot. Hörst du? Wir finden ihn und dann
… dann wird alles gut.“ Vorsichtig zog er die Agentin in seine Arme und strich beruhigend
über ihre Haare. Oh Gott, was machten diese Menschen durch. Wie konnte man das
ertragen? Vermisst, tot, lebendig, vermisst. Die Ungewissheit und die Sorge nagten an ihnen,
wie gierige ausgehungerte Ratten. War es da verwunderlich, dass der Körper irgendwann
erschöpft zusammenbrach?
*****
Ein konstantes Rauschen bohrte sich in sein Bewusstsein. Immer wieder, für kurze Zeit. Sein
Kopf schmerzte so sehr, sein Rücken tat ihm weh und seine Lungen brannten schlimmer wie
damals, als er beinahe an der Lungenpest gestorben wäre. Aber das war gut, aller Art von
Schmerz war gut. Sie zeigten ihm, dass er noch am Leben war.
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Tony erinnerte sich nicht daran, wie weit ihn das Wasser mitgerissen hatte, er musste wohl
das Bewusstsein verloren haben, direkt nachdem er den Entschluss gefasst und seine Hände
das Seil losgelassen hatten. Doch irgendwann war er gegen eine Wand gedrückt worden, er
hatte das Gitter gespürt und reflexartig zugegriffen. Seitdem saß er hier, nackt bis auf seine
Boxershorts.
Der Pegel sank kontinuierlich. Er saß entkräftet in den Fluten, die Beine breitbeinig von sich
gestreckt; doch die Wassermassen hatten nicht mehr die Kraft seinen Körper mitzureißen. Er
musste sich nicht mehr festhalten. Er fror. Seine Finger und Zehen fühlten sich taub an und
in seinem Inneren kribbelte es ungehalten wie in einem aufgescheuchten Bienenstock. Er
sehnte sich nach frischer Luft, nach Sonnenlicht, natürlicher Wärme und nach Ziva. Wartete
sie irgendwo da oben auf ihn? Auf seine Rückkehr?
Tony sah sie förmlich vor sich, wie sie am Kanaldeckel wie eine Löwin hin und her schritt,
den Blick steinern auf die Öffnung gerichtet, mit den Fingern nervös eine Haarsträhne
drehend. Natürlich wartete sie da oben auf ihn. Was war das für eine Frage.
Vorsichtig tastete er mit den Fingerspitzen die Wunde am Hinterkopf ab. Sie tat weh, aber
sie schien nicht mehr zu bluten. Stöhnend legte er den Kopf zurück und als er spürte, wie die
Kraft ihn ein weiteres Mal verlassen wollte, rief er sich seine eigenen Worte in Erinnerung.
‚Du bist ein NCIS-Agent und du musst kämpfen, bis zum Schluss.‘
Ja, er musste kämpfen, für sich, für sein Kind, für Ziva und auch für die kleine Alisar. Das Kind
sollte ein wahres Happy End in diesem Horrortrip erleben. Wie in jedem guten alten
Märchen. Am Ende sollte Alisar ihrem Vater in die Augen sehen und sagen können: ‚Du hast
es nicht geschafft. Das Gute hat wieder einmal gewonnen‘. Vielleicht schrieb sie irgendwann
ihre Geschichte auf und brachte damit einen Bestseller auf den Markt. Ihre Lebensgeschichte
hatte wohlweißlich potenzial. Und McGee wäre sicher auch bereit, ihr beratend zur Seite zu
stehen. Das hätte das Kind verdient. Ach, eigentlich hatte das Kind jegliches Glück verdient,
dass noch auf Erden zu finden war.
Hoffentlich war es ihr gelungen, hier raus zu kommen. Hatte Gibbs es geschafft? Waren die
Beiden schon in Sicherheit? Wenn er nur wüsste, was er tun sollte. Wenn es hier unten nur
nicht so verdammt dunkel wäre. Wenn … er brauchte dringend einen Plan. Doch seine
Möglichkeiten schienen in der feuchten, finsteren Kanalisation äußerst eingeschränkt.
Vielleicht, wenn er noch länger wartete, fiel der Pegel weiter und er konnte, ohne größere
Kraftanstrengung an die Stelle zurückkehren, an der er die anderen zurückgelassen hatte,
sich dort neu orientieren und zum Ausgang zurückfinden. Vielleicht. Doch noch war daran
nicht zu denken. So blieb ihm vorerst nur eines: Warten. Und er musste sich unbedingt
ablenken, denn er durfte unter keinen Umständen hier unten den Verstand verlieren.
*****
Die Ruhe, die auf dem beleuchteten Platz nach der Bergung der Leiche eingekehrt war, war
schlagartig einem erneut strukturiertem Treiben gewichen. Das kleine Rettungsschlauchboot
wurde wieder runtergelassen, drei Arbeiter zogen sich die Schutzkleidung über.
Taschenlampen wurden an den Helmen befestigt. Gibbs beobachtete die Szene mit
aufsteigendem Interesse. Und als er sah, dass Steinberger auf dem Weg zu ihm war, wäre er
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am liebsten aufgesprungen und ihm entgegengelaufen. Doch sein Körper fühlte sich an wie
Blei und zeigte ihm klar und deutlich seine Grenzen.
„Was ist los?“, schrie er ihm daher entgegen. Seine Stimme hatte hingegen an Kraft nicht
verloren.
„Es ist nicht Tony.“ Steinberger, noch immer mit Telefon am Ohr, um alles zu koordinieren,
trat zu ihm, beendete aber dann das Gespräch. „Die Leiche, die die Männer da unten
gefunden haben, ist bereits länger als einen Tag tot.“ Er ließ sein Gegenüber durchatmen.
Die Erleichterung stand dem Grauhaarigen nicht nur ins Gesicht geschrieben, seine
komplette Körperhaltung änderte sich schlagartig. Bevor sie dann allerdings wieder in sich
zusammensackte. Auch Steinberger holte einmal tief Luft. „Vielleicht ist es ja der
Clubbesitzer, den wir bisher noch nicht gefunden haben. Ich glaube ehrlich gesagt nicht an
Zufälle.“
Gibbs lachte kurz auf, allerdings hörte es sich mehr nach einem Schnauben an. „Da sind wir
einer Meinung“, grummelte er. Dann deutete er in die Richtung des Rettungstrupps. „Was
haben die vor?“
„Sie gehen wieder runter und suchen den Kanal ein zweites Mal ab. Beziehungsweise, sie
suchen hinter der Fundstelle der Leiche weiter, bis sie Tony gefunden haben. Ein weiteres
Team versucht es von der anderen Seite.“
Der NCIS Teamleiter nickte stumm und seufzte. Es hieß also wieder warten. Weitere
Ungewissheit und Bangen, um das Leben seines besten Agenten. Doch egal welche Gefühle
er vor wenigen Minuten noch hatte, irgendwas tief in ihm sagte ihm genau in diesem
Moment, dass alles gut werden würde. „Ich brauch ein Handy“, bat er den Ermittler, „ich
muss mit meinen Leuten reden.“
Steinberger winkte einen jungen Kollegen herbei. „Kein Problem, Gibbs. Ich habe eben mit
Tanja gesprochen. Ziva hatte wohl eine Art Zusammenbruch.“
Gibbs runzelte die Stirn und schüttelte entschieden den Kopf. Ziva hatte einen
Zusammenbruch? Das sollte er glauben? Wenn jemand seine Gefühle im Griff hatte, dann
doch wohl die ehemalige Mossadoffizierin. Ja, die Entführung hatte ihr schwer zugesetzt und
seitdem war sie zerbrechlicher als jemals zuvor, doch er war immer davon ausgegangen,
dass sie sich weiterhin ausreichend im Griff und ihre professionelle Haltung keinen Schaden
genommen hatte. Allerdings war sie körperlich in keiner guten Verfassung, rief er sich ins
Gedächtnis. Er selber wollte sie ja zunächst gar nicht erst nach München mitnehmen und
Ducky hatte ebenfalls versucht, es ihr auszureden. Und die Nachricht von Tonys Tod brachte
das Fass vermutlich zum Überlaufen. Menschlich.
„Sie ist in guten Händen“, riss Steinberger ihn aus den Gedanken. „Sie haben ihr ein leichtes
Beruhigungsmittel gegeben und päppeln sie nun ein wenig auf. Tanja meint, sie schläft jetzt
erst mal für zwei drei Stunden. Aber Felix konnte ihr wohl vorher noch sagen, dass die Leiche
nicht Tony war.“ An den heraneilenden Polizisten gewandt, fügte er hinzu: „Bringen Sie uns
ein Handy und …“ Er blickte zurück zu Gibbs, „ … und richtig starken Kaffee.“
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*****
Eine Stunde später lief der zweite Becher der starken schwarzen Flüssigkeit brennend durch
seine Kehle. Gibbs schloss für einen Moment die Augen. Er hatte zweimal versucht,
aufzustehen, denn eigentlich lag es in seiner Natur selber bei der Suche nach Tony
mitzuhelfen. Das erste Mal hatte sein Körper ihn schnell zur Besinnung gerufen, weil dieser
sich strikt weigerte, ihm zu gehorchen, und beim nächsten Versuch hatten ihm die Arbeiter
unmissverständlich klar gemachte, das sie ihn da nicht runterließen. Selbst wenn er sie mit
einer Waffe bedrohte. Er solle sich zurückziehen und sie ihre Arbeit machen lassen. Doch
was taten sie? Tony schwamm da unten im kalten Regenwasser, irgendwo. Und er musste
geduldig am Loch warten, das in die Tiefe führte? Es war ein unerträgliches Gefühl zum
Nichtstun verdammt zu sein.
