Die Macht der Trommeln - theopenunderground.de
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Die Macht der Trommeln Die kulturelle Bewegung der schwarzen Karnevalsgruppen aus Salvador/Bahia in Brasilien Das Beispiel der Grupo Cultural Olodum Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades der Doktorin der Philosophie am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Freien Universität Berlin Vorgelegt von Petra Schaeber Berlin, im Mai 2003 Am Milchberg 22 D-21640 Horneburg Tel/Fax: 04163/2233 Erstgutachter: Prof. Dr. Jürgen Zimmer Zweitgutachter: Prof. Dr. Christoph Wulf Datum der mündlichen Prüfung: 14.07.2003 2 Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst und die benutzten Hilfsmittel und Quellen kenntlich gemacht habe. Berlin, den 15 Mai 2003 3 Haiti Quando você for convidado pra subir no adro Da Fundação Casa de Jorge Amado Pra ver do alto a fila de soldados, quase todos pretos Dando porada na nuca de malandros pretos De ladrões mulatos e outros quase brancos Tratados como pretos Só pra mostrar os outros quasi pretos (Que são quase todos pretos) Como é que pretos, pobres e mulatos E quase brancos, quase pretos de tão pobres são tratados E não importa se olhos do mundo inteiro Possam estar por um momento voltados para o largo Onde os escravos eram castigados E hoje um batuque, um batuque Com a pureza de meninos uniformizados de escola secundária em dia de parada E a grandezza épica de um povo em formação Nós atrai, nos deslumbra e estimula Não importa nada : nem o traço do sobrado Nem a lente do Fantástico, nem o disco de Paul Simon Ninguém, ninguém é cidadão Se você for ver a festa do Pelo, e se você não for Pense no Haiti, reze pelo Haiti O Haiti é aqui, o Haiti não é aqui E na TV se você vir um deputado em pânico mal dissimulado Diante de qualquer, mas qualquer mesmo, qualquer, qualquer Plano de educação que pareça fácil Que pareça fácil e rápido E vá representar uma amaça de democratização Do ensino de primeiro rau E se esse mesmo deputado defender a adoção da pena capital E o venerável cardeal disser que vê tanto espírito no feto E nenhum no marginal E se, ao furar o sinal, o velho sinal vermelho habitual Notar um homen mijando na esquina da rua sobre um Saco brilhante de lixo do Leblon E ao ouvir o silênzio sorridente de Sao Paulo Diante da chacina 111 presos indefesso, mas presos são quase todos pretos Ou quase pretos, ou quase brancos, quase pretos de tão pobres E pobres são como podres e todos sabem como se tratam os pretos E quando você for dar uma volta no Caribe E quando for trepar sem camisinha E apresentar sua participação intelligente no bloqueio a Cuba Pense no Haiti, reze pelo Haiti O Haiti é aqui, o Haiti não é aqui Gilberto Gil/ Caetano Veloso 4 Wenn Du eingeladen wirst auf den Balkon Der Stiftung Casa Jorge Amado Um von oben die Reihe der Soldaten zu sehen, fast alle schwarz Die den schwarzen Gaunern Prügel in den Nacken verpassen Den mulatten-farbenen Dieben und anderen fast Weißen Die wie die Schwarze behandelt werden Nur um den anderen fast Schwarzen zu zeigen (Die fast alle Schwarze sind) Wie es so ist, wie Schwarze, Arme und Mulattos Und fast Weiße, fast schwarz vor lauter Armut, so behandelt werden Und es ist egal ob die Augen der ganzen Welt Für einen Moment auf diesen Platz gerichtet sind Auf dem die Sklaven ausgepeitscht wurden Und heute ein Trommeln, ein Trommeln Mit der Reinheit von uniformierten Kindern der weiterführenden Schulen am Paradetag Und die epische Größe eines sich bildenden Volkes Zieht uns an, wickelt uns ein und regt uns an Es ist überhaupt nicht wichtig: Nicht die Silhouette der Kolonialhäuser Nicht die Linse des Fantástico, nicht die Platte von Paul Simon Niemand, niemand ist Bürger Wenn Du gehst das Fest auf dem Pelô zu sehen, und wenn Du nicht gehst Denke an Haiti, bete für Haiti Das Haiti ist hier, das Haiti ist nicht hier. Und im Fernsehen, wenn Du einen Abgeordneten in schlecht überspielter Panik siehst Gegenüber irgendeines, aber wirklich irgendeines, irgendeines Bildungsplanes, der leicht erscheint Der leicht und schnell erscheint Und eine Bedrohung durch seine Demokratie darstellt Der Grundschulbildung Und wenn dieser selbe Abgeordnete die Todesstrafe befürwortet Und der erhabene Kardinal sagt, er sehe soviel religiösen Geist im Fötus Und keinen im Kriminellen Und wenn beim Überfahren der roten Ampel, die alte gewohnte rote Ampel Du einen Mann bemerkst, der an der Straßenecke pinkelt auf einen Leuchtenden Müllsack in Leblon Und wenn Du das lächelnde Schweigen São Paulos hörst Gegenüber des Abschlachtens von 111 wehrlosen Gefangenen, aber die Gefangenen sind fast alles Schwarze Oder fast schwarz, oder fast weiß, fast schwarz vor lauter Armut Und Arme sind wie Faulige, und alle wissen, wie man die Schwarzen behandelt Und wenn Du eine Runde drehst in der Karibik Und wenn Du ohne Kondom vögelst Und deine kluge Teilnahme an der Blockade gegen Kuba vertrittst Denke an Haiti, bete für Haiti Haiti ist hier, Haiti ist nicht hier 5 INHALTSVERZEICHNIS Vorwort und Danksagung 10 Teil I 1. Einleitung 1.1 „Do you have blacks, too?“ – Problemstellung 1.2 Forschungsstand 1.3 Konzeption und Struktur 2. Rassismus und „schwarze“ Kultur Theoretische Überlegungen 2.1 Rassismus 2.1.1 Der naturwissenschaftliche Rassismus 2.1.2 Die moderne Rassismusdiskussion 2.2 („Schwarze“) Kultur und Identität 2.2.1 Kultur und Kulturelle Identität - auf den Spuren von Pierre Bourdieu und Clifford Geertz 2.2.2 Schwarze Kultur und Identität 15 15 22 25 28 28 29 33 36 37 40 3. Afro-brasilianische Kultur – seit 100 Jahren im Blick der Wissenschaft 3.1 Afrikaner in Brasilien – ein Problem für die Elite 3.2. Das afrikanische Erbe – Zeichen für Toleranz 3.3 Der Fall aus dem Paradies – die Studien der UNESCO 3.4 Rassismus – ein Tabu, afro-brasilianische Kultur geduldet 3.5 Rassenbeziehungen aus neuen Perspektiven 3.6 Der brasilianische Karneval als Forschungsthema 46 46 47 49 52 53 56 4. Der Weg der Forschung – Fragestellungen und Methoden 4.1 Hypothesen und zentrale Forschungsfragen 4.2 Zwischen Konzepten und Emotionen – Instrumente 4.3 Schwierigkeiten und Besonderheiten der Feldforschung 60 60 63 68 5. Über 350 Jahre Sklaverei brasilianische Geschichte der Rassenbeziehungen 5.1 Sklaverei – Rückgrat der Kolonialgesellschaft 5.2 Schwarzer Widerstand zwischen Verhandlung und Konflikt 5.2.1 Zumbi und die Quilombos von Palmares 5.2.2 „Tod den Weißen“ – Revolten und Aufstände 5.2.3 Trommeln im Kirchhof- die katholischen Bruderschaften 5.3 Der lange Weg zum goldenen Gesetz 73 73 78 79 83 87 90 6- Die drei „C“ afro-brasilianischer Kultur – Carnaval, Capoeira, Candomblé 6.1 Land des Karnevals 6.1.1 Die wilden Sitten des Entrudo 6.1.2 Der Große und der Kleine Karneval 6.1.3 Afrikanisierung des Karneval 6.1.4 „Glanz und Gloria“ – der moderne Karneval der Samba-Schulen 95 95 96 97 98 Teil II 102 6 6.2 6.3 7. 