MDK-Forum Ausgabe 04/2008 - MDK

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MDK-Forum Ausgabe 04/2008 - MDK
Heft
12. Jahrgang
Dezember 2008
MDK4 Forum
Das Magazin der Medizinischen Dienste der Krankenversicherung
In dieser Ausgabe
Neues Verfahren zur
Pflegebegutachtung erprobt
Seite 10
Schulnoten für Pflegeheime
Seite 13
Selbstdiagnose per Mausklick
Seite 20
Hannover Morbiditätsund Mortalitätsstudie
Seite 29
Pflege in Schweden
Seite 32
ISSN 1610-5346
Pflege von Menschen
mit Demenz
Neue Impulse für
die Versorgung
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
Das Jahr 2008 war der UNESCO gleich drei Widmungen wert:
Es wurde zum internationalen Jahr des Planeten Erde, zum internationalen Jahr der Sprachen und zum internationalen Jahr der
Kartoffel ernannt. Das Bildungsministerium rief 2008 zum Jahr
der Mathematik aus, die Europäische Union zum Jahr des interkulturellen Dialogs. Was fehlt? Ganz klar: Aus Sicht der Medizinischen Dienste war 2008 auch das Jahr der Pflege!
Die schrittweise Anhebung der Sachleistungsbeträge und des Pflegegeldes in der ambulanten Pflege, die Dynamisierung der Leistungen ab 2015, verbesserte Leistungen für Demenzkranke und
mehr Transparenz über die Pflegequalität – über diese Inhalte
­wurde vor Jahresfrist politisch noch gestritten: Seit dem 1. Juli
sind sie Gesetz. An der Umsetzung arbeiten Pflegekassen, Leistungserbringer und die Medizinischen Dienste mit Hochtouren.
Trotz dieses wichtigen Zwischenstepps wird die Pflege hier nicht
stehen bleiben. Befeuert von den gesellschaftlichen Veränderungen
– Stichworte sind hier die demografische Entwicklung, die zunehmende Multimorbidität und die steigende Zahl von Ein-PersonenHaushalten – werden wir uns als Gesellschaft Gedanken machen
müssen, wie wir im Alter leben und, wenn nötig, gepflegt werden
wollen. Deshalb stellen wir Ihnen im Schwerpunkt der letzten
Ausgabe des „Pflege-Jahres“ 2008 ermutigende Versorgungsbeispiele für Pflegebedürftige und Menschen mit Demenz vor.
Ebenfalls in die Zukunft weist das Modellprojekt zur Schaffung
eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines neuen Begutachtungsverfahrens zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit, das
die Spitzenverbände der Pflegekassen 2006 eingerichtet haben.
Bereits Ende Februar haben der MDK Westfalen-Lippe und das
Bielefelder Institut für Pflegewissenschaft (IPW) einen Vorschlag
für ein neues Begutachtungsverfahren vorgelegt (siehe Ausgabe
2/2008). Jetzt liegen die Ergebnisse der praktischen Erprobung
und der Begleitevaluation vor: Der MDS und das Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen (IPP)
haben die Hauptphase 2 abgeschlossen.
Das Jahresende ist immer auch einen Ausblick wert. Dass 2009
das Jahr der Astronomie wird, steht bereits fest. Und für Bienenfreunde ist es das Jahr der Bestäubung. Die Kanzlerin hat 2009
schon einmal prophylaktisch zum „Jahr der schlechten Nachrichten“ erklärt und uns damit auf die anhaltende Wirtschaftskrise
einzustimmen versucht. Und gesundheitspolitisch? Ob es wohl
das Jahr des Gesundheitsfonds wird? Oder doch das Jahr der
Kassenfusionen?
Persönlich wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein erholsames Weihnachtsfest und einen guten Start ins neue Jahr!
Ihr
MDK-Forum 4/2008
Dr. Ulf Sengebusch
Inhalt
4
6
Schwerpunkt
Pflege von Menschen mit Demenz
Neue Impulse für die Versorgung
2
Pflegeoase: Neues Betreuungsmodell
für Menschen mit Demenz
4
Fit für Zuhause
Aktivierung, Respekt und Urlaubsflair im Pflegehotel 6
Niedrigschwellige Betreuung durch
freiwillige Helfer
8
Familienentlastende Angebote bei Demenzkranken
Eine Auszeit geben
9
Kranken- und Pflegeversicherung
10
MDS und Uni Bremen legen Abschlussbericht vor
Neues Verfahren zur Pflegebegutachtung erprobt
Mehr Transparenz in der Pflege
Schulnoten für Pflegeheime
10
13
„Der Abschluss der Vereinbarung ist ein großer Erfolg“
Interview mit Jürgen Brüggemann, MDS
15
Mit moderner Wundversorgung Kosten sparen?
17
Analyse des MDK zur Begutachtungspraxis
Sterilisation und Empfängnisverhütung
unter der Lupe
18
Gesundheitsinformationen im Internet
Selbstdiagnose per Mausklick
24
22
20
Brücke zur Außenwelt
Telekommunikation hilft krebskranken Kindern
Suchterkrankungen bei Ärzten
„Jeder hat eine Chance verdient“
22
24
„Wenig Muss – viel Genuss“
Interview mit Christa Raduel, MDK Rheinland-Pfalz,
zu Ernährung und Flüssigkeitsversorgung
27
26
Gesundheits- und Sozialpolitik
Gesundheitsfonds: Abenteuer-Reise ins Ungewisse
27
Hannover Morbiditätsund Mortalitäts-Pflegestudie
29
Innovationen im Krankenhaus steuern
30
Systemberatung zur Versorgung chronisch Kranker
Die Zukunft ist chronisch
31
MDK im Dialog
32
Hemtjänst oder Va°rdcentral
Pflege in Schweden
32
Menschen und Nachrichten
Leserbrief
33
1
MDK-Forum 4/2008
Schwerpunkt
Pflege von Menschen mit Demenz
Neue Impulse für die Versorgung
Von Eva Richter
G
rau – das ist mehr als eine
Mischung aus Schwarz und
Weiß, es ist ein Mix aus vielen
Farben: „Grau ist bunt“ meint
Henning Scherf, Ex-Bürgermeister von Bremen und begeisterter
Alten-WG-Bewohner, in seinem
Bestseller über das Leben im
Alter. Das zeigen nicht nur die
vielen neuen Wohnformen für
alte Menschen, sondern auch
alternative Pflegemodelle, die
sich rund um das Schwarzweiß
stationärer und ambulanter Pflege ansiedeln. Ob Haushaltsengel,
Gastfamilie für Pflegebedürftige,
oder „intelligentes Haus“ – das
Spektrum an Möglichkeiten ist
breit. MDK-Forum stellt in diesem Schwerpunkt die Pflegeoase, ein Pflegehotel und familienentlastende Angebote genauer
vor.
Die Initiatoren dieser neuen
­Pflegeformen sind ganz unterschiedlich: Da gibt es Modell­
projekte des Bundesfamilien­
ministeriums zum Wohnen im
Alter, Aktivitäten der Bundes­
länder, gemeinsame Anstrengungen von Kommunen und Pflegeeinrichtungen, aber auch private
Initiativen beispielsweise von
Wohnungsbauunternehmen.
Pflege- und Seniorenbegleiter:
Ehrenamt, das sich rechnet
In den vergangenen Jahren ­
sind Beratungsstellen für neue
Wohn- und Pflegeformen wie
­Pilze aus dem Boden geschossen:
So gründete das schleswig-holsteinische Sozialministerium
Ende 2007 die „Koordinationsstelle für innovative Wohn- und
Pflegeformen“ (KIWA), die sich
zunächst vor allem um Demenzkranke kümmern will. Das So­
zialministerium in MecklenburgVorpommern hat die Einrichtung
eines Nachbarschaftstreffs in Parchim finanziell unterstützt. Dort
bieten Ehrenamtler und Ein-Euro-Jobber Senioren Hilfe beim
Einkaufen, bei Amtsbe­suchen
oder bei der Hausarbeit an. Außerdem können ältere Menschen
dort günstig zu Mittag essen.
Erst vor wenigen Wochen wurden in Niedersachsen die ersten
landesgeförderten Senioren­
servicebüros (SSB) eröffnet. Von
der Wohnberatung über Seniorenbegleitung und Haushalts­
assistenz gibt es dort alles wohnortnah und aus einer Hand.
Rheinland-Pfalz startete vor
rund einem Jahr das Modell­
projekt „Homecare“, das von
der Zeitarbeitsfirma Manpower
getragen wird. Die Mitarbeiter
werden in Betreuung, Erste
­Hilfe und Haushaltsführung geschult und sollen pflegebedürf­
tige Menschen zu Hause unterstützen.
MDK-Forum 4/2008
2
In Thüringen gibt es die bundesweit ersten „Seniorenbegleiter
mit Schwerpunkt Alltagsmanagement“: Aus dem Pilotprojekt des
Paritätischen Wohlfahrtsverbandes wurde im Sommer 2007 das
private Netzwerk „Die Seniorenbegleiterinnen“, das vor allem die
Unterstützung Demenzkranker
zum Ziel hat.
Der Main-Kinzig-Kreis erprobt
im Auftrag der Spitzenverbände
der Pflegekassen seit 2006 ein
Konzept von Tages- und Kurzzeitpflege in Privathaushalten.
In dem bundesweit einmaligen
Projekt „SowieDaheim“ werden
engagierte Personen ausgebildet,
die ältere Menschen an zwei
­Tagen in der Woche als Gäste
aufnehmen wollen. Die Betreuung findet jeweils in kleinen
Gruppen statt – immer zwei
Personen kümmern sich um
zwei bis vier Gäste. Das Modellprojekt, das bereits in mehreren
Haushalten erfolgreich läuft, soll
im Juni 2011 enden.
Von Kassen und Bundesfamilienministerium gemeinsam gefördert,
ging in diesem Herbst das Modellprojekt „Pflegebegleiter“ zu
Ende – hier sind in den vergangenen fünf Jahren 97 Standorte mit
rund 2.000 freiwilligen PflegebegleiterInnen entstanden, die
­pflegende Angehörige begleiten
und entlasten. Ehrenamt, das sich
rechnet: Der Mehrwert der bisher
freiwillig geleisteten Stunden entspricht einer Größenordnung von
rund 2,8 Millionen Euro.
Eine neue Familie für
Pflegebedürftige
Relativ neu ist die Idee der „Gastfamilie für Senioren“, die derzeit
an verschiedenen Standorten in
Schwerpunkt
der Bundesrepublik erprobt
wird. So startete im Dezember
2007 im Kreis Gütersloh ein
dreijähriges Modellprojekt, bei
dem geeignete Gastfamilien
­gewonnen werden, die einen
­älteren Menschen bei sich aufnehmen und ihm Wohnraum,
Betreuung und Pflege bieten.
Träger ist der AWO Bezirksverband Ostwestfalen-Lippe e.V.,
der die Familien auswählt, vorbereitet und kontinuierlich begleitet. Ähnliches wird in Minden, im süddeutschen Ortenau
und in Ravensburg angeboten.
„Gastfamilien zu finden, ist
nicht das Problem“, meint
­Ulrike Böhm von der AWO in
Bielefeld. „Schwieriger ist es,
­Senioren zu motivieren.“ Mehr
als 30 Familien wurden von der
Arbeiterwohlfahrt bereits angeworben, zwei ältere, demenzkranke Menschen sind bisher
vermittelt worden. Beide waren
zuvor in einer stationären Einrichtung untergebracht und sind
auf eigenen Wunsch in die Familien übergesiedelt – was einigen Heimen offenbar ein Dorn
im Auge ist. Zumal die Gast­
familien weitaus preiswerter
sind: Für ihre Aufwendungen
­erhalten sie monatlich 824 Euro
plus Pflegegeld, wenn der Gast
ambulante Pflege benötigt. Verfügt er über kein ausreichendes
Einkommen, übernimmt der
Kreis als Sozialhilfeträger die
Kosten. „Wir werden teilweise
schon als Konkurrenz angesehen. Dabei handelt es sich bei
unserem Angebot nur um ein
Nischenprodukt. Nicht jeder ist
für das Leben in einer Gastfamilie geeignet oder bereit dazu“,
so Böhm.
Pflege auf Karte
Doch nicht nur Länder, Kommunen und Verbände beschreiten neue Wege in der Pflege –
auch private Pflegeein­richtungen. So bieten immer mehr
ambulante Pflegedienste so
­genannte „Zeitguthabenkarten“
an. Das Konzept wurde von
dem Ambulanten Pflegezentrum
Nord aus Flensburg entwickelt
und 2005 mit dem Innovationspreis der Zeitschrift Häus­liche
Pflege ausgezeichnet. Die Idee:
Pflegekunden kaufen Zeitguthabenkarten und bestimmen, welche Unterstützung sie in welchem Zeitumfang dafür erhalten.
Unkonventionelle Wege wollen
auch die Altenpfleger Martin
Bollinger und Heiko Reinert
­gehen. Ihr Konzept „Laternenträger“, das sie bereits in mehreren Talkshows präsentiert haben,
sieht eine neue Form der Betreuung und Begleitung für demenzkranke Menschen und deren
A­ngehörige vor. Im „Alltagshaus“
wollen sie vorhandene Alltagskompetenzen und Fähigkeiten
ihrer Schützlinge stärken. Derzeit sind die beiden Koblenzer
noch auf der Suche nach Sponsoren.
Auch die Wohnungswirtschaft
hat das Potential erkannt
Ein Beispiel für das wachsende
Engagement der Wohnungswirtschaft ist „Nascha Kwartihra“
(„Unsere Wohnung“), eine
Wohngemeinschaft für russischstämmige demenzkranke Migranten in Köln. In der WG, die
von der GAG Immobilien AG
unterstützt wird, werden die
­Bewohner durch einen Pflegedienst der Diakonie versorgt.
Die russische Kultur ist fester
Bestandteil des Lebens. Im Juli
2006 zogen die ersten Bewohner ein, heute leben sechs
­Menschen in dem Projekt, das
bereits mehrere Auszeichnungen
eingeheimst hat.
Ein anderes aktuelles Beispiel
ist das WohnQuartier-Projekt
der Hochtief Construction AG
gemeinsam mit der Diakonie
und der Evangelischen Erwachsenenbildung Nordrhein, das
seit April 2008 an zwei Pilotstandorten in Nordrhein-Westfalen erprobt wird. Hier geht es
um eine altersgerechte Quartiergestaltung.
3
Das schlaue Haus
Eine weitere Möglichkeit, älteren
und pflegebedürftigen Menschen
das Leben zu erleichtern, ist das
„intelligente Haus“. In den vergangenen Jahren sind zahlreiche
technische Hilfsmittel entwickelt
worden, die Senioren ein vergleichsweise unabhängiges Leben
ermöglichen – wie zum Beispiel
im Innovationszentrum Intelligentes Haus (InHaus) Duisburg.
Das Prinzip: Unterschiedliche
Sensoren überwachen die Lebensfunktionen der Menschen.
Über eine Funkverbindung und
das Internet bleiben die Ärzte
ständig über die gemessenen
­Daten der Bewohner informiert,
so dass sie im Notfall rechtzeitig
eingreifen können. Der Fingerprint-Scanner an der Haustür
­ersetzt den Schlüssel und der
Arzneischrank meldet neuen
­Bedarf an die Internetapotheke,
die dann automatisch nachliefert.
Ob ausgefeilte Technik oder
­Alten-WG, ob Pflegebegleiter
oder Gastfamilie – die Beispiele
zeigen, dass es bunter wird in
der Pflegewelt. Sie zeigen, dass
es Möglichkeiten gibt und immer mehr geben wird, (teurere)
Heimaufenthalte hinauszuzögern
und länger selbst bestimmt zu
leben. Die herkömmlichen Formen der stationären und ambulanten Pflege aber können sie
nicht ersetzen – und wollen es
auch gar nicht. Sie werden dennoch unverzichtbar sein, wenn
die Zahl der Pflegebedürftigen
in 20 Jahren die Drei-MillionenGrenze überschritten hat.
Eva Richter ist Fachjournalistin
für Gesundheits-/Pflegepolitik
Weitere Informationen:
www.pflegebegleiter.de
www.kiwa-sh.de/
www.seniorenbegleiterinnen.de
www.nascha-kwartihra.de
www.laternentraeger.de
www.familie-mal-anders.de/
www.awo-owl.de/pages/angebote/seniorinnenundsenioren/
gastfamilienfuersenioren.html
MDK-Forum 4/2008
Schwerpunkt
Pflegeoase: Neues Betreuungsmodell
für Menschen mit Demenz
I
m Seniorenzentrum Holle
im niedersächsischen
Landkreis Hildesheim werden seit 2006 Menschen mit
schwerer Demenz in einem
­gemeinschaftlich genutzten
Wohn- und Lebensbereich betreut. Sechs Bewohner teilen
sich etwa 100 Quadratmeter
und werden 14 Stunden am
Tag von einer Pflegefachkraft
beobachtet und betreut. Das
Seniorenzentrum Holle gilt als
Vorreiter für die Thematik
Pflegeoase.
Um eine empirische Datenbasis
zu schaffen und die praktischen
Erfahrungen der Akteure – Bewohner, Angehörige und Mitarbeiter – in und mit einer Pflege­
oase systematisch zu unter­suchen, hat das Sozialministerium
Niedersachsen die wissenschaftliche Begleitforschung mit einer
einjährigen Laufzeit bei der Demenz Support Stuttgart gGmbH
in Auftrag gegeben und finanziell
gefördert.
„Nicht unbedingt ein
Werbeträger“
Schutz vor Reizüberflutung,
­Ruhephasen, Rückzug und Individualität“, erklärte Heimleiter
­Peter Dürrmann das Konzept.
Dürrmann glaubt auch, dass die
Pflegeoase kein Werbeträger ist.
„Denn die meisten verlangen ein
Einzelzimmer für ihre Angehörigen. Das Positive der Oase erschließt sich allen Beteiligten
erst mit dem Lauf der Zeit innerhalb des Heimes.“ Das Projekt
habe gezeigt, dass Demenzerkrankte im Verlauf der Erkrankung zum Teil besonderer Versorgungsangebote bedürfen.
Präsenz der Pflegefachkräfte
Bei den Angehörigen stößt
diese Versorgungsform auf viel
Zuspruch. „Wenn ich das jetzt
vergleiche zu vorher, dann ist
das ein Unterschied wie Tag und
Nacht, denn da lag sie wirklich
isoliert. Und jetzt hier in der
Oase öffnet sie ihre Augen, sie
reagiert mal wieder ein bisschen,
sie spricht ein paar Worte. Also
wir sind ganz angetan. Ich denke, sie braucht das unbedingt,
immer diesen Kontakt, die
„Die Ergebnisse sprechen für
sich“, sagte die niedersächsische
Sozialministerin Mechthild
Ross-Luttmann (CDU) bei der
Präsentation der Forschungs­
ergebnisse im September 2008.
„Wenn zum Beispiel Bewohner
vermehrt auf Ansprache reagieren und ihre Sinneswahrnehmungen, die Beweglichkeit und
Nahrungsaufnahme steigern
konnten, dann sind das für mich
ermutigende Ergebnisse.“
Die Pflege in der Oase versucht
dem Bedürfnis nach Bindung
zu entsprechen. „Es geht so­wohl um ein Gleichgewicht aus
Nähe, sanfter Stimulation und
­Sinnesaktivierung als auch um
MDK-Forum 4/2008
Wohnbereich in der Pflegeoase Holle
4
­ aute von außen“, äußert eine
L
Angehörige ihre Beobachtungen. „Die Angehörigen sind mit
der Pflegeoase vor allem wegen
der ständigen Präsenz einer
Pflegefachkraft zufrieden“, erklärt ­Dr. Anja Rutenkröger von
­Demenz Support.