Steinberger, der soeben mit der Polizeieinheit gesprochen hatte, die gewissenhaft
versuchten, die Schaulustigen und die Presse von der doch sehr einsichtigen Stelle fern zu
halten, kam zu ihm zurück. Sein Gesicht war angespannt und seine Mundwinkel zuckten
gereizt. Ein Seufzen entrann seiner Kehle, als er sich neben Gibbs auf die Ladefläche setzte.
„Ihr Handy klingelt“, sagte er kurz und knapp, während er die Arbeiter beobachtete. Ein
Mann sprach irgendwas in sein Funkgerät und winkte einen weiteren Rettungstrupp herbei.
„Das ist Abby“, antwortete Gibbs und ignorierte das Klingeln. „Sie ruft schon das neunte Mal
an.“
„Warum gehen sie nicht ran?“ Steinberger zog die Stirn in Falten, sah den NCIS Agenten aber
nicht an.
„Weil sie dann, wenn ich ihr sage, dass es nichts neues gibt, wieder in Tränen ausbricht.“
Gibbs nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Seine Mimik war versteinert. Auch er blickte zur
Einstiegsstelle. Ein Mann verschwand soeben im Loch. „Aber wenn ich den Anruf nicht
entgegennehme, hat sie vielleicht das Gefühl, ich bin beschäftigt und es tut sich was. McGee
kann sie dann besser beruhigen.“
Der Kriminalhauptkommissar räusperte sich und nahm dann ebenfalls einen Schluck Kaffee.
„Aber das Klingeln macht einen wahnsinnig.“
Gibbs wollte gerade etwas erwidern, als ein Schrei über den Platz hallte. Doch die Worte
waren nicht gut zu verstehen. Der Chefermittler sprang auf, wurde aber von Steinberger
unsanft am Arm festgehalten.
„Nein“, sagte dieser bestimmt. „Sie warten hier und ich sehe nach, was los ist. Und …“ Er
drehte sich im Gehen nochmals um, „… gehen sie verdammt noch mal an das Telefon.“
*****
Es blitzte. Grelles Licht durchzuckte die Dunkelheit. Einmal, zweimal, ein weiteres Mal.
Beißendes Licht traf seine Augen. Mit angehaltenem Atem wartete er auf den Donner und
den einsetzenden Regen. Es musste schon geregnet haben, denn er saß hier in einer Pfütze.
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Seine Badehose war nass. War er am See eingeschlafen? Seine Augenlider fühlten sich so
schwer an, sein Kopf schmerzte. Seine Zunge war bedeckt mit einem eklig schmeckenden
Belag. Hatte er zu viel getrunken? Hatte er einen Kater? Es blitzte wieder, dieses Mal noch
heller. Er versucht seinen Körper zu bewegen, doch alles schmerzte und der Schmerz
drängte ihn erneut zurück.
„Hallo?“, hörte er eine Stimme, die leise durch das Rauschen des Wassers drang. Er konnte
nicht antworten. Es war schon schwer genug, zu atmen. Seine Lunge brannte. Verdammt
hatte er auf dieser Party etwa auch geraucht?
Tony spürte, wie man ihm gegen die Wange tätschelte. Eine weitere Hand fühlte nach
seinem Puls. Die männlichen Stimmen unterhielten sich, aber er verstand kein einziges Wort.
Bruchstücke bohrten sich in sein Bewusstsein. ‚wenigstens koa Leiche‘ und ‚der Kerl is fei
nackert‘; wenn er aus seinem Delirium aufwachte, musste er unbedingt Ziva fragen, ob sie
ihm das übersetzen konnte. Er wollte wissen, was das heißt, schließlich konnte sie doch so
viele Fremdsprachen.
„Hey, kommen Sie zu sich“, eine Hand schüttelte seine Schulter und Tony stöhnte auf.
„Wachen Sie auf.“ Das penetrante Rütteln hörte nicht auf und zwang ihn letztlich dazu, die
Augen einen winzigen Spalt zu öffnen. Dann spürte er, wie kräftige Männerhände ihn unter
den Achseln packten und ihn hochhoben. Sie legten ihn hin. Das Rütteln hörte auf. Es war
bequem. Er schlief wieder ein.
*****
„Abbs“, mit kraftloser Stimme nahm Gibbs den Anruf entgegen. Sofort hielt er den Hörer
weit weg vom Ohr, da er mit einer Schimpftriade der jungen Frau rechnete, weil er ihre
letzten zwei Anrufe ignoriert hatte. Doch diese blieb aus. Er zuckte ein wenig mit den
Schultern, führte den Hörer näher zum Ohr und wiederholte fragend den Namen.
„He, ich bin´s Boss, McGee.“ Als ob er seinen MIT-Absolventen nicht an der Stimme erkennen
würde. Irgendwie eine Spur erleichtert, einen Gesprächspartner am anderen Ende zu haben,
der nicht heulte und schluchzte, fuhr Gibbs sich durch die graumelierten Haare. „Was
gibt´s?“
„Das wüsste ich gerne von dir“, kam ungehalten aus dem Hörer. „Abby sitzt stumm in der
Ecke und redet nicht mit mir. Du bist nicht erreichbar. Ronald ist nicht erreichbar. Niemand ist
hier erreichbar.“ Jetzt hielt Gibbs doch den Hörer weiter weg, sein jüngster Agent war etwas
aufgebracht und schrie seine Wut heraus. „Außer Cornelia, die aber auch keine Ahnung hat,
wie weit die Suche fortgeschritten ist. Die kann uns nur sagen, dass die Leiche, die sie aus der
Kanalisation gefischt haben, nicht Tony ist. Sondern vermutlich dieser Clubbesitzer. Sie wartet
auf DNS-Ergebnisse. Aber das ist uns hier verdammt noch mal egal. Was gibt es neues von
Tony? Wie geht es Ziva? Wie geht es Alisar? Und hey, wie geht es dir?“
„Mir …“ Gibbs stoppte im Ansatz. Am Eingang in die Kanalisation bildete sich eine
Menschentraube. Sanitäter rannten herbei. Vergessen war das Telefongespräch. Auch er
sprang auf und stolperte der Stelle entgegen. Das Telefon hielt er fest umklammert in der
Hand. Man ließ ihn durch. Man klopfte ihm auf die Schulter. Steinberger lächelte. Er verlor
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den Verstand. Er sah Leute, die sich in Zeitlupe zu ihm umdrehten, er hörte leise Musik im
Kopf, er hatte das Gefühl über den Boden zu schweben. Er blieb stehen, blickte nach unten
und erst die Worte von Steinberger: „Sie haben ihn gefunden. Er lebt.“, rissen ihn zurück in
die Realität. Er hob seinen Arm, der sich plötzlich ganz leicht anfühlte, drückte den Hörer an
sein Ohr und sprach mit einer Stimme, die ihm selber unwirklich vorkam: „Jetzt, McGee, jetzt
geht es mir gut. Sie haben Tony gefunden.“
*****
Ziva kam langsam wieder zu sich. Sie lag auf einem Krankenbett, in eine Decke gewickelt.
Ihre Hand schmerzte leicht und als sie nachsah, was sie da störte, sah sie die Kanüle für die
Infusion. Was war bloß los? Vorsichtig hob sie den Kopf und die vorher doch sehr
schummrigen Bilder wurden klarer. Neben ihr saß Ronald und lächelte sie an. Doch das
Lächeln passte nicht zu ihrer Leere, sie fühlte sich schlecht und ausgelaugt.
„Hey, Ilena meinte, ich solle nach dir sehen“, sagte er leise. „Wie geht´s dir? Besser?“
Vorsichtig berührte er ihren Oberarm und half ihr sich aufzusetzen.
„Ich weiß nicht“, antworte Ziva und strich die Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht fielen, zur
Seite. „Ich denke ganz gut. Was …“ Sie zog die Luft ein und suchte nach den richtigen Worte.
„Gibt es etwas Neues?“ Mit traurigem Blick sah sie Ronald in die Augen und zitterte
innerlich. Zu große Angst hatte sie vor der Antwort. „Ist er …“
Ronald griff beruhigend nach ihrer Hand. Felix hatte zwar gesagt, er hätte ihr noch mitteilen
können, dass die Leiche nicht Tony war, doch niemand war sich sicher gewesen, ob Ziva die
Worte verstand, bevor sie einschlief.„Sie haben Tony gefunden. Es geht ihm so weit ganz
gut. Er …“
Ziva brauchte ein paar Sekunden, bis sie Ronalds Worte fassen konnte. Ihr Herz begann zu
rasen und schließlich fiel sie überglücklich in die Arme ihres Gegenübers. Doch sofort löste
sie sich wieder von ihm und drückte ihn zur Seite. „Ich will zu ihm. Sofort.“
„Nicht so eilig Miss David.“ Eine Ärztin betrat das Krankenzimmer und stellte sich neben das
Bett. „Sie sollten es langsam angehen“, sprach sie in gebrochenem Englisch. „Ich möchte
ihren Puls und ihren Blutdruck messen und danach …“ Sie warf einen Blick auf Ronald und
zog die Stirn kraus. „… danach wäre ich gerne kurz mit ihnen alleine.“
„Was?“ Ziva sah die Frau verwirrt an, während diese nach ihrem Handgelenk griff und den
Pulsschlag suchte.
„Ich habe ein Telefongespräch mit einer gewissen Miss Sciuto geführt und sie hat mir
unmissverständlich klar gemacht, was ich zu tun habe.“ Die ernste Miene der Frau verzog
sich zu einem grotesken Lächeln.
„Aber ich muss zu Tony“, versuchte Ziva sich zu widersetzen und spürte im gleichen
Moment, wie die Ärztin ihren Griff um das Handgelenk verstärkte.
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„Diese Frau hat mir am Telefon mit Folter gedroht. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es gut
wäre, mich ihr zu widersetzen“, fügte sie amüsiert hinzu.