6.1.5 “Hinter dem Trio Elétrico”- Karneval in Salvador da Bahia Die Blocos de Indio Capoeira – Tanz der Kämpfer Candomblé – die Religion der afrikanischen Götter „Kao Kabicilê“- „Kommt den König zu sehen“- das Fest Brasilianische Schwarzenbewegung - zwischen Anpassung und Abgrenzung 7.1 Die Nation wird aufgehellt 7.2 Assimilierung zur Überwindung der Rassenschranken 7.3 Frente Negra Brasileira - die erste politische schwarze Vereinigung 7.4 Kurze Blüte zwischen den Diktaturen: Teatro do Negro 7.5 Die politische Vertretung: Movimento Negro Unificado (MNU) 105 108 113 119 120 122 125 127 130 8. Racismo Cordial – höflicher Rassismus 134 8.1 Lass Deine Farbe nicht unbemerkt durchgehen – Schwierigkeiten bei der Statistik 135 8.1.1 Geschichte des Zensus 137 8.1.2 Eigen- und Fremdeinschätzung 138 8.1.3 Braun („morena“) ist die Farbe Brasiliens 139 8.2 Die soziale und wirtschaftliche Situation der Afro-Brasilianer 142 8.2.1 Brasilien 142 8.2.2 Arbeitsmarkt und Einkommen 144 Exkurs: Integration der Afro-Brasilianer ins Wirtschaftsleben -„Empregada doméstica“- die Hausangestellte 8.2.3 Bildung – eines der zentralen Probleme der Afro-Brasilianer 149 8.2.4 Gewalt 154 8.3 „mit gepflegtem Auftreten“ - verdeckter Rassismus 156 8.3.1 Das europäische Ideal 156 8.3.2 Die Scham des Vorurteils 158 8.3.3 Die wichtigen Zwischentöne 159 8.3.4 Zwischen Recht und Ordnung 160 8.3.5 In nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen 162 8.4 Auf der Suche nach einem Weg für Brasilien 164 Teil III 9. „Bahia ist zu Jamaika geworden“ – die kulturelle Bewegung der Blocos Afros 9.1 Bahia-schwarzes Herz Brasiliens 9.2 Musik als Waffe - Re-Afrikanisierung des Karnevals 9.2.1 Der Bezug zu Afrika und die Konstruktion der Identität 9.2.2 Das Karnevalsthema 9.2.3 Die Musik- und Schönheits-Festivals 9.2.4 Die Rhythmen 165 165 170 171 172 173 174 7 9.3. Die verschiedenen Stämme 9.3.1 „Der Schönste der Schönen“ - Ilê Aiyê Der Auszug aus Curuzu am Samstagabend 9.3.2 Die Fischer von der Lagune - Malê Debalê 9.3.3 Olodum do Pelô 9.3.4 Ara Ketu – „Mehr als gut“ 9.3.5 Bahia- Jamaika: „Muzenza, der Rastafari-Kämpfer“ 177 178 185 187 191 195 10. Olodum vom Pelourinho 10.1 Der Pelourinho, wie er früher war – persönliche Geschichten 10.2 Die Benção am Dienstag 10.3 Der Pelourinho ein schwarzer Platz Die Sonntagsprobe auf dem Pelourinho 10.4 Die Afrikan Bar – der Auftritt am Dienstag In der Afrikan Bar 10.5 Die Restaurierung des Pelourinho-Viertels 199 199 202 204 11. Die Musik der Blocos Afros – schwarze transatlantische Musik 11.1 Brasilien – Land der Musik 11. 2 Analyse der musikalischen Entwicklung Olodums 11.2.1 Starke schwarze Musik – die ersten Platten 11.2.2 Vom Kämpfer zum Romantiker 11.3 Die Faszination des Ruhms 217 217 219 220 228 241 12. Olodum im Karneval 12.1 Karneval – das Straßenfest der Superlative 12.2 Bahia hat gewonnen – der Karneval 1993 12.3 Olodum im Karneval Die Schätze Tut-Ench-Amuns 12.4 „Eu sou Olodum – quem tu és?“ – Karnevalsteilnehmer 245 245 247 248 13. 208 212 252 Die Bildung , die von den Trommeln kommmt – Escola Criativa Olodum 13.1 Das Raunen der Trommeln 13.2 Niemand wird als Rassist geboren – die interethnische Pädagogik 13.3 Die Escola Criativa Olodum 14. Musik, Theater, Literatur – die kultur-politische Arbeit Olodums 14.1 Schwarzes Theater - Bando de Teatro Olodum 15. „Freiheit für Mandela“ – Olodum als Teil der Schwarzenbewegung 15.1 Malcolm X und Nelson Mandela – die politischen Idole 15.2 “They don´t care about us“- Video-Clip mit Michael Jackson 260 260 262 266 271 272 . 16. Olodum – ein schwarzes Kultur-Unternehmen 16.1 Das Kultur-Unternehmen 16.1.1 Die Boutique Olodum 16.1.2 Die Fábrica de Carnaval Olodum 16.1.3 Die Marke Olodum - unverkennbar und leicht identifizierbar 281 281 288 292 292 293 294 296 8 16.2 Ein „schwarzes“ Unternehmen? 16.2.1 Die Direktoren-Runde 16.2.2 Die Dimensionen des Kultur-Unternehmens 298 298 300 17. Vom Karneval zur Quoten-Diskussion 17.1 Afro-brasilianische Kultur im Zeichen des Black Atlantic 17.2 Olodums Weg zum Erfolg 17.3 Brasilien – Land einer besseren Zukunft für Afro-Brasilianer 305 305 308 311 18. Literaturverzeichnis 316 19. Discographie 333 20. Anhang 20.1 20.2 20.3 20.4 334 334 341 344 346 Verzeichnis der Interviews und Fragebögen Ausgewählte Gesetze und Feierlichkeiten Lebenslauf Abbildungsverzeichnis 9 Vorwort Wie bist Du überhaupt auf dieses Thema gekommen? wurde ich oft gefragt -und fand nur schwer eine kurze, den Fragenden zufriedenstellende Antwort: Zum ersten Mal kam ich im August 1987 nach Bahia. Damals studierte ich für ein Jahr an der katholischen Universität (Pontifícia Universidade Católica, abgekürzt PUC) in Rio de Janeiro. Salvador, so hatte ich in Rio gehört, sei das „schwarze Brasilien“, geprägt von der afrikanischen Kultur der Nachfahren der Sklaven. Dort gäbe es ein Stadtviertel, in welches sich kein Weißer wage, mit Bars, in denen Reggae und Soul-Musik gespielt würden. Auch einer der Hits des letzten Sommers kam aus Bahia: Das Lied „Faraó“, in dem die Pyramiden Ägyptens und eben jenes Viertel Pelourinho besungen wurden. Das alles klang, selbst in Rio, sehr exotisch. Nie vergessen werde ich die ersten Tage in Salvador: der Blick aus dem heruntergekommenen Hotelzimmer an der Praça Anchieta in der historischen Altstadt auf die schräg gegenüber liegende Barockkirche São Francisco mit ihrem prächtigen goldbelegten Altar, die verfallenden Häuser der Altstadt mit ihrem abschüssigen Kopfsteinpflaster, die bettelnden Kinder, die ausgezehrten Prostituierten und traurigen Gestalten, den Klang des berimbaus, des Musikbogens beim Kampf-Tanz capoeira1, und das mulmige Gefühl nach Einbruch der Dunkelheit auf den Straßen. Wann immer wir uns über das Terreiro de Jesus hinauswagen wollten, warnte jemand: „Geht da nicht hin, das ist zu gefährlich.“ Zu dieser Zeit war das gesamte Gebiet außer dem Terreiro de Jesus, der Rua Alfredo Brito und dem Pelourinho für Außenstehende tabu - und auch hier hieß es: aufpassen. Als sich unser bahianischer Begleiter endlich einmal bereit erklärte, mit uns zum Pelourinho zu gehen, mußten wir die Ringe ablegen und er nahm die Wertsachen an sich. Und dann sahen wir sie: Schon auf der Hälfte der ladeira, der steilen Gasse, hatten wir ein Rumoren gehört, das schrille Quietschen der Lautsprecheranlage. Am Kopf des Platzes stand eine Handvoll von Jugendlichen mit vielen großen und einigen kleineren Trommeln angeführt von einem energiegeladenen Schwarzen mit Rasta-Haaren. Das tiefe Wummern der Trommeln ging in den Bauch. Den Sänger, der auf einem wackligen Gerüst balancierte, konnte man wegen der schlechten Anlage kaum verstehen. Wir blieben ein Weilchen, während unser Begleiter besorgt das andere Publikum musterte - viele Zuschauer aus dem Viertel. Dann spielte die Gruppe ein Lied, das wir bereits kannten: „Faraó“. Das Lied, so erklärte uns unser Begleiter, sei von dieser Gruppe komponiert worden und im vergangenen Karneval wäre es der größte 1 Zur Bedeutung des Kampf-Tanzes Capoeira, s. Kapitel 6. 10 Erfolg gewesen. Die Handvoll Trommler sei ein bloco afro, ein Afro-Block, namens „Olodum“, aber da es bereits dunkel werde, sollten wir besser gehen... Zum Ende meines Aufenthalts bei dem ich Material für meine Diplomarbeit über Favelas gesammelt hatte, jährte sich im Mai 1988 der 300. Jahrestag des „Lei Aúrea“, des „Goldenen Gesetzes“ mit dem die Sklaverei offiziell abgeschafft wurde. Die Tageszeitungen und Magazine berichteten anläßlich dieses Datums in großen Reportagen über die Situation der schwarzen2 Brasilianer. Nicht eine versäumte es, ein Kapitel Salvador und der „neuen schwarzen Musikbewegung“ zu widmen. Das Lied „Faraó“ hatte die Aufmerksamkeit auf das, was sich in Salvador tat, gelenkt. Stolze, schöne schwarze Menschen waren in den Fotos, welche die Berichte begleiteten, abgebildet. Mit Rasta-Haaren, bunten, afrikanischanmutenden Kleidern und kämpferischen Statements gegen den Rassismus. Im Mittelpunkt vieler Reportagen tauchte immer wieder ein Name auf: Olodum. Rassismus in Brasilien? Hatte nicht gerade das harmonische Zusammenleben der Rassen Stefan Zweig zu seiner wunderbaren, emotionalen Beschreibung Brasiliens bewogen? Und war nicht auch in allen Reisebeschreibungen, die ich über das Land gelesen hatte, immer wieder die Rede gewesen vom Rassenparadies Brasilien? „Dieses Zentralproblem, das sich jeder Generation ... aufzwingt, ist die Beantwortung der allereinfachsten und doch notwendigsten Frage: wie ist auf dieser Erde ein friedliches Zusammenleben der Menschen trotz aller disparaten Rassen, Klassen, Farben, Religionen und Überzeugungen zu erreichen? ... Keinem Lande hat es sich durch eine besonders komplizierte Konstellation gefährlicher gestellt als Brasilien, und keines hat es - und dies dankbar zu bezeugen, schreibe ich dieses Buch - in so glücklicher und vorbildlicher Weise gelöst wie Brasilien“ (Zweig, 1989, 12). Auch ich war hierher gekommen und zunächst dem Schein des harmonischen Miteinander der Rassen erlegen, gab es doch auf den ersten Blick keine offensichtlichen Schranken, keine Gesetze zu Segregation und Apartheid wie in den USA oder Südafrika: Menschen aller Hautfarben beim Bier an der Theke des boteco, der typischen Bar an der Ecke, Kinder mit den unterschiedlichsten Hautschattierungen Hand in Hand auf dem Schulweg in der gleichen Schuluniform, keine Schilder, die Parkbanken oder Restaurants nur für Weiße markieren. Erst nach einer Weile schärfte sich mein Blick für die unterschiedliche soziale Struktur der brasilianischen Gesellschaft und die viel feineren Unterschiede und Codexe, die Menschen 2 Zur Benutzung der Begriffe „schwarz“, „Afro-Brasilianer“ etc. s. im Kapitel 1. 