Kritik an der Wohnform
Am Anfang standen Angehörige
wegen des intensiven Gemeinschaftserlebens der Pflegeoase
skeptisch gegenüber. Und genau
das ist auch der Kritikpunkt
mancher Experten, die das
Recht auf Wahrung der Privatsphäre gestört sehen. Kritiker
befürchten, dass damit wie in
früheren Zeiten dem Anstaltscharakter von Heimen Vorschub
geleistet und die lang erstrittene
Einzelzimmerlösung zunichte
gemacht werde. Nicht zuletzt
wirtschaftliche Motive könnten
Heimbetreiber dazu verleiten.
Die Studienergebnisse aus Holle
zeigen die Bedeutung von
­Bindung und Gemeinschaft für
die untersuchte Zielgruppe der
Schwerpunkt
Menschen mit Demenz in weit
fortgeschrittenen Stadien der
Erkrankung eindeutig auf. Die
Angehörigen stellen eindeutig
Vorteile der Gemeinschaft in
den Vordergrund. „Die Bewohnerinnen der Pflegeoase erlebten
vor dem Umzug vermehrt Phasen des Alleinseins, für ihre Angehörigen war dies mit Stress
verbunden“, sagte Dr. Ruten­
kröger. Die Privatsphäre hat
weiterhin Bedeutung. Bei Bedarf
können Rückzugsmöglichkeiten
wie der Balkon, Sitzecken, ein
zusätzliches Zimmer usw. genutzt werden.
Mitarbeiterkontakte zu Pflegebedürftigen sind intensiver
Eines der Hauptargumente für
die Einrichtung einer Pflegeoase
war die Annahme, dass sich der
Bewohner-Mitarbeiter-Kontakt
deutlich intensiver und bedarfsorientierter gestalten könnte als
in herkömmlichen Versorgungsformen. Im Vergleich zum benachbarten Wohnbereich, in
dem 17 Demenzkranke mit
schwerer Pflegebedürftigkeit
und stark eingeschränkter Mobilität wohnen, zeichneten sich
deutliche Unterschiede in der
Kontakthäufigkeit ab, heißt es
in der Evaluationsstudie von
Demenz Support. Dr. Ruten­
krögers Fazit lautet: „Eine
­Pflegeoase kann eine sinnvolle
­Erweitung des Versorgungs­
angebots für Menschen mit
­Demenz in weit fortgeschrittenem Stadium der Erkrankung
darstellen und ist unter b
­ e­stimmten Voraussetzungen zu
empfehlen: wenn ein detailliert
ausgearbeitetes Konzept vorliegt, eine wissenschaftliche
­Begleitung durchgeführt wird
und die Bedarfslage für ein
­Pflegeoasenkonzept kritisch
­geprüft wurde.“
Weitere Informationen:
www.sz-holle.de
(Seniorenzentrum Holle)
www.demenz-support.de
(dt)
Dr. Anja Rutenkröger (li.) und die niedersächsische Sozialministerin
Mechthild Ross-Luttmann stellen die Ergebnisse zur Pflegeoase in Holle vor.
Idee der Pflegeoase
Die Kernidee der Pflegeoase ist es, Menschen mit schwerer Demenz eine
­Teilnahme an der Gemeinschaft zu ermöglichen, um der sozialen Isolation
entgegenzuwirken. Dies wird vor allem durch das Raumprogramm und die
kontinuierliche Präsenz von Pflegenden gefördert.
Mit der Pflegeoase wird der Versuch unternommen, die Lebenswelt an die
­Bedürfnisse von demenzkranken Menschen in weit fortgeschrittenen Stadien
der Erkrankung anzupassen. Sie ist als Nischenangebot für diese spezielle
­Zielgruppen zu verstehen und hebt sich von anderen Versorgungsformen
durch eine gemeinschaftliche Betreuung einer kleinen Gruppe von Bewohnern
und kontinuierliche Präsenz der Pflegefachkräfte ab.
Weitere Pflegeoase-Projekte
Seit September 2007 begleitet das Institut für sozialpolitische und geronto­
logische Studien (ISGOS) drei unterschiedliche Wohnprojekte mit dem Konzept
Pflegeoase in Hessen und Nordrhein-Westfalen. Das Projekt wurde im No­
vember 2008 abgeschlossen.
Im Rahmen der Ausschreibung „Leuchtturm­projekte Demenz“ fördert das
Bundesgesundheitsministerium die Evaluation der Pflegeoase im Haus Butter­
markt in Adenau (Rheinland-Pfalz) durch den Arbeitsschwerpunkt „Geronto­
logie und Pflege“ der Kontaktstelle für praxis­orientierte Forschung an der
Evangelischen Fachhochschule Freiburg in K­ ooperation mit dem Institut für
Gerontologie der Universität Heidelberg. Der Projektzeitraum erstreckt sich
von April 2008 bis Dezember 2009.
Seit April 2008 führt die Demenz Support Stuttgart gGmbH eine Evaluations­
studie in Luxemburg durch. Im Auftrag des Familienministeriums Luxemburg
werden zwei verschiedenen Oasen-Konzepte mit Kontrollgruppen in einer
Laufzeit von zwei Jahren untersucht.
5
MDK-Forum 4/2008
Schwerpunkt
Fit für Zuhause
Aktivierung, Respekt und Urlaubsflair im Pflegehotel
Von Meike Klinck
I
m Hochsauerland geht
man die Pflege überraschend unkonventionell an.
Waltraud Rebbe-Meyer beschreitet energisch neue Pfade
in der deutschen Pflegelandschaft. Sie leitet das Pflege­
hotel Willingen und setzt auf
­Aktivierung, Respekt und
­Urlaubsflair.
Modellhaft werden im hessischen
Kneipp-Heilbad und F­erienort
Willingen seit August 2008 Kurzzeitpflege, Tagespflege und Urlaub von der Pflege unter einem
Dach angeboten. Zusätz­liche rehabilitative Angebote ergänzen
die Standard-Pflegeleistungen,
auch bei Menschen mit Demenz.
Das Angebot ist in dieser Form
neu. „Unser Ziel ist es, pflegebedürftige Menschen wieder ins
Gleichgewicht zu bringen und
den Pflegebedarf zu reduzieren“,
so Geschäftsführerin Rebbe-Meyer. Mindestens zweimal täglich
gibt es therapeutische Gruppenangebote, hinzu k­ommen weitere
Einzelange­bote. Dabei entspricht
der erste Eindruck nicht dem eines P­flegeheims.
Pflegebedürftige als Gäste
ansehen
Im Hintergrund läuft Musik,
im Stuhlkreis sitzen die Gäste
des Pflegehotels und rollen einander den Softball zu. Im Therapiebereich stehen Ergometer
und Venentrainer; die gelbe
Massagematte vor der Wand ist
bei den Gästen besonders beliebt. In silbernen Kesseln findet
sich eine wachsartige Masse. Die
Paraffinbäder sollen die Fein­
motorik verbessern, die Wärme
lindert zudem Gicht und rheumatische Beschwerden. Ein Erbsenbad wirkt sensibilisierend,
das Hirnleistungstraining am
Computer schult die vorhandenen Kompetenzen.
Das Pflegehotel in Willingen bietet aktivierende Kurzzeitpflege in gastlicher
Atmosphäre. Geschäftsführerin Rebbe-Meyer im Gespräch mit Gästen nach
dem Mittagessen.
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6
„Wichtig ist für uns die indivi­
duelle Pflege, die durch einen
respektvollen Umgang mitein­
ander geprägt ist“, erklärt Rebbe-Meyer und betont, dass die
Pflegebedürftigen als Gäste angesehen und entsprechend vom
Pflegepersonal behandelt werden. Dieses Credo bestimmt
auch die hauseigene Personalpolitik. Neben der fachlichen Qualifikation sind bei der Auswahl
geeigneter Mitarbeiter weitere
Kriterien von Bedeutung. „Unsere Mitarbeiter müssen aktivieren
und sich mit dem Konzept identifizieren können“, sagt RebbeMeyer. Zudem seien eine gute
Beobachtungsgabe und schnelle
Reaktionsfähigkeit gefragt.
Einfach sei es nicht, das passende Personal zu finden, so RebbeMeyer: „Es gibt keine Routine,
und jeder einzelne ist stark gefordert.“ Allein die Konstellation
der Gäste war in den vergangenen Monaten nicht länger als
drei Tage konstant. „Bei uns
werden jeden Morgen die Karten neu gemischt“, beschreibt
Regine Gröne, Mitarbeiterin im
Pflegehotel, die alltägliche Herausforderung.
Pflegepersonal, Ergo- und
P­hysiotherapeuten und eine
Hauswirtschafterin sind für
die 14 Kurzzeit- und acht Tages­
pflegeplätze da. Ein freiwillig
i­nitiierter Beirat fungiert als Beratungsgremium, das sich aus
Heimaufsicht, Pflegekasse und
Kreissozialamt zusammen­setzt.
Auch so möchte Rebbe-Meyer
Überzeugungsarbeit leisten: „Ich
will in der Praxis beweisen, dass
die Kombination von Pflege und
Rehabilitation Sinn macht.“ Ziel
sei es, die P­flegebedürftigen
Schwerpunkt
­ ieder fit für den Alltag in
w
ihren eigenen vier Wänden
zu machen.
dokumentiert, so lassen sich die
Fortschritte der Pflegebedürftigen während des Aufenthalts
nachvollziehen.
Ein Foto zeigt vier Gäste des
Pflegehotels im Rollstuhl mit
Betreuerinnen auf dem nahen
Ettelsberg. Regelmäßige Ausflüge, gemeinsame Tanzabende,
k­egeln, backen oder singen: Das
Freizeitprogramm basiert auf
der Idee, den für alle Beteiligten
aufreibenden Pflegealltag durch
Abwechslung zu entspannen.
So werden Hobbys und lieb gewonnene Aktivitäten der Pflegebedürftigen bei ihrer Ankunft
­erfragt und anschließend in den
Tagesablauf integriert. „Über
Wohlbefinden, Spaß und Freude
am Leben wollen wir die Sicherheit und Normalität in das Leben
unserer Gäste zurück bringen“,
so Rebbe-Meyer. Der Standort
Willingen ist für Rebbe-Meyer
ideal, das Freizeitangebot ist
vielfältig. Auch für die Gemeinde ist das Pflegehotel ein Plus in
ihrem Fremdenverkehrs-Port­
folio, sie unterstützt bei der Angebotsgestaltung.
Rebbe-Meyer blickt auf eine
langjährige Erfahrung im Pflegebereich zurück. Sie leitete in den
90er Jahren ein Modellprojekt
des Bundesgesundheitsministeriums, ist autorisierte Fachdozentin
für palliative Pflege und Fachbuchautorin. Ihr jahrelanges
Enga­gement für den Einsatz von
rehabilitativen Elementen im
Pflegealltag sei auf große Gegenwehr gestoßen, erzählte sie.
Denn viele Verantwortliche
­hätten wenig Interesse daran,
dass die Pflegebedürftigen in
eine niedrigere Pflegestufe zurückgestuft oder sogar entlassen
werden könnten. „An diesem
Punkt dachte ich mir, dann
musst Du es eben selber machen“, so R
­ ebbe-Meyer. „Endstation ­Dauerpflege“ sei für sie
und ihre Arbeit nicht erstrebenswert und gemessen an den Zielsetzungen der Pflegeversicherung auch nicht akzeptabel.
Kompensation weiterer
Pflegekosten
Mitbewerber befürchten
finanzielle Einbußen
Das Pflegehotel hat einen Versorgungsvertrag mit den Pflegekassen in Hessen geschlossen.
Diese übernehmen die Kosten
der Pflege, die Gäste zahlen Unterkunft und Verpflegung. Der
Pflegesatz liegt etwa acht Euro
über dem Durchschnitt anderer
Angebote. Rebbe-Meyer hofft
darauf, durch das Modell die
Pflegekassen dauerhaft davon
überzeugen zu können, dass sich
die notwendigen Investitionen
langfristig durch die Vermeidung
weiterer Pflegekosten kompensieren lassen.
Und auch jetzt stößt ihr Angebot nicht auf uneingeschränkte
An­erkennung. Vielmehr befürchten Mitbewerber aus der
ambulanten Pflege oder aus stationären Dauerpflegeeinrichtungen finanzielle Einbußen durch
das neue Angebot. Große Sympathie brächten hingegen Betroffene und Ärzte mit. „Die
Mundpropaganda funktioniert
nach den ersten M
­ onaten bestens“, sagt Rebbe-Meyer. Nicht
nur die Angehörigen der Gäste,
sondern auch A
­ ußenstehende
schätzten das Pflegehotel mittlerweile als kompetente Beratungsstelle.
„Auch dementiell Erkrankte reagieren auf Reha-Angebote“, unterstreicht Rebbe-Meyer. Für
diese Erkenntnis gibt es bislang
keine Lobby, das zeigt sich an
den bundesweiten Standards.
Die Ergebnisse von Ergotherapie und Pflege werden ständig
In Hessen messen die Kosten­
träger dem Modell der Übergangskurzzeitpflege eine hohe
­Be­deutung zu. „Uns ist es wichtig, die häusliche Pflegefähigkeit
durch aktivierende Maßnahmen
7
und die umfassende Klärung
der Nachfolgeversorgung herzustellen oder wiederzugewinnen“,
so Peter Allerchen von der AOK
Hessen. Drei Einrichtungen folgen landesweit diesem Ansatz,
darunter das Pflegehotel in
­Willingen.
Ein Problem sieht Allerchen in
der Finanzierung. Die Kosten
seien durch den höheren Personalbedarf verhältnismäßig hoch,
so dass die Leistungen aus der
Pflegeversicherung nur für einen
sehr begrenzten Aufenthalt reichen. Zu dem habe ein Teil der
Zielkunden keine Pflegestufe, da
ihr Pflegebedarf kürzer als sechs
Monate ist, so dass diese bei der
derzeitigen Gesetzeslage den gesamten Aufenthalt selbst finanzieren müssten. Die Bereitschaft
mehr für aktivierende Pflege
auszugeben sei hingegen relativ
niedrig. Die zentrale Frage sei:
„Was ist mir meine eigene Pflege
wert?“, so Allerchen.
Das Team ist stolz auf die Er­
folge der ersten Monate. „Die
Gäste gehen motiviert, der Erfolg ist sichtbar“, resümiert
­Gröne. Dabei sei gerade die
Kombination vieler Einzelfaktoren das Rezept. Die Größenordnung des Pflegehotels ist für
Rebbe-Meyer optimal. Nur so
lasse sich die individuelle, kompakte Begleitung gewährleisten.
Um das Konzept in größeren
Einrichtungen zu etablieren,
­seien jedoch andere Rahmenbedingungen notwendig.
Von dem Erfolg ihres Konzepts
sind Rebbe-Meyer und ihre Mitarbeiterinnen trotz Gegenwindes überzeugt. „Es lohnt sich,
Kurzzeitpflege dauerhaft mit Rehabilitation zu verknüpfen“, so
Rebbe-Meyer. Auf diese Weise
lasse sich zukünftig die Dauerpflege in ­großem Ausmaß reduzieren.
Meike Klinck ist Mitarbeiterin
im Fachgebiet Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit beim MDS
E-Mail: [email protected]
MDK-Forum 4/2008
Schwerpunkt
Niedrigschwellige Betreuung
durch freiwillige Helfer
Von Meike Klinck
K
risensituationen und Überlastung gehören zum Alltag
der pflegenden Angehörigen
von Demenzkranken. Über
niedrigschwellige Betreuungsangebote, so das Amtsdeutsch,
also Unterstützung durch freiwillige Helfer unter professioneller Anleitung, sollen Angehörige nun verstärkt entlastet
werden. Finanziert werden diese Angebote seit Juli 2008 mit
100 oder 200 Euro monatlich
über die Pflege­kassen. Diese
Angebote sind auch für Menschen mit Demenz ohne Pflegestufe gedacht. Die Förderung
dient der Finanzierung von
Aufwandsentschädigungen für
ehrenamtliche Helfer und weiteren Personal- und Sachkosten.
Zu den niedrigschwelligen Angeboten zählen Betreuungsgruppen für Demenzkranke, Helfer­
Innenkreise zur stundenweisen
Entlastung von Angehörigen im
häuslichen Bereich, Tagesbetreuung in Kleingruppen oder Einzel­
betreuung durch anerkannte
Helfer, Vermittlungsagenturen
von Betreuungsleistungen sowie
familienentlastende Dienste.
Findet die Einzelbetreuung zuhause statt, haben die pflegenden Angehörigen Zeit für Alltägliches wie einen Arzttermin oder
den wöchentlichen Stammtisch.
Modellprojekt „Tagesmütter
für Demenzkranke“
Eine Vorreiterfunktion übernahm die Kirchliche Sozialsta­
tion in Daaden – Herdorf mit ihrem ­Modellprojekt „Tagesmütter
für Demenzkranke“ im rheinland-pfälzischen Westerwald. Im
­Rahmen des Bundesmodellprogramms „Altenhilfestrukturen
MDK-Forum 4/2008
der Zukunft“ fand man zwischen
2000 und 2003 heraus, dass der
Einsatz von ­Tagesmüttern das
Pflege­klima innerhalb der Familie verbessert und die pflegenden
Angehörigen entlastet.
Im Westerwald setzten die Verantwortlichen nicht allein auf
die häuslichen Betreuungseinsätze durch ehrenamtliche Intere­
ssierte, sondern boten auch individuelle Beratung, Schu­lungen
sowie regelmäßige Veranstaltungen für Demenz­erkrankte,
Angehörige und Tagesmütter an.
Nach der Modellphase führt das
Projekt seine Arbeit im ländlichen Raum fort.
Angebote müssen nach
Landesrecht anerkannt sein
Damit die Pflegekassen die
­Ausgaben für eine solche Einzel­
betreuung erstatten, muss das
semi-professionelle Angebot
nach Landesrecht anerkannt
werden. Dazu muss der Anbieter
von Betreuungsangeboten Schulungen, Fortbildungen, fachliche
Begleitung und Unterstützung
der E­hrenamtlichen nachweisen.
Welche Möglichkeiten bieten
sich den Helfern vor Ort, wenn
sie betreuen, fördern und beschäftigten? Auf diese und ähnliche Fragen sollen die mindestens 30-stündigen Qualifizierung­smaßnahmen Antwort
geben. Auch Basiswissen über
Krankheitsbilder, Behandlungsformen, Belastungs­situationen
oder Gesprächs­führung stehen
auf dem Stundenplan.
Die Kölner Freiwilligen Agentur
schult im Jahr mindestens 40 Interessierte. Ihr Angebot „DUO –
Entlastung von Familien mit
8
­ emenzerkrankten“ koordiniert
D
und begleitet seit 2006 Ehrenamtliche in ihrer Tätigkeit. „Unser Projekt wächst stetig“, sagt
Mitarbeiterin Corinna Goos. Sie
vermittelt aktuell zwischen etwa
60 Helfern und 35 Familien mit
Demenzerkrankten. Dabei werden die Angehörigen vor allem
über Empfehlungen von ambulanten Pflegediensten, Ärzten
oder Seniorenberatern auf das
Angebot in der Kölner Südstadt
aufmerksam. „Unsere Helfer
sind Studierende, Langzeitarbeitslose, Berufstätige in Teilzeit
oder Rentner“, so Goos.
Die Bereitschaft zu helfen, sei
unterschiedlich motiviert. So
­berichteten jüngere Helfer im
monatlichen Erfahrungsaustausch davon, wie spannend es
sei, einen engen Kontakt zu den
Alten aufzu­bauen. Für andere sei
gerade die Erfahrung im Umgang
mit der Krankheit Demenz wichtig, wieder andere sähen in ihrem
Ehrenamt eine sinnvolle Freizeitgestaltung. Auch die gezahlte
Aufwandsentschädigung sei für
manche entscheidend, sagt Goos.
Auch Pflege-Experten wie
­Christine Sowinski vom Kura­
torium Deutsche Altershilfe
(KDA) h
­ alten das Angebot
für eine sehr gute Idee. „Von
Vorteil ist, dass der Anbieter
von Betreuungsangeboten die
Qualität sichert und gleichzeitig
als A
­ nsprechpartner zwischen
­Ehrenamtlichen und pflegenden
Angehörigen ver­mittelt“, sagt
Sowinski.
