Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg
Transcrição
Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg
Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg Sozialkapital und soziale Ungleichheit – Theorien und Forschungsstand Andreas Gefken Working Paper SW 2012-2 Professur für Soziologie sozialen Wandels, Prof. Dr. Petra Böhnke, FB Sozialökonomie, Universität Hamburg 1 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg Die Working Paper-Reihe stellt Ergebnisse der laufenden Forschung an der Professur für Soziologie, insbesondere Soziologie des sozialen Wandels am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg vor. Sie dient dazu, im Vorfeld einer späteren Publikation den akademischen Ideenaustausch zu befördern und Zwischenergebnisse unseres Forschungsprozesses schnell zugänglich zu machen. Andreas Gefken ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg im Forschungsprojekt „Soziales Kapital im Lebensverlauf. Beschäftigungsrisiken und ökonomische Unsicherheit in ihren Auswirkungen auf soziale Netzwerke und bürgerschaftliches Engagement“ der Professur für Soziologie, insb. Soziologie sozialen Wandels (Prof. Dr. Petra Böhnke). Das Projekt wird finanziert von der VolkswagenStiftung und widmet sich der Analyse von Sozialkapital im individuellen Lebensverlauf in Abhängigkeit von prekären Lebenslagen. Es wird untersucht, wie sich soziale Netzwerke und Engagement in Reaktion auf sozio-ökonomische Lebensrisiken wie Armut, Arbeitslosigkeit und atypische sowie prekäre Beschäftigung entwickeln. Empirisch wird dieser Zusammenhang in mehreren Teilprojekten untersucht. Diese umfassen EU-Ländervergleiche, quantitative Längsschnittanalysen und eine qualitative Fallstudie. Zitiervorschlag Gefken, Andreas (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit – Theorien und Forschungsstand. Working Paper SW 2012-2 der Professur für Soziologie des sozialen Wandels, Fachbereich Sozialökonomie, Hamburg: Universität Hamburg. Zusammenfassung Das vorliegende Working-Paper beschäftigt sich mit den Theorien und Konzepten der Sozialkapitalforschung unter dem Gesichtspunkt sozial ungleich verteilter Einflussfaktoren auf diese Kapitalart. Wirft man einen Blick auf den Stand der Debatte, so fällt auf, dass überwiegend die positiven Effekte bzw. der Nutzen sozialen Kapitals erforscht wird – sowohl auf individueller, als auch auf kollektiv aggregierter Ebene. Nur selten wird gefragt, wie soziales Kapital gebildet und aufrechterhalten wird und wie es ggf. wieder schwinden kann. Ebenso gibt es bezüglich der gesellschaftlichen (Ungleich-) Verteilung sozialen Kapitals und dessen Ursachen noch weiteren Forschungsbedarf. Ziel des Papers ist es, hierzu einen Blick auf die Klassiker des Sozialkapitalkonzepts zu werfen und ihre Theorien daraufhin zu befragen, wie gut sie auf theoretischer und konzeptueller Ebene soziales Kapital als abhängige Größe fassen können und von welchen Faktoren eine Abhängigkeit behauptet wird. Ein Schwerpunkt liegt auf ungleichheitssoziologisch relevanten Rahmenbedingungen sozialen Kapitals. Nachdem in der Einleitung die Hauptstränge der Sozialkapitalforschung kurz skizziert werden, sollen in Abschnitt 2 vier Theorien bzw. Konzepte sozialen Kapitals vorgestellt werden, die sich bis zum heutigen Stand der Debatte bewährt haben (Konzepte von Pierre Bourdieu, James Coleman, Robert Putnam und der Netzwerkforschung). Welche Aussagen zu den Rahmenbedingungen sozialen Kapitals finden sich bei diesen Ansätzen? In Abschnitt 3 wird ein Fazit in Bezug auf noch bestehende Forschungslücken und empirischen Nachholbedarf des gegenwärtigen Standes der Sozialkapitalforschung gezogen. Es wird dargestellt, welche Formen sozialen Kapitals mittlerweile unterschieden werden. Das Paper schließt mit dem Ergebnis, dass sowohl für soziales Kapital als „Netzwerkkapital“, als auch für soziales Kapital als zivilgesellschaftliche Ressource ein stärkerer Einbezug von Faktoren sozialer Ungleichheit notwendig ist. 2 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg INHALT 1. Einleitung ............................................................................................................................... 4 2. Theorien sozialen Kapitals – Sozialkapital als abhängige Größe ............................................... 5 2.1 Pierre Bourdieu....................................................................................................................... 5 2.2 James Coleman ...................................................................................................................... 7 2.3 Robert Putnam ....................................................................................................................... 9 2.4 Netzwerkforschung .............................................................................................................. 11 2.5 Zusammenfassung ................................................................................................................. 12 3. Resümee und Forschungslücken – Sozialkapital und soziale Ungleichheit ............................... 14 4. Literatur ............................................................................................................................... 16 3 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg 1. Einleitung Das Konzept des Sozialkapitals hat seit den 1980er Jahren eine enorme wissenschaftliche Verbreitung erfahren. Eine ganze Reihe von Autoren konstatiert seitdem die enorme inhaltliche Auffächerung des Begriffs. 1 Diese lässt sich vor allem anhand von zwei Linien beobachten: 1) Thematisch beschäftigen sich verschiedene sozialwissenschaftliche Disziplinen mit dem Konzept aus ihren je eigenen Blickwinkeln. Zum Beispiel werden aus ökonomischer Sicht positive Effekte sozialen Kapitals auf wirtschaftliches Wachstum hervorgehoben 2, aus politikwissenschaftlicher Sicht wird nach den Auswirkungen sozialen Kapitals auf politische Stabilität gefragt 3 und aus sozialpsychologischer Perspektive werden die positiven Folgen sozialer Einbettung für die psychische Gesundheit unterstrichen.4 Innerhalb der Soziologie wird die Rolle sozialen Kapitals mittlerweile ebenfalls in einem sehr heterogenen thematischen Spektrum verhandelt: Es wird z.B. die Bedeutung von Netzwerken für Berufs- und Arbeitsmarktchancen, für Bildungsprozesse und Sozialisation, sowie für soziale Unterstützung beleuchtet Des Weiteren werden soziale Schließungsprozesse und Elitenbildung durch informelle Gefälligkeitsnetzwerke problematisiert. 