11 unterschiedlicher Hautfarbe diese ganz unterschiedliche sozialen Plätze in der brasilianischen Gesellschaft zuordnen. Die überwiegende Mehrheit der städtischen Müllabfuhr hat eine ebenso dunkle Hautfarbe, wie die Hausmädchen und Dienstboten, während fast alle Ärzte, Juristen oder Politiker offensichtlich europäischer Abstammung sind. In manchen Restaurants und Clubs werden schwarze Brasilianer einfach nicht bedient, weil sie nicht „Mitglied“ sind und in den feinen Hochhäusern der Mittel- und Oberschicht werden sie vom - oft ebenfalls dunkelhäutigen - Portier zur Benutzung des Dienstbotenaufzugs angewiesen. Mich faszinierte dieser Widerspruch, diese vielfältigen Ebenen von Realität, die sich einem einfachen Erklärungsmuster entzogen. Dazu kam die Neugier das Unbekannte, diese fremde Kultur Bahias, kennenzulernen. Was ich gesehen, gehört, geschmeckt und gefühlt hatte, hatte mich begeistert und bereits in seinen Bann gezogen. Die Trommeln auf dem Platz mitten in der verfallenen Altstadt Salvadors gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Mit dieser Arbeit möchte ich einen Beitrag zum Verständnis der vielfältigen Problematiken einer von einem verdeckten Rassismus geprägten Gesellschaftsstruktur leisten. Dabei spielt die Nutzung der lange Zeit unterschätzten Möglichkeiten von Kultur als Überlebensstrategie und Integrationsform gesellschaftlich marginalisierter Gruppen in modernen, urbanen Zusammenhängen eine herausragende Rolle. Die kulturellen Manifestationen in Bahia sind entscheidend für die Veränderungen in der Rassismusdiskussion in Brasilien. Welche Schlüsse können wir in Deutschland aus diesen Erfahrungen ziehen? Rassismus, Ghettoisierung, Subkulturen, immer größere soziale Gegensätze und Ausschluss ganzer Bevölkerungsteile sind Themen, die uns die nächsten Jahre beschäftigen werden. Es gibt viele Wege, die zum Ziel führen und dies gilt im besonderen für den Abschluss dieser Arbeit. Ich möchte an dieser Stelle all denen danken, die mir Vertrauen entgegen gebracht haben und mich bei meinem Vorhaben bestärkt haben, allen voran meinen Doktorvätern Herrn Prof. Dr. Jürgen Zimmer und Herrn Prof. Dr. Christoph Wulf. Dank auch den Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls, insbesondere Stefanie Holyst, und des Promotionsbüros der Freien Universität Berlin, die mir über die bürokratischen Hürden hinweghalfen. Die Durchführung der Feldforschungen für diese Arbeit wäre ohne die großzügige Förderung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der mir in Kooperation mit der brasilianischen Partnerorganisation Coordenação de Aperfeiçoamento de Pessoal de Nível Superior (CAPES) ein 18-monatiges Stipendium gewährte, nicht möglich gewesen. Beiden Institutionen möchte ich an dieser Stelle für das in mich gesetzte Vertrauen danken. Dank 12 auch an Herrn Dr. Johannes Augel und seine Frau Moema für die Unterstützung in der Anfangsphase meines Vorhabens. In Salvador wurde ich von dem der bundesstaatlichen Universität (Universidade Federal da Bahia UFBA) Centro de Estudos Afro-Orientais (CEAO) aufgenommen und konnte bei allen Problemen mit der Unterstützung der jeweiligen Leiter, Dr. Júlio Braga und Jeferson Bacelar, rechnen. Ohne die fruchtbaren Diskussionen und anregenden Kritiken meiner Forschungskollegen und -freunde des Projeto S.A.M.BA (Sócio-Antropologia da Música na Bahia), insbesondere Dr. Livio Sansone und Dr. Angela Lühning, sowie Milton Moura, Antônio Godi, Dr. Goli Guerreiro, Ari Lima und Suylan Midley wäre diese Arbeit sicherlich weniger spannend gewesen. Ich danke den Mitgliedern Olodums, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre, denn sie haben mir einen Einblick gegeben, nicht nur in eine mir fremde Kultur und Problematik, sondern auch in ihr Leben, ihre Schwierigkeiten und Widersprüche, ihre Freuden und Ängste. Herzlichen Dank stellvertretend für alle anderen an João Jorge Rodrigues und Cristina Rodrigues, sowie an Neguinho do Samba für das, was sie mit ihren Träumen und Trommeln für viele Jugendliche in Gang gesetzt haben. Auch den vielen anderen Angehörigen der bahianischen „schwarzen Szene“ - der schwarzen Kulturvereinigungen, der Blocos Afros und afoxés3, den Capoeira-Meistern und - Schülern, den Mitgliedern der politischen Schwarzenbewegung des Movimento Negro Unificado und insbesondere den Anhängern der afro-brasilianischen Religion des candomblé4, - möchte ich für alle Gespräche und Informationen danken. Bei meinen Freunden, Martin Wilke und Jan Stüdemann in Berlin, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen, möchte ich mich herzlich bedanken. Denen, die immer an mich geglaubt und mich auf alle erdenklichen Arten unterstützt haben, gilt mein besonderer Dank: Meinem Mann Alexander Busch, meinen Eltern und meiner Tante. Ohne sie alle hätte ich die Arbeit nicht zu Ende gebracht. 3 4 Afoxé ist eine Karnevalsvereinigung von Afro-Brasilianern, mehr dazu s. im Kapitel 6. Zur Bedeutung der afro-brasilianischen Religionen s. im Kapitel 6. 13 “A contribuição brasileira para a civilização será a de cordialidade. Daremos ao mundo o ´homen cordial´. A llhaneza no trato, a hospitalidade, a generosidade, virtudes tão gabadas por estrangeiros que nos visitam, representam, com efeito, um traço definido do caráter brasileiro... “ „Der brasilianische Beitrag zur Zivilisation wird die Herzlichkeit sein. Wir werden der Welt den herzlichen Menschen geben. Die Feinheit im Umgang, die Gastfreundschaft, die Großzügigkeit, Qualitäten, die von den Ausländern die uns besuchen, so bewundert werden. Sie sind tatsächlich Teil des brasilianischen Charakters...“ Sérgio Buarque de Holanda (1902-1982) aus: Raizes do Brasil, 1994, 26. Aufl., Rio de Janeiro, S. 106, José Olympio. Für Luan Max und Moritz Pablo Und die Kinder Brasiliens 14 1. Einleitung 1.1 „Do you have blacks, too?“ - Problemstellung Im Juli 2002 überraschte der amerikanische Präsident George W. Bush seinen damaligen brasilianischen Amtskollegen Fernando Henrique Cardoso mit der Frage „Do you have blacks, too?