Ronald lachte auf und schüttelte den Kopf. „Sie wissen aber schon, wen Sie hier vor sich
haben?“ Am liebsten hätte er ihr erzählt, dass vor ihr auf dem Bett eine ehemalige
Mossadoffizierin, mit Ausbildung in sämtlichen Nahkampftechniken, saß, doch Zivas Blick
ließ ihn verstummen.
Die Ärztin deutete Ronald den Raum zu verlassen und beobachtete dann mit Argusaugen,
wie der Agent zähneknirschend davon schlich.
„Ein kurzer Ultraschall und sie sind entlassen.“ Die Ärztin zwinkerte ihr zu. „Ihr Kollege
schläft sowieso. Da kommt es doch auf fünf Minuten nicht an.“
„Es kommt auf jede Minute an“, erwiderte Ziva, fuhr mit ihrer Hand über den Bauch und
senkte den Blick. „Es kommt auf jede verdammte Sekunde an, in der man glücklich sein
kann. Wer weiß, wie lange sie anhält.“ Müde ließ sie sich ins Bett zurücksinken. Sie wollte
keine Zeit mehr verschenken und endlich glücklich sein.
„Ihr Kollege hat ja so einiges abgekriegt.“ Die Ärztin sprach weiter, während sie das Gerät
heranzog und Vorbereitungen für die Untersuchung traf. Sofort setzte Ziva sich wieder auf,
nur um von der Frau bestimmend, aber dennoch vorsichtig, wieder in die Kissen gedrückt zu
werden.
„Er hat eine riesige Beule am Hinterkopf, die wir mit drei Stichen nähen mussten, ziemlich
tiefe Schrammen am Rücken, eine leichte Unterkühlung und nun ja…“ Sie grinste. „das
Schlimmste hätte ich beinahe vergessen: Agent DiNozzo musste sich einer Magen-DarmSpülung unterziehen. Er hat einfach zu viel von diesem dreckigen Wasser geschluckt und
bevor … nun ja“, sie räusperte sich und winkte ab. „Aber er hat es überlebt und … “ Sie setzte
sich auf den Hocker neben dem Bett und schaltete das Gerät an. „ … er hat bereits nach
Ihnen gefragt.“
Ziva atmete tief durch. Dass Tony reden konnte, war doch die erste wirklich gute Aussage. All
die anderen Dinge waren nebensächlich. Sie würde ihn schon gesundpflegen, sobald sie hier
raus wäre.
„Ich soll Ihnen etwas ausrichten, allerdings befürchte ich, er stand, als er die Worte sprach
ein wenig unter Schmerzmitteln.“ Theatralisch sog sie die Luft ein. „‚Sagen Sie ihr‘, hat er mit
weit aufgerissenen Augen und stöhnend wie ein kleiner Königstiger, weil seine Stimme durch
die Gase in der Kanalisation ein wenig rau ist, gesagt, ‚dass ich sie über alles Liebe und keine
dreckige Kanalisation mich daran hindert mit ihr glücklich zu sein‘. Danach hat er sich leider
übergeben.“
*****
Alisar hatte sich am Bettende zusammengerollt und schlief tief und fest. Nach einem
weiteren Heulkrampf war sie zunächst in den Armen ihrer Mutter eingeschlafen, immer
wieder schreiend aufgewacht und hatte sich letztlich nur mit einem heißen Kakao beruhigen
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lassen, den eine nette Krankenschwester ihr vorbeibrachte. Ihre Fingerkuppen waren
inzwischen mit kleinen Verbänden bedeckt und der Arzt hatte ihr vorsorglich eine
Tetanusspritze gegeben. Das Ausreinigen der Wunden war schmerzhaft gewesen, aber Alisar
hatte sich tapfer dem notwendigen Übel gestellt. Stumm hatte sie den Arzt beobachtet, wie
er die geschundenen Fingerchen abtupfte und ihm sogar erzählt, wie sie versucht hatte, in
der Dunkelheit ihren Stein auszugraben.
Jetzt lag sie im Zimmer ihrer Mutter. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. In den
Armen lag Teddy, frisch gewaschen und befreit von jeglichen Spuren der Vergangenheit. Und
nach Stunden der Verzweiflung und Trauer sah Alisar das erste Mal wieder glücklich und
zufrieden aus.
Ilena hatte Ronald zu Ziva geschickt, sie sollte nicht alleine sein, wenn sie aufwachte. Er war
ein großartiger Mann, einfühlsam, stark und irgendwie wusste er immer genau, was zu tun
war. Wie auch vor einer Stunde, als sie mit Alisar im Untersuchungsraum war:
„Ist mir aber nicht gelungen“, teilte Alisar traurig dem Arzt mit, der gefragt hatte, ob sie den
Stein mitgebracht hätte, und verzog das Gesicht zu einem entmutigten Lächeln. „Aber ich bin
eine NCIS Agentin und ich habe gekämpft bis zum Schluss. So muss man das machen, das hat
Tony mir gesagt.“ Eine einzelne Träne lief über ihre Wange.
Das war der Moment als die Tür aufging und Ronald hereinstürzte. „Sie haben ihn. Tony
lebt.“ Und nach einem kurzen Augenblick, in dem jeder den Atem anhielt und die Nachricht
in sich verarbeitete, erfasste das Glitzern in den Augen des Kindes jeden mit Freude.
„Ich will zu ihm, ich will zu ihm“, ihre flehenden Augen huschten von einer Person zur
nächsten, blieben dann an ihrer Mutter hängen.
„Das geht jetzt noch nicht, Schatz.“ Ilena strich ihr über die Haare. „Die Ärzte müssen sich
jetzt erst um ihn kümmern.“
„Aber … aber…“, Alisar schnaubte auf. „… er muss doch wissen, dass es mir gut geht und ich
ihn vermisse. Vorher kann ich nicht schlafen.“ Wie ein trotziges Kind kniff sie die Augen
zusammen und verschränkte die Arme.
Ronald, der die Szene aus der Ferne beobachte, kam zu dem Kind und stuppte ihr zärtlich auf
die Nase. „Mmmh, ich habe eine Idee. Wir schreiben Tony einen Brief, den legen wir ihm
dann auf das Nachttischchen und sobald er wach wird, kann er lesen, dass es dir gut geht.
Einverstanden?“
Alisar schien einen Moment zu überlegen, doch dann nickte sie entschlossen. „Okay“ Sie hob
ihre Finger hoch, verzog das Gesicht und grinste Ronald verschmitzt an. „Aber ich glaube, du
musst schreiben.“
„Kein Problem.“ Ronalds Gesicht spiegelte Erleichterung. Das Kind war auf seinen Vorschlag
eingegangen. Er hob sie hoch. „Was soll ich denn schreiben, Prinzessin?“
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Alisar klammerte sich um seinen Hals. „Da muss ich überlegen. Meine Freundin Emely hat
mir so einen tollen Spruch in mein Poesiealbum geschrieben.“ Sie drehte sich zu ihrer Mama
um. „Wie ging Emelys Spruch nochmal?“
Ilena stand auf und ging mit schwankendem Schritt auf ihre Tochter zu. Sie hauchte ihr
liebevoll einen Kuss auf die Wange. „In der Nähe, in der Ferne, denkt ein kleines Herz an
dich, hat dich lieb …“
„ … und hat dich gerne und vermisst dich fürchterlich!“, ergänzte Alisar und seufzte laut.
„Das schreiben wir.“
Ilena stand am Fenster und beobachtete die aufgehende Sonne. Vielleicht gab es doch noch
eine Chance für alle, glücklich zu werden. Vielleicht? Wenn jeder bereit war, die
Vergangenheit zu vergessen und neu anzufangen?
*****
Beinahe lautlos schlich Ziva durch den kahlen Krankenhausflur. Wenn sie sich nicht so elend
gefühlt hätte, wäre sie sicherlich gerannt. Sie kannte nur ein Ziel. Tony. Sie hatte die
Untersuchung der Ärztin über sich ergehen lassen, mehr oder weniger geduldig, und nur mit
dem Hintergedanken, endlich Gewissheit zu haben, dass es dem ungeborenen Kind gut ging.
Vor wenigen Tagen war sie noch entsetzt darüber gewesen, schwanger zu sein. Heute fühlte
es sich merkwürdig richtig an. Behutsam fuhr sie über ihren Bauch. „Es ist alles in Ordnung.
Sie sollten sich aber ein wenig schonen und Stress vermeiden“, hallten die ernsten Worte
der Ärztin in ihren Gedanken nach. Stress vermeiden? Sich schonen? Das war leichter gesagt
als getan, denn ihr Leben war bisher alles andere als ruhig verlaufen. Und es war nicht
einfach, sein Leben kurzerhand umzukrempeln.
Sie spürte ihr Herz wild in ihrer Brust schlagen, als sie an der Tür ankam. Leichter Schwindel
überfiel sie und kraftlos stützte sie sich im Türrahmen ab. Sie wollte stark erscheinen, doch
in Wirklichkeit fühlte sie sich gebrechlich und ausgelaugt. Einzig die Tatsache, endlich Tony
zu sehen, hatte ihr die Kraft gegeben, aufzustehen und den Weg von ihrem Bett bis hierher
zurückzulegen. Sie hatte Ronald überredet, sie alleine gehen zu lassen und ihn zu Ilena
geschickt. Doch jetzt bereute sie es, keine starke Hand hinter sich zu wissen. Wann war sie
nur so schwach geworden?
Sie lauschte, ob Geräusche aus dem Zimmer zu hören waren. Doch es war still. Vermutlich
schlief Tony. Leise öffnete sie die Tür und betrat das Zimmer. Der Raum war durch Rollos
abgedunkelt. Doch es sah keineswegs so lapidar aus, wie es die Ärztin ihr erzählt hatte. Im
Bett lag Tony, kreidebleich, mit einem riesigen Kopfverband. Die unterschiedlichsten
Monitore um das Krankenbett herum, waren angeschaltet, ein leises Piepen kontrollierte
seinen Pulsschlag. Vorsichtig trat Ziva an das Bett, setzte sich auf die Kante und beobachtete,
wie seine Brust sich auf und ab senkte, wie er flache Atemzüge nahm. Mit einem kleinen
Schlauch, der in die Nase führte, hatten sie ihm zusätzlich Sauerstoff zugeführt.