2) Querliegend zu den einzelnen Disziplinen, wie auch innerhalb der Soziologie, wird das Konzept auf verschiedenen Aggregationsebenen verwendet 5: Es gilt auf individueller Ebene als Ressource, die in persönlichen Beziehungen entsteht und sich positiv auf Lebensqualität, Gesundheit, Chancen zivilgesellschaftlicher Teilhabe oder beruflichen Erfolg auswirkt. Auf der „Mesoebene“ von Netzwerken und Organisationen wird soziales Kapital als eine Ressource definiert, die in sozialen Beziehungsgeflechten eingelassen ist und durch deren Gesamtschau auf die Netzwerkebene erfasst werden kann. Auf gesellschaftlicher bzw. „Makroebene“ wird soziales Kapital als Merkmal ganzer Regionen und Staaten aufsummiert und gilt als kollektiv hervorgebrachte Substanz gesellschaftlichen Zusammenhalts. Diese doppelte Vielschichtigkeit kann einerseits zwar gerade als Erfolgsfaktor des Konzepts gewertet werden, da es aus unterschiedlichen Perspektiven heraus anschlussfähig ist und auch weiterhin bleibt. Allerdings wird nach wie vor die Arbeit an einer gemeinsamen inhaltlichen Fundierung vernachlässigt. 6 Der Begriff leidet an einem „conceptual stretching“ 7 und weist theoretische wie empirische Defizite auf. 8 Die Vergleichbarkeit von Studien ist aufgrund uneinheitlicher Operationalisierungen schwierig. Das 1997 von Sonja Haug getroffene Fazit zum Stand der Sozialkapitaldebatte scheint nach wie vor aktuell: „Es lässt sich kein einheitliches Konzept von 1 Haug 1997, Portes 2000, Koob 2007; Kapitel 1 und 2 des vorliegenden Papers orientieren sich inhaltlich an: Gefken 2011. 2 Ostrom 2000; Iyer et al. 2005. 3 Putnam/ Goss 2001. 4 Röhrle 1994; Laireiter 1993. 5 für einen nach wie vor instruktiven Überblick verschiedener Aggregatebenen siehe Haug 1997. 6 Matiaske/Grözinger 2008: 8. 7 Deth 2001: 280. 8 Haug 1997. 4 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg sozialem Kapital herauskristallisieren. Sowohl theoretische als auch empirische Studien verwenden den Begriff soziales Kapital in gänzlich unterschiedlichen Kontexten. [...] Es besteht demnach ein dringender Bedarf an einer (einheitlichen?) theoretischen Konzeptualisierung und an einer empirischen Konstruktvalidierung“ 9. Das vorliegende Working-Paper bezieht sich auf einen weiteren Kritikpunkt, der in den letzten Jahren innerhalb der Soziologie zunehmend angeregt wurde und direkt an die Vernachlässigung der inhaltlichen Fundierung adressiert ist: Nach wie vor wird auf die (positiven) Effekte sozialen Kapitals fokussiert, weniger jedoch auf die Entstehungsbedingungen dieser Kapitalart. Wenn bereits viel über die Effekte sozialen Kapitals bekannt ist, so der Ausgangsgedanke, sollte gerade aus soziologischer Sicht von Interesse sein, wer eigentlich in welchem Ausmaß innerhalb der Gesellschaft über diese Kapitalart verfügt, unter welchen Bedingungen sie gebildet und aufrechterhalten werden kann – und unter welchen Bedingungen sie gefährdet ist. Im Folgenden werden vier Ansätze, die sich in der bisherigen Debatte bewährt haben und teilweise schon als „Klassiker“ der Sozialkapitalforschung bezeichnet werden können, vorgestellt (Konzepte von Bourdieu, Coleman, Putnam und die Netzwerkforschung). Besonderes Augenmerk liegt auf der Darstellung der in diesen Theorien vorhandenen Aussagen über Sozialkapital als abhängige Größe. 2. Theorien sozialen Kapitals 2.1 Pierre Bourdieu Pierre Bourdieus Sozialkapitalbegriff gilt als eine der ersten systematischen Ausformulierungen des Konzepts 10 und ist Bestandteil einer allgemeinen Kapital- und letztlich auch Sozialtheorie. „Kapital“ ist bei Bourdieu ganz allgemein als akkumulierte Arbeit zu verstehen. Neben der Arbeit zur Vermögensbildung (ökonomisches Kapital) zählen hierzu auch die Aneignung von Wissen und Fähigkeiten (kulturelles Kapital) sowie „Beziehungsarbeit“, mit der Sozialkapital gebildet werden kann. Diese Beziehungsarbeit beschreibt Bourdieu folgendermaßen 11: Die Arbeit, die in Beziehungen investiert wird, besteht in permanenten Tauschakten, die sowohl materieller als auch symbolischer Natur sind. Materielle Tauschobjekte sind bspw. Gegenstände in Form von Geschenken, Geldsummen oder Hilfeleistungen. Auf der ebenso wichtigen symbolischen Ebene liegt der Austausch von Gefälligkeiten, gegenseitigen Besuchen und Kommunikation (Vertrauensbildung, Informationsaustausch, emotionale Unterstützung). Zufallsbeziehungen, z.B. am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft, werden in „Sozialkapitalbeziehungen“ umgewandelt, indem ihnen durch Tauschakte ein Aspekt der gegenseitig empfundenen Verpflichtung hinzugefügt wird – ein Gefallen macht einen „Gegengefallen“ erwartbar. In anderen Fällen ist die Beziehung bereits von 9 Haug 1997: 30. 10 Bourdieu 1992 11 Vgl. ebd.: 65. 5 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg Anfang an durch Konstellationen gegenseitiger Verpflichtung gekennzeichnet (z.B. Familie, Verwandtschaft). Von dieser soziologischen Mikroebene aus betrachtet, ist eine Sozialkapitalbeziehung das Produkt eines Zeit- und Arbeitsaufwandes, der sich bewusst oder unbewusst auf die Schaffung und Erhaltung eines Tauschverhältnisses richtet. Nicht jede soziale Beziehung ist dementsprechend eine Sozialkapitalbeziehung, sondern nur diejenigen, die sich über Tauschakte stabilisiert haben. Die Möglichkeit, von einer anderen Person innerhalb einer solchen Beziehung eine „Gegengabe“ zu erhalten, bezeichnet Bourdieu als soziales Kapital. Entscheidend ist, dass Beziehungen nicht mit dem Ziel der Sozialkapitalbildung geknüpft werden (müssen), damit soziales Kapital entsteht. Vielmehr ist das Tauschprinzip den meisten persönlichen sozialen Beziehungen inhärent. Soziales Kapital kann also auch „nebenbei“ entstehen, während eine soziale Beziehung für die Beteiligten ganz andere Funktionen erfüllt. Summiert man die Anzahl an ausstehenden Gegengaben, auf die eine Person zurückgreifen kann, so kann als soziales Kapital bezeichnet werden: „[D]ie Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“. 