Meike Klinck ist Mitarbeiterin
im Fachgebiet Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit beim MDS
E-Mail: [email protected]
Schwerpunkt
Familienentlastende Angebote bei Demenzkranken
Eine Auszeit geben
Von Friederike Geisler
­
D
ie Pflege eines Demenzkranken fordert die Angehörigen 24 Stunden am Tag.
Damit sie nicht unter dem
Stress erkranken, ist es wichtig,
dass sie zwischendurch auch
Zeit für sich selbst haben. Viele Pflegedienste bieten deshalb
eine familienentlastende Betreuung an, die den Pflegenden
die Möglichkeit gibt, einige
Stunden in der Woche Erledigungen zu machen oder einfach mal ein bisschen Ruhe zu
haben. Die Betreuungskräfte
a­rbeiten oft ehrenamtlich und
führen nicht die klassische
Pflege aus. Ihre Arbeit sieht
ganz unterschiedlich aus, abhängig von der zu betreuenden
Person. In Hannover setzen
die Diakoniestationen solche
Betreuungskräfte ein. Eine
von ihnen ist Brigitte Bartling.
Norbert K. isst gerne Obst. Das
hat dem Demenzkranken schon
früher geschmeckt und daran
kann er sich erinnern, wenn er
es sieht. Die positive Erinnerung
löst bei ihm eine Reaktion aus –
was sonst nur noch selten der
Fall ist. Deshalb macht Brigitte
Bartling mit ihm einen Obstsalat. „Die Betreuung sieht von
Fall zu Fall unterschiedlich aus.
Das hängt von der Person ab
und auch von der Tagesform.
Manche sind glücklich, wenn
man einfach mal mit ihnen spazieren geht“, berichtet sie.
In der Zeit, in der Brigitte Bartling im Einsatz ist, haben die
pflegenden Angehörigen die
Chance sich eine „Auszeit“ zu
nehmen. „Von Entspannung ist
da natürlich nicht zu reden.
Wenn man 24 Stunden am Tag
involviert ist, kann man nicht
vom einen aufs andere Mal abschalten. Für die Angehörigen
ist es jedoch schon wichtig zu
wissen, dass jemand da ist, der
sich kümmert. Das bringt ihnen
etwas Ruhe.“ Als eine Therapie
ist die Betreuung nicht anzusehen, jedoch kann sie eine Abwechslung zum Alltag darstellen. „Je nach Möglichkeit arbeite
ich manchmal mit Farben oder
wir sprechen über etwas aus der
Biografie. Man darf jedoch nicht
zuviel erwarten, eine Reaktion
zeigt sich eher selten. Ab und zu
gibt es vielleicht einen kleinen
Höhepunkt, zum Beispiel als ich
in der Wohnung einer meiner
Kundinnen ein Buch entdeckte,
das ich auch gelesen hatte.
Plötzlich blühte sie auf, und wir
redeten darüber.“
Betreuung als ehrenamtliche
Tätigkeit
Mittlerweile ist Brigitte Bartling
fest eingestellt, eine ganze Zeit
lang hat sie jedoch ehrenamtlich
als Betreuungshelferin gearbeitet.
Zurzeit beschäftigt die Diakoniestation Hannover sechs Ehrenamtler. Das Interesse daran
ist nicht mehr so groß wie früher.
Für viele stellt diese Arbeit ein
Problem dar. „Sie sind skeptisch,
weil sie als Betreuungshelferin
im häuslichen Umfeld auf sich
selbst gestellt sind. Die besonders
‚schwierigen Fälle’ sind auch
nicht gerade die Favoriten der
Helfer“, erzählt Sylke Schröder
vom Ambulanten Gerontopsychiatrischen Zentrum der Diakoniestationen Hannover (AGZ).
Viele der ehrenamtlich Tätigen
haben bereits Vorkenntnisse
durch die Pflege eines eigenen
Angehörigen oder die Arbeit im
9
Brigitte Bartling arbeitet für die D­iakoniestationen
Hannover als Betreuungshelferin im Rahmen eines
familienentlastenden Angebots.
Heim. Brigitte Bartling hat durch
ihre Ausbildung als Erzieherin
Vorkenntnisse in der Betreuung
mitgebracht. Für die Arbeit als
Betreuungshelferin ist das jedoch
keine zwingende Voraussetzung:
„Wichtig ist, dass man eine gewisse Empathie mitbringt und
f­ähig ist, mit solch einer schweren Erkrankung umzugehen. Die
Betreuungskräfte finden jedoch
bei uns jederzeit einen Ansprechpartner und werden natürlich
auch auf die Arbeit von uns angemessen vorbereitet. Und die
meisten, die sich dafür entscheiden, bleiben auch dabei und begleiten die zu betreuende Person
bis zu ihrem Lebensende.“
Friederike Geisler ist
Mitarbeiterin der Stabsstelle
Unternehmenskommunikation
beim MDK Niedersachsen
E-Mail:
[email protected]
MDK-Forum 4/2008
Kranken- und Pflegeversicherung
MDS und Uni Bremen legen Abschlussbericht vor
Neues Verfahren zur
Pflegebegutachtung erprobt
Von Dr. Andrea Kimmel und Prof. Dr. Jürgen Windeler
­
E
nde Oktober haben der
Medizinische Dienst des
Spitzenverbandes Bund der
Krankenkassen e.V. (MDS)
und das Institut für Public
Health und Pflegeforschung
der Universität Bremen (IPP)
die Ergebnisse der praktischen
Erprobung eines neuen Begutachtungsverfahrens zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit
vorgelegt. Der Abschlussbericht ist Teil des Modellprojektes „Maßnahmen zur Schaffung ­eines neuen Pflegebe­dürftigkeits­begriffs und eines
neuen, ­bundesweit einheitlichen und reliablen Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit
nach dem SGB XI“, das die
Spitzenverbände der Pflegekassen auf Anregung des Bundesministeriums für Gesundheit
(BMG) 2006 eingerichtet haben. Das neue Begutachtungsverfahren wurde vom Institut
für Pflegewissenschaft (IPW)
der Universität Bielefeld und
dem MDK Westfalen-Lippe gemeinsam im Rahmen der ersten Hauptphase des Projektes
entwickelt.
Grundlage des neuen Verfahrens
ist ein umfassenderes Verständnis von Pflegebedürftigkeit als
bisher (siehe Kasten auf Seite 11).
Erfasst wird nicht mehr der
Zeitaufwand für personelle
H­ilfen, sondern der Grad der
Selbstständigkeit einer Person
bei Aktivitäten in insgesamt acht
pflegerelevanten Lebensbereichen („Modulen“). Das Instrument berücksichtigt damit auch
den besonderen Beaufsichtigungsbedarf von Menschen mit
MDK-Forum 4/2008
„Sich beschäftigen“: Das neue Verfahren berücksichtigt auch den besonderen Beaufsichtungsbedarf von Menschen mit kognitiven oder psychischen Einschränkungen.
kognitiven oder psychischen
Einschränkungen. In einem
P­retest war das neue Instrument
an 100 Erwachsenen und 41
Kindern getestet worden. Die
Ergebnisse des Pretests gaben
dabei erste Hinweise auf eine
sehr gute Praktikabilität des
V­erfahrens.
Ziel der zweiten Hauptphase
des Modellprojektes war es, das
neue Begutachtungsverfahren
unter realen Bedingungen der
Begutachtungspraxis der Medizinischen Dienste zu erproben
und anhand einer repräsenta­
tiven Stichprobe seine Eignung
und Praktikabilität zu unter­suchen. Hierfür haben 49 Gut­
achter aus insgesamt acht MDK
von Mai bis Juli 2008 das neue
Verfahren bei 1.490 erwachsenen Antragstellern und 227 Kindern angewandt. Bei den begutachteten Personen handelte es
10
sich um Antrag­steller, die diese
Gutachter in diesem Zeitraum
regulär zu b­egutachten hatten.
Die Begutachtung nach dem
neuen Verfahren erfolgte jeweils
im Anschluss an die reguläre
Begut­achtung. Im Vorfeld der
Be­gutachtungen wurden alle
Gutachter durch die Koopera­
tionspartner der Hauptphase 1
in dem neuen Verfahren und
seiner praktischen Anwendung
geschult.
Verschiedene Gutachter –
gleiche Ergebnisse?
Ein wichtiges Kriterium für die
Eignung des Verfahrens ist seine
Zuverlässigkeit. Um Aussagen
über die Zuverlässigkeit treffen
zu können, wurde in einem
w­eiteren Studienteil die Übereinstimmung der Begutachtungsergebnisse zwischen
zwei Gutachtern überprüft. Zu
Kranken- und Pflegeversicherung
diesem Zweck wurde während
l­aufender Datenerhebung aus
der Stichprobe der 1.490 Erwachsenen und aus der Gruppe
der 227 Kinder ein Teil der Antragsteller zufällig ausgewählt
und zeitversetzt ein zweites Mal
von einem anderen Gutachter
mit dem neuen Verfahren begutachtet. Damit lagen die Ergebnisse der Begutachtung mit dem
neuen Verfahren von einem Versicherten zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten vor. Neben
der Übereinstimung der gutachterlichen Empfehlungen konnten so auch Hinweise gewonnen
werden, inwieweit das Verfahren
in der Lage ist, Veränderungen
im Gesundheitszustand von Versicherten zu identifizieren. Bei
diesem zweiten Hausbesuch haben die Gutachter darüber hinaus den Zeitaufwand für die
B­egutachtung mit dem neuen
Verfahren ermittelt.
Wie gut wird der allgemeine
Beaufsichtigungsaufwand
erfasst?
Gegenstand des Praxistests war
außerdem die Frage, wie gut das
neue Verfahren den allgemeinen
Beaufsichtigungs- und Betreuungsaufwand von Personen mit
kognitiven oder psychischen
Einschränkungen erfasst. In
e­inem dritten Studienteil wurde
dafür aus der Gruppe der 1.490
Erwachsenen eine Stichprobe
von Antragstellern per Zufall
ausgewählt. Bei diesen Personen
haben die Gutachter in einem
zweiten Hausbesuch anhand eines wissenschaftlich anerkannten Verfahrens ermittelt, ob bei
ihnen eine kognitive bzw. psychische Einschränkung vorliegt.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden dann mit den Ergebnissen verglichen, die das
neue Begutachtungsverfahren
geliefert hatte. So konnte ermittelt werden, ob Personen, die
tatsächlich unter kognitiven
oder psychischen Einschränkungen leiden, auch anhand des
neuen Verfahrens adäquat be­
urteilt werden.
Das neue Begutachtungsverfahren im Überblick
Das Verfahren legt einen neuen Bewertungsmaßstab zu Grunde. Erfasst
werden Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit in acht Lebensbereichen:
1. Mobilität
5 Items (z.B. Positionswechsel im Bett)
2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten
11 Items (z.B. Personen aus dem näheren Umfeld erkennen)
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen
13 Items (z.B. motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten)
4. Selbstversorgung
12 Items (z.B. vorderen Oberkörper waschen)
5. Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen
15 Items in insgesamt drei Breichen (z.B. Medikation; Wundversorgung
bei Stoma; Arztbesuche)
6. Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte
6 Items (z.B. „sich beschäftigen“)
7. Außerhäusliche Aktivitäten
4 Items für den Bereich Fortbewegung im außerhäuslichen Bereich
(z.B. Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel im Nahverkehr)
3 Items für den Bereich der außerhäuslichen Aktivitäten im engeren Sinne
(z.B. Teilnahme an kulturellen, religiösen oder sportlichen Veranstaltungen)
8. Haushaltsführung
7 Items (z.B. Zubereitung einfacher Mahlzeiten)
Selbstständigkeit ist als die Fähigkeit einer Person definiert, die jeweilige
Handlung bzw. Aktivität allein, d.h. ohne Unterstützung durch andere Per­
sonen durchzuführen, unabhängig davon, ob für die Ausführung einer spe­
zifischen Handlung Hilfsmittel (z.B. ein Rollator) verwendet werden. Im Ge­
gensatz zum gültigen Verfahren ist es für das Ergebnis der Begutachtung
nicht relevant, ob spezifische Hilfeleistungen, beispielsweise beim Treppen­
steigen, tatsächlich erbracht werden.
Die Bewertung der Selbstständigkeit erfolgt anhand einer vierstufigen Skala
mit den Ausprägungen „selbstständig“, „überwiegend selbstständig“,
„überwiegend unselbstständig“ und „unselbstständig“. In einigen Modulen
(kognitive und kommunikative Fähigkeiten) wird nicht die Selbstständigkeit
erfasst, sondern die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Verhaltensweisen.
Ergebnis der Beurteilung der Merkmale/Items in einem der acht Bereiche
ist der Grad der Beeinträchtigung in diesem Lebensbereich. Die Pflegestufe
des Antragstellers ergibt sich aus der Zusammenführung der Teilergebnisse
aus den acht Modulen. Insgesamt werden fünf Pflegestufen unterschieden.
Für Kinder und Jugendliche wurde das Verfahren modifiziert. Der Bereich
Haushaltsführung wird bei ihnen nicht erfasst. Im Unterschied zum Ver­
fahren für die Begutachtung von erwachsenen Antragstellern beschreibt
das Ergebnis der Kinderbegutachtung nicht den Grad der Selbstständigkeit,
sondern die Abweichung von der Selbstständigkeit gesunder altersent­
sprechend entwickelter Kinder.
11
MDK-Forum 4/2008
Kranken- und Pflegeversicherung
Im Anschluss an die Begutachtungen der Versicherten hatten
alle teilnehmenden Gutachter
die Gelegenheit, ihre Erfahrungen mit dem neuen Begutachtungsinstrument schriftlich mitzuteilen. So konnte auch die
Perspektive der späteren Anwender des Verfahrens für Aussagen zur Praktikabilität des
Verfahrens nutzbar gemacht
werden.
Die Koordination des gesamten
Studienablaufs erfolgte durch
den Medizinischen Dienst des
Spitzenverbandes Bund (MDS).
Die gewonnenen Daten wurden
am IPP in Bremen dokumen­tiert und ausgewertet. Die
Q­ualitätssicherung der Studie
übernahm ebenfalls das IPP.
Begutachtungsverfahren erfüllt
wissenschaftliche Anforderungen
Die Ergebnisse des Praxistests
bescheinigen dem neuen Begutachtungsverfahren insgesamt
sehr gute Eigenschaften im Hinblick auf seine Eignung und
Praktikabilität. Die Übereinstimmung in den Begutachtungsergebnissen zwischen jeweils zwei Gutachtern ist hoch.
Auch relevante Veränderungen
bei Versicherten, beispielsweise
Verschlechterungen des Gesundheitszustands, können anhand
des neuen Verfahrens erfasst
werden. Dies sind überzeugende
Ergebnisse für ein neu entwickeltes Instrument zur Feststellung
der Pflegebedürftigkeit. Gleichzeitig bleibt das Verfahren offen
für Weiterentwicklungen, die
sich erst aus den Erfahrungen
im Alltagseinsatz ergeben
­werden.
Die Ergebnisse zeigen weiterhin,
dass – wie intendiert – gerade
die besonderen Bedürfnisse von
Personen mit gerontopsychia­
trischen oder kognitiven Einschränkungen sehr gut erfasst
werden. Verglichen mit dem im
dritten Studienteil eingesetzten
anerkannten Verfahren liefert
das neue Verfahren im Bereich
MDK-Forum 4/2008
der Module 2 und 3 sehr gute
­Ergebnisse. Die Übereinstimmung der beiden Verfahren liegt
bei nahezu 90 Prozent. Damit
wird die Zielsetzung erfüllt, dass
das Instrument bisher möglicherweise unangemessen be­wertete
Konstellationen der Pflegebedürftigkeit sachgerecht abbildet.
Bei den Personen, die im bisherigen Verfahren keine Pflegestufe
erhalten, aber als „Personen mit
erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz“ (PEA) ein­gestuft
werden, wird mit dem neuen Instrument bei ca. 80 Prozent eine
relevanter pflege­rischer Hilfe­
bedarf fest­gestellt.
Für die Kinderbegutachtung
h­aben sich ebenfalls positive
­Ergebnisse gezeigt, die allerdings
weniger eindeutig sind. Hier ist
zu erwarten, dass sich die
­Ergebnisse in der Praxis noch
verbessern lassen, wenn die
Gutachter mit der geänderten
Begutachtungs-„Philosophie“
i­ntensiver vertraut und eingehend geschult worden sind.
Gutachter bestätigen
Praktikabilität
Der Aufwand für die Begut­
achtung mit dem neuen Ver­
fahren betrug in der Studie
bei den Erwachsenen ca. 60
M­inuten und liegt damit im
B­ereich des bisherigen Begutachtungsverfahrens. Bei Kindern war der Zeitaufwand mit
etwa 70 Minuten etwas höher.
Auch hier gilt, dass die zunehmende Routine der Gutachter
im neuen Begutachtungsver­
fahren zu positiven Effekten
führen wird.
Auch aus der subjektiven Sicht
der Gutachter erwies sich das
neue Begutachtungsverfahren
als praktikabel. Die Gutachter
gaben darüber hinaus wertvolle
Hinweise für die Interpretation
der Ergebnisse sowie für den
weiteren Entwicklungsprozess
des neuen Begutachtungsver­
fahrens. Viele Anmerkungen
können in zukünftigen Gutach-
12
terschulungen aufgegriffen und
dort besprochen werden sowie
Hinweise für Überlegungen
zur weiteren Ausgestaltung des
n­euen Begutachtungsverfahrens
geben.
Politik ist am Zug
Die Ergebnisse zeigen insgesamt, dass das neue Begutachtungsverfahren für die Begut­
achtung von pflegebedürftigen
Menschen im Sinne eines er­
weiterten umfassenden Pflege­bedürftigkeitsbegriffs grund­
sätzlich geeignet und praktisch
einsetzbar ist. Es erfüllt alle
A­nforderungen einer stan­
dardisierten, zuverlässigen und
gültigen Erfassung der Abhängigkeit von personeller Hilfe.
Im Rahmen der praktischen
E­rprobung des neuen Begut­
achtungsverfahrens konnten die
E­rgebnisse des Pretests bestätigt
werden. Das entwickelte Instrumentarium bildet damit eine
sehr gute Grundlage, den Grad
der Abhängigkeit von pflege­
rischer Hilfe zu erfassen. Bisher
unbeantwortet ist die Frage
nach der Abgrenzung der Pflegestufen und – damit verbunden –
nach den Leistungsansprüchen,
die an eine Pflegestufe geknüpft
werden. Diese Frage muss von
der Politik beantwortet werden.
Aus Sicht der Projektnehmer
sollte hierbei einerseits die
E­instufung der Pflegebedürftigkeit den Grad der Abhängigkeit
von personeller Hilfe in angemessener Weise widerspiegeln.
Andererseits muss die Kalkulierbarkeit der damit verbundenen
finanziellen Folgen für die sozialen Sicherungssysteme sicher­
gestellt werden.
Dr. P.H. Andrea Kimmel ist
wissenschaftliche Mitarbeiterin
im Projekt beim MDS
E-Mail: [email protected]
Prof. Dr. med. Jürgen Windeler
ist Leitender Arzt des MDS
und leitete die Hauptphase 2
des Projektes
E-Mail: [email protected]
Kranken- und Pflegeversicherung
Mehr Transparenz in der Pflege
Schulnoten für Pflegeheime­
G
esamtnote: 2,4. Dieses Ergebnis könnte schon bald
im Eingangsbereich des Pflegeheimes in Ihrer Nähe aushängen. Denn Mitte November haben sich der GKV-Spitzenverband und die Verbände der
Leistungs­erbringer unter Be­
teiligung des Medizinischen
Dienstes des Spitzenverbandes
Bund der Krankenkassen
(MDS) auf eine Systematik geeinigt, nach der die Qualität
der Leistungen von stationären
Pflegeeinrichtungen künftig
veröffentlicht werden soll.