“. Die farbige Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice rettete die peinliche Situation, indem sie Bush aufklärte, dass Brasilien mehr Schwarze5 als die USA habe und das Land mit den meisten Schwarzen außerhalb Afrikas sei (Der Spiegel, 2002, Nr.21, S. 218219). Der kleine Zwischenfall scheint mir symptomatisch für drei Aspekte, die auch im Verlauf dieser Arbeit zur Sprache kommen: Erstens, das Erscheinungsbild Brasiliens im Ausland als Land ohne rassische Minderheiten bzw. Konflikte; zweitens, die weitreichenden Kenntnisse der Repräsentantin der „African-Americans“ über die Situation der schwarzen Brüder und Schwestern in anderen Teilen der Diaspora; drittens, die Nichtbeachtung dieser Episode in den brasilianischen Medien und der Politik. In dieser Arbeit geht es um die Art und Weise der Rassenverhältnisse in Brasilien und die Bedeutung kultureller Manifestationen bei Prozessen gesellschaftlicher Veränderung. Die ab Mitte der 70er Jahre in Bahia, im Nordosten des Landes, gegründeten schwarzen Karnevalsvereine, blocos afros genannt, mit ihren kulturellen, sozialen und politischen Implikationen waren entscheidend für den Aufbau eines neuen6 schwarzen Selbstbewusstseins (Morales, 1990, M.Moura, 1987) - nicht nur in Bahia, sondern in ganz Brasilien. Die Blocos Afros verbinden edukative Praktiken mit strategischem Verhalten und 5 Die deutsche Bezeichnung Afro-Brasilianer halte ich für den wertfreiesten Begriff für Brasilianer mit afrikanischen Vorfahren. Um den im Deutschen abwertenden Ausdruck Neger zu umgehen, benutze ich die neutralere Bezeichnung „Schwarzer“ bzw. „schwarz“, insbesondere um die brasilianischen Begriffe negro und preto zu übersetzen. Die Bezeichnung negro bzw. ihre umgangssprachlichen Abwandlungen negao verwende ich dort, wo sie entweder von den Sprechern bzw. Autoren benutzt wurden. Sie sind nicht abwertend, sondern im Gegenteil Ausdruck des neuen schwarzen Selbstbewusstseins. Im Brasilianischen halte ich die Begriff negromestiço für eine der wertfreiesten und zutreffendsten Bezeichnungen. In der brasilianischen Statistik wird überwiegend der Begriff pardo benutzt für Menschen mit einer dunkleren Hautfarbe. Die Bezeichnungen „schwarz“ bzw. „Schwarze“ beziehen sich nicht nur auf Afro-Brasilianer, sondern allgemein auf Menschen mit dunkler Hautfarbe und afrikanischer Abstammung. Gelegentlich werden auch die Begriffe „farbig“ bzw. „dunkelhäutig“ von mir benutzt. Zu den terminologischen Unterschieden im Sprachgebrauch der USA und in Brasilien s. Andrews, 1998, S. 379392. . 6 Ich klassifiziere diese Schwarzenbewegung als neu, um sie einerseits von den traditionellen Formen kulturellen Widerstands wie er beispielsweise in der afro-brasilianischen Religion des Candomblé lebendig ist, anderseits von den moderneren Formen politischen Widerstands der Schwarzenbewegung dieses Jahrhunderts zu unterscheiden, s. dazu Kapitel 7. 15 unternehmerischem Handeln. Sie agieren auf mehreren Ebenen gleichzeitig und sind ein ebenso typisches Beispiel für das Lernen in komplexer Wirklichkeit wie es vom deutschen Pädagogik-Professor Jürgen Zimmer immer wieder beschrieben wird, wie für seine mit Günter Faltin entwickelten Ideen zum entrepreneurship (Faltin und Zimmer, 1995). Ich sehe die von der kulturellen Bewegung der Blocos Afros ausgegangenen Impulse als Wegbereiter der aktuellen Rassismusdebatte in Brasilien heute, in der es um die Festlegung von Quoten an den Universitäten und andere Formen der sogen. affirmative action geht. Für die herausragende Bedeutung der kulturellen Bewegung der Blocos Afros und ihren Einfluss auf die vielschichtigen und komplexen Formen der Rassenbeziehungen gibt es mehrere Erklärungsansätze, die im Verlauf der Arbeit dargestellt werden: von den historischen Voraussetzungen der „typisch“ brasilianischen Rassenmischung, über die regionalen Besonderheiten bis zur Bedeutung besonderer brasilianischer Äußerungen wie Karneval. Kulturelle Manifestationen allein mögen nicht ausreichen für Prozesse sozialer Transformation, aber sie erfüllen - insbesondere im Falle „schwarzer Musik“ - vielfältige Funktionen, die über die Aspekte Unterhaltung und Freizeitvergnügen hinausgehen. Sie können in stark gespaltenen Gesellschaften vielversprechende Wege der Integration im Spannungsfeld von Moderne und Tradition ermöglichen. Im folgenden Text wird ein kurzer Einstieg in das Thema gegeben. Brasilien – eine rassisch gemischte Gesellschaft Brasilien besitzt heute nach Nigeria die zweitgrößte schwarze Bevölkerung der Welt in absoluten Zahlen. Im Jahr 2000 sind von den fast 170 Millionen Brasilianern 76,5 Millionen Afro-Brasilianer. Damit leben in Brasilien mehr als doppelt so viel Menschen afrikanischer Abstammung wie in den USA. Die rund 34 Millionen Schwarzen stellen mit 12,3% die größte rassische Minderheit der USA (United States Bureau of the Census 2001 www.census.gov , 18.03.2003). Fast die Hälfte der Brasilianer (45%) gaben ihre Hautfarbe beim Zensus 2000 als „schwarz“ (preta) oder „dunkel“ (parda) an, der Anteil der weißen Bevölkerung liegt bei knapp 53%, die verbleibenden 2% teilen sich auf Menschen asiatischer und indianischer Herkunft 7 (www.ibge.gov.br , 18.03.2003). Die brasilianischen Schwarzen sind weder in ihrer Selbsteinschätzung eine ethnische Minderheit, noch werden sie von den weißen Brasilianern so gesehen (Sansone, 1992). Die Sklaverei - offensichtlichster Ausdruck rassischer Hierarchie - ist bis heute entscheidende Determinante der rassischen Situation in Brasilien: Nach Brasilien wurden neun- bis zwölfmal so viel Sklaven wie nach Nordamerika 7 Zur Problematik bei Erhebung des Zensus und der Hautfarbe siehe bitte Kapitel 8. 16 gebracht (Andrews, 1998, S.26) und in keinem Land konnte sich die Sklaverei über einen so langen Zeitraum fast 350 Jahre(!)halten. 150 Jahre bevor die Sklaverei in den Vereinigten Staaten Bedeutung hatte und noch 25 Jahre nach der Abolition in den USA prägte sie die brasilianische Gesellschaft. Doch obwohl Brasilien mehr Sklaven als jedes andere amerikanische Land hatte und als letztes die Sklaverei abschaffte, verband sich mit Brasilien das Bild des harmonischen Miteinanders von Sklaven und Sklavenherren. Bis vor kurzem noch wurde mit Erfolg das Bild der ersten Rassendemokratie aufrecht erhalten. Die Rassenvorurteile gegenüber AfroBrasilianern gingen Hand in Hand mit dem Mythos Brasiliens als Rassendemokratie, der in der Ideologie der langsamen Aufhellung (ideologia de branqueamento) und ihrer politischen Umsetzung das Selbstbild Brasiliens beim Aufbau der Nation formten. Erstmalig wurde der Mythos der Rassendemokratie durch die von der UNESCO initiierten Forschungen in der 50er Jahren in Frage gestellt. Unter der rund zwanzig Jahre andauernden Militärdiktatur in Brasilien zwischen 1964 und 1985 wurde das Thema Rassismus kurzerhand verboten. Erst die in den letzten zwanzig Jahren durchgeführten Forschungen zeichnen ein anderes Bild und lenken die Aufmerksamkeit auf die großen Ungleichheiten zwischen den Rassen. Der entscheidende Unterschied sowohl zu Südafrika als auch zu den Südstaaten der USA ist, dass die ungleiche Behandlung der Rassen nicht in Gesetzen verankert wurde. Die rassische Diskriminierung8 funktioniert nach subtilen, oft individuellen Gesichtspunkten. Sie ist nicht immer direkt identifizierbar, inkonsistent und nur begrenzt vorhersehbar. Bei Abwesenheit gesetzlich manifestierten Rassismus wird es, wie im Fall Brasiliens, oft schwieriger die rassische Diskriminierung zu bekämpfen. Die offensichtliche Ungerechtigkeit einer Rassengesetzgebung ist die Achillesferse des Rassismus und macht ihn leichter identifizierbar. Vertreter der Schwarzenbewegung gehen sogar soweit Brasilien mit dem früheren Apartheids-System Südafrikas auf eine Stufe zu stellen. Häufig werden die eklatanten sozialen Unterschiede zwischen weißen und Afro-Brasilianern damit begründet, dass Afro-Brasilianer aufgrund mangelnder individueller Voraussetzungen wie zum Beispiel schlechterem Bildungsniveau sozial schlechter abschneiden. Die neueren 8 Rassische Diskriminierung ist eine gemeinsame Verhaltensweise, die beobachtbar, sogar messbar ist, die mit bestimmten Formen sozialen Funktionierens zu tun hat und die sich zeigt, wenn sich bei gegebenen sozialen Verhältnissen, eine Bevorzugung einer bestimmten Gruppe in sozialer, bildungsmäßiger und beruflicher Hinsicht zeigt, die vermeintliche Gleichheit zwischen den Gruppen sich also als Illusion erweist. 