Eiskalt wie das Blut

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Eiskalt wie das Blut
Michael Koryta
Eiskalt wie das Blut
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Frauke Czwikla
Knaur Taschenbuch Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
»So Cold The River« bei Little, Brown and Company, New York.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.knaur.de
Deutsche Erstausgabe November 2011
Knaur Taschenbuch
© 2010 Michael Koryta
This edition published by arrangement with Little, Brown and Company,
New York, New York, USA. All rights reserved.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2011 Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Kirsten Reimers
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50831-2
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Für Christine, die nicht zugelassen hat,
dass ich mich drücke.
Teil eins
ALLHEILMITTEL
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M
an suche nach Artefakten des Strebens. Das hatte eines
Tages ein Soziologieprofessor in einem Grundkurs gesagt, und Eric Shaw, dem dieser Satz irgendwie gefallen hatte,
schrieb ihn, nur ihn, in ein Notizheft, das schon bald vergessen und verloren sein sollte. Artefakte des Strebens. Nur das
Studium dieser Dinge ermöglichte ein wirkliches Verständnis längst vergangener Völker. Allgemeine Artefakte konnten
überanalysiert werden, aufgeladen mit unangemessener Bedeutung. Es war schwer, Dinge zu entdecken, die auf Ehrgeiz
und Sehnsüchte hinwiesen, dieses müde bisschen von Hoffnungen und Träume. Die Wahrheit eines Herzens lag in den
Objekten seiner Begierde. Ob Wünsche verwirklicht wurden,
hatte längst nicht dieselbe Bedeutung wie die Ziele an sich.
Annähernd zwei Jahrzehnte später kehrte dieser Satz zu Eric
zurück, als er gerade das Video für die Trauerfeier einer kürzlich verstorbenen Frau arrangierte. Videoporträt, so nannte er
das, ein Versuch, einer Sache etwas Renommee zu verleihen,
bei der es sich im Prinzip nur um einen besseren Diavortrag
handelte. Es hatte eine Zeit gegeben, in der weder Eric noch
irgendjemand, der ihn kannte, geglaubt hätte, dass eine derartige Karriere auf ihn wartete. Eigentlich hatte er immer noch
Probleme, es zu akzeptieren. Man konnte ein Leben leben und
niemals genau verstehen, wie man darin gelandet war. Teuflische Sache.
Hätte er soeben erst sein Filmstudium abgeschlossen, hätte er
sich vielleicht einreden können, dass dies einfach zum Überlebenskampf des Künstlers gehörte, eine Möglichkeit, die Rechnungen zu bezahlen, bis man den ersten großen Durchbruch
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schaffte. In Wahrheit waren zwölf Jahre vergangen, seit Eric
mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, zwölf Jahre. Zwei Jahre, seit er nach Chicago gezogen war, um der unvermeidlichen
Katastrophe seiner Zeit in L. A. zu entfliehen.
Auf seinem Höhepunkt – er war dreißig Jahre alt und erhielt
regelmäßig immer größere Aufträge – war seine Kameraführung von einem der erfolgreichsten Regisseure der Welt
öffentlich gelobt worden. Heute produzierte Eric Videos für
Abschlussfeiern und Hochzeiten, Geburts- und Jahrestage.
Und Beerdigungen. Unmengen Beerdigungen. Das war irgendwie zu seiner Nische geworden. Ein Geschäft wie seins
lebte von Mundpropaganda, und die Mundpropaganda für
Eric schien sich auf Beerdigungen zu konzentrieren. Seine
Kunden waren im Allgemeinen sehr zufrieden mit seinen Videos, aber diejenigen für Trauerfeiern begeisterten. Vielleicht
war er auf irgendeiner unbewussten Ebene stärker motiviert,
wenn seine Arbeit Toten galt. Die Last der Verantwortung
wog schwerer. Um die Wahrheit zu gestehen, arbeitete er intuitiver als bei allem anderen, wenn er ein Erinnerungsvideo
produzierte. Dann schien eine Muse die Arbeit zu übernehmen, ein innerer Impuls, der fast immer richtig lag.
