3. Goya, die Abgründe und die Vernunft
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3. Goya, die Abgründe und die Vernunft
3. Goya, die Abgründe und die Vernunft Francisco de Goya y Lucientes (1746 - 1828), in dessen Kunst die Freiheit des Denkens und des subjektiven künstlerischen Ausdrucks so deutlich hervortrat wie kaum je zuvor, gravierte auf einer seiner zwischen 1795 und 1799 entstandenen und 1799 erstmals von ihm selbst aufgelegten Grafikserie „Caprichos“ (Launen, Einfälle) den Satz: >El sueño de la razon produce monstruos< (Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor). Aus: „Goya – Radierungen“ Edition Braus im Wachter Verlag, Heidelberg, 2002, S. 45. Abdruck mit Genehmigung des Verlages. Das ist ein mächtiger Gedanke, in Bild und Worte gefasst in einer historischen Epoche, die ihrem ersten Höhepunkt in der Herausbildung der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft zustrebte, angefeuert durch die große französische Revolution von 1789. Die Vernunft des aufgeklärten Menschen, eine Vorstellung, die in gleicher Zeit Emanuel - 24 - Kant philosophisch begründet hatte, schien langsam zu erwachen und aufzuhören, sich von abersinnlichen Einbildungen und übermenschlichen Autoritäten klein halten zu lassen. Goyas Grafik wirkt zugleich wie eine Vorahnung und eine Warnung. Im unmittelbaren Nachhall der Revolution von 1789 hatte vernunftvergessene Grausamkeit ihre giftigen Zähne in der Gewaltherrschaft der radikalen Jakobiner unter Robespierre gezeigt. Die gute Idee zerrann in den Händen einer ideologisch besessenen Clique. Wie leicht kann die Vernunft des aufgeklärten Menschen und der Weg in eine freie, friedliche, humane Gesellschaft wieder in einen Schlaf verfallen und die abgründigsten Ungeheuerlichkeiten geschehen lassen! Der Widerspruch zwischen Idee und revolutionärer Wirklichkeit brachte politische Gegenkräfte in Europa hervor und trug zur Restauration bei. Die Vernunft einer humanen, aufgeklärten, freien Gesellschaft fiel in einen Dämmerzustand zurück. Ihr Gedankengut setzte sich nur sehr langsam, doch einigermaßen stabil durch, bis es Generationen später zur Ausformung der modernen Demokratie kam. Die große Französische Revolution von 1789 und vor ihr die nordamerikanische Unabhängigkeitsbewegung, die 1776 mit der >Declaration of Independence< der dreizehn aufständischen britischen Kolonien zur Gründung der Vereinigten Staaten führte, hatten weltweit die Hoffnung genährt und verbreitet, dass der Absolutismus der aristokratischen Herrscherdynastien endlich abgelöst würde von einer neuen Gesellschaft, in der die Grundrechte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit fest verankert sein würden. Francisco de Goya war von seiner spanischen Erlebnisperspektive aus ein künstlerisch sehender und zugleich sezierender Beobachter der politischen und sozialen Zustände im Spanien seiner Zeit. Besonders seine Zeichnungen und Radierungen hatten neben ihrer künstlerischen Qualität eine starke, emotional aufwühlende, zeitkritische Komponente, die ihn berühmt machte und deren Wirkungen sich bis in unsere Tage fortsetzten.9 Goya beobachtete nicht nur lebensnah und scharfsinnig die Zustände in seinem Land, sondern nahm den politischen Silberstreif einer neuen Zeit, die sich – zunächst – in den gesellschaftlichen Umbrüchen der Französischen Revolution auftat, als ein großes Versprechen entgegen. Die Einsetzung von Napoleons Bruder Joseph Bonaparte als spanischer König (1808) brachte einen Jahre währenden Aufruhr der Spanier gegen die Franzosen in Gang, der erst 1813 mit Hilfe englischer Truppen zur Vertreibung der Franzosen über die