12 In dieser Definition ist erstens von „Ressourcen“ und zweitens von „Beziehungen“ die Rede. Als „Ressourcen“ kann man in der Bourdieuschen Terminologie das Kapital (ökonomisch, kulturell, symbolisch) der Beziehungspartner bezeichnen. Ökonomisches Kapital kann in einer Beziehung z.B. als finanzielle Unterstützung getauscht werden und kulturelles Kapital als Teilhabe am Wissen einer anderen Person. Die „Beziehungen“, über die Sozialkapital mobilisiert werden kann, sind die oben beschriebenen Tauschbeziehungen mit dem Prinzip „Gabe/Gegengabe“. Soziales Kapital bei Bourdieu besteht also aus zwei miteinander verknüpften Elementen: den Beziehungen, über die jemand Ressourcen mobilisieren kann und den Ressourcen selber. Beides zusammen ist erst „soziales Kapital“. Zum einen geht Bourdieu davon aus, dass soziales Kapital eine Art Katalysator für die anderen Kapitalarten darstellt. Aus verlässlichen und verbindlichen Sozialbeziehungen ergeben sich, wie oben beschrieben, z.B. finanzielle Unterstützung oder Informationen. Zweitens entsteht soziales Kapital selber wiederum durch den Einsatz ökonomischen und kulturellen Kapitals. Beziehungspflege erfordert einen Aufwand an Zeit, sowie in gewissen Umfang auch an Geld und materieller Güter (Geschenke, Einladungen, gemeinsame Aktivitäten). Ebenso kann auch das Wissen um sozial und kulturell angemessenes Verhalten Kontakte erleichtern (kulturelles Kapital). Sozialkapital als abhängige Größe variiert demnach mit dem bereits vorhandenen Kapitalbesitz einer Person – bei Bourdieu stets eine Frage der sozialstrukturellen Position. Soziales Kapital ist demnach, wie andere Kapitalarten auch, gesellschaftlich ungleich verteilt. 13 Personen können sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausstattung mit Kapitalien und Ressourcen unterschiedlich gut vernetzen. Drittens ist das soziale Kapital auch von der Ressourcenausstattung der anderen Personen im Netzwerk abhängig. Bourdieu geht davon aus, dass es eine Homologie zwischen sozialem und 12 Ebd: 63. 13 Ebd.: 77; Fußnote 17. 6 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg geographischem Raum gibt und sich Personen ähnlicher sozialer Herkunft oft auch räumlich näher sind (in sozial homogenen Wohnvierteln zum Beispiel). Möglichkeiten der Kontaktknüpfung sind bei Bourdieu sozialstrukturell determiniert; Beziehungsnetzwerke tendieren zu sozialer Homogenität: „kapitalschwache“ Personen dürften eher häufiger auf ebenso kapitalschwache Personen treffen, als auf Personen mit hohem ökonomischem und/oder kulturellem Kapital. Als eine der wenigen Autoren bezieht Bourdieu die gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen für das Entstehen von Sozialkapitalbeziehungen in seinen Ansatz mit ein und schafft somit Anknüpfungspunkte für die Soziologie sozialer Ungleichheit, die Sozialstrukturanalyse, aber auch z.B. für die Stadt- und Raumsoziologie. Eine Unterscheidung verschiedener Formen sozialen Kapitals, wie es mittlerweile in der Sozialkapitalforschung üblich ist, findet sich bei ihm jedoch nicht. Auch die sozialen Strukturen, in denen Sozialkapital entsteht, nämlich persönliche Beziehungsnetze, werden von ihm nicht näher thematisiert. 2.2 James Coleman Als zweiter einschlägiger Ansatz kann die Theorie von James Coleman bezeichnet werden. 14 Auch Coleman geht davon aus, dass sich soziale Beziehungen über Tauschakte verfestigen. Diese Beziehungen, sowie die darin enthaltenen Normen und das darin erlangte Vertrauen können von Individuen als „soziales Kapital“ genutzt werden. Soziales Kapital ist bei Coleman ein Sammelbegriff für unterschiedliche Elemente: soziale Beziehungen, das darin gebildete zwischenmenschliche Vertrauen sowie Beziehungsnormen (z.B. Reziprozität, Kooperationsnormen). Hinzu kommt, dass Coleman auch größere soziale Strukturen als soziales Kapital bezeichnet, wie z.B. Beziehungsnetzwerke oder Gruppen. Weiterhin zählt er die Effekte der bisher genannten Elemente ebenfalls zu „sozialem Kapital“, unter anderem erhöhte Sicherheit durch Kontrolle abweichenden Verhaltens (z.B. ist Kriminalität dort niedriger, wo Nachbarschaften dicht vernetzt sind) oder soziale Beziehungen als Informationsquellen. Die Klammer, die diese unterschiedlichen Phänomene als „soziales Kapital“ zusammenhält, ist ihre Funktion: Als soziales Kapital können – ganz allgemein formuliert – all jene Phänomene bezeichnet werden, die Handlungserleichterungen bewirken und nur zwischenmenschlich und kooperativ gebildet werden können. 15 Im Gegensatz zu Bourdieu ist soziales Kapital bei Coleman nicht nur eine individuell nutzbare Ressource, sondern auch eine Eigenschaft sozialer Strukturen, z.B. Gemeinschaften oder Familien. Zwar berücksichtigt Bourdieu auch Gruppenstrukturen, fragt jedoch eher danach, was der Einzelne hieraus für Vorteile hat und wie sich dies auf seine soziale Position im Gefüge sozialer Ungleichheit auswirkt – ein Aspekt, der bei Coleman nicht behandelt wird. Elemente wie Vertrauen oder Reziprozitätsnormen zählen bei Coleman mit zu sozialem Kapital, während sie bei Bourdieu eher 14 Coleman 1988, 1995. 15 Coleman 1995: 394. 7 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg implizit bleiben (bspw. wenn Bourdieu von Beziehungen gegenseitigen „Kennens oder Anerkennens“ spricht). Da Vertrauen und Normen bei Coleman Teil sozialen Kapitals sind, sind für ihn vor allem starke, vertrauensvolle und stabile Beziehungen („strong ties“) gut geeignet, soziales Kapital hervorzubringen. Verlässliche und unterstützende Familienbeziehungen würden sich förderlich auf den Schulerfolg („Humankapital“) von Kindern auswirken. 