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„Du kommst spät“, ertönte eine schwache Stimme aus der dunkelsten Ecke des Zimmers.
„Ich habe schon früher mit dir gerechnet.“ Gibbs stand auf und stellte sich an ihre Seite. Er
schien schwach, doch er hatte die Ärzte überzeugt, alleine zurecht zu kommen.
„Die Ärztin hat mich nicht gehen lassen“, antwortete Ziva und riss sich von Tonys Anblick los.
„Wie geht es ihm?“
„Wie sagt man so schön? Den Umständen entsprechend. Aber wenn ich bedenke, wie er
gestöhnt und geschimpft hat, als man ihm diesen Plastikschlauch zugeführt hat, um ihm den
Magen auszuspülen, kann ich dir sagen: es geht ihm gut.“
Ziva lächelte verzweifelt. Sie konnte es sich lebhaft vorstellen, wie Tony sich mit Händen und
Füßen dagegen wehrte.
„Was mir allerdings Sorgen macht, ist seine Kopfverletzung.“
„Was?“ Ziva schreckte zusammen. „Kann er sich erinnern? Bitte, sag mir, dass das nicht
wieder von vorne anfängt. Was ist mit seinem Kopf?“
„Nein, nein. Sein Erinnerungsvermögen scheint vollkommen in Ordnung zu sein …“,
beruhigend legte er eine Hand auf Zivas Schulter, als er merkte, wie angespannt sie plötzlich
war. Ihr Körper zitterte leicht. „… aber er redet wirres Zeug.“ Gibbs lachte auf. „Das Beste
bisher war, wie er mit krächzender Stimme versuchte mir klar zu machen, dass er tatsächlich
Vater wird. Den Rest der Story habe ich nicht mitbekommen, weil diese Ärzte mich
rausgeschmissen haben.“
Ziva presste die Lippen aufeinander und versuchte das Lächeln, das sich unweigerlich in
ihrem Gesicht ausbreiten wollte, zu verstecken. Sie räusperte sich und als sie sich wieder im
Griff hatte, drehte sie sich zu ihrem Boss um. „Und wie geht es dir? Was ist mit deiner
Hand?“
„Ach, ich hab mir das Messer in den Finger gerammt. Nicht der Rede wert.“ Gibbs musterte
seine Agentin. „Aber dich hätte ich besser zu Hause gelassen. Du siehst total elendig aus.
Ducky wird mir die Hölle heiß machen.“
„Nichts hätte mich aufhalten können.“
Gibbs nahm sie in die Arme und küsste sie liebevoll auf die Stirn. „Ich weiß. Wenn du etwas
willst, weißt du, es durchzusetzen.“
Ziva schloss die Augen und griff unbewusst nach Tonys Hand. Sie fühlte sich merkwürdig kalt
unter ihren Fingern an. „Ich will doch nur glücklich sein.“
*****
Felix ließ sich erschöpft auf seinen Schreibtischstuhl fallen und atmete tief durch. Nach der
stundenlangen Suche in der Kanalisation empfand er die sterile alte Einrichtung seines
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kleinen Büros in der dritten Etage des Polizeipräsidiums als angenehm. Er spürte wie das
Leben in ihn zurückkehrte und die Müdigkeit ihn übermannte.
„Dieser Bericht wird sich wie das Drehbuch eines Horrorfilms lesen“, sagte er schnippisch in
Richtung Tanja, die soeben den Raum betrat und abgespannte am Schreibtisch stehen blieb.
„Es fing mit einem verloren geglaubten Kind an, es gab drei Frauenleichen, eine
Kindesentführung, mit der toten Erzieherin, darauf folgte ein regelrechtes Drama im
Münchner Untergrund; ich denke, wir haben dieses Mal keinen wesentlichen Aspekt
ausgelassen. Das Motiv ist ebenfalls vielschichtig. Rache, Eifersucht, Fanatismus? Oder doch
eine simple Geisteskrankheit? Das hört sich nach einem Hitchcock Klassiker erster Güte an.
Diese Story nimmt uns am Stammtisch keiner ab.“ Gähnend setzte sie sich auf die Couch, auf
der wenige Tage zuvor Alisar geschlafen und auf ihre amerikanischen Freunde gewartet
hatte. „Die Zusammenarbeit mit einer amerikanischen Bundesbehörde noch nicht
berücksichtigt.“
„Du hast die Undercoveraktion vergessen“, fügte Cornelia kichernd hinzu und klopfte
unnützerweise noch leise an den Rahmen der offen stehenden Tür um ihr Kommen
anzukündigen. „Die Festnahme war auch etwas ganz Besonderes.“
„Halten wir doch einfach fest, dass dieser ganze Einsatz irgendwie besonders war.“ Felix
schmunzelte seine Kolleginnen an und reckte sich ausgiebig. „Was haltet ihr von einem
leckeren Frühstück am Odeonsplatz. Ich habe einen Bärenhunger. Und das Cafe Tambosi
wäre jetzt genau nach meinem Geschmack.“
„Die Rechnung geht auf mich“, ertönte die Stimme von Kriminalhauptkommissar Steinberger
aus dem Nachbarzimmer.
„Kommen Sie auch mit?“ Cornelia lugte um die Ecke. Ihr Chef kam gerade aus der Tür und
schüttelte den Kopf. Ein griesgrämiger Gesichtsausdruck zierte sein Gesicht.
„Nein“, grummelte er. „Ich muss noch eine Stellungnahme abgeben in Bezug auf die
Auslieferung von Arif Hamid an die Israeli. Die wollten ihn natürlich auch für seine Taten zur
Rechenschaft ziehen. Danach möchte ich nichts weiter als eine Dusche und ein kühles
Weißbier auf meiner Dachterrasse. Ich bin eben nicht mehr der Jüngste.“ Zum Abschied hob
er die Hand und nickte seinen Leute zu. „Wir sehen uns morgen.“
*****
Ziva strich behutsam über Tonys Wange. Seit einer halben Stunde war sie alleine mit ihm.
Gibbs hatte sich verabschiedet, mit den Worten, auch er brauche ein paar Stunden Schlaf
und würde zurück ins Hotel fahren. Seitdem saß sie an Tonys Seite, hielt seine Hand und
beobachtete jede Regung. Zweimal war eine Krankenschwester ins Zimmer gekommen und
hatte seinen Puls kontrolliert, ihr beruhigend zugenickt und war lautlos wieder
verschwunden. Ziva versuchte das mulmige Gefühl in sich zu verdrängen, doch unweigerlich
tauchten die Bilder in ihr auf, wie sie vor einigen Monaten an Tonys Bett stand, er erwachte
und sie nicht erkannte. Auch wenn sie wusste, dass diese schreckliche Zeit vorüber war,
versetzte ihr die Erinnerung daran noch immer einen schmerzenden Stich mitten ins Herz.
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Mit dem Handrücken rieb sie eine Träne aus ihrem Gesicht und sie rang sich zu einem
befremdlichen Lächeln durch. Gibbs hatte ihr doch längst bestätigt, dass Tony sich erinnern
konnte, auch wenn der Grauhaarige bei Tony von Halluzinationen wegen des Schmerzmittels
ausging, sie wusste, dass alles, was Tony von sich gegeben hatte, stimmte.
Tony stöhnte leise auf und regte sich. Ziva griff sofort nach seiner Hand und fuhr zärtlich
über die blasse Haut. Seine Atemsequenz stieg unweigerlich an, blieb aber im Normbereich.
Kein Gerät zeigte kritische Werte. Ziva hielt unweigerlich die Luft an.
„He“, flüsterte sie leise und beugte sich zu ihm herunter. Sachte küsste sie ihn auf die Stirn.
„Endlich bist du wach.“
„Hast du mich vermisst?“ Tonys Stimme war schwach und tonlos. Er öffnete langsam die
Augen und blickte sie an.
„Ich dachte, ich hätte dich verloren.“ Ziva legte ihre Hände behutsam um Tonys Gesicht.
Sekundenlang verharrte sie in dieser Position und suchte nach den richtigen Worten. „Ich
glaube es ist wahr …“, setzte sie an, brach den Satz jedoch ab und fuhr mit ihrem Daumen
über Tonys Wangenknochen. Sie lächelte ihn an und bevor er das Wort ‚Was‘ aussprechen
konnte, sprach sie endlich leise weiter. „ .. dass man nicht schätzt, was man hat, bis man es
verliert.“
Tony versuchte sich aufzusetzen, zuckte aber sofort vor Schmerzen zusammen. „Autsch“,
entrann es seiner Kehle und er sank zurück in die Kissen. „Ich glaube ‚das mich verlieren‘ hat
nicht funktioniert. Die Schmerzen zeigen mir deutlich, dass ich noch am Leben bin.“ Ein
Grinsen zierte sein Gesicht. „Die haben mich einen Schlauch schlucken lassen, das war
abscheulich. Wo warst du? Warum hast du mich mit deinen Ninja-Kampftechniken nicht
gerettet?“
Ziva lachte auf. „Das ist nicht dein ernst, oder?“ Entrüstet schüttelte sie den Kopf. „Mir ging
es nicht sonderlich gut.“
„Was?“ Jetzt setzte sich Tony ruckartig auf, verzog kurz das Gesicht, aber vergessen war der
eigene Schmerz, der ihn vor wenigen Sekunden noch wehleidig jammern ließ. „Warum? Alles
in Ordnung? Ist etwas mit dem Kind? Ziva, jetzt rede doch endlich.“
Ziva warf ihm einen gespielt bösen Blick zu, der ausreichte, ihn in seinem Redefluss zu
stoppen. Doch nur für wenige Sekundenbruchteile und so blieb ihr keine Möglichkeit zu
antworten.