Heute, während er vor dem vorstädtischen Beerdigungsinstitut stand, wo er eine Trauerfeier einleiten sollte, spürte er ein
ungewöhnliches Gefühl der Erwartung. Er hatte den ganzen
gestrigen Tag – fünfzehn Stunden am Stück – damit verbracht,
dieses Band vorzubereiten, einen Schnellschuss für die Familie
einer vierundvierzigjährigen Frau, die bei einem Unfall auf
dem Dan Ryan Expressway ums Leben gekommen war. Sie
hatten ihm Fotoalben und Notizbücher und ausgewählte Erinnerungsstücke überlassen, und er hatte sich an die Arbeit
gemacht, Bilder arrangiert und die Musikuntermalung geschaffen. Er nahm Bild für Bild und schnitt sie in die Fami10
lienvideos, dann kopierte er alles zusammen und unterlegte es
mit Musik; versuchte dem Ganzen Leben zu verleihen. Im
Allgemeinen schluchzten die Menschen, gelegentlich lachten
sie, und immer murmelten sie beim Anblick vergessener Momente und wertvoller Erinnerungen und schüttelten die Köpfe. Dann ergriffen sie Erics Hand und dankten ihm und staunten, wie genau er es getroffen hatte.
Eric besuchte nicht jede Trauerfeier, doch Eve Harrelsons Familie hatte ihn gebeten, heute zu kommen, und er hatte erfreut
zugesagt. Er wollte die Reaktion des Publikums auf dieses
Band sehen.
Es hatte am Vortag in seiner Wohnung an der Dearborn begonnen, als er auf dem Boden saß, den Rücken an die Couch
gelehnt, umgeben von Eve Harrelsons persönlichen Besitztümern, die er sortierte, studierte und auswählte. An irgendeinem Punkt dieses Vorgangs kehrte der alte Satz zu ihm
zurück, die Artefakte des Strebens, und er dachte erneut, wie
schön das klang. Darauf ging er, mit dem Satz als anfängliche
Motivation, einen Stapel bereits durchgesehener Fotos noch
einmal durch, mit dem Ziel, einen Hinweis auf Eve Harrelsons
Träume zu entdecken.
Die Fotos gehörten wirklich zur langweiligen Sorte – alle
Menschen darauf posierten und lächelten zu breit oder versuchten zu angestrengt, sorgenfrei und gleichmütig zu wirken.
Die gesamte Harrelson-Sammlung war fade. Sie waren eine
Foto-Familie, keine Video-Familie, und das war ein schlechter Anfang: Videos vermittelten Bewegung und Stimme und
Geist. Man konnte denselben Eindruck mit leblosen Fotografien erreichen, doch war das natürlich schwieriger, und die Alben der Harrelsons wirkten nicht sonderlich vielversprechend.
Er hatte beabsichtigt, die Präsentation auf Eves Kinder zu
konzentrieren – eine widerwillige Entscheidung, doch er
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glaubte, dass es funktionieren würde. Immerhin waren die
Kinder ihr Vermächtnis, was garantiert eine Saite bei Familie
und Freunden zum Klingen bringen würde. Doch als er den
Stapel Fotografien durchsah, hielt er abrupt beim Bild eines
roten Cottage inne. Auf dem Schnappschuss war kein Mensch
zu sehen, nur ein in tiefem Burgunderrot gestrichenes Nurdachhaus. Die Fenster lagen im Schatten, das Innere war nicht
zu erkennen. Kiefern säumten es auf beiden Seiten, und der
Bildausschnitt war so schmal, dass kein Hinweis auf die
Umgebung zu finden war. Während er auf das Foto starrte,
wuchs in Eric die Überzeugung, dass das Haus an einem See
stand. Nichts wies darauf hin, dennoch war er sich sicher. Es
stand an einem See, und könnte man den Ausschnitt erweitern, würde man sehen, wie farbenfrohes Herbstlaub hinter
den Kiefern aufleuchtete, deren Umrisse sich in der Oberfläche des vom Wind gekräuselten Wassers spiegelten.
Dieser Ort war Eve Harrelson wichtig gewesen. Sehr wichtig.
Je länger er das Foto betrachtete, desto mehr verfestigte sich
seine Überzeugung. Er spürte ein Prickeln an seinen Armen
und im Nacken und dachte: Sie hat dort mit jemandem geschlafen. Und es war nicht ihr Ehemann.
Eine verrückte Vorstellung. Er schob das Bild zurück in den
Stapel und machte weiter, und hinterher, nach Hunderten von
Fotografien, stellte er fest, dass nur ein einziges von dem Haus
darunter war. Der Ort war eindeutig nichts Besonderes gewesen; man schoss nicht nur ein einziges Foto von einem Ort,
den man liebte.