16 Dichte und nach außen geschlossene Netzwerke, die aus starken und reziproken Beziehungen bestehen (z.B. Nachbarschaften) sind ein weiteres Beispiel. Informationen über abweichendes Verhalten einzelner Personen sprechen sich schneller herum und führen zu Reputationsverlust – ein für Coleman durchaus wünschenswerter Effekt und eine weitere Form sozialen Kapitals. Darüber hinaus sind für ihn Tauschnetzwerke, in denen sich die Mitglieder gegenseitig auf Vertrauensbasis größere Geldsummen leihen („rotating credit associations“) 17 zu nennen. Auch in diesen Netzen kommt soziales Kapital dadurch zustande, dass Personen sich gegenseitig kennen, sich enttäuschtes Vertrauen schneller herumspricht und daher Anreize zu kooperativem Handeln gesetzt sind. Die Frage, welche Bedingungen sich förderlich auf die Entstehung sozialen Kapitals auswirken, wird von Coleman also auf der Ebene sozialer Mikro- und Mesostrukturen beantwortet: Gruppen, Gemeinschaften, Netzwerke und Organisationen bringen insbesondere dann Sozialkapital hervor, wenn sie ein hohes Maß an “closure“ besitzen 18, d.h. dicht und geschlossen sind, sowie eine hohe Interaktionshäufigkeit und verbindende Normen (z.B. Solidaritätsnormen) aufweisen. Sozialkapital ist dann eine Eigenschaft dieser Strukturen, genauer gesagt: Als Sozialkapital bezeichnet Coleman die Tatsache, dass diese Strukturen die gemeinsame Erreichung individueller Handlungsziele erleichtern. Folgerichtig liegt für Coleman die Gefahr des Rückgangs sozialen Kapitals insbesondere im Abschmelzen enger, von den Akteuren überschaubarer Gemeinschaften, welches er für die Gegenwartsgesellschaft konstatiert. 19 Auch das Nachlassen “starker”, traditioneller Familienstrukturen stellt sich aus seiner Sicht, gerade vor dem Hintergrund der Bildung von “Humankapital” in der Familie, als Problem dar. Im Vergleich zur Perspektive netzwerksoziologischer Ansätze (siehe unten) fällt auf, dass die Bedeutung von “weak ties” und locker geknüpften, sozial heterogenen Netzwerken bei Coleman wenig Berücksichtigung findet. Sozialkapital als abhängige Größe bleibt bei ihm stark an das Strukturmerkmal von “closure” gebunden. 16 Coleman 1988 17 Vgl. Coleman 1988: 102 f. 18 Ebd.: 105 f. 19 Ebd.: 118. 8 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg 2.3 Robert Putnam Der Sozialkapitalbegriff des Politikwissenschaftlers Robert Putnam hat die Debatte in den letzten Jahren besonders stark geprägt. Er konzipiert soziales Kapital wie folgt: „Social capital refers to the connections among individuals – social networks and the norm of reciprocity and trustworthiness that arise from them” 20. Und an anderer Stelle: ”[S]ocial capital refers to features of social organization such as networks, norms, and social trust that facilitate coordination and cooperation for mutual benefit” 21. Auch hier finden sich mehrere Elemente als soziales Kapital definiert: Die Beziehungen zwischen Personen ("connections”), soziale Netzwerke, Reziprozitätsnormen und Vertrauen, d.h. Eigenschaften sozialer Strukturen, die „Koordination und Kooperation zum gegenseitigen Vorteil“ ermöglichen. Damit ist die Definition sehr eng an Coleman angelehnt. Was Putnams Ansatz auszeichnet ist, dass ihn soziale Netzwerke vor allem als Netzwerke bürgerschaftlichen Engagements („civic engagement“) interessieren. Gerade in diesen Netzwerken (z.B. in Vereinen) entstünden besonders gut Reziprozitätsnormen, Vertrauen und solidarisches Handeln, so sein Argument. Zwar könnte man einwenden, dass dies genauso gut auch Familien oder andere Gruppen leisten könnten, wie Coleman dargelegt hat. Allerdings betont Putnam (teilweise stark an Coleman orientiert), dass Netzwerke bürgerschaftlichen Engagements besonders gut eine Form sozialen Kapitals hervorbringen, die gesamtgesellschaftlich positive Effekte hat – nicht nur für die darin direkt beteiligten Personen. Soziales Kapital interessiert Putnam in erster Linie als „public good“ auf einer kollektiv aggregierten Ebene. Welche Rahmenbedingungen wirken sich förderlich oder nachteilig auf die Entstehung und Erhaltung des Putnamschen Sozialkapitals aus? Je zahlreicher die Bürger eines Landes oder einer Region in Vereinen engagiert sind, je stärker zwischenmenschliches und Institutionenvertrauen ausgeprägt sind und je mehr Normen existieren, die kooperatives Handeln fördern, desto mehr soziales Kapital besitzt eine Region oder ein Staat – so Putnams Thesen, die er durch eine Reihe an Studien in Italien und den USA belegt sieht. 22 Soziales Kapital auf dieser aggregierten Ebene würde sich wiederum positiv auf Bildungsniveau, Wirtschaftswachstum, Effizienz politischer Maßnahmen, öffentliche Sicherheit oder Institutionenvertrauen auswirken. Das von Putnam vermutete Abschmelzen sozialen Kapitals (z.B. in Form rückläufigen Vereinsengagements) in modernen Gesellschaften schwäche daher ihre ökonomische und politische Substanz. Kritik wurde vor allem wegen der unklaren Ursache-Wirkungs-Verhältnisse seiner Analysen, sowie seines stellenweise unklar definierten Sozialkapitalbegriffs (Sozialkapital als Ursache und als Effekt gleichermaßen), sowie damit einhergehend, an seinen Operationalisierungs- und Messungsvorschlägen zu Sozialkapital geübt. 23 20 Putnam 2000: 19. 21 Putnam 1995: 67. 22 Putnam 1993; 2000. 23 Vgl. Portes 1998: 18 f.; Jackman/ Miller 1998. 9 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg Folgt man jedoch einer seiner Kernaussagen, dass Sozialkapital die von zivilgesellschaftlichen Organisationen 24 hervorgebrachten, gesamtgesellschaft-lich positiven Auswirkungen sind (z.B. öffentliche Sicherheit oder Institutionenvertrauen), so stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß in einer Gesellschaft die Bildung dieser Organisationen überhaupt möglich ist. Putnam beschreibt in diesem Zusammenhang vor allem historische Faktoren, z.B. in seiner regionen-vergleichenden Studie über Italien 25 (Putnam 1993), in der er die unterschiedliche Entwicklung einer bürgerlichen Zivilgesellschaft in den verschiedenen Regionen Nord- und Süditaliens miteinander konfrontiert und daraus die noch heute sichtbaren Unterschiede im sozialen Kapital beider Landesteile erklärt. Des Weitern ist bei Putnam nicht nur die bloße Menge an zivilgesellschaftlichen Organisationen eine Voraussetzung für die Qualität sozialen Kapitals, sondern auch die Art dieser Zusammenschlüsse. Z.B. differenziert er in „bridging“ (Brücken bildendes) und „bonding“ (bindendes) soziales Kapital. 