Die Veröffentlichung der von
Pflegeeinrichtungen erbrachten
Leistungen und deren Qualität
ist ein weiterer Schritt zur Umsetzung des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes, das zum
1. Juli in Kraft getreten ist. Die
Veröffentlichung soll auf der
Grundlage der Ergebnisse von
MDK-Qualitätsprüfungen und
anderer gleichwertiger Prüfungen – etwa der Heimaufsicht –
erfolgen. Bis Ende 2010 müssen
die Medizinischen Dienste alle
ambulanten und stationären
Einrichtungen einmal prüfen,
danach ist eine jährliche Kontrolle vorgesehen. Diese jährliche
„Regelprüfung“ soll insbesondere die Ergebnisqua­lität erfassen.
Langer Weg zum Kompromiss
Der Weg zur Einigung war
­steinig. Noch während des Gesetzgebungsverfahrens lehnten
viele Leistungserbringer-Verbände die Veröffentlichung der
­erbrachten Leistungen von
­Pflegeeinrichtungen und deren
Qualität vehement ab. Qualität
müsse von innen kommen und
könne nicht von außen in die
Einrichtungen hineingeprüft
werden, so das eine Argument.
Außerdem gebe es in Deutschland zur Messung von Ergebnis-
und Lebensqualität keine wissenschaftlichen Erkenntnisse,
auf die man eine Veröffentlichung stützen könne, so das
­andere.
Gesamtbewertung im Zentrum
„Verständlich, übersichtlich und
vergleichbar“ soll die Pflege­
qualität sowohl im Internet als
auch in anderer Form veröffentlicht werden, so sieht es das
Pflege-Weiterentwicklungsgesetz
vor – hohe Anforderungen an
die ­Verhandlungspartner. Nach
dreimonatigen Verhandlungen
schlugen GKV-Spitzenverband
und Leistungserbringer eine Gesamtbewertung in Form einer
Note von „sehr gut“ bis „mangelhaft“ vor, wobei auch die erste Stelle nach dem Komma noch
berücksichtigt wird.
In diese Gesamtnote gehen
64 Kriterien aus den Bereichen
„Pflege und medizinische
1. Darstellungsebene
Qualität der PflegeeinrichtungErläuterungen zum
Bewertungssystem
Seniorenresidenz „Letzter Anker“Vertraglich vereinbarte
Leistungsangebote
Seestraße 9
12345 HafenstadtWeitere Leistungsangebote
und Strukturdaten
Telefon: 02222/999999
Fax: 02222/899999MDK-Qualitätsprüfung:
Datum
E-Mail: [email protected]
InternetGleichwertige Prüfung:
Datum
Anzahl der versorgten Bewohner: 100
Weitere Prüfergebnisse
Anzahl der in die Prüfung einbezogenen Bewohner: 12
ommentar der
K
Pflegeeinrichtung
Die Pflegeeinrichtung hat
eine Wiederholungsprüfung
durch den MDK beantragt:
Ja Nein
Qualitätsbereiche
MDK
Ergebnis
Gleichwertige Vergleichswert
Prüfung
im Bundesland
Pflege und medizinische
2,4 Versorgung
gut
Anzahl der Pflegeheime im Bundesland 1.800
Umgang mit demenzkranken 4,2
Bewohnern und anderen ausreichend
gerontopsychiatrisch
veränderten Menschen
Anzahl der
geprüften
Pflegeheime
411
Soziale Betreuung und Alltagsgestaltung
3,0
befriedigend
Wohnen, Verpflegung,
Hauswirtschaft und Hygiene
2,2
gut
Gesamtergebnis
(aus allen 64 Fragen der vier Qualitätsbereiche)
2,4
gut
Befragung der Bewohner
1,4
sehr gut
13
2,3 (gut)
MDK-Forum 4/2008
Kranken- und Pflegeversicherung
­ er­sorgung“, „Umgang mit deV
menzkranken Bewohnern und
anderen gerontopsychiatrisch
ver­änderten Menschen“, „soziale
Betreuung und Alltagsgestaltung“
sowie „Wohnen, Verpflegung,
Hauswirtschaft und Hygiene“
ein (siehe Kasten). Die Qualität
der pflegerischen Versorgung ist
mit 35 Kriterien die wichtigste
Bestimmungsgröße für das
Gesamt­ergebnis einer Einrichtung. Weitere 18 Kriterien entstammen der Bewohnerbefragung. Wegen der in vielen
wissenschaftlichen Untersuchungen nachgewiesenen
­großen Bereitschaft befragter
Pflegebedürftiger, die eigene Situation zu po­sitiv darzustellen,
gehen diese Kriterien jedoch
nicht in die G­esamtnote ein.
„Mit der vorgeschlagenen
­Systematik ist es Pflegebedürf­
tigen und Angehörigen künftig
möglich, sich ein differenziertes
Bild von der Qualität einer
statio­nären Einrichtung zu machen“, kommentierte MDS-Geschäftsführer Dr. Peter Pick den
Beschluss. „Das ist ein entscheidender Schritt in Richtung Qualitätsverbesserung und Verbraucherfreundlichkeit.“ Auch der
Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) bewertete die Übereinkunft positiv:
„Jetzt besteht ­Klarheit über die
Kriterien und die Bewertungssystematik. Alle Einrichtungen
wissen, welche Kriterien die
Grundlage der Bewertung sind“,
so bpa-Chef Bernd Meurer.
Wie gut ist gut genug?
Um die Gesamtnote einer
­Einrichtung einordnen und
­bewerten zu können, soll außerdem der Vergleichswert und die
Zahl der stationären Pflegeeinrichtungen aus dem jeweiligen
Bundesland veröffentlicht werden. Das sieht der Vorschlag
von GKV-Spitzenverband und
Leistungserbringern ebenfalls
vor. Erst dann kann beurteilt
werden, ob eine Einrichtung
überdurchschnittlich oder
MDK-Forum 4/2008
­ nterdurchschnittlich arbeitet.
u
Denn gute Pflege beginnt nicht
erst bei hundertprozentiger
­Erfüllung der Anforderungen.
Ein durchschnittlicher Landesvergleichswert wird gebildet,
­sobald mindestens ein Fünftel
aller Pflegeheime im Bundesland
­geprüft worden sind.
Gleichwertige Ergebnisse –
etwa aus den Prüfungen der
Heim­aufsicht – sollen im Internet ­neben den Ergebnissen der
MDK-Prüfungen auf der ersten
Ebene veröffentlicht werden.
Dies gilt auch für andere anerkannte Prüfverfahren. Wenn es
Ergebnisse aus weiteren, aber
nicht gleichwertigen Prüfungen
gibt, können diese verlinkt werden. Eine Veröffentlichung von
internen Prüfungen der Einrichtungen erfolgt nicht.
Kriterien sollen weiter
entwickelt werden
Diese Regelungen gelten nach
Auffassung der Be­teiligten bis
pflege­wissenschaftlich gesicherte
­Erkenntnisse über Indikatoren
der Ergebnis- und Lebensqua­
lität vorliegen. Dann sollen die
Kriterien überarbeitet werden,
heißt es in dem von GKV-Spitzenverband und den Verbänden
der Leistungserbringer verabschiedeten Beschluss. Große Erwartungen richten sich auf das
von Gesundheits- und Familienministerium geplante „Modellprojekt Messung Ergebnisqua­
lität in der stationären A­ltenpflege“, dessen Ergebnisse Ende
2010 erwartet werden.
Einschätzung der BetroffenenOrganisationen uneinheitlich
Bis Anfang Dezember hatten
Betroffenen- und VerbraucherOrganisationen Gelegenheit,
eine Stellungnahme abzugeben.
Katrin Markus, Geschäftsführerin
der Bundesinteressenver­tretung
der Nutzerinnen und Nutzer von
Wohn- und Betreuungsangeboten
im Alter (BIVA) begrüßt, dass es
zu einer Einigung gekommen ist,
14
hat aber Zweifel, ob die ausgewählten Kriterien Lebensqualität
im Sinne der Betroffenen abbilden. Auch die Noten an sich sieht
sie kritisch: „Als Herausforderung sehe ich vor allem, wie eine
trennscharfe Abgrenzung der Noten zueinander und innerhalb der
Notenspannen ­gelingen kann“, so
Markus. Sie fürchtet, dass hier
eine Reihe von rechtlichen Aus­
einandersetzungen mit den Einrichtungen ins Haus steht, was zu
einer Verunsicherung der Öffentlichkeit führen wird.
Der ­Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) hält
Schulnoten als Be­wertungs­­
indikatoren grundsätzlich für
geeignet. Dies entspreche der
Lebenswelt der Heimplatzsuchenden und sei auch aus den
Bewertungen von Stiftung Warentest bekannt. K
­ ritisch sehen
die Verbraucherschützer hingegen, dass die ­Vereinbarung „im
Wesentlichen auf die Erhebung
und Darstellung von Strukturund Prozessergebnissen abstellt“, so die ­Stellungnahme.
„Wir erhoffen uns vom Trans­
parenzverfahren, dass von ihm
Druck für qualitätsverbessernde
Maßnahmen ausgeht“, sagt
­Sabine Jansen, Geschäftsführerin der Deutschen AlzheimerGesellschaft. „Grundsätzlich
halten wir auch die vorgeschlagene Bewertungssystematik für
geeignet.“ ­Verbesserungen
mahnt die Deutsche AlzheimerGesellschaft aber im Detail an.
So müsse unbedingt veröffentlicht werden, ob der in den
­Pflegesatzverhandlungen vor­
gegebene Personalschlüssel
­erfüllt werde. Mit dieser Frage
werde das grundlegende Recht
der Heimbewohner nach aus­
reichendem und qualifiziertem
Personal bewertet, heißt es in
­einer Stellungnahme.
Mehr zu den Kriterien unter
www.mds-ev.de
(gr)
Kranken- und Pflegeversicherung
„Der Abschluss der Vereinbarung
ist ein großer Erfolg“
Interview mit Jürgen Brüggemann, MDS
B
ald wird es Schulnoten von
„sehr gut“ bis „mangelhaft“
für stationäre Pflegeeinrichtungen geben. Darauf haben sich
der GKV-Spitzenverband und
die Verbände der Leistungserbringer unter Beteiligung des
MDS ge­einigt (siehe Seite 13).
Über das Ergebnis, die Umsetzung und die Übertragung auf
die ambulante Pflege sprachMDK-Forum mit Jürgen Brüggemann, dem Fachgebietsleiter
für Qualitätsmanagement in
der Pflege beim MDS.
? MDK-Forum:
Herr Brüggemann, Sie haben
sich seit langem für die Veröffentlichung der MDK-Prüfergebnisse
engagiert. Sind Sie mit dem Ergebnis der Verhandlungen zur
Transparenz zufrieden?
! Jürgen Brüggemann:
Wenn ich vor dem Beginn der
Beratungen gefragt worden wäre,
ob auf dem Verhandlungsweg
eine Vereinbarung zwischen den
Vertragspartnern zustande
kommt, hätte ich dafür nicht
­meine Hand ins Feuer legen
­wollen. Nun ist es für die stationäre Pflege gelungen, eine Vereinbarung abzuschließen. Das ist
zunächst mal ein großer Erfolg.
Dafür mussten sich allerdings
beide Seiten bewegen, also die
Seite der Pflegekassen und der
kommunalen Spitzenverbände
unter Beteilung des MDS ebenso
wie die Seite der Leistungserbringer-Verbände. Es war ein zäher
Prozess, aber alles in allem hat
sich der Einsatz gelohnt.
Wichtig ist doch, dass damit der
Weg geebnet worden ist zur Umsetzung der Transparenzvorschrift.
Die Verbraucher können sich
in Zukunft nicht nur über die
­Kosten, sondern auch über die
Qualität von Pflegeeinrichtungen
informieren. Das ist ein positives
Signal für die guten Pflegeeinrichtungen, die dadurch endlich
­verdientermaßen einen Wett­
bewerbsvorteil vor schlechten
Einrichtungen erhalten.
Ein zentrales Anliegen der
­Pflegekassen war die Darstellung
und Bewertung der Prüfergebnisse nach einem Notensystem –
analog der Stiftung Warentest –
und die zusammenfassende
Bewertung der Pflegeeinrichtung
in Form einer Gesamtnote. Diese
beiden Forderungen sind im
Kompromissvorschlag enthalten.
Auf der anderen Seite sind aber
natürlich auch wesentliche Anteile des Konzeptes der Leistungs­
erbringerverbände in die Vereinbarung eingeflossen, beispielsweise stammen die Bezeichnungen der Bewertungsbereiche
überwiegend aus dem Leistungserbringerkonzept.
? MDK-Forum:
An welchen Stellen musste die
Seite der Pflegekassen Zugeständnisse machen?
!
Jürgen Brüggemann:
Natürlich konnte die Seite der
Kassen nicht alle Ihre konzeptionellen Vorstellungen in den Beratungen durchsetzen. Am schwierigsten war die Diskussion über
die der Transparenz zugrunde zu
legenden Kriterien. An dieser
Stelle mussten viele Kompromisse
eingegangen werden. Auch konnte die eigentlich vorgesehene
­optische Verstärkung der Prüfergebnisse durch Ampelsignalfarben
nicht vereinbart werden. Die
15
Jürgen Brüggemann, Experte des
MDS in Sachen Pflegequalität
Note „mangelhaft“ soll nun erst
dann vergeben werden, wenn
­weniger als 45 Prozent der vereinbarten Kriterien erfüllt sind. Nach
dem Kassenvorschlag hätte diese
Grenze bei 50 Prozent gelegen.
? MDK-Forum:
Am 3. Dezember ist die An­
hörungsfrist für die weiteren
­Beteiligten zu Ende gegangen.
Wie bewerten die beteiligten
­Verbände den Beschluss? Und
wie geht es weiter?
! Jürgen Brüggemann:
Überwiegend begrüßen die
Selbsthilfe- und Verbraucheror­
ganisationen das Verhandlungsergebnis, zum Teil wird aber auch
grundsätzliche Kritik geäußert.
Die Vertragspartner werden die
Stellungnahmen sehr sorgfältig
auswerten und dann entscheiden,
welche Veränderungen ggf. erforderlich sind. Insbesondere müssen die eingegangenen differenzierten Vorschläge zu einzelnen
MDK-Forum 4/2008
Kranken- und Pflegeversicherung
Prüfkriterien noch einmal diskutiert werden. Für die stationäre
Pflege ist vorgesehen, bis Ende
des Jahres eine abschließende
Vereinbarung zu erreichen.
? MDK-Forum:
Wann kommt die Umsetzung,
wann wird es die ersten Ver­
öffentlichungen geben?
! Jürgen Brüggemann:
Ein genauer Zeitpunkt dafür, ­
ab wann die Veröffentlichung der
Prüfkriterien erfolgen wird, ist
noch nicht geplant. Auf der einen
Seite sind noch etliche Detail­
fragen zu klären, die insbesondere
die technische Umsetzung be­
treffen. Dazu gehört auch die
­Frage, in welcher Form die Daten
des MDK an die für die Veröffentlichung zuständigen Stellen
kommen.
Auf der anderen Seite müssen
auch noch die Prüfrichtlinien des
MDK angepasst werden und in
den MDK implementiert werden.
All das sind Aufgaben, die Anfang
2009 erledigt werden müssen, damit dann zeitnah mit einer Ver­
öffentlichung begonnen werden
kann.
?
MDK-Forum:
Auch die Ergebnisse von ambulanten Pflegediensten sollen ja
veröffentlicht werden. Wie weit
sind die Verhandlungen fortgeschritten?
!
Jürgen Brüggemann:
Es wird derzeit mit Hochdruck
daran gearbeitet, auch die Krite­
rien für die ambulante Pflege zu
vereinbaren. Aufgrund der Besonderheiten in der ambulanten Versorgung ist es nicht möglich, die
für den stationären Bereich entwickelten Kriterien einfach auch
für die ambulante Pflege heranzuziehen. Auch die Bewertungsbereiche werden für die ambulante
Pflege anders aussehen müssen
als in der stationären Pflege.
Die grundsätzlichen Vereinba­
rungen zur Notensystematik, wie
etwa zur Gesamtnote, werden
MDK-Forum 4/2008
aber auch im ambulanten Bereich
gelten. Es ist geplant, bis Ende
­Januar 2009 auch für den ambulanten Bereich eine Vereinbarung
abschließend vorzulegen. Das ist
allerdings sehr ambitioniert.
? MDK-Forum:
Hat die Transparenz-Verein­
barung Folgen für die Qualitäts­
prüfungs-Richtlinien?
! Jürgen Brüggemann:
Die Qualitätsprüfungs-Richtlinien
müssen angepasst werden. Zwar
sind viele vereinbarte Kriterien
bereits jetzt im MDK-Prüfkatalog
enthalten, allerdings müssen sie
zum Teil verändert werden. Einige Kriterien müssen ergänzt und
es müssen die erforderlichen Ausfüllhilfen für die Prüfer angepasst
werden.
Ein wesentlicher Punkt ist aber
insbesondere, dass die Auswahl
der in die Prüfung einzubeziehenden Versicherten von einem
­risikoadjustierten in ein rando­
misiertes Stichprobenverfahren
verändert wird. Auch dies macht
eine Änderung der QPR erfor­
derlich.
?
MDK-Forum:
Auf die Medizinischen Dienste
kommt ja ein großes Arbeitspaket
zu. Sind sie vorbereitet?
! Jürgen Brüggemann:
Die Vorbereitungen sind bereits
getroffen, um alle Anforderungen
umsetzen zu können. Die Anpassung der QPR wird durch den
MDK unterstützt und voraussichtlich werden in Kürze auch
Übergangsverfahren entwickelt,
nach denen möglichst schnell mit
der Umsetzung der Transparenzvorschrift begonnen werden
kann.
Auch aufgrund der steigenden
Prüffrequenz werden derzeit
schrittweise neue Stellen für
­Prüfer in den MDK besetzt, so
dass das Ziel, ab 2011 jährlich
Prüfungen durchführen zu können, flächendeckend umgesetzt
werden kann.
16
? MDK-Forum:
Wenn eine Einrichtung es verlangt, muss es eine Wiederholungsprüfung vor Ablauf der
­Jahresfrist geben. Was kommt
auf die Einrichtungen in diesen
Fällen finanziell zu?
! Jürgen Brüggemann:
Der durchschnittliche Aufwand
für eine Vollprüfung nach den
Qualitätsprüfungs-Richtlinien
liegt bei 4.500 Euro. Eine Wiederholungsprüfung ist darauf fokussiert, ob die festgestellten Mängel
beseitigt worden sind. Eine vollständige Prüfung im Sinne der
Qualitäts-Prüfungsrichtlinien wird
hierzu in der Regel nicht erforderlich sein. Die Kosten für eine
Wiederholungsprüfung ergeben
sich aus dem tatsächlich entstandenen Aufwand. Ausgehend von
den durchschnittlichen Kosten für
eine vollständige Prüfung ist von
einem Kostenerstattungssatz von
900 Euro/Tag für den Einsatz einer Pflegefachkraft auszugehen.
? MDK-Forum:
Wo genau sollen die Ergebnisse
der Qualitätsprüfungen denn nun
veröffentlicht werden?
!
Jürgen Brüggemann:
Im Gesetz steht, dass die Landesverbände der Pflegekassen für die
Sicherstellung der Veröffentlichung von Prüfergebnissen verantwortlich sind. Grundsätzlich
ist denkbar, dass die beteiligten
Akteure entweder auf Landesebene oder auf Bundesebene Informationsportale für die Veröffent­
lichung der Transparenzberichte
einrichten.
Im Interesse der Verbraucher
wäre es wünschenswert, wenn
die Prüfergebnisse an einer zentralen Stelle im Internet bereit gestellt werden. Denkbar ist, dass
für die Veröffentlich der Prüfdaten bereits existierende Informa­
tionssysteme der Kassen, wie
etwa das System PAULA oder der
Pflegenavigator, genutzt werden.
Die Fragen stellte
Christiane Grote
Kranken- und Pflegeversicherung
Mit moderner Wundversorgung
Kosten sparen?