17 Forschungen zeigen jedoch, dass die strukturellen Faktoren nicht ausreichen, die Unterschiede zu begründen und die rassische Diskriminierung eine große Rolle spielt beim Zugang zu Job, Einkommen, Bildung, Wohnung etc. Karneval – offensichtlichster Ausdruck der afro-brasilianischen Kultur Karneval wird in ganz Brasilien gefeiert, doch bis heute sind Rio de Janeiro und Salvador Hochburgen des Karnevalstreibens. Der Karneval konsolidierte sich als Bereich der ständigen Aushandlung zum Erhalt des afro-brasilianischen Erbes. Karneval und sein Vorläufer, das Entrudo, sind europäische Festtraditionen, die von den Portugiesen nach Brasilien gebracht wurden. Beides waren Vergnügen, die zunächst nur der hellhäutigen Elite vorbehalten waren. Im Lauf der Zeit eroberten die afrikanischstämmigen Sklaven und ihre Nachfahren den Karneval als Raum für eigene Musik- und Tanztraditionen, teilweise in Symbiose mit den europäischen Formen. Die Ästhetik schwarzer Musik und Tänze im Karneval wurde zum wichtigsten Element bei der Konstruktion und Legitimation der afro-brasilianischen Kultur. Gleichzeitig waren es die ursprünglich afrikanischen Elemente, die zunehmend von der herrschenden Kultur inkorporiert und zu nationalen Merkmalen der brasildade, einer brasilianischen Identität, wurden. Der Samba ist das beste Beispiel dafür, denn die verschiedenen Formen des Samba entwickelten sich zur brasilianischen Musik par excellence. Die Umzüge der Samba-Schulen Rio de Janeiros werden in alle Welt ausgestrahlt und gehören zum Brasilienbild im Ausland ebenso wie der Fußball oder der Amazonas. Der Karneval bietet in Brasilien einen außergewöhnlichen Moment gesellschaftlicher Realität und eignet sich wie kaum ein anderes Ereignis zum Verständnis der brasilianischen Gesellschaft und der Diskussion bestimmter Aspekte der Definition brasilianischer Identität. Die Einschätzung, Karneval sei ein „schwarzes“ Fest, an dem sich die sonst herrschenden rassischen Grenzen auflösen, teile ich nicht. Bis heute lässt sich auch im Karneval eine deutliche Trennung der Rassen beobachten. Für die Teilnahme am Karneval in den besseren Blocos de Trios des Straßenkarnevals in Salvador ist ein „gutes Erscheinungsbild“ (boa aparência9) ebenso erforderlich, wie viele der destaques genannten Attraktionen der SambaSchulen Rio de Janeiros, oft Models und Schauspielerinnen aus Film und Fernsehen sind, die sich mit ihrer hellen Hautfarbe von der Mehrheit der dunkelhäutigen Mitglieder abheben. 9 Der Ausdruck boa aparência, wie er z.B. in Stellanangeboten ist zu finden, bezieht sich auf ein eher europäisches Erscheinungsbild, also möglichst helle Haut und glatte Haare. 18 Bahia – Zentrum afro-brasilianischer Kultur Salvador, Hauptstadt des Bundesstaates Bahia, ist mit seinen rund 2,5 Millionen Einwohnern nicht nur die drittgrößte Stadt Brasiliens, sondern auch die Stadt mit dem höchsten Anteil von Afro-Brasilianern (rund 80%). Salvador, die erste Hauptstadt der portugiesischen Kolonie, war über drei Jahrhunderte Zentrum des transatlantischen Sklavenhandels. Das Leben in der Stadt ist bis heute durch die afro-brasilianische Kultur geprägt. Kultur als Überlebensstrategie für Brasilianer afrikanischer Abstammung hat eine lange Tradition in Brasilien, in Musik und Tanz, beim Kampftanz Capoeira und besonders in der afrikanischen Religion des Candomblé. In keiner Region des Landes – mit Ausnahme des noch weiter nördlich gelegenen Bundesstaates Maranhão - sind diese kulturellen Traditionen so stark erhalten und im Alltag spürbar wie in Bahia, insbesondere in Salvador und dem Recôncavo. Die „Re-Afrikanisierung“ (Risério 1980) des bahianischen Karnevals ab Mitte der 70er Jahre leitete eine neue Phase kultureller Identitätsfindung der schwarzen Brasilianer ein. Rund hundert Jahre nach Abschaffung der Sklaverei noch während der Militärdiktatur nutzen die schwarzen Bahianer den Karneval als Freiraum, ihren Protest gegen die Rassendiskriminierung zu artikulieren. Der erste Bloco Afro mit dem Namen Ilê Aiyê10 wurde 1974 gegründet mit Bezug zur „Heimat“ Afrika und unter dem Eindruck von Soul-Musik und Black Power aus den USA. Bis heute sind in diesem Karnevalsverein nur Schwarze als Mitglieder zugelassen und wie kein anderer Afro-Block verkörpert Ilê eine eigene schwarze Ästhetik mit afrikanisch inspirierten Kostümen und aufwendigen Flechtfrisuren. Die körperliche Inszenierung im Fest leitete einen Identitätsfindungsprozess ein, der sich später auch außerhalb dieses Raumes fortsetzen konnte. Auf den ersten Bloco Afro Ilê Aiyê folgten zahlreiche andere. Zu den wichtigsten heute noch existierenden gehören Olodum, Ara Ketu, Muzenza und Malê Debalê11. Die historische Beziehung zu Afrika, die sich bereits in der Wahl der Namen zeigt, wurde zur Referenz bei der Konstruktion einer schwarzen Identität in einer Stadt, die vom Mythos der Rassendemokratie geprägt ist. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, an dem grundlegende wirtschaftliche Veränderungen zum Entstehen einer schwarzen Industriearbeiterschaft geführt 10 Der Name kommt aus der westafrikanischen Sprache Yoruba, deren Gebrauch im bahianischen Candomblé der Ketu-Nationen üblich ist, und bedeutet übersetzt etwa „das Haus der anderen Welt“. Gemeint ist damit die „schwarze“, afrikanische Welt, welche die Gruppe im Karneval repräsentieren will. 11 Die Namen dieser Gruppen stammen aus afrikanischen Sprachen, hauptsächlich dem Yorubá und Kikongo. 19 hatten12 und die politische Öffnung der seit 1964 herrschenden Militärdiktatur ab 1985 allmählich in demokratische Strukturen überging. Die Musik der Blocos Afros spielte eine fundamentale Rolle für die Entwicklung einer neuen Identität der afro-bahianischen Jugendlichen. In den Texten ihrer Lieder thematisieren sie die offiziell lange verschwiegene Geschichte des schwarzen Widerstands in Brasilien und tragen damit zum kulturellen und politischen Emanzipationsprozess der Afro-Brasilianer bei. Mit ihren Rhythmen, insbesondere dem Samba-Reggae, wie er von der Gruppe Olodum gespielt wird, kreieren sie eine eigene Musikrichtung, die von Moden, Haltungen, Lebensauffassungen und Stylings begleitet wird. Die im Karneval von Salvador gespielte Musik wurde ab Ende der 80er Jahre national und international erfolgreich. Die ursprünglich nur von den Blocos Afros im Karneval gespielten Rhythmen wurden zur Basis einer Musikrichtung, die von den Medien den Namen AxéMusic13 bekam. Keine andere Musikrichtung hat in den letzten Jahren die brasilianische populäre Musik so beeinflusst, wie diese „neue“ Musik aus Bahia14, deren Geschichte und Gegenwart untrennbar mit dem Karneval15 und seinen Entwicklungen verbunden sind. Der Erfolg der perkussiven Musik aus Bahia vollzieht sich parallel zu den globalen Entwicklungen in den Medien, der Kommunikations- und Freizeitindustrie. Der internationale Musikmarkt war Anfang der 90er Jahre auf der Suche nach „Authentischem“. Der amerikanische Musiker Paul Simon nahm in der ersten Hälfte der 90er Jahre mit Olodum eine Platte auf, die den Titel „Rhythm of the Saints“ erhielt. Der Begriff World-Music wurde geprägt und alles, was an moderner Unterhaltungsmusik außerhalb der Achse USA 12 Nachdem sich das wirtschaftliche und politische Geschehen ab Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Nordosten in den Südosten, nach Rio de Janeiro und später São Paulo, verlagert hatte, verfiel Salvador in einem fast hundertjährigen Dornröschenschlaf. Erst mit Ansiedlung der Industriekomplexe in Aratu und besonders Camaçari unter den Militärs, die auch Brasiliens Provinzen industrialisieren wollten, begann ab Ende der 60er Jahre eine neue Entwicklungsphase. Zum ersten Mal wurden Afro-Brasilianer in Bahia in größerem Maßstab zu Industriearbeitern im größten Chemiekomplex Lateinamerikas, die über stabile, höhere Einkommen verfügten, an Prestige und Status gewannen und sich sogar gewerkschaftlich organisierten. Die Industrialisierung der Wirtschaft wirkte sich auch auf die anderen gesellschaftlichen Bereiche aus. (s. dazu Agier, 1992 u.a.) 13 Das Wort Axé kommt aus dem Yoruba und bedeutet so viel wie „positive Energie“, im Candomblé ist damit die spirituelle Kraft gemeint. Bei der Bezeichnung Axé-Music handelt es sich um einen Oberbegriff für eine Vielzahl von Musikern, Sängern/innen und Gruppen unterschiedlichster Qualität und Charakters, deren Musik im Umfeld des bahianischen Karnevals gespielt wird. Das Spektrum reicht von den Größen der Axé-Music, die in ganz Brasilien erfolgreich und auch im Ausland bekannt wurden, wie Daniela Mercury oder Chiclete com Banana, über die Blocos Afros, insbesondere Olodum und Ara Ketu, bis hin zu einer Vielzahl kleiner, unbekannter Gruppen oder Einzelpersonen, die mit dem Etikett Axé auftreten. Der Name ist bei den bahianischen Künstlern wegen seiner klischeehaften Anwendung unbeliebt. 