26 „Bridging social capital“ entsteht in formellen sozialen Beziehungsnetzen, die sozial unterschiedliche Akteure miteinander verbinden (z.B. die Bürgerrechtsbewegung in den USA), während „bindendes Sozialkapital“ aus sozialstrukturell eher homogenen Zusammenschlüssen entsteht und Gruppenidentität verfestigt (z.B. konfessionell homogene oder stark lokal verankerte Gemeinschaften). 27 Bezüglich der fördernden bzw. hemmenden Bedingungen für Sozialkapital findet sich bei Putnam ein Schwerpunkt auf historischen und politischen Bedingungen der Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen. Damit liegt hier ein Ansatz vor, die Rolle institutioneller Rahmenbedingungen für Sozialkapital zu analysieren. Wie beschrieben, verwendet Putnam dabei aber eine Definition sozialen Kapitals, die zwar Anknüpfungspunkte bei Coleman und teilweise der Netzwerkforschung hat, jedoch größtenteils Phänomene misst, die zum Beispiel passender mit „Vertrauen“ bezeichnet werden müssten. 28 Individuelle Merkmale, z.B. die (sozialisatorisch und sozialstrukturell geprägte) Bereitschaft, sich zu engagieren oder auch die Frage nach den sozial ungleich verteilten Ressourcen für Engagement (Zeit, Geld, Bildung) sind bei ihm nur wenig berücksichtigt. 24 In Arbeiten jüngeren Datums berücksichtigt Putnam auch stärker informelle Zusammenhänge, z.B. in Nachbarschaften und Familien, die Sozialkapital produzieren. Seine Aussagen zum Rückgang sozialen Kapitals in den USA stützt er jedoch auf Daten zum formellen Sozialkapital aus Vereinen und anderen Organisationen, vgl. Putnam 2001. 25 Putnam 1993 26 Putnam 2000; 2001. 27 Putnam 2000: 22 f. 28 Vgl. hierzu Franzen/ Pointner 2007; eine Bedeutungsanalyse der geläufigen Sozialkapitalbegriffe arbeitet Koob 2007 heraus. 10 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg 2.4 Netzwerkforschung In der netzwerksoziologischen Sozialkapitalforschung sind insb. Henk Flap 29, Ronald Burt 30 und Nan Lin 31 als Hauptprotagonisten zu nennen. Gemeinsam ist den netzwerkbasierten Ansätzen, dass soziales Kapital als Aspekt einer Beziehungsstruktur definiert wird, „der individuellen oder korporativen Akteuren breitere Handlungsmöglichkeiten eröffnet und z.B. die Koordination ihrer Handlungsabsichten zu kollektiver Aktion erleichtert“ 32. Soziales Kapital befindet sich nach gängiger Auffassung nicht unter alleiniger Kontrolle eines einzelnen Akteurs, sondern kann von ihm nur über Netzwerkbeziehungen genutzt werden. Was dieser „Aspekt“ einer Beziehungsstruktur ist, wird von den genannten Autoren unterschiedlich konzipiert. Für Flap setzt sich soziales Kapital aus mehreren Elementen zusammen: 1) der Anzahl der potentiell helfenden Personen innerhalb des Netzwerkes, 2) der Stärke der Beziehungen, und damit dem Ausmaß der Hilfe und 3) den Ressourcen, auf die durch die Beziehung zugegriffen werden kann. 33 Vor dem Hintergrund des Rational-Choice-Ansatzes geht Flap davon aus, dass Akteuren dieser Zusammenhang bewusst ist und sie ihn durch Investitionen in ihr soziales Kapital zu optimieren versuchen. 34 Für Ronald Burt ist soziales Kapital diejenige Menge an Vorteilen, die sich durch eine „gute“ soziale Vernetzung ergibt. 35 Eine besonders gute Form der Vernetzung besteht für Burt dann, wenn Akteure in einem Netzwerk Positionen besetzen, die eine strukturelle Lücke („structural hole“) überbrücken. Sie sind dann der einzige Kontakt ("bridge") über den zwei ansonsten unverbundene Gruppen miteinander kommunizieren können. Auch Burt unterstellt die Möglichkeit der bewussten Platzierung an günstige Netzwerkpositionen. Generell findet sich in diesen Ansätzen ein deutlicher Schwerpunkt auf die (positiven) Effekte sozialen Kapitals in Form individuellen Nutzens. Es wird unterstellt, dass dieser Nutzen den Akteuren vorher bewusst ist und sie dementsprechend in persönliche Beziehungen investieren oder nicht. Soziales Kapital ist dadurch abhängig von individuellen Investitionsentscheidungen der Akteure: Welche zukünftige Gegenleistung kann ich bei einem Gefallen erwarten? Wie hoch ist die Chance, dass eine Gegenleistung überhaupt erfolgt? Unter dem Stichwort „constraints“ diskutiert Flap 36 die Einschränkungen dieser individuellen Wahlhandlungen: Die Anzahl an potenziellen Beziehungspersonen, die zur Verfügung stehenden Orte des Kennenlernens, sowie institutionelle, 29 Flap 1996; 2002. 30 Burt 2001. 31 Lin 2000; 2001. 32 Vgl. Jansen 1999: 22 f. 33 Flap 2002:5; zitiert nach Haug 1997: 7. 34 Flap 1996: 4. 35 Vgl. Burt 2001: 31 f. 36 Flap 2002 11 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg z.B. staatliche Leistungen, welche Sozialkapital ersetzen bzw. Anreize zu dessen Bildung herabsetzen. 37 Nan Lin, als der dritte hier vorzustellende Autor, schlägt mit seiner Sozialkapitaltheorie einen stärker sozialstrukturell fundierten Ansatz vor und setzt den Analysefokus auf die Ungleichverteilung sozialen Kapitals zwischen sozialen Gruppen einer Gesellschaft. 38 „Inequality in different types of capital, such as human capital and social capital, contributes to social inequality, such as socioeconomic achievements and quality of life“ 39. Soziales Kapital definiert er als “investment and use of embedded resources in social relations for expected returns” 40. Lin scheint diese Ressourcen überwiegend als Informationen oder Hilfeleistungen zu definieren, die sich aus dem sozialen Status bzw. der Berufsposition der Beziehungspersonen ergeben. Diese Ressourcen führen zu Effekten wie verbesserten Jobchancen, Beförderungen in Unternehmen, höherem Einkommen oder auch „expressive returns“, wie erhöhtem emotionalem Wohlbefinden. Sozial ungleich verteilte Effekte sozialen Kapitals entstehen für ihn dann, wenn sich sozial benachteiligte Personen an bestimmten Positionen einer Sozialstruktur „clustern“ und sich dann überwiegend nur untereinander vernetzen. 