E
twa 1,2 bis 2 Millionen
Menschen in Deutschland
leiden an einem Ulcus Cruis
(offenes Bein) und cirka 400.000
an Dekubitus. Eine Fachtagung
des Bundesverbandes Medizintechno­logie (BVMed) Ende September widmete sich der modernen Wundversorgung. Ein
ärztlicher Gutachter aus dem
MDK Nordrhein stellte die
Aufga­ben des MDK dabei dar.
Zentrale Frage der Tagung war,
ob sich mit einer modernen gegenüber der konventionellen
Wundversorgung (siehe Kasten)
Kosten sparen lassen. Drei Prozent der Gesundheitsausgaben
in Deutschland oder umgerechnet etwa acht Milliarden Euro
fließen jährlich in die Versorgung chronischer Wunden.
Um Kosten und Versorgungsqualität geht es in einem Netzwerk in Bremen zur ambulanten
Versorgung chronischer Wunden. Ziel des Projektes ist die
nachhaltige Einrichtung eines
Wundzentrums für die moderne
medizi­nische Wundversorgung.
„Der Vorteil des Wundzentrums
liegt in seiner Multidisziplinarität“, meint Projektleiter Prof. Dr.
Heinz Janßen, Leiter des Instituts
für Gesundheits- und Pflegeökonomie (IGP) an der Hochschule
Bremen.
Beteiligt sind ein Krankenhaus,
ausgewählte Pflegedienste, ambulant behandelnde Ärzte, ein
Medizinproduktehersteller und
eine Krankenkasse. Sämtliche
Arbeitsschritte, Kosten und Behandlungsfortschritte werden
vom IGP dokumentiert und
a­usgewertet. „Bei der modernen
Wundversorgung entstehen
zwar zunächst höhere Materialkosten. Im Verlauf benötigen
wir jedoch weniger Verbands-
wechsel und Personalkosten.
Wundinfektionen sind bei
gleichzeitig schnellerer Wundheilung seltener. Insgesamt verringern sich die Kosten“, skizzierte Projektleiter Janßen die
Ergebnisse seiner Studien. Die
Material- und Behandlungs­
kosten nähmen um 43 Prozent
ab. Nicht zu unterschätzen seien
die geringeren Beschwerden und
höhere Mobilität und Lebensqualität der Patienten, unterstrich Prof. Janßen.
Wundmanagement ist inzwischen
auch ein Thema für integrierte
Versorgungsverträge. In Therapievereinbarungen zum Beispiel
mit Schwerpunktpraxen werden
Behandlungspfade definiert und
die Versorgungsprozesse qualitätsgesichert dokumentiert.
MDK rät zu besserem
Versorgungsmanagement
Der MDK wird meistens in
V­erbindung mit der Verordnung
von häuslicher Krankenpflege
oder von Hilfsmitteln eingeschaltet. Häufige Fragestellung
ist die Ver­sorgung mit Vakuum-
therapie. „L­eider werden uns
Fragen zur chronischen Wundversorgung zu oft erst beim Streit
zwischen Arzt bzw. Pflegedienst
und der Krankenkasse vorgelegt“,
sagte Dr. Alfred David, Facharzt
für Chirurgie und Phlebologie
vom MDK Nordrhein. Hinweise,
die zur Vorlage beim MDK führen, kämen fast nie von den behandelnden Ärzten, sondern von
den Pflegediensten oder Kassensachbearbeitern, denen lange
Versorgungszeiten auffielen,
b­erichtete Dr. David.
Der Sozial­mediziner aus Düsseldorf regte an, Patienten mit Problemwunden öfter an spezialisierte Ärzte oder Wund­ambu­lanzen zu überweisen. „Die
Etablierung von integrierten
Versorgungsverträgen in a­llen
großen Städten mit geeigneten
Therapeuten und Pflegediensten
und die Einführung e­ines CaseManagements für chronische
Wunden bei den Krankenkassen
sind zwei wesentliche Punkte,
um die Versorgungs­situation zu
verbessern“, sagte Dr. David.
(dt)
Konventionelle und moderne Wundversorgung
Die traditionelle Wundversorgung wird in der Regel mit „trockener Wund­
versorgung“ gleichgesetzt. Üblicherweise werden Mullkompressen oder
befeuchtete Gaze eingesetzt, die in der Wunde austrocknen und mit dem
Wundgrund verkleben können. Mit häufigen Verbandswechseln ist zu
rechnen.
Bei der hydroaktiven Wundbehandlung gilt es zum einen, neben der
Wundreinigung die Wunde durch den Verband sicher vor äußeren Ein­
flüssen zu schützen, zum anderen wird durch die feuchten hydroaktiven
Verbände ein physiologisches Wundmilieu aufrechterhalten, das Voraus­
setzungen für eine schnellere Wundheilung schafft.
17
MDK-Forum 4/2008
Kranken- und Pflegeversicherung
Analyse des MDK zur Begutachtungspraxis
Sterilisation und Empfängnisverhütung unter der Lupe
Von Dr. Patrick Nauen und Dr. Ulrich Heine
W
as sind die Gründe für eine
geplante Sterilisation, welche
Faktoren sind entscheidend bei
der Empfängnis­verhütung? Für
die Spezial­gutachter des MDK
West­falen-Lippe sind diese Fragen keines­wegs banal. Denn seit
Beginn des Jahres 2004 werden
die Kosten für eine Sterilisation
nur dann von den ge­setz­lichen
Krankenkassen übernommen,
wenn damit die Verschlimmerung oder Entstehung einer relevanten Erkrankung vermieden
werden kann. Empfängnisverhütende Arzneimittel sind jenseits
des 20. Lebensjahres nur in Ausnahmefällen verordnungsfähig.
Eine Analyse des MDK Westfalen-Lippe von 851 Begutachtungen in den Jahren 2006 und
2007 zeigt eine kaum zu überbietende Vielfalt unterschiedlicher Fragestellungen und medizinischer Fallkonstellationen bei
geplanter Sterilisation und Empfängnisverhütung. Diese sind
von den Krankenkassen ohne
differenzierte sozialmedizinische
Einzelfallbegutachtung nicht zu
entscheiden.
Durch das GKV-Modernisierungsgesetz haben Versicherte
nur noch Anspruch auf Leistungen zur Durchführung einer
S­terilisation, die durch Krankheit erforderlich wird. Arzneimittel zur Empfängnisverhütung
sind jenseits des vollendeten 20.
Lebensjahres gemäß Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes
(BSG) nur als Krankenbehandlung im Rahmen einer Therapie
mit erheblichem t­eratogenen,
also für das Kind f­ehlbildungsgefährdendem, ­Risiko verordnungsfähig.
MDK-Forum 4/2008
Nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sind etwa
1,4 Millionen Frauen und 0,45
Millionen Männer im reproduktionsfähigen Alter in Deutschland sterilisiert. Mehr als 9 Millionen Frauen benutzen eine
hormonelle Schwangerschaftsverhütung (Kontrazeption) in
verschiedenen Anwendungsformen, darunter je eine Million in
Form e­iner Kupfer- oder Hormonspirale. Diese häufig angewandten empfängnisregelnden
Maßnahmen sind nur in eng gesetzten Grenzen Kassenleistung.
So haben Jugendliche nach
§ 24 a Abs. 2 SGB V bis zum
vollendeten 20. Lebensjahr
­Anspruch auf die Versorgung mit
ärztlich verordneten Verhütungsmitteln wie orale Kontrazeptiva
(„Pille“) oder die Hormonspirale
als zugelassene Fertigarzneimittel. Andere In­trauterinpessare
(IUP) wie die Kupferspirale sind
als verschreibungspflichtige Medizinprodukte in die Versorgung
mit Arzneimitteln gemäß § 31
Abs. 1 Satz 3 SGB V einbezogen.
Sterilisationen ohne medizinische I­ndikation in der Absicht,
keine Kinder (mehr) haben zu
wollen, berühren dagegen primär
die persönliche Lebensplanung
der Versicherten und sind selbst
zu finanzieren.
Wenn Krankheit eine
Sterilisation oder Empfängnisverhütung erfordert
Bei Behandlungsmaßnahmen,
die mit hoher Wahrscheinlichkeit teratogene Wirkungen
h­aben, ist eine Verord­nung
18
empfängnisverhütender Mittel
zu Lasten der GKV möglich.
Davon ist zum Beispiel bei Arzneimitteltherapien auszugehen,
bei denen die Empfängnis­ver­
hütung zwingend in der Fachinformation vorgeschrieben ist.
Für Intrauterinpessare, die als
Medizinprodukte in die A­rznei­
mittelversorgung einbezogen
sind, bietet sich ein ähnliches
Vorgehen an.
Eine Sterilisation ist dann
­indiziert, wenn sie durchgeführt
wird, um die Verschlimmerung
einer schwerwiegenden Krankheit zu vermeiden. Auch wenn
der Begriff Krankheit im hier
verwendeten Be­zug im Gesetz
nicht näher eingegrenzt ist, setzt
dieses Be­handlungsziel voraus,
dass mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Schwangerschaft eine
b­ereits b­estehende, relevante
Krankheit nennenswert verschlimmern oder einen erheb­
lichen – körper­lichen oder
psychischen – Krankheitszustand bei Mutter und/oder
Kind verursachen kann.
Sterilisation bei chronischen
E­rkrankungen der Frau meist
befürwortet
Die Gründe für eine geplante
Sterilisation bei Frauen – Anlass
für 60 Prozent der Begutachtungen – sind breit gefächert: Zu
den häufigsten Diagnosen zählen
neurologische, psychische, gynäkologische oder kardiovaskuläre
Erkrankungen (jeweils mit An­
teilen von 10 bis 13 Prozent).
In etwa 47 Prozent aller Fälle
­haben die Gutachterinnen und
Gutachter des MDK Westfalen-
Kranken- und Pflegeversicherung
Lippe die Leistungen bestätigt.
Dies spiegelt den eher weiten
gesetzlichen Ermessensspielraum bei der Sterilisation wider,
der dem der GKV innewohnenden Prinzip des Gesund­heits­
schutzes von Mutter und Kind
Rechnung trägt. Die häufigsten
Einzeldiagnosen waren Epilepsie (7,5 Prozent), Depression
(5,9 Prozent), Hypertonie
(5,2 Prozent), thromboembolische Erkrankungen (4,9 Prozent) und Brustkrebs (4,5 Prozent). Für diese überwiegend
chronischen, oft behandlungs­
bedürftigen Erkrankungen wurde eine positive Empfehlung in
etwa 50 bis 90 Prozent der Fälle
ausgesprochen, da von einem
deutlich erhöhten Risiko in
­einer Schwangerschaft auszu­
gehen war. Dagegen lagen bei
­gynäkologischen Erkrankungen
mit nur etwa 22 Prozent diese
Voraussetzungen oft nicht vor.
Wenn eine Sterilisation beim
Mann geplant war, wurde dies
fast immer (96 Prozent) mit
e­iner Erkrankung der Frau begründet. In diesen Fällen war
die Verminderung eines
Schwangerschaftsrisikos aufgrund einer Erkrankung des
Mannes nicht zu rechtfertigen.
Überwiegend war auch nicht erkennbar, dass die Frau so
schwer und potenziell lebensbedrohlich erkrankt war, dass eine
Sterilisation nicht in Betracht
kam. Nur in einem der wenigen
Einzelfälle mit einer Autoimmun­
erkrankung des Mannes war die
langfristige, immunsuppressive
Behandlung mit Erbgut ver­
änderndem Potenzial für die
Spermatogenese eine ausreichende Begründung für eine
Sterilisation.
Empfängnisverhütung häufig
nicht vorrangige Fragestellung
Anfragen zu Antikonzeptiva
b­etrafen weitaus am häufigsten
gynäkologische Erkrankungen
(58 Prozent), gefolgt von
­neurologischen (9 Prozent),
­psychischen (6,4 Prozent),
thromboembolischen (4,6 Prozent) und tumorösen (3,2 Prozent) Erkrankungen. Auch in
diesem Segment war die Vielfältigkeit der einzelnen Diagnosen
auffallend.
Mit der häufigsten Einzeldiagnose Hypermenorrhoe (24 Prozent), teilweise in Kombination
mit weiteren Diagnosen (z.B.
Anämie), wurden überwiegend
Anträge zur Hormonspirale vorgelegt, ohne dass immer eine
vorrangig antikonzeptionelle
Fragestellung abgrenzbar war.
Diese Hormonspirale ist als Mirena® auch für die Behandlung
der Hypermenorrhoe zugelassen
und das Einsetzen ist als EBMLeistung abrechenbar. Wenn der
behandelnde Arzt nach Prüfung
zu dem Schluss kam, dass die
Notwendigkeit der Behandlung
der genannten Diagnose im
­Vordergrund stand (etwa 65
Prozent), konnten die Voraus­
setzungen für die Kostenübernahme der GKV befürwortet
werden.
Unter den Diagnosen Endometriose (13 Prozent) und Dysmenorrhoe (7 Prozent) ging es
meist um die zulassungsüberschreitende Anwendung eines
Antikonzeptivums zur Behandlung einer gynäkologischen Erkrankung. In diesen Fällen lagen
die Voraussetzungen für eine
Kostenübernahme nur selten vor
(14 Prozent), da in der Regel
­Alternativen benennbar waren
und damit die Kriterien des
BSG zur ausnahmsweisen offlabel Anwendung regelhaft nicht
erfüllt waren. Außerdem war bei
erkennbar antikonzeptioneller
Fragestellung die Notwendigkeit
einer zwingenden Kontrazeption
meist nicht nachvollziehbar.
­ eistungsvoraussetzungen geL
mäß der strengen BSG-Rechtsprechung vor. Beispielhaft sind
die Behandlung der Multi­plen
Sklerose mit Interferon oder
Glatirameracetat und die
­Marcumartherapie bei throm­
boembolischen Erkrankungen.
Empfehlungen bei psychischen
und tumorösen Erkrankungen
waren mit je etwa 28,5 Prozent
seltener, da sich eine zwingende
Vorgabe aus den jeweiligen
Fachinformationen nicht ableiten ließ oder eine grundsätzlich
teratogene, zytotoxische Tumorbehandlung seit längerem ab­
gesetzt und keine neue geplant
war.
Analyse und Schulung verbessern Begutachtungsqualität
Die vorliegende Auswertung zu
empfängnisregelnden Maßnahmen zeigt exemplarisch die Vielfalt und Komplexität eines speziellen sozialmedizinischen
Begutachtungsfeldes. Die sorgfältige Analyse der Begutachtungen dient der Vorbereitung und
kontinuierlichen Schulung der
Spezialgutachter. Als qualitäts­
sichernde Maßnahme ist sie
auch aufgrund des aufgezeigten
gesetzlich vorgegebenen Ermessensspielraums in Verbindung
mit der gültigen BSG-Recht­s­prechung notwendig. Die Daten zeigen für die Begutachtungen in Westfalen-Lippe medi­zinisch und im Hinblick auf den
rechtlichen Rahmen plausible
und konsistente Empfehlungen
an die Krankenkassen.
Antikonzeptiva nur in wenigen
Fällen zwingend erforderlich
Dr. med. Patrick Nauen ist
Arzt für Innere Medizin/
Hämatologie und Onkologie
im Fachreferat Arzneimittel/
Neue und unkonventionelle
Heilmethoden beim
MDK Westfalen-Lippe
E-Mail: [email protected]
Bei insgesamt nur wenigen Fällen lagen vor allem bei neuro­
logischen und thromboembolischen Erkrankungen in 50 bis
60 Prozent dieser Fälle die
Dr. med. Ulrich Heine
ist Ärztlicher Direktor und
stv. Geschäftsführer
des MDK Westfalen-Lippe
E-Mail: [email protected]
19
MDK-Forum 4/2008
Kranken- und Pflegeversicherung
Gesundheitsinformationen im Internet
Selbstdiagnose per Mausklick
Von Friederike Geisler
­
I
m vergangenen Jahr
nutzte jeder dritte Deutsche das Netz mindestens einmal im Monat, um sich über
me­dizinische Themen wie
Krankheiten, Beschwerden
oder ­Arzneimittel zu informieren, berichtet die EU-geförderte Studie „E-health-Trends
2005 bis 2007“. Seiten wie
„netdoktor“, „medinfo“ oder
„helpster“ b­ieten Informationen und Ratschläge für fast
alle denkbaren Symptome.
Experten warnen jedoch vor
uneingeschränktem Vertrauen
gegenüber Ratgeber-Seiten.
Herbert S. hat in letzter Zeit
ö­fter Magenschmerzen und
s­childert seine Beschwerden im
Internet-Forum. Schnell erhält
er zahlreiche Antworten auf
­seinen Eintrag, unter anderem
von „Silberstern91“ und „Tuning-freak3000“. Jeder erzählt
von den eigenen Erfahrungen
mit s­olchen Symptomen und
nach zwei Stunden hat Herbert
S. die Wahl zwischen einer
­Magenspiegelung, einem Heilkräutertee, e­inem verschreibungspflichtigen Rezept und
dem Besuch bei einem Handaufleger. Welchen Rat er am
Ende befolgt, bleibt natürlich
ihm überlassen.
Die Auswahl an Medizin-Rat­
geber-Seiten hat sich in den
v­ergangenen Jahren stark vergrößert. Viele rufen die Infor­
mationen im Internet ab, um
sich auf einen Arztbesuch vorzubereiten oder ihn sogar zu
vermeiden. Dabei ist die
­Qua­lität der Auskünfte sehr
­unterschiedlich. Kai Vogel,
­Ge­sundheitsexperte bei der ­
Ver­braucher­zentrale in Nord­rhein-Westfalen, rät, sich einen
MDK-Forum 4/2008
Überblick über die Vielzahl der
Angebote zu verschaffen: „Als
erstes sollte man sich über den
Anbieter der Seite informieren.
Handelt es sich zum Beispiel um
ein Unternehmen, sind die
A­uskünfte höchstwahrscheinlich
nicht so unabhängig wie auf der
Seite eines wissenschaftlichen
Instituts.“
Informationen über die Seite
einholen
Wichtig bei der Nutzung von
Gesundheits-Online-Portalen ist
auch die Überprüfung der Aktualität der Seite. Gerade bei medizinischen Themen spielt das
eine große Rolle im Hinblick
auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Zu finden sind Auskünfte über den Anbieter der
Seite oft im Impressum. Ist dort
lediglich ein Pseudonym oder
ein Postfach angegeben, ist Vorsicht geboten. Die Aktualität
sollte unmittelbar am Anfang
oder Ende des Artikels vermerkt
sein. Kai Vogel ist bei seinen
­Recherchen auf viele Websites
gestoßen, von denen er eher abraten würde: „Etwa bei Arzneimittel-Versendern aus dem
Ausland muss man vorsichtig
sein und prüfen, woher die Angebote kommen – es könnte sich
um Arzneimittel-Fälschungen
handeln. Auch wenn die Informationen auf der Seite nicht
klar von der Werbung getrennt
sind, sollte man besser die Finger davon lassen“.
Trotz allem können einige
­Seiten – wie die von Universi­
täten oder medizinischen Fachgesellschaften – seriös und
­nützlich sein. Auch wenn man
Informationen aus dem Netz
nicht über die Diagnose des
Arztes stellen sollte. „Einige
­Anbieter geben qualitativ hochwertige Auskünfte, eine gezielte
Wer sich auf Informationsseiten im Internet über Symptome und
Krankheits­bilder informiert, sollte auch die Qualität der Auskünfte prüfen.
20
Kranken- und Pflegeversicherung
die Patientinnen teilweise auf
sehr phantasievolle Ideen.“ Dass
ihm dieser neue Informationsweg seine Arbeit erschwert, hat
der Gynäkologe bisher nicht
festgestellt. „Es ist immer wichtig, dass man die Patienten in
der Sprechstunde ausführlich
über die Art der Erkrankung
und die Behandlung in Kenntnis
setzt. Und dass jemand mal von
einer Therapie überzeugt werden muss, kam schon immer
vor.“
Internetrecherche würde ich
deshalb beispielsweise nutzen,
um informiert in ein Arztgespräch zu gehen“, sagt Vogel.