„Die haben gesagt, es geht dir gut. Die haben mich angelogen.“ Wütend blickte Tony zur Tür.
„Nein, sie haben nicht gelogen. Es ist alles in Ordnung. Es geht mir gut. Es war nur alles zu
viel. Die Übelkeit, mein Kreislauf, die Nachricht, dass du tot seist.“ Ziva sog die Luft in ihre
Lungen. Es auszusprechen tat noch immer weh und sie spürte wie ihr Herzschlag sich
beschleunigte. Sofort kam das Schwindelgefühl zurück.
Tony griff nach ihren Händen. Und als er merkte, dass Ziva ihm auszuweichen versuchte, griff
er nach ihrem Kinn und drängte sie liebevoll ihn anzusehen. „Du dachtest wirklich ich bin
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tot?“ Fassungslos blickte er seiner Partnerin in die Augen. Er brauchte keine Antwort um sich
eine Bestätigung zu holen.
„Nun ja, sie haben eine männliche Leiche aus der Kanalisation geholt. Alisar und Gibbs waren
schon draußen. Du warst noch vermisst. Sie haben eins und eins zusammengezählt. Was
sollten wir anderes denken.“
„Wow.“ Tony schluckte schwer. „Du dachtest wirklich, du hättest mich verloren.“ Tränen
standen jetzt in seinen Augen. „Das tut mir leid.“ Der Satz erschien ihm plump, aber er
wusste nicht, wie er seine Gedanken in passendere Worte hüllen konnte.
„Es tut dir leid?“ Ziva lächelte und legte den Kopf schief. Ihre Augen spiegelten
Unverständnis.
„Ich wollte dich nicht schon wieder unglücklich machen“, brachte er leise hervor und zog sie
näher an sich.
„Dann mach mich endlich glücklich“, flüsterte sie. Sie hob den Kopf und blickte ihm tief in die
grünen Augen.
„Gerne. Kannst du mich hier wegbringen?“ Er grinste sie an und gab ihr einen flüchtigen
Kuss, bevor er anfing an seiner Decke zu zupfen und sich mühevoll frei zu strampeln.
„Keine gute Idee.“ Bestimmt griff sie nach Tonys Händen. „Du bleibst hier, bis die Ärzte
sagen, dass du gehen darfst. Oder meinst du, ich will mir weiterhin Sorgen um dich machen?
Aufregung ist nicht gut.“ Verschmitzt sah sie ihn an, beobachtete wie er kurz zögerte, doch
dann den Mund zu einer Schnute zog.
„Hier kann ich dich aber nicht glücklich machen“, knurrend ließ er sich zurücksinken, ließ es
sich aber nicht nehmen, sie mit sich zu ziehen. Behutsam zog er sie in seine Arme. Seine
Lippen suchten die ihren und als er sie endlich fand, küsste er sie sanft.
Nach einer gewissen Zeit löste sie sich von dem Kuss und blickte ihn ernst an. „Ich hab Abby
am Telefon alles erzählt. Auch das ich schwanger bin“, in ihrer Stimme klang ein Hauch
schlechten Gewissens mit.
„Macht nichts“, spottete Tony. „Ich hab Gibbs auch schon erzählt, dass ich Vater werde. Er
hat ganz okay reagiert, hat mich gar nicht zur Schnecke gemacht, sondern eher beruhigend
auf mich eingeredet.“
Ziva lachte erneut auf und strich über Tonys Brust. „Ja, weil er dachte, du hättest
Halluzinationen wegen der Schmerzmittel. So war zumindest seine Aussage mir gegenüber.“
„Ernsthaft?“ Tony biss sich auf die Unterlippe. „Dann muss ich ihm das nochmal sagen?“
„Wir können es ihm gemeinsam sagen. Wäre vielleicht sicherer. Oder ich sollte vorher aus
dem Team aussteigen, was ich ja sowieso früher oder später tun werde. Dann hätten wir
nicht gegen Regeln verstoßen und Gibbs hätte weniger Angriffsfläche.“
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„Gibbs ist doch nicht blöd“, erwiderte Tony und hob die Schultern. Sein qualvoller Blick
wurde von Schmerzen durchzuckt, dennoch setzte er ein bizarres Lächeln auf. Nein, sein
Boss war nicht blöd und er würde ihm die Leviten lesen. So oder so, vor diesem Gespräch
hatte er schon einen gewissen Respekt.
„Nein, aber ein guter Mensch. Und wenn wir ihm eine Brücke bauen, kann er sich vielleicht
mit uns freuen.“ Sie setzte sich auf. „Und außerdem ist es einfacher um Verzeihung zu bitten
als um Erlaubnis.“
„Apropos um Verzeihung bitten.“ Tony runzelte die Stirn. „Wie ist es mit Ilena gelaufen?“
Tony blickte auf die Bettdecke herab. Das Thema brannte ihm noch immer auf der Seele.
Ziva in den Armen eines anderen Mannes zu wissen, tat weh.
„Ich bin ihr noch nicht begegnet.“ Nervös spielte sie mit ihren Fingern. Die Aussprache mit
Ilena stand ihr noch bevor. Ziva wusste, sie hatte eine riesen Dummheit getan und sie selbst
würde verstehen, wenn ihre Cousine das Geschehene nicht vergessen, geschweige denn
verzeihen könnte.
„Ziva?“ Tony strich ihr über den Arm und riss sie damit aus ihren Gedanken. „Was immer
auch passiert, oder passiert ist, du darfst eins nie wieder vergessen.“ Er räusperte sich.
„Okay, WIR dürfen eins nie wieder vergessen“, ergänzte er dann mit ernster Stimme. „Ich
liebe dich.“
„Ich habe es nicht vergessen“, murmelte Ziva leise und legte ihren Kopf auf seine Brust. Leise
hörte sie seinen Herzschlag.
„Aber angezweifelt.“ Tony strich über ihren Kopf und schob eine Haarsträhne zur Seite, so
dass er ihr Gesicht sehen konnte. „Und ich dachte, du hättest in diesem Moment das gleiche
gefühlt, wie ich.“
„Was meinst du?“
„Dieser Morgen, dieser Moment als wir im Hotelzimmer ankamen und wir uns küssten. Ich
habe nach deiner Hand gegriffen und unsere Finger haben sich ineinander verflochten. Es
war für mich ein Zeichen tiefer Verbundenheit.“ Seine Hand ruhte jetzt in ihrem Nacken und
streichelte sie zärtlich.
„Du hast meine Hand aber nicht lange festgehalten.“ Ziva schloss die Augen und lächelte
glücklich bei der Erinnerung, wie sie ihre Finger aus seiner Hand gelöst und ihn in Richtung
des Bettes geschoben hatte.
Tony beobachtete Zivas Mimik und musste unweigerlich grinsen. „Du musst auch gerade
daran denken?“ Er spürte wie die Erinnerungen auch in ihm aufwallten. Die Verbindung
zwischen ihnen war so intensiv gewesen, wie er es noch niemals zuvor erlebt hatte.
Vollkommen überwältigt von seinen Gefühlen, hatte er immer wieder Zivas Namen
gemurmelt. „Ich wollte dich spüren. Und ich war bereit dir alles zu geben.“
„Du hast mir alles gegeben“, murmelte sie leise.
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„Oh Gott“, stöhnte Tony plötzlich auf, sein Gesicht qualvoll verzerrt. „Bitte. Bitte Ziva.“
Ziva setzte sich ruckartig auf und sah ihn erschrocken an. „Was ist los? Hast du Schmerzen?“
„Bitte! Bring mich hier raus.“ Er lachte leise, ungemein entzückt, dass er sie so einfach aus
der Reserve locken konnte.
„Tony“, stöhnte sie im schwachen Protest. „Du bist einfach …“
„… unmöglich.“ Er beachtete ihren Einwand nicht, sondern presste seinen Mund auf ihre
Lippen und zog sie bestimmt an sich. Seine Hände strichen fordernd über ihren Rücken.
Eigentlich hatte er sie nur küssen wollen, doch ihre Lippen waren so weich und
hingebungsvoll.
Epilog
Ein Jahr später – Washington D.C. 26. August 2013
Vorsichtig pustete Alisar über die Spitze ihres Zeigefingers und schloss hingebungsvoll die
Augen. Felix und Tanja beobachteten sie lächelnd und blickten der kleinen Wimper
hinterher, wie sie durch die Luft schwebte, irgendwo auf der Wasseroberfläche des Flusses
landete und mit den Wellen davon schwamm. Kinder glaubten noch daran, an das
Übernatürliche, an die friedvolle Welt da draußen. Irgendwo hinter dem Horizont.
„Ich darf euch meinen Wunsch aber nicht verraten“, flüsterte das Kind. „Sonst geht es nicht
in Erfüllung. Das hat mir Ronald beigebracht, wisst ihr, das ist wie mit den Sternschnuppen.
Man wünscht sich was, aber man darf es nicht erzählen, sonst wird es nicht wahr.“ Alisar
legte den Kopf schief und strahlte Felix und Tanja mit glänzenden Augen an. „Ich hab euch
richtig vermisst.“ Stürmisch umarmte sie Felix.
„Wir haben dich auch schrecklich vermisst. Wir haben uns ja über ein ganzes Jahr nicht
gesehen. Aber ich habe jeden deiner Briefe gelesen.“ Er wuschelte durch die Haare des
Mädchens und nickte.
„Und er hat alle deine Bilder an die Pinnwand gehängt“, mischte sich Tanja schmunzelnd ein.