41 Auch Geschlecht und ethnische Gruppenzugehörigkeit beeinflussen die Möglichkeit, Personen mit höherem Berufsprestige als „Sozialkapital“ im eigenen Netzwerk zu haben. Bei Lin findet sich einer der vergleichsweise wenigen Ansätze (im Anschluss an Pierre Bourdieu), die Zugangsmöglichkeiten zu Sozialkapital in Abhängigkeit von sozialstrukturellen Kategorien auch empirisch zu analysieren und zugleich einen Erklärungsvorschlag zur gesellschaftlichen Ungleichverteilung sozialen Kapitals vorzulegen. 2.5 Zusammenfassung Es zeigen sich insgesamt große Differenzen zwischen den Ansätzen. Einerseits werden als soziales Kapital jene Ressourcen bezeichnet, die sich für einzelne Akteure aus ihren sozialen Beziehungen ergeben. Mit deutlich unterschiedlichen Schwerpunkten lassen sich sowohl Bourdieu, als auch zum Teil Coleman diesem Ansatz zuordnen. Ähnlich konzipiert die soziale Netzwerkforschung soziales Kapital als Variable, die in den Beziehungen von Akteuren eingebettet ist und von ihnen genutzt werden kann. Andererseits wird soziales Kapital als Kollektivgut definiert und nach seinem Beitrag für die politischadministrative Performanz und die wirtschaftliche Entwicklung von Regionen und Staaten gefragt. Von Putnam wird das Konzept überwiegend auf der Makroebene verwendet: Je höher der Bestand an sozialem Kapital (d.h. zwischenmenschlichem Vertrauen, verbindlichen Reziprozitätsnormen und 37 Vgl. die hierzu weiterführende „crowding-out-These“ (s. Van Oorschot 2005; zur Kritik an der These z.B. Skocpol 1996). 38 Lin 2000. 39 Ebd.: 786. 40 Ebd. 41 Ebd. 12 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg sozialem Engagement), desto stabiler sei auch der „Kitt der Gesellschaft“ 42. Vor dem Hintergrund dieser sehr unterschiedlichen Definitionen kann man mit Portes durchaus von „zwei Bedeutungen sozialen Kapitals“ 43 sprechen. Eine zweite Diskussionslinie betrifft die Frage nach den wünschenswerten Eigenschaften sozialen Kapitals. Wie von einigen Autoren kritisiert, wird soziales Kapital oft zu positiv konnotiert – und zwar nicht nur für den Einzelakteur, der von einer sozialen Beziehung „profitiert“, sondern auch gesamtgesellschaftlich. 44 Dabei sind, wie eine ganze Reihe an Studien zeigen, keineswegs alle Formen sozialer Beziehungen auch gesellschaftlich wünschenswert. 45 Andere Sozialkapitalkonzepte definieren es mit explizit positivem Gehalt als zwischenmenschliches Vertrauen, gemeinschaftsorientierte Normen und Werte oder zivilgesellschaftlichem Engagement und vermuten positive Ausstrahlungseffekte für ganze Städte, Regionen oder Staaten - auch wenn hier eine „destructive side“ sozialen Kapitals inzwischen eingeräumt wird. 46 Generell lässt sich sagen, dass bei Coleman und Putnam eine normativ positive Referenz auf Sozialkapital vorhanden ist (Sozialkapital als gemeinschaftlicher „Kitt“ der Gesellschaft), während Bourdieu, die Netzwerkforschung und Rational-Choice-Ansätze diese Kapitalart neutraler als „über Beziehungen mobilisierbare Ressource“ konzipieren – jedoch mit jeweils sehr unterschiedlichen soziologischen Grundannahmen. Schaut man auf die Behandlung von Sozialkapital als abhängiger Größe, so findet sich bereits innerhalb dieser vier Strömungen eine große Bandbreite an behaupteten Einflussfaktoren auf Sozialkapital: - Sozialstrukturelle und sozialräumliche Faktoren, ebenso wie individuelle, gesellschaftlich ungleich verteilte Merkmale (Besitz an ökonomischem und kulturellem Kapital) bei Bourdieu; - Merkmale von Gruppen, Organisationen und Beziehungsnetzen („closure“) bei Coleman; - historische, politische und kulturelle Rahmenbedingungen für die Entstehung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die formelles Sozialkapital hervorbringen bei Putnam; - individuelle Entscheidungsprozesse in der Rational-Choice-orientierten Netzwerksoziologie (z.B. Flap); - die Position eines Akteurs innerhalb einer Netzwerkstruktur bei Burt; - Geschlecht, Ethnizität und sozio-ökonomischer Status bei Lin. 42 Gehmacher et. al. 2006: 7. 43 Portes 2000. 44 z.B. Levi 1996; Dieckmann 1993. 45 Zu nennen sind hier z.B. Phänomene wie Korruption, Schließungsprozesse bei ethnischen Gemeinschaften oder Prozesse der Elitenbildung. 46 Putnam 2001. 13 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg 3. Resümee und Forschungslücken – Sozialkapital und soziale Ungleichheit Nach der Darstellung der klassischen Ansätze soll nun der Blick auf den aktuellen Stand der Sozialkapitaldebatte geworfen werden. Ziel ist es, diesen aktuellen Stand mit den aus den Theorien gewonnenen Einflussfaktoren auf soziales Kapital abzugleichen. Im Vordergrund steht dabei die Theorie Pierre Bourdieus, da diese als die am weitesten entwickelte Sozialkapitaltheorie, insbesondere unter dem Gesichtspunkt sozialer Ungleichheit, gelten kann. 47 Welche Fragen und ggf. inhaltlicher und empirischer Nachholbedarf lassen sich aus der Konfrontation klassischer Ansätze und gegenwärtigem Stand gewinnen? Die gegenwärtige Debatte zeichnet sich, neben den unterschiedlichen Ebenen, auf denen sie geführt wird (siehe Einleitung) dadurch aus, dass mittlerweile sehr viele Ressourcen als Sozialkapital betrachtet werden. Unterscheiden lässt sich z.B. zwischen ökonomischen Ressourcen (sich privat Geld leihen, intergenerationale Reziprozität zwischen Eltern und Kindern, alle Formen privater Schenkungen, Erbschaften, sowie andere in Geld konvertierbare Leistungen), Wissen & Informationen (z.B. zu Arbeitsmarkt und beruflichem Aufstieg 48, zum Bildungssystem 49), Kontakte zu weiteren Netzwerken, Gruppen und Gemeinschaften (z.B. in den zivilgesellschaftlichen oder politischen Bereich hinein), pflegerische Unterstützung (z.B. privat organisierte Kinderbetreuung, familiär geregelte Pflegearrangements, alle Formen informeller „Care-Arbeit“), emotionale/ psychische Unterstützung, Alltagshilfen (Umzüge, Reparaturen, Umgang mit Behörden, Auffinden einer Wohnung etc.). In dieser sehr allgemeinen Betrachtungsweise fallen unter „soziales Kapital“ alle Formen zwischenmenschlicher Unterstützung und Zuwendung, die eine wechselseitig persönliche Bezugnahme auf die andere Person zur Voraussetzung haben. Leistungen, die in reinen Rollenbeziehungen, d.h. im Rahmen professionalisierter Dienstleistungen erworben werden (z.B. Kreditaufnahme bei einer Bank, professionalisierte Altenpflege, sozialarbeiterische Hilfen, Inanspruchnahme einer Arbeitsvermittlung oder eines Umzugsunternehmens) wären demnach kein soziales Kapital, da sie keine gegenseitig persönliche Bekanntschaft zwischen den beteiligten Personen voraussetzen. 