Patienten informieren sich
Dr. Frank Bätje hat eine Praxis
für Allgemeinmedizin in Hannover. Da er selbst viel im Internet
unterwegs ist, hat er sich auch
mit den Ratgeber-Seiten auseinander gesetzt. „Prinzipiell habe
ich nichts dagegen, dass sich
meine Patienten vorab informieren. In manchen Fällen erleichtert es sogar meine Arbeit, wenn
die Patienten schon ungefähr
wissen, was auf sie zukommt“,
sagt Dr. Bätje. Mit Missverständnissen durch falsche Informa­
tionen musste er sich in seiner
Praxis noch nicht auseinandersetzen. „Natürlich können solche Seiten den Arztbesuch nicht
ersetzen, weil immer ein gewisses Rest-Unverständnis bleibt.
Sehr hilfreich sind sie aber zum
Beispiel im Hinblick auf die
Wahl des Arztes. Ich habe das
Gefühl, die Patienten können
besser e­inschätzen, wer der
­richtige Ansprechpartner ist.“
Diskrete Information durch
das World Wide Web
Auch Dr. Jochen Eiletz, Gynäkologe aus Rudersberg bei Stuttgart, trifft in seiner Praxis immer
häufiger auf Patientinnen, die
sich im Internet schon ein Bild
gemacht haben. „Das Internet
bietet besonders im Bereich Gynäkologie die Möglichkeit, sich
anonym und diskret über die
Symptome zu informieren. Da
Frauen auch generell häufiger
zum Arzt gehen, sind sie insgesamt besser informiert“, berichtet Dr. Eiletz. Der Frauenheilkundler steht der Web-Diagnose
jedoch skeptisch gegenüber.
„Die Qualität der S­eiten kann
sehr unterschiedlich sein. Bis
jetzt hatte ich zwar noch keinen
Fall, in dem eine Patientin durch
die Auskunft komplett fehlge­
leitet war, aber was die Art der
Behandlung angeht, kommen
Kai Vogel, Gesundheitsexperte bei
der Verbraucherzentrale NRW, hat
sich mit den verschiedenen Informations-Angeboten im Internet auseinandergesetzt.
Friederike Geisler ist
Mitarbeiterin der Stabsstelle
Unternehmenskommunikation
beim MDK Niedersachsen.
E-Mail:
[email protected]
Gesundheitsinformationen im Internet
Kommerzielle Ratgeber-Seiten wie „netdoktor.de“ oder „medinfo.de“ bieten
eine Suchfunktion für gängige oder auch spezielle Symptome. Beim Anklicken
der einzelnen Themen erhält der User Hinweise, wie zum Beispiel die Definition
oder das genaue Erscheinungsbild der Krankheit. Andere Seiten enthalten Bei­
träge, die jedoch sowohl von Experten als auch von Laien geschrieben werden.
Das Aktionsforum Gesundheitsinformationssystem, afgis, prüft die Seiten
im Hinblick auf bestimmte Qualitäts-Kriterien. Anbieter können sich dort
registrieren und ihre Seite prüfen lassen. Der Verein besteht aus Vertretern
von Verbänden, Organisationen und Einzelpersonen, die sich für die Quali­
tät von Gesundheitsinformationen einsetzen, und hat eine Liste mit Prüfkri­
terien aufgestellt, die zur Einordnung der Auskünfte dienen. Geprüfte An­
bieter erhalten ein Qualitätslogo, das sie auf ihrer Internetseite
veröffentlichen können. www.afgis.de
Auch die Schweizer Stiftung „Health on the net“ vergibt ein Qualitätslogo.
Medizinische Informationen im Netz werden nach dem „Hon-Verhaltensko­
dex“ geprüft und erhalten bei entsprechender Qualität das „Hon-Siegel“.
Die Verbraucherzentrale NRW hat sich ebenso mit der Bewertung von me­
dizinischen Informationen im Netz beschäftigt. In einem Kriterien-Katalog
gibt sie Hinweise dafür, wie man als Laie die Qualität der Informationen
besser einordnen kann. www.vz-nrw.de
Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
stellt ebenfalls Gesundheitsinformationen im Netz bereit. Nach Themengebieten
geordnet erhalten Interessierte Informationen zu verschiedenen Symptomen, Be­
handlungen und Tipps zur Vorbeugung. www.gesundheitsinformation.de
21
MDK-Forum 4/2008
Kranken- und Pflegeversicherung
Brücke zur Außenwelt
Telekommunikation hilft
krebskranken Kindern
Von Andrea Steidle
E
in Kind hat Krebs: Für das
Kind, seine Angehörigen
und Freunde ist allein der
­Befund niederschmetternd.
­Extrem belastend wird die Situation, wenn das Kind mit einer
Knochenmarktransplantation
behandelt werden muss. Denn
während der Behandlung muss
es zum Schutz vor Infektionen
meist sechs bis acht Wochen in
steriler Isolation verbringen.
Das Modellprojekt TKK-ELF an
der Essener Universitätskinderklinik will diese schwierige Zeit
erleichtern und die Isolation
überbrücken.
Hinter der Buchstaben-Kombination TKK-ELF, die Kinder an
die Romanhelden der DetektivReihe „TKKG“ denken lässt, verbirgt sich die Beschreibung des
Modellprojektes „T­elekommuni­
kation von Kindern im Krankenhaus mit Eltern, Lehrern und
Freunden“. TKK-ELF wird gemeinsam getragen von der Universitäts-Kinderklinik Essen (Dr.
med. Oliver Basu) und dem Fach
Kommunikationswissenschaft an
der Universität Duisburg-Essen
(Prof. Dr. H. Walter Schmitz).
Isolation belastet Kinder
und Eltern
Jedes Jahr erkranken in Deutschland ca. 1.800 Kinder und Jugendliche an Krebs. 75 Prozent
dieser Kinder können geheilt
werden. Bei rund 400 Kindern,
bei denen die konventionelle
Therapie nicht anschlägt, ist eine
Hochdosischemotherapie mit anschließender Knochenmarktransplantation (KMT) notwendig. Bei
etwas mehr als der Hälfte der
MDK-Forum 4/2008
Laptop, Kamera und Mikrofon helfen krebskranken Kindern aus der Isolation.
jungen Patienten führt der Eingriff zum Erfolg. Allerdings bringt
die Behandlung extreme Belastungen mit sich: Bis zu drei Monate Dauer-Aufenthalt in einem
keimfreien Krankenzimmer sind
keine Seltenheit – für Kinder
eine halbe Ewigkeit! Und Gift für
die dringend nötige Gesundung:
Denn gerade in einer Zeit, in der
jede persönliche Unterstützung
nötig ist, wird das Kind aus seinem sozialen Umfeld herausgerissen und büßt akut an Lebensqualität ein. Im Essener Uni­ver­sitätsklinikum – dem größten
KMT-Zentrum Europas – werden
pro Jahr ca. 160 Erwachsene und
20 bis 25 Kinder transplantiert.
Laptop schafft Verbindung
zur Außenwelt
Dr. Oliver Basu (Arzt für Kinderheilkunde mit Schwerpunkt für
pädiatrische Hämatologie und
Onkologie sowie Arzt für medizinische Informatik) begann bereits
1999 mit den ersten Installationen zur Telekommunikation in
diesem Bereich. Er beschreibt
den theoretischen Projektansatz:
22
„Durch eine pädagogische Zusatzversorgung innerhalb der Klinik und durch technisch vermittelte Telekommunikation zu
Eltern, Lehrern und Freunden außerhalb der Klinik soll das soziale
Feld der erkrankten Kinder wieder angebunden und gestärkt
werden“. Dafür kommen speziell mit Kameras und Mikrofonen
ausgestattete Computer zum
Einsatz.
Z­usammen mit Prof. Walter
Schmitz und Dr. Thomas Bliesener, Betreuer des Projektes im
Fach Kommunikationswissenschaft, entstand vor fünf Jahren
die Idee für ein gemeinsames
Forschungs­projekt. Der Stifterverband der Deutschen Wissenschaft sagte seine Förderung für
drei Jahre zu, so dass das Projekt
im August 2006 beginnen konnte. Microsoft stiftete zum Start
zehn Laptops mit Kameras usw.
im Wert von 25.000 Euro. In der
Station für Knochenmarktransplantationen sind bis zu vier Isolierräume mit Kindern belegt, so
dass die Anzahl der Geräte bislang ausreicht.
Kranken- und Pflegeversicherung
Im Vorfeld suchen sich das Kind
und seine Eltern einen festen
K­ontaktkreis aus, dann finden
Besuche und Gespräche in der
heimischen Umgebung statt. Jeder Projektteilnehmer erhält ein
spezielles, vorkonfiguriertes Laptop: „Oft steht ein solches Gerät
fest bei den Eltern und wird dort
auch von weiteren Angehörigen
oder Freunden mitgenutzt“, beschreibt Dr. Basu. „Häufig ist
während der Behandlung ja nur
ein Elternteil beim Kind, das andere betreut beispielsweise zu
Hause die Geschwister“, erläutert
er. „Nicht nur das kranke Kind
ist isoliert, sondern auch die
E­ltern und Geschwister müssen
mit dieser Ausnahmesituation
klar kommen“, ergänzt Dr. Bliesener.
Kreativer Einsatz des Mediums
Der Einsatz der Geräte, die bei
den Kindern und Jugendlichen
einen deutlich höheren Stellenwert genießen als das herkömmliche Telefon, ist überaus kreativ:
„Die Kinder zeigen sich beispielsweise über die Kamera gegenseitig ihre Umgebung, schauen sich
ihre Haustiere an, spielen füreinander Theater oder führen eine
Art Tagebuch des Krankenhausaufenthaltes“, erklärt Dr. Basu.
Auch die Eltern werden durch
die technischen Möglichkeiten zu
neuen Ideen angeregt. Sie lesen
z.B. dem Kind online eine GuteNacht-Geschichte vor oder spenden in akuten Situationen Trost
aus der Ferne.
Projektteam (v.l.): Volker Hilger, Dr. Oliver
Basu, Dr. Thomas Bliesener, Angelika Wirtz,
Prof. Dr. H. Walter Schmitz
„Mit der Anschaffung der Geräte
allein war es nicht getan“, gibt Dr.
Bliesener Einblick in die P­ro­jekt­
praxis. „Meist nimmt die k­onti­
nuierliche Unterstützung im
U­mgang mit der Technik den
größten Teil unserer Arbeit in Anspruch.“ Die Kommunikation
muss zuverlässig funktionieren,
technische Störungen und
menschliche Grenzen der Kompetenz müssen so schnell wie möglich überwunden werden. „Auf
den Punkt gebracht: Das Leben
der Kinder hängt am seidenen Faden – und die Kinder wissen das.
Da muss der Rest auf jeden Fall
klappen, damit die Kinder darauf
vertrauen können, dass sie wenigstens mit den wichtigsten Menschen draußen verbunden bleiben“, so Dr. Bliesener. Für den
technischen und sozialen Support
gibt es mehrere feste Termine in
der Woche im Krankenzimmer,
außerdem zwischendurch immer
wieder ergänzende telefonische
Kontakte und Videokonferenzen.
Kommunikation lenkt ab und
lindert Schmerzen
Parallel findet umfangreiche
B­egleitforschung statt: Jegliche
Sprach- und Videokommunikation, auch der Textchat der Kinder
und ihrer Bezugspersonen wird –
mit Einwilligung aller Beteiligten
– während der Projektlaufzeit
aufgezeichnet und ausgewertet.
Die Mitschnitte werden von
D­r. Bliesener und Angelika Wirtz
von der Universität DuisburgEssen gesichtet und auf Kommunikationsprobleme hin analysiert,
für die sie dann Verbesserungen
suchen. Bei der Detailauswertung werden sie im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes
von Studenten des Fachs Kommunikationswissenschaft unterstützt. Ergänzend führen die jungen P­atienten Tagebücher und
bewerten z.B. ihr Befinden mit
Smileys. „Schon jetzt ist absehbar,
dass die Telekommunikation von
Übelkeit und Schmerzen während der Behandlung nachweislich ablenken kann“, so M­edi­
ziner Dr. Basu.
23
Einsatz der Technik hat auch
Schattenseiten
Können die Projektverantwort­
lichen nach rund zwei Jahren
Laufzeit somit ein positives Fazit
ziehen? „Meist ist der Einsatz der
Technik schon eine große Hilfe,
doch er ist nicht uneingeschränkt
positiv“, erklärt Dr. Basu. „Da die
Erwartungshaltung aller Beteiligten sehr hoch ist, muss immer
eine Begleitung da sein, die vor
allem besondere Situationen einschätzen hilft und die Kinder vor
Überforderungen bewahrt“, beschreibt er und liefert ein Beispiel.
„Für einen Jungen gab es Weihnachten eine Live-Übertragung
der heimischen Bescherung, im
Anschluss daran mehrere Stunden rege Kommunikation und
Austausch mit den Geschwistern.
Im Nachgang zu diesem Erlebnis
hatte dieser Junge heftiges Heimweh. Eine kleine Feier im Rahmen des Klinik­alltags wäre in diesem Fall sicher besser gewesen“,
bilanziert Dr. Basu.
Im August 2009 endet das
­dreijährige Projekt. Bereits jetzt
­häufen sich die Anfragen von
­Interessenten – und der weitere
Einsatz von Telekommunikation
in der Kinderonkologie Essen ist
schon jetzt fest eingeplant, aber
nur möglich, wenn die notwendige pädagogisch-technische Betreuung auch künftig finanziert
werden kann.
Andrea Steidle ist Mitarbeiterin
im Fachgebiet Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit beim MDS
Spendenkonto
Universitätsklinikum-Essen
Kontonummer 49 00 700
BLZ 360 501 05
Sparkasse Essen
Verwendungszweck:
106-11930 tkk-elf Dr. Basu
Weitere Informationen unter:
www.tkk-elf.uk-essen.de
MDK-Forum 4/2008
Kranken- und Pflegeversicherung
Suchterkrankungen bei Ärzten
„Jeder hat eine Chance verdient“
Von Friederike Geisler
­
Ä
rzte sind die schwierigsten
Patienten, heißt es. Was
oft mit einem Lächeln abgetan
wird, entwickelt sich zum
ernsthaften Problem, wenn
sich eine Ärztin oder ein Arzt
mit der eigenen Suchterkrankung auseinandersetzen muss.
Martina M. (Name von der Redaktion geändert), Gynäkologin aus Rheinland-Pfalz, ist
a­lkoholabhängig und ließ sich
in der Oberberg-Klinik im Weserbergland behandeln. Dort
hat man sich auf die Behandlung suchtkranker Ärzte spezialisiert und zusammen mit der
Ärztekammer Hamburg ein
spezielles Behandlungscurriculum nach dem Prinzip „Hilfe
statt Strafe“ entwickelt.
Martina M. macht eine schwere
Zeit durch: In ihrer FrauenarztPraxis kann sie sich vor Patientinnen nicht retten, und demnächst will sie die Praxis, die sie
zurzeit noch mit einem Kollegen
betreibt, ganz allein schultern.
Hinzu kommen private Probleme: Durch ihre Scheidung ist sie
auf dem besten Wege, alleinerziehende Mutter zu werden, und
im Nacken sitzt ihr ein terrorisierender Vater, der Schwäche
nicht akzeptiert. Entspannung
findet sie beim abendlichen Glas
Weißwein, zu dem sie bald auch
schon morgens greift. Dass sie
süchtig ist, machen ihr die Übelkeit und der Würgereiz deutlich,
den sie bekommt, wenn sie nicht
trinkt.
Eine Zeit lang geht alles gut,
­eines Tages jedoch spricht eine
der Arzthelferinnen sie an und
droht ihr, die Sucht dem Gesundheitsamt zu melden, wenn
sie nicht mehr Gehalt bekommt.
Martina M. geht auf die Dro-
MDK-Forum 4/2008
hung nicht ein und findet sich
kurz darauf in der Oberberg-­
Klinik im Weserbergland wieder,
wo sie sich behandeln lässt.
Heute ist Martina M. trockene
Alkoholikerin und praktiziert
wieder in ihrer Praxis. Doch der
Weg dorthin war nicht einfach.
„Ich habe schnell erkannt, dass
ich ein Suchtproblem habe, aber
die Angst vor dem Verlust der
Zulassung oder sogar die Aber-
Prof. Götz Mundle ist ärztlicher
­Geschäftsführer der Oberbergkliniken. Dort arbeitet er nach einem
speziell auf Ärzte abgestimmten
­Behandlungskonzept.
kennung der Approbation waren
einfach zu groß“, berichtet Martina M. heute. „Im Nachhinein
kann ich von Glück reden, dass
mir unter Alkohol-Einfluss niemals Fehler passiert sind. Im
­Gegenteil: Mit einer gewissen
Promille-Zahl hatte ich sogar
das Gefühl, besser arbeiten zu
können. In Wahrheit wurde ich
jedoch langsamer und konnte
mich nicht mehr so gut organisie-
24
ren.“ Trotz vieler VertuschungsMaßnahmen, wie heimliches
Trinken mit anschließendem
Pfefferminz-Bonbon, blieb die
Krankheit nicht unbemerkt.
Problem: Helfer-Syndrom
Sich als Ärztin selber behandeln
zu lassen, fiel der 51-Jährigen
schwer: „Als Arzt hat man Vorbehalte. Es fällt einem schwer,
sich zu öffnen“. Prof. Götz
Mundle kennt das Problem sehr
gut. Die drei Oberbergkliniken in
Berlin-Brandenburg, im Weserbergland und im Schwarzwald,
denen er als ärztlicher Geschäftsführer vorsitzt, haben sich auf die
Behandlung von abhängigen
­Medizinern spezialisiert. Zu­
sammen mit der Ärztekammer
Hamburg hat man dort ein auf
Ärzte abgestimmtes Behandlungsprogramm entwickelt.
„Mit am schwierigsten ist es, dass
der betroffene Arzt seine Patientenrolle akzeptiert. Mediziner
­sehen sich in der Rolle der Helfer und haben oft auch den Anspruch, sich selbst behandeln zu
können. Diese Grundhaltung zu
ändern und den Ärzten zu vermitteln, dass es sich lohnt, über
die eigenen Probleme zu sprechen und Hilfe anzunehmen, ist
ein ganz wichtiger Schritt in der
Therapie. Viele haben das Gefühl
für sich selbst als Person verloren
und müssen Schritt für Schritt
wieder lernen, ihre eigenen
­Emotionen wahr- und ernst zu
nehmen“, sagt Prof. Mundle.
Neben der hohen Arbeitsbelastung sind Ärzte besonders durch
den leichten Zugang zu Medi­
kamenten gefährdet. Statistiken
berichten zwar von einem ähnlich hohen Anteil von Suchtkranken bei Ärzten wie bei
Kranken- und Pflegeversicherung
Rückfall stand ich niemals wieder. Wenn mit Betroffenen so
umgegangen wird, ist es leicht
verständlich, dass man als Arzt
vorsichtig ist.“
Ärztekammern bieten Hilfe an
Der Anteil arzneimittelabhängiger Ärzte ist im Vergleich zur Gesamtbevölkerung sehr hoch, da es Ärzte leichter haben, sich die Medikamente zu
beschaffen.
a­nderen Bevölkerungsschich­ten, jedoch ist der Anteil von
medikamentenabhängigen Ärzten deutlich erhöht. Aus Furcht
vor dem Verlust des Jobs bekennen sich viele nicht öffentlich zu
ihrem Problem. Eine KontrollInstanz, wie es sie bei anderen
Hochrisiko-Berufen gibt, haben
Ärzte nicht: „Sie müssen sich
freiwillig in Therapie begeben,
was bei den wenigsten der Fall
ist. Meistens sind es die nächsten
Angehörigen, die auf eine Therapie drängen. Manche werden
auch auffällig, wenn ihnen zum
Beispiel der Führerschein entzogen wird oder ein Apotheker auf
die große Menge an Verschreibungen aufmerksam wird“, so
Prof. Mundle.