Neun Stunden voller Frustration später, in denen sich das Projekt in keiner Weise so anließ wie von ihm gewollt, fand Eric
sich erneut mit diesem Foto in der Hand, mit derselben inneren Gewissheit. Das Haus war etwas Besonderes. Das Haus
war heilig. Und so baute er ihn ein, diesen einzigen Schnapp12
schuss eines leeren Gebäudes, schnitt ihn in die Abfolge und
spürte, wie die gesamte Präsentation Halt bekam, als wäre dieses Foto der Grundpfeiler.
Jetzt würde das Video gezeigt werden, das erste Mal, dass die
Familie es zu Gesicht bekam, und während Eric sich einredete, dass seine Neugier ganz allgemein war – man wollte immer
wissen, was die Kunden von der Arbeit hielten –, hatte er im
Hinterkopf nur dieses eine Foto.
Er betrat den Raum zehn Minuten vor dem geplanten Beginn
der Trauerfeier und nahm neben DVD-Player und Projektor
Platz. Dank einer Xanax und einer Inderal war er heiter und
unbeteiligt. Er hatte seinem neuen Arzt versichert, dass er das
Rezept nur wegen des allgemeinen Stresses, seit Claire ihn
verlassen hatte, brauchte, aber in Wahrheit nahm er die Pillen
jedes Mal, wenn er seine Arbeit vorführen musste. Professionelle Nerven, dachte er gern. Zu schade, dass er diese Nerven
nicht gehabt hatte, als er noch echte Filme gedreht hatte. Die
allgegenwärtige Versagensangst machte die Tabletten notwendig, der kalte Hauch der Schande.
Eve Harrelsons Ehemann Blake, ein Mann mit hartem Gesicht, dichtem schwarzem Haar und Gleitsichtbrille, betrat als
Erster das Podium. Die Kinder des Paares saßen in der ersten
Reihe. Eric versuchte, sich nicht auf sie zu konzentrieren. Es
war ihm immer unangenehm, ein solches Band zu schneiden,
wenn Kinder zum Publikum gehörten.
Blake Harrelson richtete einige Dankesworte an die Anwesenden und verkündete dann, dass sie mit einem kurzen Erinnerungsfilm beginnen würden. Er erwähnte Eric weder, noch
wies er irgendwie auf ihn hin, nickte nur einem Mann am
Lichtschalter zu, während er zur Seite trat.
Showtime, dachte Eric, als die Beleuchtung erlosch, und
drückte auf Play. Der Projektor war bereits eingestellt und
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ausgerichtet, und die Leinwand füllte sich mit einer Nahaufnahme von Eve und ihren Kindern. Er hatte mit einigen fröhlichen Schnappschüssen eröffnet – das war stets das Richtige
für einen traurigen Anlass wie diesen –, und die Begleitmusik
wurde umgehend mit zustimmendem Gelächter belohnt. Unter den von der Familie beigesteuerten Lieblings-CDs hatte
Eric eine Aufnahme von Eve entdeckt, auf der sie Klavier
spielte, während ihre Tochter für irgendeine Musikaufführung
sang, der Einsatz von Beginn an verfehlt und dann immer
schlimmer werdend, und in der Mitte konnte man hören, wie
beide mit dem Lachen kämpften.
So ging es einige Minuten weiter, abgebrochenes Lachen und
Tränen und Schultertätscheln mit geflüsterten Trostworten.
Eric erhob sich und sah zu und dankte im Stillen welchem
Chemiker auch immer für die beruhigenden Drogen in seinem
Blutkreislauf. Falls es einen intensiveren Druck gab, als zu beobachten, wie eine trauernde Gruppe wie diese den eigenen
Film aufnahm, konnte er ihn sich nicht vorstellen. Oh, warte,
doch, konnte er – einen richtigen Film zu drehen. Das war
auch Druck gewesen. Und er war darunter zusammengebrochen.
Das Bild des Cottage lag auf sechs Minuten, zehn Sekunden in
dem neun Minuten langen Streifen. Die meisten Bilder zeigte
er höchstens fünf Sekunden, doch dem Cottage hatte er das
Doppelte eingeräumt. Deshalb war er so neugierig auf die
Reaktion.