14 Bahia ist neben Rio de Janeiro die musikalisch bedeutendste Region des Landes. Zahlreiche brasilianische Musikstars kamen und kommen aus Bahia, von Carmen Miranda, die Brasilien in den USA berühmt machte, über den poetischen Samba-Sänger Dorival Caymmi zum Bossa Nova Gitaristen João Gilberto und den aus der Tropicalismo-Bewegung hervorgegangenen Superstars Caetano Veloso und Gilberto Gil. 15 Dem Karneval gehört das Kap.5. 20 Mitteleuropa auf den Markt kam, ging fortan unter dieser Bezeichnung über die Ladentische Europas und der USA . Der Karneval in Salvador, noch in den 80er Jahren ein eher spontanes Straßenfest, hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem Ereignis der Superlative entwickelt. Die Karnevalsindustrie wird dominiert von den sogenannten blocos de trio, Karnevalsgruppen, die mit auf riesigen Trucks montierten fahrbaren Bühnen und leistungsstarken Lautsprecheranlagen Musikattraktionen bieten. Oft haben diese Gruppen bis zu 5000 Teilnehmer, die dafür bezahlen, in dem durch Seile ( cordas) abgegrenzten Raum durch die Straßen zu tanzen. Von den Unternehmen der Tourismusindustrie wird der bahianische Karneval im In- und Ausland vermarktet. Bahia ist inzwischen zum Tourismusziel Nr. 1 Brasiliens avanciert. Olodum - vom Karnevalsverein zum schwarzen Kultur-Unternehmen Die Grupo Cultural Olodum verband von Anfang an Musik mit politischem Engagement im Kampf gegen den Rassismus. Als Musikgruppe verstehen sie sich als Erben des Reggaes und Repräsentanten schwarzer Musik aus der Dritten Welt. In der Tradition der Rassenkämpfe der Amerikas fühlen sie sich als Teil der internationalen Schwarzenbewegung. Der musikalische Erfolg Olodums unterstützt die Denunzierung dem von weiten Teilen der Gesellschaft negierten Rassismus in zweierlei Hinsicht: Nach innen als Identifikationsmuster für AfroBrasilianer, nach außen als Botschafter ihres Anliegens. Der internationale Erfolg ist der Auslöser für die Popularitätswelle im Inland. Bei der Bewegung der Blocos Afros, und insbesondere im Fall Olodums, handelt es sich um das Zusammenspiel von Musik und Karneval, Rassenprotesten und Identitätsmanagement, modernen Verwaltungsstrategien und Clan-Denken. Diese Vielschichtigkeit entspricht der immer komplexer werdenden Realität einer postmodernen Gesellschaft gegen Ende des Jahrtausends. Olodum hat sich in den 90er Jahren zu einem „schwarzen“ Kulturunternehmen entwickelt. Aus dem Karnevalsverein mit einigen wenigen Mitgliedern wurde ein komplexes Gebilde, an dessen Aktivitäten mehrere hundert Personen beteiligt sind. Unter dem Dach Olodum existierten der Bloco de Carneval, der an drei Tagen im Karneval auf den Straßen ist, die Banda(s) de Show, die teilweise zeitgleich auf Konzertreisen gehen und Platten aufnehmen, die Kindergruppe Banda Mirim, die Kreativ-Schule Escola Criatíva (ECO) mit zeitweise bis zu 200 Schülern, die eigene Bekleidungs-Produktion Fábrica de Carneval, die Theatergruppe Bando de Teatro, die Companhia de Dança, sowie der Verlag Editora Olodum. Das bedeutet auch einen erheblichen Verwaltungsaufwand. Die Gruppe muss sich zunehmend 21 unternehmerisch verhalten, gleichzeitig jedoch Rücksicht auf alte Seilschaften, politische Konstellationen und interne Entscheidungsprozesse nehmen. Schon frühzeitig betrieb die Grupo Cultural Olodum ein Identitätsmanagement, das insbesondere in der stark traditionell dominierten Gesellschaft Bahias beispiellos ist in seinem Umgang mit den Möglichkeiten der modernen Gesellschaft, die bisher von den AfroBrasilianern kaum für ähnliche Zwecke genutzt wurden. Aus dem Freizeit-Club marginalisierter schwarzer Jugendlicher eines typischen Altstadt-Ghettos ist ein selbstbewusster gesellschaftlicher Akteur geworden, der Rassismus denunziert und sich selbst vermarktet. Auffallend ist das unternehmerische Geschick, welches die Gruppe beim Marketing des eigenen Namens an den Tag legt. So gelang es Olodum als erstem Bloco Afro langfristige Verträge mit einer internationalen Plattenfirma und Werbeverträge mit einem internationalen Telefonhersteller und einer der größten Banken Brasiliens, der Bradesco-Bank abzuschließen. Für die Kreativschule werden Gelder der Europäischen Union und aus Deutschland aufgebracht. 1996 nimmt Michael Jackson ein Video-Clip („They don´t care about us“) unter der Regie des schwarzen Filmemachers Spike Lee mit den Trommlern Olodums auf. Keiner der Blocos Afros ist über die Grenzen Bahias und Brasiliens hinaus so bekannt geworden wie die Grupo Cultural Olodum. Olodum ist zeitweilig Symbol des bahianischen Karnevals und kraftvoller Repräsentant der neuen bahianischen Musik, gleichzeitig Aushängeschild der gelungenen Restaurierung Pelourinhos und Bahias als Tourismusziel, wie auch Leitfigur der neuen kulturellen schwarzen Widerstandsbewegung. Und fast ein nationales Symbol: Bei der Weltmeisterschaft 2002 waren es die Trommler Olodums, die vor, während und nach den wichtigen Spielen vom größten brasilianischen Sender eingeblendet wurden, die Nationalhymne im Samba-Reggae- Rhythmus trommelnd auf dem Pelourinho. 1.2 Forschungsstand Seit rund 100 Jahren gibt es Forschungen über die afro-brasilianische Kultur und die Rassenbeziehungen in Brasilien16. Gerichtsmediziner (!) und Psychologen, Anthropologen 16 Zu den praktischen Aspekten der Literaturrecherche: In Brasilien sind Literaturrecherchen nicht mit denen in Deutschland oder den USA zu vergleichen. Der Buchbestand der meisten Bibliotheken, auch in São Paulo und Rio de Janeiro, war zum Zeitpunkt meiner Recherchen nicht über die elektronische Datenverarbeitung erfasst. Das bedeutet langwierige Recherchen nach dem Karteikasten-System vor Ort. Darüber hinaus sind viele 22 und Historiker, Soziologen, Politikwissenschaftler und Pädagogen haben sich aus den unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Thematik beschäftigt. Die brasilianischen Forschungen zur afro-brasilianischen Kultur und den Rassenbeziehungen stehen in engem Zusammenhang mit der Entwicklung Brasiliens zu einer Nation und dem Selbstbild des Landes. Aus diesem Grunde soll ihnen ein eigenes Kapitel im Anschluss an die theoretischen Überlegungen gewidmet werden. Die Forschungen über die afro-brasilianische Kultur und die Rassenbeziehungen wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts, als der Franzose Arthur Comte de Gobineu auch Brasilien besuchte und seine Rassentheorien formulierte, in einen internationalen Kontext eingebettet. Für die Entwicklung der Studien der Rassenbeziehungen in den Vereinigten Staaten und die „African American Studies“ hat Brasilien eine bedeutende Rolle als Forschungsgebiet und Ideen-Labor gespielt. Die ethischen und humanistischen Befürchtungen der amerikanischen Anthropologie nach dem Zweiten Weltkrieg spiegelten sich im (Wunsch)Bild Brasiliens als Rassendemokratie (Hasenbalg, 1996). Die Publikationen zur afro-brasilianischen Kultur und den Rassenbeziehungen lassen sich fünf Perioden und Richtungen zuordnen, die hier nur kurz erwähnt und auf die in Kap.3 näher eingegangen wird: 1. Die ersten Arbeiten um die Jahrhundertwende des Gerichtsmediziners Nina Rodrigues und seiner Nachfolger wie Artur Ramos, Edison Carneiro und Manuel Querino. Ihr Lebens- und Forschungsschwerpunkt ist Bahia und ihnen ist gemeinsam das Bemühen den afrikanischen Beitrag an der brasilianischen Kultur hervorzuheben. 