Angst vor dem Verlust der
beruflichen Existenz
Paragraf 21 der Zulassungsverordnung für Ärzte besagt, dass
ein suchtkranker Arzt in jedem
Fall mit dem Entzug der Zulassung zur Versorgung von gesetzlich Krankenversicherten rechnen muss – das gilt auch dann,
wenn er eine Therapie erfolgreich absolviert hat. Diese Rege-
lung hat auch Martina M. zu
spüren bekommen. Nach der
­erfolgreichen Therapie nahm sie
ihre Tätigkeit in der Praxis wieder auf, was für sie ein großer
Schritt nach vorne war. „Viele
meiner Probleme haben sich
durch die Therapie natürlich
nicht in Luft aufgelöst, jedoch
ging ich danach anders damit
um. Besonders an meinem Arbeitsalltag habe ich einiges ge­
ändert und die Anzahl der Pa­
tienten verringert.“
Auf die Probe gestellt wurde ihre
Abstinenz kurz darauf erneut
vom Landesgesundheitsministerium. Nachdem Martina M. die
Zusage zur Aufnahme ihrer ärztlichen Tätigkeit erhalten hatte,
meldete sich die Behörde erneut
und drohte mit dem Entzug der
Approbation, falls sie sich nicht
weiteren psychologischen Tests
unterziehe. „Das war ein harter
Rückschlag, ich musste erneut
um meine Existenz als Ärztin
z­ittern. Dass ich die Therapie erfolgreich absolviert habe, interessierte die gar nicht.“ Auch die
erneute Untersuchung bestand
die Ärztin und durfte weiter­
praktizieren. „So kurz vor einem
25
Der Gründer der Oberbergkliniken, Prof. Matthias Gottschaldt –
selbst ehemals süchtiger Arzt –
erkannte das Problem und
entwickelte zusammen mit der
Ärztekammer Hamburg ein Behandlungscurriculum nach dem
Motto „Hilfe statt Strafe“. „Jeder
Patient hat eine Chance verdient“, erklärt Prof. Mundle. „Ein
Arzt, der Hilfe sucht, sollte nicht
daran gehindert werden, indem
ihm gedroht wird, die Zulassung
zu entziehen. Um die Sucht zu
bekämpfen, ist es absolut wichtig,
dass der Patient jemanden zum
Reden hat – sowohl einen Fachmann, als auch Kollegen oder die
Familie.“ Einige Ärztekammern,
unter anderem die Ärztekammer
Hamburg, halten für suchtkranke
Mediziner deshalb spezielle Beratungsangebote bereit und vermitteln an Kliniken.
„Ich bin der festen Überzeugung,
dass ein Arzt nach der erfolgreichen stationären Therapie wieder verantwortungsbewusst seinen Beruf ausüben kann, wenn
er langfristige Therapiemaßnahmen, wie zum Beispiel eine ambulante Therapie oder Selbsthilfegruppen, in Anspruch nimmt“,
sagt Mundle. „Am Ende ist er
sogar um eine Erfahrung reicher, auch seinen Patienten gegenüber, weil er selbst von einer
schweren Erkrankung betroffen
ist und weiß, dass auch schwere
Krankheiten gut behandelbar
sind, wenn rechtzeitig ­Hilfe angenommen und eine ­adäquate
Behandlung durchgeführt wird.“
Friederike Geisler ist
Mitarbeiterin der Stabsstelle
Unternehmenskommunikation
beim MDK Niedersachsen
E-Mail:
[email protected]
MDK-Forum 4/2008
Kranken- und Pflegeversicherung
Projekt zu Ernährung und Flüssigkeitsversorgung
„Wenig Muss – viel Genuss“
Interview mit Christa Raduel, MDK Rheinland-Pfalz
F
rei nach dem Motto „Das
Auge isst mit“, richten
Chefköche ihre edlen Speisen
in Sterne-Restaurants millimetergenau auf dem Teller aus, dekorieren mit Saucen-Spritzern
und Kräutern. Für ältere Menschen, die vielleicht sogar von
einer leichten bis schweren Demenz betroffen sind, geben Angehörige und Pflegekräfte sich
oft nicht so viel Mühe. „Der
merkt das ja eh nicht“, heißt es
dann. Dabei ist gerade im Alter
die Darreichung der Speisen
und das gesamte Umfeld der
Mahlzeit von großer Bedeutung, damit sich die Senioren
ausreichend ernähren und dies
auch gerne tun. Das Sozialministerium in Rheinland-Pfalz
und der Medizinische Dienst
der Krankenversicherung
(MDK) Rheinland-Pfalz arbeiteten deshalb von September
2005 bis Dezember 2007 im
Projekt „Optimierung der Ernährung und Flüssigkeitsversorgung in stationären Pflegeeinrichtungen in RheinlandPfalz“ mit acht Pflegeein­richtungen zusammen, um die
dortigen Essens-Abläufe zu
analysieren und zu verbessern.
Christa Raduel vom MDK in
Rheinland-Pfalz arbeitete mit
an dem Projekt.
? MDK-Forum: Frau Raduel,
welche Besonderheiten sind
denn bei der Ernährung älterer
Menschen zu beachten?
! Christa Raduel: Altersphysiologische Veränderungen führen zu einer Abnahme des Wasseranteils des Körpers bei
älteren Menschen. Viele Medikamente beeinflussen die Balance des inneren Milieus des KörMDK-Forum 4/2008
pers ungünstig. Zudem nimmt
im Alter oft das Durstgefühl ab.
Die Folge ist häufig eine zu
­geringe Flüssigkeitsaufnahme
­älterer Menschen. Zudem sind
unter anderem Kau- und
Schluckstörungen oder geistige
und psychische Beeinträchtigungen immer wieder der Grund für
eine unzureichende Nahrungsaufnahme. Stoffwechselstörungen begünstigen möglicherweise
eine eingeschränkte Nährstoff­
ver­wertung. Menschen, die bei
der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme von Fremdhilfe abhängig sind, benötigen gerade
dann besondere Aufmerksamkeit, wenn sie ihre Wünsche
nicht mehr mitteilen können.
? MDK-Forum: Wieso reicht
es nicht, wenn man einfach ein
paar Kalorien mehr serviert?
! Christa Raduel: Es geht um
sehr viel mehr. Essen und Trinken
muss im Einklang mit einer angemessenen Lebensqualität für den
Betroffenen stehen. „Wenig Muss,
viel Genuss“ muss der Leitsatz
sein. Ausreichend Kalorien auf
dem Teller bedeuten nicht automatisch, dass ein Mensch auch
ausreichend Nahrung zu sich
nimmt. Ein angenehmes Ambiente mit passenden Tischnachbarn
fördert den Appetit. Rituale wie
ein Zurufen von „Prosit“ k­önnen
auch einen Menschen mit Demenz motivieren, sein Glas zu
h­eben und zu trinken.
? MDK-Forum: Wie sah die
Zusammenarbeit mit den Einrichtungen aus?
! Christa Raduel: Der MDK
hat zusammen mit den Pflege­
heimen ein Ernährungskonzept
26
Das gemeinsame Zubereiten der
S­peisen kann sich positiv auf die
N­ahrungsaufnahme auswirken.
erarbeitet. Für die Mitarbeiter
der Einrichtungen gab es zahl­
reiche Qualifizierungsmaßnahmen. A­ußerdem haben wir die
Mit­arbeiter- und Bewohnerzufriedenheit erhoben. Die Bewohner und auch die Angehörigen
standen dem Projekt sehr positiv
g­egenüber. Bei den Mitarbeitern
nahmen im Verlauf des Pro­jektes
Motivation, Kreativität und Sensibilität gegenüber den Bedürf­
nissen der Bewohner deutlich zu.
Viele Mitarbeiter entwickelten
selbst Ideen und arbeiteten begeistert im Projekt mit, auch vereinzelt Mitarbeiter, die anfangs
eher skeptisch ­waren.
Die E­rfahrungen aus dem
­Projekt und viele Rezepte aus
den Projekteinrichtungen sind
in dem Buch „Essen ist Leben“
zusammen­gefasst. Es ist für
22 Euro beim ­Iatros Verlag zu
beziehen.
Die Fragen stellte Friederike
Geisler, MDK Niedersachsen
Gesundheits- und Sozialpolitik
Gesundheitsfonds:
Abenteuer-Reise ins Ungewisse
Von Steffen Habit
T
urbulenzen an den Aktienmärkten und Banken vor
dem Bankrott – die Hiobsbotschaften von der Finanz­krise
reißen nicht ab. Bundes­kanz­
lerin Angela Merkel stimmte
die Bürger bereits auf eine
„schwierige Wegstrecke“ ein.
2009 werde ein Jahr schlechter
Nachrichten, mahnte Merkel.
Ob die CDU-Chefin damit
auch auf die vermurkste Gesundheitsreform anspielte? Die
Krankenkassen stehen zumindest mit dem Start des Fonds
vor einer Reise ins Ungewisse.
Mancher Kassen-Chef dürfte
sich zuletzt wie ein Abenteurer
aus einem Roman von Jules
V­erne gefühlt haben. In aller
Eile musste der Rucksack gepackt werden – für das Wagnis
Gesundheitsfonds. Wie aber
r­üstet man sich für die Gefahren
und Risiken der größten Sozialreform seit Jahrzehnten? Welches Rettungsseil und welcher
Sicherungshaken hilft, um nicht
plötzlich in tiefe Finanzlöcher
zu stürzen? Und wem kann man
in diesen Zeiten überhaupt noch
über den Weg trauen?
Weihnachtsgeschenke auf
Kosten der Beitragszahler
Doch Halt, erstmal ein Blick zurück zu den Startbedingungen:
Exakt 15,5 Prozent beträgt der
neue bundesweit einheitliche
Kassensatz. Über Monate wurde
spekuliert, seit Anfang Oktober
herrscht Gewissheit. Der neue
Beitragssatz liegt definitiv an der
unteren Grenze – 15,8 Prozent
hatte der Spitzenverband der
g­esetzlichen Krankenversicherung gefordert. So weit wollte
die Große Koalition nicht ge-
hen. Schon jetzt ist der Beitragssprung mit durchschnittlich 0,6
Punkten gewaltig. Viele Arbeitnehmer werden noch weit tiefer
ins Portemonnaie greifen müssen – sie sind bei einer der bisher günstigeren Betriebskrankenkassen versichert. Insgesamt
zahlen 90 Prozent der etwa 50
Millionen Kassenmitglieder
mehr für die Gesundheit.
Rosige Zeiten also für die Krankenkassen? Auf den ersten Blick
sieht es danach aus: Knapp 170
Milliarden Euro stehen den Versicherungen 2009 zur Verfügung
– ein Plus von elf Milliarden
Euro. Dennoch ist ungewiss, ob
die Rekordsumme ausreicht.
Denn Gesundheitsministerin Ulla
Schmidt (SPD) hat in diesem
Jahr schon im Spätsommer begonnen, üppige Weihnachtsgeschenke zu verteilen: 2,7 Milliarden Euro an die niedergelassenen
Ärzte und drei Milliarden Euro
an die klammen Kliniken. Kein
Wunder, dass bei den Kassen
die Sirenen schrillten: „Die
P­olitik treibt die Ausgaben im
Gesundheitswesen in die Höhe,
nicht die Kassen“, wetterte der
Chef der Techniker Krankenkasse, Norbert Klusen.
Angst vor Zusatzbeiträgen
Rekordbeiträge mitten in der
F­inanzkrise – alles halb so wild,
winkt Schmidt souverän ab. Mit
dem Beitrag von 15,5 Prozent
komme die Finanzierung der
Krankenkassen „für eine ganze
Zeit in ruhige Fahrwasser“,
meint die Gesundheitsministerin.
Schmidt hofft sogar, dass die
Kassen 2009 kräftige Überschüsse erwirtschaften – und
Prämien an ihre Versicherten
27
auszahlen. Im Bundestagswahljahr wäre dies ein willkommenes Geschenk für die SPDMinisterin.
Mit ihrem grenzenlosen Optimismus ist Schmidt allein. Langfristig rechnen fast alle Kassen
mit Zusatzbeiträgen. Die Frage
ist nur, wann und wie hoch. Bisher halten sich die Versicherungen bedeckt – keiner traut sich
als Erster aus der Deckung: „Wir
starten am 1. Januar ohne Zusatzbeiträge“, heißt es daher einhellig. Zur Erinnerung: Mit der
Möglichkeit, Prämien auszuschütten oder Zusatzbeiträge
zu erheben, sollte eigentlich der
Wettbewerb zwischen den Krankenkassen gestärkt werden. Vor
allem die Union hat sich für
d­iese Regelung stark gemacht.
Parteiintern wurde der Beschluss gern als „kleine Kopfpauschale“ verkauft.
Bürokratische Monster
Der schwarz-rote Kompromiss
zum Bonus-Malus-System ist
a­llerdings ein bürokratisches
Monster. Allein die Einrichtung
der Beitragskonten kostet zwischen 200 und 300 Millionen
Euro. Der Chef der Deutschen
Angestellten-Krankenkasse,
Herbert Rebscher, spricht daher
von „bürokratischem Overkill“.
Was aber noch schlimmer ist:
Die irrwitzige Regelung macht
jede Finanzplanung der Kassen
zum Glücksspiel. Schuld ist die
sogenannte Acht-Euro-Hürde.
Bis zu dieser Grenze kann die
Kasse Zusatzbeiträge ohne Einkommensprüfung erheben. Gemessen am Aufwand für die
Kontoeinrichtung lohnt sich
dies für die Kassen kaum. D
­ azu
MDK-Forum 4/2008
Gesundheits- und Sozialpolitik
kommt der Image-Schaden: Wer
Zusatzbeiträge verlangt, gilt als
unwirtschaftlich. Bei Zusatzbeiträgen über acht Euro wird es
allerdings noch komplizierter.
Zunächst muss die Kasse für jeden Versicherten den Verdienst
überprüfen. Denn die monatliche Belastung darf ein Prozent
des beitragspflichtigen Einkommens nicht übersteigen. Wer
also 3000 Euro brutto im Monat
verdient, darf maximal mit 30
Euro zur Kasse gebeten werden.
Die Höchstgrenze liegt bei 36
Euro im Monat. Für Geringverdiener gelten eigene Regeln – sie
zahlen maximal acht Euro zusätzlich.
Für die Krankenkassen beginnt
ein gefährlicher Teufelskreis: Je
mehr Versicherte von der Überforderungsklausel Gebrauch machen, desto höher müssen sie
den Zusatzbeitrag für die übrigen
Mitglieder ansetzen, um überhaupt auf ihre Kosten zu kommen. Mit jeder Erhebung einer
Prämienzahlung gilt jedoch ein
Sonderkündigungsrecht. Gerade
Besserverdienende werden die
Chance nutzen, um zu einer
günstigeren Krankenkasse zu
wechseln. Die Versicherungen
werden sich also künftig nicht
nur einen Wettkampf um die Gesunden liefern, sondern auch um
die zahlungskräftigen Mitglieder.
Alles nur Hirngespinste der
K­assen-Chefs? Nein. Das zeigt
eine Umfrage des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen. Danach würden bei einem
monatlichen Zusatzbeitrag von
zehn Euro bereits 27 Prozent
der Versicherten ihrer Kasse den
Rücken kehren. Bei Extra-Gebühren von 20 Euro ist es sogar
jeder zweite Befragte. Die Umfrage liefert noch weitere erstaunliche Aussagen: Nur jeder
Dritte legt Wert darauf, dass bei
Überschüssen der Versicherer
eine Prämie zurückzahlt. Die
große Mehrheit der Befragten
(64 Prozent) bevorzugt statt­
dessen besseren Service und
großzügigere Leistungen.
MDK-Forum 4/2008
Ruhige Fahrwasser oder Windstärke 10 – wohin die Reise der Kassen führt, ist
noch ungewiss.
Verschiebebahnhof
Sozialversicherung
Mehr Leistungen ohne teure
Z­usatzbeiträge – dieses Wunder
wäre problemlos möglich, würde
die Bundesregierung die Kassen
endlich von versicherungs­
fremden Aufgaben entlasten.
Ein Beispiel: ArbeitslosengeldII-Bezieher sind in der Regel
g­esetzlich krankenversichert.
Die Bundesagentur für Arbeit
überweist allerdings nur reduzierte Beiträge. Den Krankenkassen entgehen dadurch jährlich Einnahmen von mehr als
vier Milliarden Euro, wie das
Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung Kiel
kürzlich errechnet hat. Akribisch
haben die Forscher zusammengetragen, in welchem Umfang
die Kassen die Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie
den Staatshaushalt subventionieren. Sie kommen auf die Rekordsumme von 45,5 Milliarden
Euro im Jahr. Ohne diese Ausgaben könnten die Krankenkassen umgehend die Beiträge um
4,5 Prozentpunkte senken. Auch
wenn andere Institute die Ausgaben für versicherungsfremde
Leistungen deutlich niedriger
ansetzen, eines steht fest: Mit
28
e­inem Bundeszuschuss von vier
Milliarden Euro für das kommende Jahr kauft sich Finanz­
minister Peer Steinbrück (SPD)
sehr günstig von seinen Verpflichtungen frei.
Geht die Rechnung auf ?
Als Jules Verne seinen Protagonisten Phileas Fogg „In 80 Tagen
um die Welt“ schickte, gab es
noch keine Finanzkrise und
auch keinen Gesundheitsfonds.
Der britische Gentlemen hatte
andere Abenteuer zu bestehen.
Ähnlich wie Fogg werden aber
auch die Kassen-Chefs erst in
letzter Sekunde erfahren, ob
ihre Finanz-Kalkulation aufgegangen ist. Die Datumsgrenze
verhalf Fogg damals zum Wettsieg. Ansonsten wäre der Brite
erst nach 81 Tagen wieder in
London eingetroffen. Und bei
den Kassen? Der Fonds birgt
noch viele Unwägbarkeiten –
nur eines ist gewiss: Nicht alle
der über 200 Kassen in Deutschland werden die AbenteuerReise unbeschadet überstehen.
Steffen Habit ist
Politikredakteur
beim Münchner Merkur
Gesundheits- und Sozialpolitik
Hannover Morbiditäts- und
Mortalitäts-Pflegestudie
B
ei der Kalkulation von Kosten und Leistungen in der
Pflegeversicherung spielen die
Faktoren Morbidität und Sterblichkeit eine große Rolle. Der
MDK Niedersachsen hat sich
deshalb zusammen mit der E+S
Rückversicherung AG in einer
umfassenden Längsschnitt-Studie mit diesen Faktoren beschäftigt. Über einen Zeitraum von
zehn Jahren wertete das Untersuchungs-Team Daten von über
88.000 Versicherten der Deutschen BKK aus.
Ziel der Hannover Morbiditätsund Mortalitäts-Pflegestudie
(HMMPS) war es, ein Bild der
Übergangswahrscheinlichkeiten
in der Pflegeversicherung zu ermitteln, also das Verhältnis der
Faktoren Eintritt in die Pflege,
Pflegestufe/Wechsel der Pflegestufe und Sterblichkeit zu untersuchen. Gerade vor dem Hintergrund des Demographie-Wandels
sind diese Sachverhalte von großer Bedeutung. Bisher gibt es
dazu nur wenige LängsschnittStudien – die des MDK Niedersachsen und der E+S Rückversicherung ist die umfassendste
dieser Art. Sie zeichnet sich unter
anderem durch eine besonders
große Datenbasis von Patienten
aus der Pflegeversicherung und
einen langen Untersuchungs-Zeitraum von bis zu zehn Jahren aus.
„Die Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes und der E+S
Rück ergänzten sich dabei
wechsel­seitig: dies durch die sozialmedizinischen und praktischen Kenntnisse in der Pflegebegutachtung des MDK sowie
die versicherungsmedizinischen
und biostatistischen Kenntnisse
der E+S Rück“, sagte Prof. Wolfgang Seger, Leitender Arzt des
MDK Niedersachsen und Mit­
autor der Studie.
P­rozent in die Pflegestufe III.