Die Musik änderte sich ein paar Sekunden, ehe das Cottage
erschien, wechselte von einer peppigen Queen-Nummer –
Eve Harrelsons Lieblingsband – zu Ryan Adams mit einer
Coverversion von Oasis’ »Wonderwall«. Die Familie hatte
Eric das Oasis-Album überlassen, eine weitere von Eves Lieblingsbands, aber bei der abschließenden Bearbeitung hatte er
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deren Version durch die von Adams ersetzt. Sie war langsamer, trauriger, unheimlicher. Sie passte.
In den ersten Sekunden konnte er keine Reaktion feststellen.
Er stand und musterte die Menge, sah jedoch kein echtes
Interesse in den Mienen, nur Geduld und, in wenigen Fällen,
Verwirrung. Dann, kurz bevor das Bild wechselte, fiel sein
Blick auf eine blonde Frau in schwarzem Kleid am Ende der
dritten Reihe. Sie hatte sich vollständig umgedreht und starrte
nach hinten ins grelle Licht des Projektors, auf der Suche nach
ihm. Etwas in ihrem Blick veranlasste ihn, zur Seite zu treten,
hinter das Licht. Das Bild wechselte, ebenso die Musik, und
immer noch starrte sie. Dann sagte der Mann neben ihr etwas
und berührte ihren Arm, und sie wandte sich mit deutlichem
Widerstreben zurück zur Leinwand. Eric stieß die Luft aus,
spürte erneut diese Spannung im Nacken. Er war nicht verrückt. Mit diesem Bild stimmte etwas nicht.
Den Rest des Films nahm er kaum wahr. Als er endete, stöpselte Eric die Geräte aus und packte zusammen, um zu verschwinden. Das hatte er noch nie getan – er wartete stets
respektvoll das Ende der Feier ab und sprach dann mit der
Familie –, aber heute wollte er einfach raus, wollte zurück an
die Sonne und die frische Luft und fort von der Frau mit dem
schwarzen Kleid und dem intensiven Starren.
Er schlüpfte durch die Flügeltür, den Projektor auf dem Arm,
und war auf halbem Weg durch das Foyer in Richtung Ausgang, als eine Stimme hinter ihm sagte: »Warum haben Sie das
Bild genommen?«
Sie war es. Die Frau in Schwarz. Er drehte sich zu ihr um,
setzte sich erneut diesem Starren aus, das, wie er nun erkennen
konnte, aus tiefblauen Augen kam.
»Das Cottage?«
»Ja. Warum haben Sie das genommen?«
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Er befeuchtete seine Lippen, rückte den Projektor zurecht.
»Ich bin nicht sicher.«
»Bitte lügen Sie mich nicht an. Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie
es nehmen sollen?«
»Niemand.«
»Ich will wissen, wer Ihnen gesagt hat, dass Sie es nehmen sollen.« Ihre Stimme glich einem Zischen.
»Niemand hat mit mir über das Bild gesprochen. Ich ging davon aus, dass die Leute mich für verrückt halten würden, weil
ich es eingebaut habe. Es ist einfach ein Haus.«
»Wenn es einfach nur ein Haus ist«, sagte sie, »warum wollten
Sie es dann einbauen?«
Sie war Eve Harrelsons jüngere Schwester, erkannte er. Sie
hieß mittlerweile Alyssa Bradford, und sie war auf mehreren
der Bilder, die er verwendet hatte. Im Saal hinter ihm sprach
jemand, erinnerte an Eve, aber diese Frau schien das nicht
im mindesten zu interessieren. Ihre gesamte Aufmerksamkeit
galt ihm.
»Es war irgendwie besonders«, sagte er. »Besser kann ich das
nicht erklären. Manchmal habe ich so ein Gefühl. Es war das
einzige Bild von diesem Ort, und es sind keine Menschen darauf. Ich fand das ungewöhnlich. Je länger ich es betrachtete …
Ich weiß nicht, ich dachte einfach, es gehört dazu. Es tut mir
leid, wenn ich Sie verletzt habe.«
»Nein, darum geht es nicht.«
Einen Moment herrschte Stille, während sie beide draußen
standen und im Raum die Feier weiterging.
»Was bedeutet dieser Ort?«, fragte er. »Und warum sind Sie
die Einzige, die darauf reagiert?«
Darauf warf sie einen Blick über die Schulter, als wollte sie
sich vergewissern, dass die Türen geschlossen waren.