„Bald ist da kein Platz mehr.“
„Jedes Bild ist eben einzigartig und wunderschön“, erwiderte Felix schulterzuckend.
„Besonders das letzte, das mit dem Regenbogen und …“
„… das mit Mama und Ronald. Meinst du das? Die beiden haben sich richtig lieb“, kicherte
sie leise. „Er ist jetzt mein neuer Daddy.“ Alisar lachte laut und hüpfte fröhlich davon. „Ich
find´s klasse, dass ihr alle da seid. Los kommt mit, nicht das wir noch etwas verpassen“, rief
sie noch von weitem.
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Felix und Tanja sahen dem Kind hinterher. Es war schön zu sehen, wie gut es Alisar heute
ging, wie fröhlich sie war. Scheinbar hatte sie das Erlebte gut weggesteckt und hatte die
Chance genutzt in das Leben eines normalen Kindes zurückzukehren.
„Wer hätte das gedacht.“ Felix ließ Tanja den Vortritt und legte seine Hand auf ihren Rücken,
während sie nebeneinander her gingen. „Die Kleine ist ein Phänomen. Wenn man bedenkt
wie verstört sie die Tage nach ihrer Rettung war. In sich versunken, traurig.“
„Aber sie hat das Funkeln in ihren Augen niemals verloren.“ Tanjas Stimme war
nachdenklich. „Es war so nett, wie sie Tony um den Hals gefallen ist, als sie endlich zu ihm
durfte und die ganze Zeit geschrien hat ‚Du bist mein Held‘.“
„Tony hat fast keine Luft mehr bekommen“, ergänzte Felix schmunzelnd. „So fest hat sie ihn
gedrückt. Und dann abgeküsst.“
Mit zufriedenen Gesichtern stiegen die beiden deutschen Kommissare die Treppenstufen zur
einladenden Terrasse einer Villa hinauf. Gerade als Felix die Aussicht loben wollte, bog
Cornelia um die Ecke, gefolgt von Max. Auf dem Arm trug sie einen vier Monate alten
Säugling.
„Da seid ihr ja endlich. Steinberger hat euch schon vermisst. Und Abby möchte euch endlich
kennen lernen. Sie ist echt so verrückt, wie wir sie uns vorgestellt haben, kann ich euch
sagen.“ Während sie sprach, wiegte sie das Kind in ihren Armen. „Ist sie nicht süß.“
„Ist das die kleine Marie?“ Tanja beugte sich vor und betrachtete das kleine Wesen.
„Heißt sie wirklich Marie?“, kicherte Felix. „Wegen der Mariensäule? Nicht ernsthaft.“
Tanja boxte Felix in die Seite. „Hey, das ist romantisch. Das war der schönste Heiratsantrag,
den sich eine Frau nur wünschen kann. Und wenn man sein Kind nach einem Ort benennt, an
dem man richtig glücklich war, kann das doch nicht falsch sein.“
„Oh ja“, seufzte Cornelia. „Ich sehe es noch wahrhaftig vor mir. Jedes Mal wenn ich durch
die Innenstadt laufe, kommt die Erinnerung in mir hoch. Die laue Sommernacht,
sternenklarer Himmel, ein Lichtermeer von Kerzen auf dem Boden.“
„Du musstest sie ja auch nicht anzünden“, grummelte Max neben ihr und erntete dafür
einen bösen Blick von Cornelia. „Was denn? Tonys Hände haben so gezittert, dass er nicht
fähig war auch nur eine Kerze davon anzuzünden, also haben Felix und ich die ganze Arbeit
geleistet.“
„Ziva war vollkommen überrascht. Es war ganz schön schwierig, sie fortzulocken.“ Tanja
geriet ins Schwärmen. „Aber sie sah umwerfend aus. Dieses schwarze, kurze Kleid, die
Locken. Und als wir dann aus der Theatinerstraße um die Ecke bogen, war sie fix und fertig
mit der Welt und stammelte die ganze Zeit nur wirres Zeug.“
„Mmh, ja, Tony war auch ein wenig verwirrt. Das nehm ich ihm echt übel.“ Felix fuhr sich
durch die Haare. „Zwei Stunden hab ich den Spruch mit ihm geübt. Vor dem Spiegel im
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Krankenhaus. Und später im Hotel nochmal. Immer und immer wieder. Und am Ende
versemmelt er alles und bringt nur raus: ‚Du musst mich heiraten‘. Mehr nicht. Plump,
einfach nur plump.“
„Das war nicht plump, das war total niedlich.“, verteidigte Cornelia den Agenten. „Er war
total fertig, kreidebleich. Ich dachte, er fällt jeden Moment in Ohnmacht. Ich hab innerlich
schon mit Erste-Hilfe-Maßnahmen angefangen.“
„Na hättest du ihm mal geholfen, Ziva den Ring an den Finger zu stecken, dann hätte sie es
nicht selber machen müssen.“ Max lachte auf. „Hoffentlich bekommt er das gleich besser
hin.“
Alle brachen in heiteres Gelächter aus. Es war Kriminalhauptkommissar Steinberger der die
Gruppe zurück in die Gegenwart brachte. Er stand auf der obersten Stufe und deutete
grimmig auf seine Uhr. „Wir sollten jetzt wirklich unsere Plätze einnehmen.“
*****
Ducky, in einem schicken Anzug gekleidet und einer Fliege aus Samt um den Hals gebunden,
trat neben seinen alten Freund und klopfte ihm auf die Schulter. „Wie hat Anthony das
eigentlich überlebt?“
Gibbs verzog überlegend das Gesicht, so als wüsste er im ersten Moment nicht, worauf der
Pathologe anspielte. „Ja, irgendwie ein kleines Wunder“, stieß er dann hervor. „Dieser
geplatzte Undercover Auftrag, das Feuer, der folgende Gedächtnisverlust und dann die
Münchner Kanalisation. Der Junge musste so einiges durchstehen.“
„Ich meinte eigentlich eher das Gespräch mit dir.“ Ducky lachte. „Ich meine, du hast nie
einen Hehl daraus gemacht, dass du einer Beziehung im Team nicht positiv gegenüberstehst.
Tony und Ziva haben gegen so einige deiner wichtigsten Regeln verstoßen.“
„An andere haben sie sich gehalten.“ Gibbs richtete seine Krawatte. „Und nach all den
Geschehnissen ist mir dieses Ende hier am liebsten. Manchmal muss man seine eigenen
Regeln über Bord werfen und das Schicksal akzeptieren. Außerdem, es war alles nur eine
Frage der Zeit.“
„Eine Frage der Zeit?“ Ducky runzelte die Stirn.
„Hätte er es mir hier in D.C., in meinem eigenen Reich gesagt, ich hätte ihn vermutlich einen
Kopf kürzer gemacht. Aber er hat es nun mal geschickt angestellt, mein Senior Field Agent.
Das muss man ihm lassen.“ Gibbs kniff die Augen zusammen. „Beim zweiten Maß Bier im
Biergarten am Chinesenturm da ist man eben friedfertig und kann auf niemanden wirklich
böse sein. Und außerdem …“
„… du hast es schon immer gewusst.“ Ducky konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Naja, sagen wir, ich habe es geahnt.“ Gibbs blickte Alisar entgegen, die soeben die Stufen
herunter hüpfte und lachend auf sie zugerannt kam. „Und die junge Dame hier hat mir ganz
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schön den Kopf gewaschen. Ihre Ansichten was ‚die große Liebe‘ angeht, sind sehr
überzeugend.“ Jetzt lachte Gibbs und erwiderte Alisars Umarmung.
*****
Es sollte ein einzigartiger Moment werden. Romantisch, sinnlich und mit einem Hauch von
Leidenschaft. Ein Tag, den alle Beteiligten so schnell nicht mehr vergessen sollten, der sich in
die Erinnerungen aller brannte und die schmerzenden Erfahrungen der Vergangenheit für
immer überdeckte.
Ziva strich sich eine Haarsträhne zur Seite und betrachtete sich ein weiteres Mal in dem
großen Spiegel. Ihr Blick wanderte über ihren Körper, begutachtete das silberne, lange Kleid
und bewunderte ihre großen Locken. Sie war zufrieden. Stunden hatte sie im Bad verbracht,
ihre Haare aufgedreht, Make-up verwendet und ihre Augen mit silbrig glitzerndem Mascara
betont. Die Tätigkeiten hatten sie abgelenkt und beruhigt, doch nun spürte sie, wie die
Unruhe und Nervosität wieder von ihrem Körper Besitz ergriff. Sie griff erneut nach dem
Lipgloss und fuhr mit der weichen Borste über ihre Lippen. Um ihr inneres Gleichgewicht
nicht zu verlieren, atmete sie tief durch und schloss für einen Moment die Augen.
„Du siehst wunderschön aus.“ Ilena war unbemerkt ins Zimmer gekommen und hatte ihre
Cousine eine Zeit lang beobachtet. Es war das erste Mal, dass sie alleine miteinander waren,
seit sie nach D.C. zurückgekehrt waren. Sicherlich, man war sich begegnet, alleine wegen
Alisar, die natürlich ständig zu ‚ihrem‘ Tony wollte, doch man war sich so gut es ging aus dem
Weg gegangen. Fast immer hatte Ronald das Kind begleitet. Ilena hatte sich zurückgezogen.
Sie lebte ihr Leben mit ihrer kleinen Familie und schien glücklich zu sein.
Ziva öffnete die Augen als sie die Stimmer erkannte und blickte die Frau durch den Spiegel
an. Ein ehrliches Lächeln legte sich auf ihre Lippen. „Schön, dass du gekommen bist“,
flüsterte sie daraufhin mit heiserer Stimme und spürte den Kloß in ihrem Hals, der sich
immer wieder bemerkbar machte, wenn sie an Ilena dachte. Ihre Cousine war ihr wichtig,
sehr sogar, doch sie hatte auch Verständnis für deren damalige Reaktion und den Wunsch
sich zurückzuziehen. Sie hätte sich an ihrer Stelle vermutlich noch weiter von ihr entfernt.