50 Diese persönlichen Beziehungen werden üblicherweise noch unterschieden in den jeweiligen Rollenkontext: Soziales Kapital kann in familiären und verwandtschaftlichen Beziehungen entstehen51, in Freundschaften 52, Nachbarschaften, schwächeren Bindungen wie Bekannten, Arbeitskollegen, Nachbarn sowie sozialen Kontakten aus Freizeit und Engagement. 53 Orientiert man sich nun an der Theorie Bourdieus, wäre zu fragen, in welchem Ausmaß die Mobilisierung dieser Ressourcen von der sozialstrukturellen Position der Akteure abhängt – und zwar sowohl vom „Sozialkapital-Nehmenden“, als auch vom „Geber“ dieser Leistungen. Auch 47 Vgl. Gefken 2011. 48 Granovetter 1995[1974], Mouw 2003. 49 Allmendinger et al. 2007. 50 Holzer 2006: 9 f. 51 z.B. Nauck/Kohlmann 1998; Bien/Marbach 2008. 52 Fischer 1982; Boissevain 1974. 53 z.B. Klein et al. 2004. 14 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg sozialräumliche Rahmenstrukturen zur Bildung von Kontakten, die je unterschiedliche Leistungen erbringen, müssten berücksichtigt werden: Für welche Bevölkerungsgruppen ist die Mobilisierung welcher Ressourcen jeweils einfacher oder schwerer? Welche Rolle spielen sozialräumliche Strukturen (z.B. Wohnviertel) beim Aufbau von Netzwerken – und für welche Ressourcen sind diese Netzwerke jeweils nutzbar? Gibt es – z.B. schichtabhängig – bessere oder schlechtere Möglichkeiten, familiäre, freundschaftliche oder berufliche Kontakte aufrechtzuerhalten? Der gegenwärtige, höchst differenzierte Stand der Sozialkapitaldebatte kann in diesem Sinne auch als Herausforderung gesehen werden, verschiedene Profile sozialen Kapitals von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen herauszuarbeiten, während bei Bourdieu diese Kapitalart kaum intern ausdifferenziert war. Generell lässt sich am heutigen Stand der Diskussion festhalten, dass der Erkenntnisstand zu sozialstrukturellen Einflussfaktoren (Klassen- und Milieuzugehörigkeit, Beruf, Status und Prestige, Bildung und Einkommen) auf das soziale Kapital einer Person (ob nun nach Ressourcen oder Beziehungsformen differenziert) nach wie vor eher lückenhaft ist. 54 Mit Ausnahme von Nan Lin erfolgte bisher relativ selten ein expliziter Anschluss an die Theorie Pierre Bourdieus. Als Ausnahme zu erwähnen sind hier jüngere Arbeiten, die den Zusammenhang von Schichtzugehörigkeit und Netzwerkeigenschaften 55 oder den Einfluss von Milieuzugehörigkeit auf Netzwerke empirisch erforschen und nachgewiesen haben. 56 Der starken Ausdifferenzierung in verschiedene Sozialkapitalformen ist bisher jedoch noch keine Ausdifferenzierung der sozialen Ungleichheitsperspektive auf Sozialkapital gefolgt. Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Strang der Sozialkapitaldebatte (siehe Einleitung). Sozialkapital als „public good“ müsste stärker als bisher daraufhin befragt werden, welche Personen in welchem Ausmaß a) an seiner Entstehung beitragen (z.B. durch zivilgesellschaftliches Engagement) und b) in den Genuss seiner positiven Effekte kommen (vgl. die bei Putnam benannten Auswirkungen wie z.B. wirtschaftliches Wachstum oder niedrigere Kriminalität). Aus der mittlerweile sehr ausdifferenzierten Partizipationsforschung, die größtenteils auch einen klaren Bezug zur Ungleichheitsforschung hat, ist unter anderem bekannt, dass sich Arme und Arbeitslose deutlich seltener ehrenamtlich engagieren und politisch partizipieren. 57 Gleichzeitig könnte durchaus angezweifelt werden, ob diese beiden Bevölkerungsgruppen von dem zivilgesellschaftlichen Engagement Anderer profitieren – wie es ja der Grundgedanke bei Sozialkapital als öffentlichem Gut ist. Der Aufsummierung dieser Kapitalart auf Regionen und Staaten, wie dies bei Putnam oft der Fall ist, muss eine ungleichheitsorientierte Folie aufgelegt werden, mit der sichtbar wird, an welchen Orten der Gesellschaft sich Entstehungsmöglichkeiten (und daraus folgend: positive Effekte) sozialen Kapitals konzentrieren und wo sie fehlen. 54 Zu diesem Schluss gelangen Diewald et al. 2006: 2. 55 Vgl. Mewes 2010. 56 Vgl. Hennig/ Kohl 2011 57 Böhnke 2011. 15 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg 4. Literatur: Allmendinger, Jutta/ Ebner, Christian/ Nikolai, Rita (2007): Soziale Beziehungen und Bildungserwerb, in: Franzen/Freitag (Hg.): Sozialkapital. Grundlagen und Anwendungen. Sonderband 47 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 487-513. Bien, Walther/ Marbach, Jan (Hg.) (2008): Familiale Beziehungen, Familienalltag und soziale Netzwerke, Wiesbaden: VS-Verlag. Böhnke, Petra (2011): Ungleiche Verteilung politischer und zivilgesellschaftlicher Partizipation. In: aus Politik und Zeitgeschichte 1-2/2011, S. 18-25. Boissevain, Jeremy (1974): Friends of Friends. Networks, Manipulators and Coalitions, Oxford: Basil Blackwell. Bourdieu, Pierre (1992): Ökonomisches Kapital – kulturelles Kapital – soziales Kapital, in: Ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1, hrsg. v. Margareta Steinrücke, Hamburg: VSA-Verlag, S. 49-80. Burt, Ronald (2001): Structural Holes Versus Network Closure as Social Capital, in: N. Lin, K. Cook and R.S. Burt: Social Capital: Theory and Research. Sociology and Economics: Controversy and Integration series. New York: Aldine de Gruyter, S. 31-56. Coleman, James (1988): Social Capital in the Creation of Human Capital, in: American Journal of Sociology, 94 Supplement, S. 95-120. Coleman, James (1995): Grundlagen der Sozialtheorie. Band 