»Meine Schwester hatte eine Affäre«, antwortete sie leise, und
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Eric spürte, wie etwas Eisiges, Spinnenhaftes in seiner Brust
zuckte. »Ich bin die Einzige, die davon weiß. Zumindest hat
sie das gesagt. Mit einem Mann, mit dem sie während des Studiums ausgegangen war und während einer harten Phase mit
Blake … Er ist ein Scheißkerl, einige Dinge, die er getan hat,
werde ich ihm niemals vergeben, und ich bin der Meinung, sie
hätte ihn verlassen sollen. Aber unsere Eltern waren geschieden, und es war eine hässliche Scheidung, und das wollte sie
ihren Kindern nicht antun.«
Diese Art Enthüllungen war absolut nicht ungewöhnlich.
Eric hatte sich daran gewöhnt, dass Familienangehörige mehr
preisgaben, als ratsam schien. Die Trauer ließ die Hemmschwellen sinken, und Geheimnisse drängten ans Tageslicht,
und manchmal fiel das Fremden gegenüber leichter. Vielleicht
immer.
»Das Cottage ist in Michigan«, sage sie. »Irgendein kleiner See
auf der Upper Peninsula. Sie hat dort eine Woche mit diesem
Mann verbracht, dann kam sie zurück und hat ihn nie wiedergesehen. Wegen der Kinder, wissen Sie, nur wegen ihnen ist sie
geblieben. Denn sie hat ihn geliebt. Das weiß ich.«
Was konnte er dazu sagen? Eric rückte wieder den Projektor
zurecht, schwieg.
»Sie hat keine Bilder von ihm aufgehoben«, sagte Alyssa Bradford, in deren Augen mittlerweile Tränen standen. »Sie hat
auch alle Fotoalben zerrissen, die sie noch aus dem College
hatte, und jedes Bild verbrannt, auf dem er zu sehen war. Nicht
aus Wut, sondern weil sie das tun musste, wenn sie bleiben
wollte. Ich war dabei, als sie sie verbrannt hat, und sie hat nur
dieses eine behalten, weil darauf niemand zu sehen war. Das
hat sie als einzige Erinnerung an ihn behalten.«
»Es schien dazuzugehören«, wiederholte Eric.
»Und dieser Song«, fuhr sie fort, ihr Blick wieder bohrend,
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nachdem sie die Tränen weggezwinkert hatte. »Warum in aller
Welt haben Sie diesen Song ausgesucht?«
Sie haben sich dabei geliebt, dachte er. Vielleicht beim ersten
Mal, und falls nicht, dann beim besten Mal, demjenigen, an
das sie sich am längsten erinnerte, demjenigen, an das sie kurz
vor ihrem Tod zurückdachte. Sie haben sich bei diesem Song
geliebt, und er griff in ihre Haare, und sie bog den Kopf nach
hinten und stöhnte in sein Ohr, und hinterher lagen sie nebeneinander und lauschten dem Wind, der um das Cottage mit der
tiefroten Farbe heulte. Es war warm und windig, und sie dachten, dass es bald regnen würde. Sie waren sich sicher.
Die Frau starrte ihn an, diese Frau, die der einzige lebende
Mensch war, der von der Affäre ihrer toten Schwester wusste,
von der Woche, die sie in dem Cottage verbracht hatte. Zumindest der einzige lebende Mensch außer dem Liebhaber.
Und jetzt Eric. Er erwiderte ihren Blick und zuckte mit den
Achseln.
»Er fühlte sich einfach richtig an, das ist alles. Ich versuche
immer, die Musik der Stimmung anzupassen.«
Und das tat er auch, bei jedem Projekt. So viel stimmte. Alles
andere, dieses sonderbare, aber absolute Wissen um die Bedeutung des Songs, konnte nicht mehr als ein Streich sein, den
sein Verstand ihm spielte. Jede andere Annahme wäre absurd.
Äußerst absurd.
Eve Harrelsons Schwester gab ihm einen Hundertdollarschein, ehe sie wieder zur Trauerfeier zurückkehrte, erneut
Tränen in den Augen. Eric war nicht sicher, ob als Trink- oder
Schweigegeld, doch er fragte nicht. Sobald er seine Ausrüstung verstaut hatte und hinter dem Steuer des Acura MDX
saß, den Claire bezahlt hatte, transferierte er den Schein von
seiner Tasche in sein Portemonnaie. Das Zittern seiner Hände
versuchte er zu ignorieren.
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