„Es ist vielleicht nicht der richtige Moment.“ Ilena kam näher und stellte sich an Zivas Seite.
Vorsichtig zupfte sie am Kleid und richtete eine Falte aus. „Aber ich habe dich beobachtet,
ich habe gesehen wie glücklich du bist, mit Tony und mit Marie“, sprach sie mit fast tonloser
Stimme.
Ziva zögerte und spürte ihr Herz schneller schlagen, doch dann nickte sie. „Ja, ich bin
glücklich“, sagte sie leise. Irgendetwas in ihr schrie auf. „Aber es gab eine Zeit da war ich sehr
unglücklich. Und damals warst du die Einzige, die mir beigestanden hat. Ich habe mir die
Augen ausgeheult, weil Tony sich nicht erinnern konnte. Du hast Nächte mit mir am Telefon
geredet. Du warst für mich da.“ Zivas Augen füllten sich mit Tränen und sie schwiegen sich
kurze Zeit an, bis die Stille für Ziva unerträglich wurde. „Es tut mir alles so leid, Ilena. Es tut
mir leid, dass ich dir so weh getan habe.“
„Ich weiß.“ Ilena blickte zu Boden und spielte unsicher mit ihren Händen. Dann hob sie
plötzlich den Kopf und straffte die Schultern. Mit klarem Blick sah sie Ziva in die Augen. „Ich
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weiß dass es dir leid tut, ich weiß, du würdest alles tun, um es rückgängig zu machen. Aber
das ist nicht möglich. Und ich kann es nicht vergessen. Noch nicht.“ Sie sog die Luft tief ein,
griff nach einem Papiertaschentuch auf der Ablage und tupfte Zivas Tränen vorsichtig von
der Wange. „Hör auf zu heulen. Du verschmierst dein ganzes Makeup.“
„Ich versteh dich ja“, murmelte Ziva und versuchte zu lächeln, doch es fühlte sich mehr wie
eine Grimasse in ihrem Gesicht an.
„Ich kann es ‚noch‘ nicht vergessen. Aber ich kann auch die andere Seite nicht vergessen.
Unsere gemeinsame Vergangenheit, der wir den Rücken gekehrt haben. Die gemeinsame
Kindheit. Ich weiß noch, wie sehr ich dich vermisst habe, als wir damals Hals über Kopf
weggegangen sind. Es war als hätte mein Vater mir meine Seele rausgerissen. Und heute bist
du ganz in meiner Nähe und ich vermisse dich trotzdem. Weil ich nicht in der Lage bin, über
meinen verdammten Schatten zu springen und die Vergangenheit endlich hinter mir zu
lassen.“ Ilenas Augen funkelten und wütend auf sich selbst, presste sie die Lippen
aufeinander.
Von unten hörte man Alisars aufgeregtes Rufen. ‚Mami, wo bist du? Schnell. Es geht gleich
los. Mamiiiiiii?‘ Ilena musste unweigerlich lachen. „Genieße die Zeit in der Marie weder
reden noch laufen kann. Und danach …“ Sie stockte und das Lächeln in ihrem Gesicht
verschwand. „… danach pass gut auf sie auf.“
„Du machst dir noch immer Vorwürfe“, stellte Ziva fest und griff nach der Hand ihrer
Cousine. „Du hast keinen Grund dafür. Das weißt du. Du bist eine tolle Mutter. Sicher, Alisar
hat viel durchgemacht, ‚ihr‘ habt viel durchgemacht. Aber schau dir die Kleine doch mal an.
Sie konnte das alles nur so gut wegstecken, weil sie eine Mutter wie dich hat.“
„Ich habe zu viele Fehler gemacht.“ Ilena blickte auf Zivas Hand, die die ihre noch immer
festhielt. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, als suche sie nach den richtigen Worten. „Wir alle
haben Fehler gemacht und es wird wohl Zeit zu verzeihen. Sich selbst und anderen.“
„Hmm, ja und weißt du, was dein letzter Fehler war?“ Sie lächelte und hob Ilenas Kinn an, so
dass sie ihr in die Augen sehen konnte. „Dass du so lange gewartet hast, endlich zu mir zu
kommen. Ich hab dich doch auch vermisst.“
In dem Moment als sich die beiden Frauen umarmten, wurde die Tür mit einem
langgezogenen ‚Mamiiiii?‘ aufgerissen. Ziva sah aus dem Augenwinkel, wie Alisar, als sie ihre
Mutter erkannte, zunächst wie versteinert stehenblieb und dann versuchte, die Situation,
die sich gerade vor ihren Kinderaugen abspielte, zu verstehen. Letztlich zierte ein riesiges
Lächeln ihr Gesicht.
Hinter Alisar kam Ronald ins Zimmer. Er nickte wohlwollend und legte seine Hand auf die
Schulter des Mädchens. Das Kind sah zu ihm hoch und mit roten Backen strahlte sie ihn an.
„Es hat funktioniert.“
„Was denn?“, flüsterte Ronald leise und kniff ein Auge zu.
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„Na das mit der Wimper. Ich hab´s mir gewünscht und schon ist es in Erfüllung gegangen.
Jetzt ist Mami wieder glücklich.“
„Apropos glücklich.“ Ronald räusperte sich. „Ziva? Hältst du es für eine gute Idee, Tony noch
länger warten zu lassen? Er ist, nun sagen wir mal, ein wenig nervös.“
*****
„Hast du die Ringe?“ McGee stolperte durch die Stuhlreihe und hob entschuldigend die
Hände als er den anderen Gästen auf die Füße trampelte. „Und warum sitzt du hier, als
Trauzeuge muss man vorne stehen.
Abby schmunzelte, versuchte aber es sich nicht anmerken zu lassen. „Ich habe die Ringe
nicht.“ Nachdem sie den Satz ausgesprochen hatte, konnte sie beobachten wie dem MITAbsolvent jegliche Farbe aus dem Gesicht wich und er panisch anfing seine Taschen des
Sakkos zu durchwühlen. Mitleidig hob Abby eine Augenbraue und schüttelte den Kopf. „Ich
hab sie der richtigen Trauzeugin gegeben.“
McGee hielt in seiner Suchaktion inne und runzelte die Stirn. „Du bist die richtige
Trauzeugin. Dreht ihr jetzt alle durch?“
Abby lachte auf. „Der Einzige, der hier anscheinend die Nerven verliert, bist du mein Lieber.
Tony mal ausgenommen.“ Sie sah ihn mit einem verschmitzten Lächeln an. „Ich war doch
nur Ersatz.“
„Ersatz? Wieso? Warum? Kannst du mich bitte mal aufklären?“ McGee atmete tief durch
und hob fragend die Hände.
„Ich habe Ilena die Ringe gegeben. Und ich habe sie zu Ziva geschickt. An einem Tag wie
diesem muss man einen Neuanfang wagen.“ Abby hob lässig die Schultern und legte den
Kopf schief. „Sie gehört an die Seite der Braut. Und du an die Seite des Bräutigams“, fügte sie
kichernd hinzu.
„Ich frag mich immer noch, warum die beiden ausgerechnet mich ausgewählt haben.“
McGee zupfte seine Krawatte zurecht.
„Ist doch klar.“ Abby stand auf und strich einen Fussel vom Sakko. „Du hast viele Jahre
zwischen den Stühlen gestanden und geschlichtet, du warst der, wie sagt man, Prellbock
zwischen den Beiden. Eine Stütze, ein Unterhändler, die ausgleichende Parabel. Du bist
eingeschritten, du hast verhandelt, viele Streitigkeiten verhindert. Du hast…“
„Abby. Stopp!“
Abby machte eine kurze Pause und drückte McGee einen Kuss auf die Wange. „Und genau
so einen werden sie auch in ihrer Ehe brauchen. Einen guten Freund.“
*****
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Tonys Blick wich keinen Millimeter von der Gestalt, die langsam und geschmeidig die breiten
Stufen der Terrasse herunter schritt. Und mit jeder weiteren zurückgelegten Stufe schlug
sein Herz noch schneller und sein Atem ging seit geraumer Zeit nur noch stoßweise. Er fühlte
sich schon lange nicht mehr dazu in der Lage, seinen Mund zu schließen und seine Knie
waren weicher, als er jemals für möglich gehalten hatte. Seine Gedanken waren zu nichts
mehr fähig, er sah nur noch sie. Ziva. Und ihr Anblick war mehr als zauberhaft. Ihr zierlicher,
fester Körper war umhüllt von einem leicht glitzernden Stoff, der wie ein Hauch von Nichts
um ihre Hüften wehte. Ihre Haare trug sie offen und die einzelnen Haarsträhnen fielen ihr in
leichten Wellen über die Schulter. Ihre Schönheit war unverkennbar und wurde durch das
lange, wehende Kleid zusätzlich unterstrichen. Es war so weit, wie lange hatte er auf diesen
Moment gewartet, wie oft gehofft und gefleht. Vom ersten Tag an, als sie ins Büro
marschierte und sich vor ihm provokativ im Stuhl räkelte, hatte er gewusst, dass er nie
wieder von ihr wegkommen würde. Und er lernte mit der Zeit die Frustrationen zu ertragen
und Zivas Zurückweisungen zu akzeptieren. Doch heute wies sie ihn nicht zurück, heute
sollte der Tag sein, an dem sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging.
Aus weiter Ferne klang Klaviermusik in Zivas Gedanken. Ihr Blick wich nicht vom Horizont
und innerlich versuchte sie sich zur Ruhe zu zwingen. Was ihr auch gelang, bis zur ersten
Stufe. Bis sie ihn erblickte. Tony stand an der untersten Stufe und seine Augen fesselten sie.