Die geschlechtsspezifische Untersuchung zeigt auf, dass Frauen zwar eine geringere Sterbe­
rate haben als Männer, aber
keine höhere Reaktivierungsrate. Das heißt, sie verbleiben genauso lange in einer Pflegestufe.
Im Zeitraum von 1995 bis 2007
haben die Autoren über 165.000
Datensätze von Pflegeversicherten und Pflegefällen der Deutschen BKK analysiert. Im Fokus
stand dabei der Pflege- und Vitalstatus der Versicherten über den
Untersuchungszeitraum. So wurde zum einen festgehalten, welche
Pflegestufe die Patienten bei Eintritt in die Pflege hatten und ob
sie im Beobachtungs-Zeitraum
die Pflegestufe wechselten oder
gar verstarben.
Von großer Bedeutung sind die
Auswertungsergebnisse als Anhaltspunkte für die Risiko- und
Prämienkalkulationen von Pflegeversicherungsprodukten. In
einem nächsten Schritt schlagen
die Forscher die Ermittlung der
Risikofaktoren vor, welche zu einer Höherstufung führen. Außerdem soll untersucht werden, welche Interventionen (zum Beispiel
medizinische Rehabilitation) zu
einer Verminderung des Hilfebedarfs führen. Ein weiterer Schwerpunkt der Forschergruppe ist die
Identifikation von medizinischen
und sozioökonomischen Faktoren der Langlebigkeit von pflegebedürftigen Personen.
(dt)
Ein Beispiel aus der Studie: Patienten mit einer Ersteinstufung in
Pflegestufe I sind 10 Jahre nach
Beginn ihrer Pflegebedürftigkeit
noch zu 14,8 Prozent in Pflege,
zu 4,8 Prozent reaktiviert (haben
also keine Pflegestufe mehr) und
zu 80,4 Prozent verstorben. Von
den Patienten, die nach 10 Jahren noch in Pflege waren, be­
fanden sich knapp 46 Prozent
w­eiterhin in der Pflegestufe I.
35,8 Prozent waren höhergestuft
in die Pflegestufe II und gut 18
Anteile der Patientengruppe pro Pflegestufe 10 Jahre nach Pflegebeginn
Pflegestufe I
1
2
Pflegestufe II
3
6
11
4
7
5
8
12
Pflegestufe III
9
13
keine
Pflegestufe
Pflegestufe I
Pflegestufe II
1: 4,8 %
6: 3,8 %
11: 3,6 %
2: 6,8 %
7: 1,7 %
12: 0,5 %
3: 5,3 %
8: 4,2 %
13: 0,5 %
10
14
15
Pflegestufe III
Verstorben
4: 2,7 %
9: 2,4 %
14: 2,4 %
5: 80,4 %
10: 87,9 %
15: 92,9 %
Quelle: HMMPS
29
MDK-Forum 4/2008
Gesundheits- und Sozialpolitik
Innovationen im Krankenhaus steuern
Von Meike Klinck
D
ie Erkenntnisse aus der
Einführung von Innovationen müssen systematisch zusammengetragen und ausgewertet werden”, forderte Prof.
Dr. Jürgen Windeler, Leitender
Arzt des MDS, beim Diskussionsforum „Steuerung innovativer Arzneimittel und Methoden
im Krankenhaus”. „Nur so lassen sich erfolglose – und oft belastende – Behandlungen und
Komplikationen vermeiden.“
Rund 170 Vertreter von Krankenkassen, Krankenhäusern,
ärztlichen Organisationen und
von Pharma- und Medizinprodukte-Herstellern waren am
22. Oktober der Einladung von
SEG 6 (Arzneimittelversorgung)
und SEG 7 (Methoden- und
Produktbewertung) gefolgt.
Bevor ein Verfahren oder ein
medizinisches Produkt von einem niedergelassenen Arzt zu
Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung angewendet
werden darf, muss sein Nutzen
durch Studien nachgewiesen
werden und der gemeinsame
Bundesausschuss (G-BA) zudem
die flächendeckende Einführung
beschließen. Bei Arzneimitteln
wird die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit geprüft. Im
Krankenhaus dagegen darf mit
Verweis auf den medizinischen
Erkenntnisgewinn alles angewendet werden kann, was medizinisch machbar ist – außer es
ist ausdrücklich verboten (Verbotsvorbehalt).
Schnittstellenprobleme
„Durch uneinheitliche Regel­
ungen sowie finanzielle Anreize
besonders in der Arzneimittelversorgung besteht die Gefahr,
dass die Versorgungskette für
Patienten, die aus dem Kran­
kenhaus entlassen werden,
MDK-Forum 4/2008
­ nterbrochen wird. Von besonu
derer Bedeutung ist dies bei innovativen, oft kostenintensiven
Therapien, die im Krankenhaus
begonnen werden“, warnte Moderatorin Dr. Lili Grell, Leiterin
der SEG 6 beim MDK Wes­
tfalen-Lippe.
Die Auswirkungen der Arzneimittelversorgung im Krankenhaus auf den ambulanten Bereich
standen auch im Fokus von Dr.
Leonhard Hansen, Vorstandsvorsitzender der KV Nordrhein.
Die Schnittstellenproblematik
zwischen niedergelassenem Arzt
und dem Krankenhaus lasse sich
durch Information, Verständnis,
gesetzliche Regelungen und die
gleichen Verordnungsgrundlagen
für den ambulanten und den
stationären Bereich lösen.
Klinische Studien erforderlich
G-BA-Vorsitzender Dr. Rainer
Hess, unterstrich die Notwendigkeit klinischer Studien. „Die
Bewertung erfolgt nach dem
Delta zwischen bestverfügbarer
und bestmöglicher Evidenz unter Berücksichtigung damit verbundener Risiken von Fehlentscheidungen“, so Hess. Die
Expertenmeinung allein genüge
nicht. Als Probleme sah Hess
neben den unterschiedlichen
Zugangsbedingungen zum ambulanten und stationären Sektor
den Mangel an evidenzbasierten
deutschen Studien – trotz hoher
Marktdurchdringung von Innovationen. Die Bewertung von
medizinischen Neuentwicklungen durch den G-BA laufe dem
Markt hinterher. Dr. Christoph
Kreck, Leiter der SEG 7 beim
MDS, wertete in diesem Zusammenhang das Urteil des Bun­
dessozialgerichts (BSG) vom
28. Juli positiv: „Das BSG hat
darin klar gestellt, dass ein
30
Krankenhaus allen im SGB V
formulierten Qualitätsanforderungen genügen muss.“
Fordern und Fördern
Für Prof. Dr. Norbert Roeder,
Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Münster, ist die
Finanzierung von Innovationen
im Krankenhaus noch sehr pro­
blembelastet. Im Zeitplan zu unflexibel, nur ein Jahr gültig und
zu viel Koordinierungsbedarf waren die Kernpunkte seiner Kritik.
Er forderte, die Antragstellung
durch jedes einzelne Krankenhaus abzuschaffen und eine einmal vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK)
anerkannte Innovation auf alle
Krankenhäuser auszudehnen.
Das sah Dr. Axel Meeßen, Ab­
teilungsleiter Medizin des GKVSpitzenverbandes naturgemäß
ganz anders. Die Methoden w
­ ür­den ohne erwiesenen Nutzen eingeführt, der G-BA könne – zumindest zunächst – nicht verhindern, dass fragwürdige Leistungen zu Lasten der GKV erbracht
würden, so Meeßen. Zudem gebe
es kaum Anreize, not­wendiges
Wissen über sichere Anwendungen zu schaffen. „Fordern und
Fördern“ lautet daher seine Devise. So sollen unter anderem
Wirksamkeitsnachweise, eine
Einführung des Erlaubnisvorbehalts wie im ambulanten Sektor
oder systematische Studien zu
Nutzen und ­Risiken den notwendigen Nutzenbeleg für Methoden liefern. Damit, so Meeßen, lassen sich die Qualitäts­sicherung und Patientensicherheit
stärken.
Meike Klinck ist Mitarbeiterin
im Fachgebiet Presse- und
Öffentlichkeitsarbeit beim MDS
E-Mail: [email protected]
Gesundheits- und Sozialpolitik
Systemberatung zur Versorgung chronisch Kranker
Die Zukunft ist chronisch
Von Dr. Norbert Lübke und Dr. Mattias Meinck ­
R
und 150 Vertreter von
Krankenkassen und -verbänden, aus den Medizinischen
Diensten, von den Ärztekammern und Kassenärztlichen
Vereinigungen in Hamburg
und Schleswig-Holstein sowie
weiteren Institutionen des
­Gesundheitssystems folgten
der Einladung der KompetenzCentren zur diesjährigen Präsentationsveranstaltung am 17.
und 18. November nach Hamburg. Im F
­ ocus der Tagung
stand die Systemberatung der
Kompetenz-Centren zur medizinischen Versorgung chronisch Kranker.
In ihren Grußworten hoben der
Geschäftsführer des MDK Nord,
Peter Zimmermann, und der
­Leitende Arzt des MDS, Prof. D
­ r.
Jürgen Windeler, die Bedeutung
des Themenfeldes für die weitere
Ausgestaltung des Gesundheitssystems hervor und unterstrichen,
dass die Medizinischen Dienste
durch ihre Kompetenzeinheiten
für die Herausforderungen, die
unserem Gesundheitssystem
durch die Zunahme chronischer
Erkrankungen erwachsen, gut
aufgestellt sind.
Herausforderung
Multimorbidität
92 Prozent aller Todesursachen
in Deutschland gehen heute auf
chronische Erkrankungen zurück – mit 47 Prozent sind immer noch die Herz-Kreislauf-Erkrankungen deutlich führend,
gefolgt von Tumorerkrankungen
mit 27 Prozent. Fortschritte der
Medizin führen hierbei aber nur
zum Teil zu einem Wandel der
sogenannten Morbiditätslast.
Vielfach kommt es hierdurch
auch zu deren Verdichtung, was
sich mit zunehmendem Alter als
immer ausgeprägtere Multimorbidität manifestiert und die me­
dizinische Versorgung vor besondere Herausforderungen stellt.
Beispiele aus der Arbeit der
Kompetenz-Centren
Die Kompetenz-Centren präsentierten am ersten Veranstaltungstag gemeinsam mit ihren Auftraggebern Beispiele aus ihrer
Systemberatung zur Versorgungsgestaltung für chronisch Kranke.
Die Auftraggeber erläuterten
hierbei ihre jeweiligen Erwartungen an die Aufträge und die konkrete Verwendung der Auftragsergebnisse in der Gesetzlichen
Krankenversicherung.
So stellte das KC Geriatrie einen
mehrstufigen Beratungsprozess
im Themenfeld präventiver
Hausbesuche für ältere Menschen im Auftrag der Spitzen­
verbände der Krankenkassen
vor.
Das KC Psychiatrie und
­Psychotherapie präsentierte gemeinsam mit der Techniker
Krankenkasse einen Beratungsauftrag zur Konzeption, Umsetzung und Weiterentwicklung
­eines Vertrags für die integrierte
Versorgung psychisch Kranker.
Das Kompetenz-Centrum Qua­
litätssicherung stellte gemeinsam
mit spektrum K (ehemals BKKBundesverband) seine Beratungsleistungen auf dem Gebiet
der chronischen Wirbelsäulen­
erkrankungen vor.
Am Beispiel der Krebserkrankungen zeigte das KC Onkologie,
dass Erfolge der onkologischen
Versorgung zu neuen Patienten-
31
gruppen ­chronisch kranker und
nicht-kranker Krebspatienten
führen.
Die Kompetenz-Centren wurden
gezielt für medizinische Versorgungsbereiche etabliert, die von
den genannten Entwicklungen
besonders stark betroffen sind.
Mit ihrer sektorenübergreifend
ausgerichteten Konzeption fällt
den Kompetenz-Centren darüber
hinaus für die Systemberatung
auch innerhalb der GKV und der
MDK-Gemeinschaft eine wichtige und perspektivisch zukunftsweisende Rolle zu. Vertreter des
GKV-Spitzenverbandes und der
MDK-Gemeinschaft bekräftigten
diesen Auftrag als gemeinsame
Träger der Kompetenz-Centren.
Hohe Erwartung an die
Systemberatung
Gleichzeitig formulierten sie ihre
hohen Erwartungen an die Qualität und den Nutzen der Systemberatung, die – wie Dr. Axel
Meeßen vom Spitzenverband
Bund betonte – neben fachlich
fundierter Beratung zunehmend
auch Aspekte einer differenzierten Folgenabschätzung potenzieller Entscheidungsalternativen
für das Gesamtsystem im Blick
haben muss.
Beiträge der Veranstaltung unter
www.kcgeriatrie.de abrufbar.
Dr. med. Norbert Lübke
leitet das Kompetenz-Centrum
Geriatrie beim MDK Nord
Dr. med. Matthias Meinck
ist Mitarbeiter des
Kompetenz-Centrums Geriatrie
beim MDK Nord
E-Mail: [email protected]
MDK-Forum 4/2008
MDK im Dialog
Hemtjänst oder Va° rdcentral
Pflege in Schweden
S
onja Schieting, Pflegefachkraft beim MDK BadenWürttemberg, reiste im Ok­
tober 2007 im Rahmen einer
Auslandshospitation nach
Stockholm. Sie interessierte,
wie Menschen mit hohem Hilfe- und Pflegebedarf in einem
Wohlfahrtsstaat im häuslichen
Umfeld versorgt werden und
wie der Hilfebedarf ermittelt
wird. Trotz mäßiger Investition
und Kostenbegrenzung gilt das
schwedische Gesundheitswesen im internationalen Vergleich als sehr leistungsstark.
„Der Aufbau und die Organisa­
tion des Gesundheitswesens in
Schweden und Deutschland unterscheiden sich in einigen wesentlichen Punkten. Da sowohl
ich als auch meine Ansprechpartner in Schweden nur vage Vorstellungen vom jeweils anderen
System hatten, war es nicht
­möglich, die Hospitation von
Deutschland aus im Detail zu
planen“, b­eschreibt Sonja Schieting. Daher entschied sie sich,
ihre Hospitation in einem
„Va° rdcentral“, also einem schwedischen Gesundheitszentrum, zu
beginnen, um von dort aus mit
Unterstützung der Kollegen
w­eitere Kontakte zu anderen
I­nstitutionen zu knüpfen.
Heimplätze gibt es kaum
In Schweden ist die Berufstätigkeit der Frau eine Selbstverständlichkeit. Im Gegenzug
ü­bernimmt der Staat die Verantwortung für die Kinder- und
­Seniorenversorgung. Ein Zu­
sammenleben von erwachsenen
Kindern und Eltern oder die
Übernahme der Alten- oder
Krankenpflege durch die Familie
bildet die Ausnahme. Trotzdem
hat die häusliche Versorgung in
Schweden einen hohen Stellenwert, Heimplätze gibt es kaum.
MDK-Forum 4/2008
Sogenannte „Hemtjänst“, also
Einrichtungen für häusliche
­Pflege, sind für Grundpflege,
Hauswirtschaft, Einkäufe, Be­
gleitung zum Arzt, Spaziergänge,
Gespräche und allgemeine Betreuung zuständig. Die Gesundheit und die pflegerische Versorgung wird überwiegend aus
Steuern (71 Prozent) finanziert,
das restliche Drittel über staat­
liche Beihilfen, Patientengebühren und andere Quellen.
Kommunale Gutachter ermitteln
neben dem grundpflegerischen
und hauswirtschaftlichen Hilfebedarf auch den Bedarf an allgemeiner und psycho-sozialer Betreuung. Es gibt 18 Pflegestufen,
aber erst ab der 17. Pflegestufe
besteht das Recht auf einen Pflegeheimplatz. Routinemäßig findet jährlich eine Nachbegutachtung statt. „Da die Begutachtung
in Schweden in Gesprächsform
stattfindet und die Kriterien sehr
allgemein gefasst sind, ist das Ergebnis von der subjektiven Sicht
der Gutachter abhängig“, meint
Schieting. Der Gutachter habe
keine medizinische Ausbildung.
Im wesentlichen werden die
Leistungen in Form von Sachleistungen zur Verfügung gestellt.
Gerade im Bereich der Grundpflege, die durch die „Hemtjänst“
erbracht wird, variiert die Qualität durch die große Zahl unausgebildeter Mitarbeiter erheblich,
eine Qualitätskontrolle ist derzeit
nicht im System verankert.
Einmalig: Persönliche
Assistenten
Weltweit einmalig ist die Funk­
tion des persönlichen Assistenten, also einer Pflegeperson, die
von der Grundpflege über sehr
spezielle Behandlungspflege bis
zu intensivmedizinischer Versorgung zuständig ist. Diese Pflegekraft wird, soweit möglich, vom
32
Sonja Schieting vom MDK BadenWürttemberg hospitierte in Schweden.
Behinderten selbst angelernt
und ausgebildet. Das Ausbildungsspektrum der persönlichen
Assistenten reicht vom Laienwissen bis zu hochqualifizierten
medizinisch-pflegerischen Ausbildungen.
„Besonders beeindruckt hat
mich, dass alle Mitarbeiter der
Versorgungszentralen, die Ärzte,
das Personal in den Pflegeheimen und die Schwestern ausreichend Zeit für die Patienten haben“, so Schieting. Durch den
Einsatz von Laien könne zwar
eine Kostenbegrenzung erreicht
und eine Deckung des gesamten
Pflegebedarfs erzielt werden, dabei werde allerdings weder die
Qualität der erbrachten Leistungen überprüft noch Qualitätsstandards vorgegeben.
„Die überwiegende Gewährung
von Sachleistung und die zen­
tralisierten Versorgungsangebote
in der häuslichen Versorgung alter Menschen sind für mich sehr
überzeugend“, resümiert Schieting. Die damit verbundene Einschränkung der Wahlfreiheit
werde durch die vollständige
Abdeckung des Hilfebedarfs,
­soziale Gerechtigkeit, Entlastung der Familien und Einschränkung von Missbrauch
­aufgewogen.
(sa)
Leserbrief
Z
Impressum
u dem Beitrag „Schon bald mehr Pflegekräfte aus
Osteuropa?“ in MDK-Forum Ausgabe 03/2008 erhielt
die Redaktion folgenden Leserbrief:
Mit Interesse habe ich den
­Artikel „ Schon bald mehr
­Pflegekräfte aus Osteuropa?“
in ­Ihrer Ausgabe 03/2008 im
MDK-Forum gelesen.
Die Realität der pflegerischen
Versorgung in Osteuropa sieht
anders aus. Die Pflegekräfte in
Osteuropa erhalten wohl eine
theoretische Ausbildung auf
Hochschulniveau, dabei fehlen
aber oft grundlegende Kompetenzen im Bereich der pflegerischen Versorgung eines kranken
Menschen am Krankenbett.
Die Geiz ist geil Mentalität
ist nicht erst seit heute in den
­Führungsetagen des Gesundheitssystems angekommen. Die
Vorstellung möglichst billige
Pflegekräfte mit fraglicher hochqualifizierter Ausbildung zu
­erhalten ist natürlich verführerisch. Doch sollte neben der
Qualifikation auf dem Papier
auch ein Blick darauf geworfen
werden wie die pflegerische
­ ersorgung in den HerkunftsV
ländern der Pflegekräfte aussieht. Ich habe schon mit hochqualifizierten Pflegekräften aus
Ostblockländern gearbeitet und
musste nicht nur einmal feststellen, dass die wirkliche Qualität
der Patientenversorgung nicht
gut war.
Eine Öffnung des Arbeitsmarktes für Pflegekräfte würde ähnlich wie in der Bauwirtschaft
zu einem Lohndumping führen.
Sie finden schon jetzt kaum
noch motivierten und guten
Nachwuchs für Pflegeberufe in
Deutschland. Wer möchte schon
eine Ausbildung in einen Beruf
im Niedriglohnsektor machen
um dann anschließend eine
­Tätigkeit mit sehr hoher Ver­
antwortung und notwendiger
sozialer Kompetenz im Dreischichtdienst an Wochenenden
und Feiertagen auszuüben.
Hubert Maasz,
74391 Erligheim
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