1: Handlungen und Handlungssysteme, München: Oldenbourg. Deth, Jan W. van (2001): Ein amerikanischer Eisberg: Sozialkapital und die Erzeugung politischer Verdrossenheit, in: Politische Vierteljahreszeitschrift, 42, S. 275-282. Diekmann, Andreas (1993): Sozialkapital und das Kooperationsproblem in sozialen Dilemmata, in: Analyse und Kritik, 15, 1, S. 22-35. Diewald, Martin/ Lüdicke, Jörg/ Lang, Frieder R./ Schupp, Jürgen (2006): Familie und soziale Netzwerke. Ein revidiertes Erhebungskonzept für das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) im Jahr 2006, Research-Note, DIW-Berlin, April 2006. Fischer, Claude S. (1982): To Dwell Among Friends: Personal Networks in Town and City, Chicago & London: University of Chicago Press. Flap, Henk (1996): Creation and Returns of Social Capital, Unpublished Paper, presented at the Conference of the European Consortium for Political Research on Social Capital and Democracy, Milan. 16 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg Flap, H. (2002): No man is an island. The research program of a social capital theory, in: Favereau, O. / Lazega, E. (Hg.) (2002): Conventions and structures in economic organization, Cheltenham: Edward Elgar; S. 29-59. Franzen, Axel/ Pointner, Sonja (2007): Sozialkapital: Konzeptualisierungen und Messungen, in: Franzen/Freitag (Hg.) (2007): Sozialkapital. Grundlagen und Anwendungen. Sonderband 47 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 66-90. Gefken, Andreas (2011): Gut vernetzt – gut integriert? Soziales Kapital und seine Bedeutung für türkische Migranten. Marburg: Tectum-Verlag. Gehmacher, Ernst/ Kroismayr, Sigrid/ Neumüller, Josef/Schuster, Martina (Hg.) (2006): Sozialkapital. Neue Zugänge zu gesellschaftlichen Kräften. Wien: Mandelbaum Verlag. Granovetter, Mark S. (1995/[1974]): Getting A Job. A Study of Contacts and Careers, Cambridge, Mass.: Harvard University Press. Haug, Sonja (1997): Soziales Kapital. Ein kritischer Überblick über den aktuellen Forschungsstand, in: Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES), Arbeitsbereich II/Nr. 15, Mannheim; URL: http://www.mzes.uni-mannheim.de/publications/wp/wp2-15.pdf (letzter Zugriff: 09.01.2012). Hennig, Marina/ Kohl, Steffen (2011): Rahmen und Spielräume sozialer Beziehungen. Zum Einfluss des Habitus auf die Herausbildung von Netzwerkstrukturen, Wiesbaden: VS-Verlag. Holzer, Boris (2006): Netzwerke, Bielefeld: transcript-Verlag. Iyer, Sriya/ Kitson, Michael/ Toh, Bernard (2005): Social Capital, Economic Growth and Regional Development, in: Regional Studies, Vol. 39 (8), S. 1015-1040. Jackman, Robert/ Miller, Ross (1998): Social capital and politics, in: Annual Review of Political Science 1: S. 75-93. Jansen, Dorothea (1999): Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Opladen: Leske+Budrich. Klein, Ansgar/Kern, Kristine/Geißel, Brigitte/Berger, Maria (2004) (Hg.): Zivilgesellschaft und Sozialkapital. Herausforderungen politischer und sozialer Integration, Wiesbaden: VS-Verlag. Koob, Dirk (2007): Sozialkapital zur Sprache gebracht: Eine bedeutungstheoretische Perspektive auf ein sozialwissenschaftliches Begriffs- und Theorieproblem, Göttingen: Universitätsverlag. Laireiter, Anton (Hg.) (1993): Soziales Netzwerk und soziale Unterstützung: Konzepte, Methoden und Befunde, Bern: Huber. Levi, M. (1996): Social and Unsocial Capital: A Review Essay of Robert Putnam’s Making Democracy Work, in: Politics and Society 24, S. 45-55. Lin, Nan (2000): Inequality in social capital, in: Contemporary Sociology, Vol. 29, No. 6 (Nov., 2000), S. 785-795. 17 Gefken (2012): Sozialkapital und soziale Ungleichheit. Hamburg Lin, Nan (2001): Building a network theory of social capital, in: Lin, Nan/Cook, Karen/Burt, Ronald S. (Hg.): Social Capital. Theory and Research, New York: de Gruyter, S. 3-30. Matiaske, Wenzel/Grözinger, Gerd (2008): Sozialkapital – eine (un)bequeme Kategorie. Editorial, in: Matiaske, Wenzel/Grözinger, Gerd (Hg.): Sozialkapital: eine (un)bequeme Kategorie. Reihe Ökonomie und Gesellschaft, Jahrbuch 20, Marburg: Metropolis Verlag, S. 7-15. Mewes, Jan (2010): Ungleiche Netzwerke - vernetzte Ungleichheit. Persönliche Beziehungen im Kontext von Bildung und Status. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Mouw, T. (2003): Social Capital and Finding a Job: Do Contacts Matter?, in: American Sociological Review, 68: 868-898. Nauck, Bernhard/ Kohlmann, Annette (1998): Verwandtschaft als soziales Kapital. Netzwerkbeziehungen in türkischen Migrantenfamilien, in: Wagner, Michael/Schütze, Yvonne (Hg.): Verwandtschaft: sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema. Stuttgart: Enke, S. 203-235. Ostrom, Elinor (2000): Social Capital – A fad or a fundamental concept?, in: Dasgupta, Partha/ Serageldin, Ismail (Hg.) (2000): Social Capital. A multifaceted perspective, The World Bank: Washington D.C., S. 172-214. Portes, Alejandro (1998): Social Capital: Its Origins and Applications in Modern Sociology, in: Annual Review of Sociology, 24, S. 1-24. Portes, Alejandro (2000): The Two Meanings of Social Capital, in: Sociological Forum 15, 1, S. 1-12. Putnam, R. (1993): Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy, Princeton. Putnam, Robert (1995): Bowling Alone. America’s Declining Social Capital, in: American Journal of Democracy, 6: S. 65-78. Putnam, Robert (2000): Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York: Simon & Schuster. Putnam, Robert (2001): Social Capital: Measurement and consequences, in: Canadian Journal of Policy Research 2(1), S. 41-51. Putnam, Robert/Goss, Kristin (Hg.) (2001): Gesellschaft und Gemeinsinn. Sozialkapital im internationalen Vergleich, Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung. Röhrle, B. (1994): Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung, Weinheim Skocpol, Theda. (1996) Unraveling from above, in: American Prospect (March-April), S. 20-25. Van Oorschot, Wim (2005): The Social Capital of European Welfare States: The crowding-out Hypothesis revisited, in: Journal of European Social Policy, 15(1), S. 5-26. 18