In seinem schwarzen Designeranzug sah er traumhaft aus. Und am liebsten hätte sie ihre
hochhackigen Schuhe von ihren Füßen gestrichen und wäre ihm entgegen gerannt. Die
Israelin holte tief Luft und spürte, wie schwer ihr das Atmen fiel. Seit Minuten hatte sie die
Luft angehalten und sich verzweifelt gezwungen, nicht hysterisch loszuheulen. Denn die
Tränen drückten seit langer Zeit, wollten entfliehen und ihr endlich Erleichterung schaffen,
Tränen des Glücks. Heute sollte die Vergangenheit begraben werden und die Zukunft
beginnen. Die schrecklichen Erlebnisse der letzten Jahre sollten aus den Gedanken verbannt,
die Tränen der Verzweiflung vergessen werden. Heute begann das Leben, welches sie sich
schon als kleines Kind gewünscht hatte, mit dem Mann, den sie liebte, glücklich, gefahrlos –
ein Leben mit ihm, mit Anthony DiNozzo. Und ihre kleine Tochter machte dieses Glück
perfekt.
Marie lag schlafend in den Armen von Gibbs. Ihr Gesicht spiegelte den Frieden wieder, den
der Teamleiter heute in vielen Augen erkennen konnte. Langsam wiegte er das Kind hin und
her. Eigentlich fand er es schade, dass die Kleine das Eheversprechen ihrer Eltern verschlief,
doch die Alternative wäre für ihn wesentlich nervenaufreibender gewesen. Sein Patenkind
war nicht unbedingt die Ruhigste, hin und wieder erinnerte sie ihn sogar stark an die
Charaktereigenschaften des Vaters, denn auch sie wusste nicht, wann es besser war zu
schweigen. Sie schlief. Doch für diesen Fall hatte er vorgesorgt und Abby beauftragt, eine
Videokamera aufzustellen. Das hatte sie auch getan. Mehrfach. Selbst in seiner Krawatte
befand sich eine kleine Minikamera, damit sie Marie später ihre ganz spezielle Sichtweise
erklären könnte, wie sie die Hochzeit erlebt hätte, in den Armen von Leroy Jethro Gibbs.
*****
„Wie fühlst du dich?“ Er wiederholte die Worte, die er ihr bereits vor langer Zeit im
Hotelzimmer ins Ohr flüsterte und die sich an diesem Tag so tief in ihre Seele brannten, dass
sie sie nie in ihrem Leben vergessen könnte.
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„Gut…“, flüsterte sie. „ Genau genommen fühle ich mich sogar sehr gut.“ Es waren die
Worte, die auch an jenem Tag in der Vergangenheit seine Frage beantwortete. Sie legte den
Kopf leicht schief und hob ihre Hand zu seiner Wange. Liebevoll strich sie über sein Gesicht,
berührte behutsam sein Kinn und fuhr sanft mit dem Finger über seine Lippen. Zögernd ließ
sie schließlich ihre Finger über seinen Hals in den Nacken gleiten. Vorsichtig zog sie ihn an
sich heran, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick in seine Augen zu unterbrechen. Sein
Mund kam dem ihren immer näher, bis sich ihre Lippen endlich berührten.
Damals hatte er sie in seine Arme gezogen und der Blick in seine grünen Augen hatte ein
Feuer in ihr ausgelöst, das niemand mehr löschen konnte. Ihr Verstand, ihre emotionale
Kühlheit, ja selbst Gibbs Regeln waren nicht imstande gewesen, zu verhindern, was dann mit
ihr geschah. Sie hatte sich verliebt, mit einer Intensität, die schmerzlich und unweigerlich
Besitz von ihr nahm.
„Bist du bereit?“, fragte sie beinahe tonlos, als ihre Lippen sich wieder lösten.
„Schon immer“, flüsterte er und küsste sie erneut sachte auf die Lippen. Er liebte diese Frau,
so sehr, und er war bereit, den Rest seines Lebens mit ihr zu verbringen.
„Können wir anfangen?“, eine tiefe Männerstimme riss das Liebespaar aus ihren Gedanken
und Tony gab Ziva noch einen letzten zärtlichen Kuss, bevor sie sich zu ihm drehten und
beide glücklich nickten.
„Wir sind heute hier zusammengekommen, um ….“ Wie durch einen Schleier hörten beide
die Worte des Standesbeamten und doch war keiner von ihnen in der Lage, dem Text
genauer zu folgen. Sie hatten nur Augen für den jeweils anderen, die Umgebung
verschwamm.
Wie in der ersten gemeinsamen Nacht. Nach dem ersten Kuss standen sie sich minutenlang
stumm gegenüber. Nur ihre Hände hatten sich sachte berührt, ihre tiefen Blicke spiegelten
die aufkeimende Verbundenheit wieder und alles um sie herum war in die Unwichtigkeit
versunken. Es hatte nur noch sie beide gegeben.
„Willst du Tony DiNozzo, die hier anwesende Ziva David zu deiner Frau nehmen. Sie lieben
und ehren, bis das der Tod euch scheidet? So antworte mit ja.“
Es war mucksmäuschenstill. Nur das leise Plätschern eines Brunnens in der Nähe drang auf
die Terrasse und verlieh der ganzen Zeremonie noch mehr Romantik. Inzwischen stand die
Sonne nicht mehr hoch am Himmel, sondern leitete bereits den Sonnenuntergang ein. Ein
Lichtermehr aus Rosa, Orange und tiefem Rot spiegelte sich am Horizont.
„Ja, ich will“, ein beinahe unhörbares Flüstern verließ Tonys Mund. Und sofort suchte er
wieder die Augen der Frau, der die Worte galten, nur um darin erneut zu versinken.
„Und willst du Ziva David, den hier anwesenden Tony DiNozzo zu deinem Mann nehmen. Ihn
lieben und ehren, bis das der Tod euch scheidet? So antworte mit ja.“
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Ziva hörte die Worte, doch sie war nicht in der Lage, sich von Tonys Augen zu trennen.
Sekundenlang suchte sie nach dem richtigen Wort, versuchte ihre Stimme zu finden. Und
erst als Tony, ihr gegenüber, etwas irritiert die Augenbrauen hob, konnte sie eine Antwort
auf die Frage geben, die ihr Leben lebenswert machte.
„Ja, ich will.“ Sie war selbst überrascht über die Klarheit in ihrer Stimme und das glückliche
Lächeln in Tonys Gesicht, ließ auch sie lächeln.
Mit genau diesem Lächeln hatte er sie vor einem Jahr im Krankenhaus in seine Arme
gezogen. Seine Hände waren langsam über ihren Rücken gewandert und hatten keinen
Zweifel hinterlassen, dass er sie jemals wieder gehen lassen würde. Immer wieder hatte sein
Mund mit unendlicher Zartheit ihre Lippen gesucht, mit dem Bestreben, diese Berührungen
voll auszukosten.
Während Tony mit der linken Hand über Zivas Wange strich, griff er mit zitternden Fingern
nach dem Ring, den ihm Alisar auf einem weißen Samttablett reichte. Dann löste er sich von
Zivas Gesicht und griff nach ihrer Hand. Er hielt einen Moment inne, bevor er die Worte
aussprach, die er tief in sich fühlte.
„Ich liebe dich, könnte ich dir sagen. Aber es würde nicht ausreichen, das zu beschreiben,
was ich tief in mir fühle. Wir haben gemeinsam für diese Liebe gekämpft und wir haben
gewonnen. Wir sind am Ziel, du bist ein Teil von mir, den ich nie wieder missen möchte.
Nimm diesen Ring als Zeichen meiner Liebe.“
Seine Hände bebten und Ziva musste unwillkürlich lächeln. Dieses Beben spürte sie noch
heute auf ihrer Haut. Seine zitternden Finger, als er sie das erste Mal berührte, mit seinen
Fingern ihren Körper erforschte. Zunächst vorsichtig, dann immer leidenschaftlicher hatte er
sie gestreichelt, sie mit kleinen Küssen bedeckt und diese Berührungen hatten ein Gefühl der
Zufriedenheit in ihr ausgelöst, das sie bis dahin noch nie empfunden hatte.
Ziva griff nach dem Ring, im Gegensatz zu ihrem Gegenüber, zeigten ihre Finger keine
Regung. Mit ruhender Sicherheit hielt sie seine Hand in seiner.
„Ich lernte dich kennen, blickte in deine Augen, in dein Herz und schließlich in deine Seele.
Ich habe deine Liebe gespürt und dich dennoch wieder verloren. Ich habe dich so sehr
vermisst. Ich will nie mehr ohne dich sein. Nimm diesen Ring als Zeichen meiner Liebe.“
Tony presste die Lippen fest aufeinander. Er wusste, wie schmerzlich die Zeit für Ziva
gewesen war, als er sich nicht an ihre gemeinsamen Stunden erinnern konnte. Er hatte
schon oft versucht sich vorzustellen, wie man sich fühlte, etwas in greifbarer Nähe zu haben,
das dennoch unerreichbar blieb. Und er selber hatte Ziva zu dieser Zeit nicht geschont, im
Gegenteil. Er hatte sie mit Fragen nach ihrem Befinden gequält und mit Darstellungen neuer
Liebschaften um den Verstand gebracht. Es war ein Wunder, dass sie hier und heute vor ihm
stand.
„Somit erkläre ich euch zu Mann und Frau.“ Worte, die gesagt werden mussten, aber nicht
mehr gehört wurden. Tony war abwesend, seine Augen ruhten auf seiner Frau, auf seiner
Geliebten, auf seiner Seelenverwandten. Bis das der Tod euch scheidet. Nein. Nichts und
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niemand konnte sie jemals wieder trennen. Sie blickten auf eine gemeinsame glückliche
Zukunft.
- The End -
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