2. Die anthropologischen und soziologischen Forschungen ab Mitte der 30er Jahre, insbesondere Gilberto Freyres, die mit ihrer positiven Einschätzung der Rassenbeziehungen zur (theoretischen) Begründung des Mythos der Rassendemokratie beigetragen haben. 3. Die von der UNESCO angeregten Studien der 50er Jahre zum Stand der Rassenbeziehungen in Brasilien, die - entgegen der positiven Erwartungen eines „Rassenparadieses“ - zu widersprüchlichen Ergebnissen kamen. Die brasilianischen Autoren der Studien, insbesondere Florestan Fernandes und Roger Bastides sowie Thales de Azevedo, verfassten in den folgenden Jahren einige grundlegende Arbeiten über die Rassenbeziehungen in Brasilien. 4. Die anthropologischen und historischen Forschungsarbeiten, die in den 70er und 80er Jahren insbesondere über Candomblé und den Sklavenhandel erscheinen, wie zum Beispiel die Schriften Pierre Vergers oder der bahianischen Forscher Vivaldo da Costa Lima, Júlio Braga, Ubiratan Castro de Araújo oder Waldeloir Rego. Bibliotheken reine Präsenzbibliotheken, aus denen die Bücher nicht ausgeliehen werden können. Viele Arbeiten, auch brasilianischer Forscher, habe ich erst in den USA zu Gesicht bekommen. 23 5. Die neueren Arbeiten, die sich mit der Problematik der Rassenbeziehungen unter modernen Aspekten in urbanen Zusammenhängen beschäftigen. Sie füllen eine Lücke, denn die meisten Forschungen zu Fragen schwarzer Ethnizität und Kultur gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben sich fast ausschließlich auf die USA bzw. Westeuropa beschränkt. Aus den USA, und in geringerem Umfang aus Großbritannien, gibt es umfassende Forschungen über zeitgenössische schwarze Kultur in den Städten (Dent, 1992, u.a.) besonders Ghetto-Kultur (Hannerz, 1969 u.a.), Jugend- und Musikkultur (Gilroy, 1993, Mercer, 1994), sowie zahlreiche Arbeiten über schwarze Musik vom Blues und Jazz (Hobsbawm, 1994, Keil, 1991 u.a.) bis zu Rap (Rose, 1994 u.a.). Lateinamerika wurde in diesem Zusammenhang bis Anfang der 90er Jahre wenig berücksichtigt. So wurde noch anläßlich des International Seminar on Racism and Race-Relations 1992 in Rio de Janeiro festgestellt: "Most books and readers on ethnic and race relations from a world perspective are now relatively old and practically none of them has a specific focus on the areas of the African diaspora". Erst in der zweiten Hälfte der 90er Jahre zeichnet sich eine Trendwende mit der Publikation von Arbeiten einer neuen Generation nordamerikanischer „Brasilianisten“17 ab (FSP 06.06.1999, mais!, S. 4-8). Im deutschsprachigen Raum gibt es keine den „Brasilianisten“ vergleichbare Tradition der Brasilien-Forschung. Die Arbeiten zur afro-brasilianischen Kultur stellen in ihren jeweiligen Fachbereichen (mit Ausnahme der Musikethnologie) interessante, aber eher isoliert dastehende Beiträge dar. In dieser Arbeit wird jetzt der Versuch unternommen eine disziplinenübergreifende Darstellung der Rassenbeziehungen und der Rolle der afrobrasilianischen Kultur in Form der blocos afros auf die gesellschaftliche Dynamik vorzustellen. Damit soll nicht nur der Komplexität der untersuchten Wirklichkeit Rechnung getragen werden, sondern auch das Verständnis anderer Realitäten erleichtert werden. 17 Als Brasilianisten werden in Brasilien nordamerikanische Wissenschaftler bezeichnet, die sich mit Brasilien beschäftigen. Die Bezeichnung geht auf die während des Kalten Krieges von der US-Regierung geförderten Studien in den 60er Jahren zurück, die durch die Sorge um die Ausweitung der Kubanischen Revolution auf dem südamerikanischen Kontinent motiviert wurden. Zu dieser ersten Generation gehören die Historiker und Soziologen Robert Levine, Stuart Schwartz, Kenneth Maxwell und Thomas Skidmore. 24 1.3 Konzeption und Struktur Brasilien, Rassismus, Karneval, Musik, Blocos Afros, Olodum – wir stehen einer vielschichtigen und komplexen Realität gegenüber, die sich auch in der Struktur dieser Arbeit spiegelt. Die Arbeit gliedert sich in drei unabhängige, jedoch aufeinander bezogene Teile: Im ersten Teil (Kap.1 bis Kap.4) werden die leitenden Fragestellungen, das methodologische Vorgehen, sowie der Stand der Literatur zum Themenbereich und den zentralen Begriffen dargestellt. Im zweiten Teil (Kap. 5 bis Kap. 8) geht es um die Entwicklung der Rassenbeziehungen in Brasilien seit der Sklaverei und die schwarze Kultur, insbesondere den Karneval. Im dritten Teil (Kap.9 bis Kap. 18) wird die Bewegung der Blocos Afros in Bahia und die Gruppe Olodum unter den verschiedenen, bereits beschriebenen Zusammenhängen betrachtet. Der erste Teil führt den Leser in die Thematik ein, stellt Zusammenhänge und Hintergründe dar und erläutert die theoretischen Fragestellungen. Nach dem einleitenden Kapitel werden im Kapitel 2 theoretische Überlegungen zu den beiden zentralen Begriffen Rassismus und Kultur, insbesondere schwarze Kultur dargelegt. Dazu wird die Wandlung des Rassismus vom naturwissenschaftlichen Konzept des letzten Jahrhunderts zum kulturell geprägten der Neuzeit gezeigt und knapp auf die Überlegungen Bourdieus zur Beschäftigung mit Kultur eingegangen, sowie die Rolle schwarzer Kultur bei der Identitätsfindung in der Diaspora. Anschließend wird verfolgt, wie die afro-brasilianische Kultur und die Rassenbeziehungen in Brasilien bisher in den Wissenschaften behandelt wurden (Kapitel 3). Im Kapitel 4 werden die leitenden Fragestellungen und Methoden sowie die Umsetzung bei der Feldforschung beschrieben. Der zweite Teil beginnt mit einem Kapitel (Kapitel 5) über die drei Jahrhunderte anhaltende Sklaverei, welche die Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft entscheidend prägte. Von besonderem Interesse sind hierbei die unterschiedlichen Mittel und Wege, derer sich der schwarze Widerstand bediente, dem Sklavendasein zu entkommen. Dazu gehören die direkten Widerstandsformen, die Sklavenfluchtburgen und Aufstände, wie die indirekten Formen kulturellen Widerstands. Das Kapitel 6 beschäftigt sich mit den verschiedenen Formen afrobrasilianischer Kultur in Religion, Musik und Tanz. Im Vordergrund steht dabei der Beitrag der afrikanischen Sklaven und ihrer Nachfahren in der Geschichte des Karnevals. Im Kapitel 7 wird der Weg der brasilianischen Schwarzenbewegung zwischen Anpassungs- und 25 Abgrenzungs-Tendenzen verfolgt. Zu Beginn wird gezeigt, wie der Asymmetrie der sozioökonomischen Bedingungen nach dem Verbot der Sklaverei 1888 mit einer Politik der nationalen Integration begegnet wurde: der von einer gezielten Einwanderungspolitik begleiteten Ideologie der allmählichen Aufhellung und der Weiterentwicklung zur Idee der Rassendemokratie mit der Vereinnahmung von Teilen der schwarzen Kultur als Integrationsfaktor. Das Kapitel 8 beschäftigt sich mit der vielschichtigen und widersprüchlichen Situation der Afro-Brasilianer. Dazu werden zunächst die komplexen methodologischen und psychologischen Schwierigkeiten bei der Erhebung von Daten, die charakteristisch für die spezielle brasilianische Situation sind, vorgestellt. Anschließend wird die sozioökonomische Situation der Afro-Brasilianer beschrieben, die deutlich die großen sozialen Unterschiede zwischen weißen und schwarzen Brasilianern zeigt. Die Besonderheiten des brasilianischen Rassismus, der sich häufig nicht offen, sondern versteckt präsentiert, schließen das Thema ab. Der dritte Teil beginnt mit einem Kapitel über die Bewegung der Blocos Afros. Dazu wird zunächst das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld in Salvador beschrieben, der das Aufleben der kulturellen Bewegung der Blocos Afros ermöglichte. Die fünf wichtigsten Blocos Afros werden mit ihren Charakteristiken und Besonderheiten vorgestellt, aber auch die allen gemeinsame Benutzung bestimmter Symbole, Bezüge und Instrumente. Die folgenden Kapitel des dritten Teils der Arbeit beschäftigen