Pyrenäen zu Ende kam. In diesen Jahren verwandelten sich große Teile Spaniens in ein Schlachtfeld und einen mörderischen Tummelplatz einer marodierenden Soldateska. Goya konnte und wollte – wie viele seiner künstlerischen, schriftstellerischen und philosophischen Zeitgenossen – 9 Der Katalog zur Ausstellung im Kunsthistorischen Museum Wien (Oktober 2005 bis Jänner 2006) nennt Goya einen Propheten der Moderne. Vgl. Francisco de Goya (1746 – 1828) – Prophet der Moderne. Hrsg. v. Wilfried Seipel und Peter-Klaus Schuster. Katalog zur Goya-Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien. Oktober 2005 bis Jänner 2006. - 25 - seine Überzeugung von der Vernunft der Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht aufgeben. Wohl aber machten ihm die Abgründe menschlicher Brutalität in den Kriegsjahren zu schaffen, und er drückte dies künstlerisch in seiner Grafikserie „Los desastres de la guerra“ (Die Schrecken des Krieges) aus, die in den Jahren von 1810 bis vermutlich 1820 entstanden. Die „Caprichos“ von 1799 waren noch von Goyas aufklärerischem Impetus durchdrungen, wie es der Vorankündigung seiner Drucke in einer Madrider Tageszeitung zu entnehmen war. Francisco de Goya habe „aus der Vielzahl der Absonderlichkeiten und Torheiten, denen man in jeder Ansammlung gesellschaftlicher Wesen begegnet, sowie unter den gemeinen Verleumdungen und Finten, wie sie durch Gewohnheit, Ignoranz und Eigennutz sanktioniert sind, jene ausgewählt, die er für besonders geeignet hielt, der Lächerlichkeit Nahrung zu liefern und gleichzeitig die Phantasie des Künstlers anzuregen“10. In den „Desastres“ dokumentiert Goya nur noch das Grauen, das er selbst sah („Yo lo vi“ [Ich sah es] lautet die Unterschrift unter einem der Blätter). Das Erschrecken vor den Abgründen menschlicher Brutalität lässt ihn nicht verstummen, sondern macht sie sichtbar. Wessen eine entfesselte, von aller Vernunft und Humanität verlassene Soldateska beider Seiten, Franzosen wie Spanier, fähig sein kann, hat Goya wie in traumhafter Vorahnung der Ereignisse in Europa in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts schonungslos gezeichnet. „Estragos de la guerra“ (Verheerungen des Krieges) ist ein Blatt, das nicht nur einen wirren Berg von Toten und Leichenteilen zeigt, sondern im Hintergrund den Zusammenbruch der gesamten Zivilisation vorführt: zerbrochenes Gebälk, zerfetztes Mobiliar bar jeglicher Ordnung (oder Ordentlichkeit). Es geht nicht mehr um den Krieg und einen Kampf um den Sieg, sondern um blinde, sinnlose, um sich schlagende Zerstörungswut. Das Entsetzen des Künstlers, dessen große Hoffnung die Freiheit und die Möglichkeit menschlicher Vernunft gewesen war, lässt nichts als Sprachlosigkeit und Leere übrig. „Nada. Ello dirá“ (Nichts. Das wird sich zeigen). Das Wort „Nada“ steht in der Grafik auf einem Schild, das ein dahingestreckter Toter ohne Unterleib in der Hand hält, umgeben von einem ins Unendliche und Schemenhafte entrückten Haufen von Getöteten mit von Angstschreien aufgerissenen Mündern. Die Radierungen „Desastres de la guerra“ schätzte Goya selbst als politisch und persönlich sehr gefährlich ein. Deshalb sah er sich wohl veranlasst, sie nicht zu publizieren und die Druckplatten in einer Schatulle in seinem Haus verschwinden zu lassen. Erst 1863, lange nach seinem Tod, wurde eine erste Ausgabe von der Academia de San Fernando, in deren Besitz die Druckplatten gelangt waren, veröffentlicht. 10 Zitiert nach: Karl-Ludwig Hofmann und Christian Präger: Aufklärer ohne Hoffnung. In: Francisco de Goya – Radierungen. Die Sammlung des Morat-Instituts. Edition Braus. Heidelberg 2002. S. 11 f. - 26 -