sich mit Olodum als Karnevalsverein und Musikgruppe (Kap.10-12), Olodum als sozial- und kulturpolitischer Einrichtung (Kap.13-14) und Olodum als schwarzem Unternehmen (Kap.16). Im Kapitel 11 geht es um das für die Gruppe wichtigste Ereignis, die Sonntags-Probe auf dem Pelourinho, die eingangs in Form einer „dichten Beschreibung“ (Geertz 1994) geschildert wird. Zu keinem anderen Anlass wird die Anzugskraft Olodums auf die schwarzen Jugendlichen deutlicher als bei diesem sich wöchentlich wiederholendem Ereignis. Das Kapitel 12 beschäftigt sich mit der Musik Olodums, die ich als Teil der „Schwarzen Transatlantischen Musik“ im Sinne Gilroy´s Konzept des „Black Atlantik“ verstehe (Gilroy 1993). Dazu werden die Plattenaufnahmen, insbesondere der Entwicklung der Liedtexte, aber auch der Perkussion analysiert. Im Kapitel 13 beobachte ich die Gruppe im Karneval, zunächst beim ersten Auszug am Freitagabend. Die Karnevalsthemen zeigen das Universum aus dem die Identifikationsmuster geschöpft werden können. Die Auswertung der Fragebögen von 250 Karnevalsteilnehmern 1993 gibt Auskunft, welche Menschen sich mit Olodum identifizieren und wie die Gruppe von außen gesehen wird. 26 Olodum als sozial- und kulturpolitisch aktiver Einheit ist Thema der folgenden drei Kapitel. Im Kapitel 13 wird die Escola Criativa als Beispiel für den in die Praxis umgesetzten AntiRassismus-Diskurs vorgestellt. Die Schule, die sich von einer „Freizeit“-Schule mit musikalisch-künstlerischem Angebot zu einer staatlich anerkannten Schule entwickelt hat, ist der pädagogische Versuch einer interethnischen Erziehung. Das Kapitel 14 befasst sich mit der Theatergruppe Olodums, die ganz im Sinne Augusto Boal´s, eine eigene Theatersprache für marginalisierte Afro-Brasilianer gefunden hat. Im Kapitel 15 geht es um die kulturpolitische Arbeit Olodums, die sich im Aufbau eines Diskurses und in verschiedenen anderen Bereichen zeigt, wie der Veranstaltung des jährlichen Musikfestivals, den Publikationen und den Seminaren. Während des Musikfestivals wird auch eine Frau Olodum gewählt, anders als bei den anderen Gruppen geht es dabei jedoch um mehr als eine Schönheitskönigin. Wie keine andere Gruppe hat es Olodum verstanden, sich als Repräsentant der Schwarzenbewegung zu positionieren und im öffentlichen Raum Einfluss zu nehmen: in den Medien, dem Kulturleben und der Politik. Das Kapitel 16 beschäftigt sich mit Olodum als „schwarzem“ Unternehmen. Mit der Diversifizierung unter dem eigenen Dach - zunächst mit der Karnevalsfabrik und der Boutique - geht der Karnevalsverein neue Wege. Es wird versucht das Etikett Olodum zu vermarkten - egal, ob es sich um T-Shirts, Shampoo oder Telefone wie bei der Kooperation mit der Firma Nokia handelt. Dabei spielt auch die sozialpolitische Komponente eine wichtige Rolle - etwas worauf insbesondere die Partnerschaft mit der Bradesco-Bank abzielt, die personalisierte Kreditkarten auf den Markt bringt, an deren Umsatz Olodum beteiligt wird. Das unternehmerische Engagement Olodums steht in einem Spannungsverhältnis zum Charakter der Gruppe als Karnevalsverein oder als soziale und politische Interessengemeinschaft. Die Fragebogenauswertung gibt Auskunft, ob es sich tatsächlich um ein schwarzes Unternehmen handelt. In der abschließenden Zusammenfassung wird der Bogen von der kulturellen Bewegung der Blocos Afros zur politischen Umsetzung der Quoten geschlagen. Olodum hat schwarze Geschichte in Brasilien geschrieben. Welche Komponenten haben zum Erfolg geführt? Anschließend wird die Entwicklung Olodums in Beziehung gesetzt zu anderen Beispielen schwarzer Kultur und der Art der Rassenbeziehungen der afrikanischen Diaspora. 27 2. Rassismus und schwarze Kultur – theoretische Überlegungen Im Mittelpunkt der theoretischen Überlegungen dieser Arbeit stehen zwei große Themenkomplexe: zum einen die Frage der Art der Rassenbeziehungen (was ist Rassismus?), zum anderen die Überlegungen zu Formen und Funktionen von Kultur (was ist schwarze Kultur?). Die beiden Thematiken treffen sich u.a. dort, wo die kulturellen Ausdrucksformen zur Formulierung von Identitäten beitragen und die gestärkte „neue schwarze Identität“ den latent vorhandenen Rassismus denunziert und auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse abzielt. Im folgenden sollen die zentralen Überlegungen zu diesen beiden Thematiken vorgestellt werden. 2.1 Rassismus „Pure races - in the sense of genetically homogenous populations - do not exist in the human species“ UNESCO Stellungnahme On Race, Moskau 1964. Rasse, Rassismus, Rassenbeziehungen, rassische Diskriminierung – im folgenden soll über diese Begriffe, deren Gebrauch alltäglich ist, reflektiert werden. Lassen sich denn überhaupt „Rassen“ identifizieren, wenn die moderne Humangenetik bestätigt, dass 99,9% ihrer Gene alle Menschen miteinander teilen18? Dennoch gibt es bis heute Studien, welche die rassische Herkunft als entscheidend für biologische und soziale Unterschiede halten19. Ist Rasse nicht vielmehr eine soziale Kategorie, ein mögliches Ordnungsprinzip einer Gesellschaft? „Rassen sind sozial imaginierte, keine biologischen Realitäten“ schreibt Miles (Miles, 1989, S.355). Das Wort Rasse wird im allgemeinen aus dem Lateinischen abgeleitet. Ratio läßt sich übersetzen mit Ordnung, Vernunft, Art (Memmi, 1987). Mit Blick auf das portugiesische raça und das spanische raza ist jedoch auch ein anderer Ansatz für die Herleitung denkbar. Im Arabischen bedeutet ras soviel wie Kopf, Oberhaupt eines Clans und unter den Beduinen gibt „ras“ Auskunft über die Abstammung einer Person und damit über ihre gesellschaftliche 18 Der Humangenetiker Luca Cavalli Sforza setzte 1993 das Human Genome Diversity Project in Gang, um einen Weltatlas der Genvielfalt zu erstellen und den Stammbaum der Menschen zu rekonstruieren (CavalliSforza, 1994). 19 Im umstrittenen Buch „The Bell Curve“, das 1994 in den USA erschien, vertreten Psychologe Richard Herrnstein und der Soziologe Charles Murray die These, dass auf der Intelligenzskala der Menschheit Asiaten und Juden obenan stünden, Schwarze dagegen am Ende (Herrnstein & Murray, 1994). 28 Rolle. So könnte dies Wort auch über die iberisch-arabischen Kulturkontakte ins Spanische und Portugiesische gekommen sein (Geiss, 1988, S.16; nach Hofbauer, 1995). 2.1.1 Der naturwissenschaftliche Rassismus Die rassischen Klassifikationssysteme tauchten im 18. Jahrhundert auf, als Europa sich nach der Aufklärung zunehmend in einer Phase der Unsicherheit und Umorientierung befand. Die göttliche Ordnung war in Frage gestellt, der Adel verunsichert, das Bürgertum im Aufwind. Während für Jean Jacques Rousseau die Menschen in den primitiven Gesellschaften einem glücklichen menschlichen Naturstadium nahe waren und auch der Reisende Alexander von Humboldt alle Menschen als Teil einer großen Familie mit einem gemeinsamen Ziel betrachtete, sahen die meisten Wissenschaftler die Notwendigkeit rassischer Klassifikation und Wertung. Als erster Forscher, der die Menschen im 18. Jahrhundert in sechs Gruppen unterteilte, gilt der schwedische Biologe Carl von Linné. Unter den Menschen unterscheidet er zwischen 1.) dem europäischen Typ mit weißer Haut, den er als ideenreich und erfinderisch charakterisiert, 2.) dem amerikanischen Typ mit rotbrauner Haut, den er für zufrieden und freiheitsliebend hält, 3.) dem asiatischen Typ gelblicher Haut, den er als stolz und habsüchtig einschätzt, 4.) dem afrikanischen Typ mit schwarzer Haut, den er als faul, falsch und phlegmatisch beschreibt, sowie 5.) den Wilden und 6.) den Missgebildeten. In seinem Werk „Systema Naturae“ von 1735 strebte er eine umfassende Katalogisierung der Natur an. Die Spezie Mensch („homo sapiens“) wurde darin ins Tierreich neben den Affen gestellt (Poliakov, 1992: 78f.). Der französische Naturforscher George Buffon, ein Zeitgenosse Linnés, entwickelte eine Theorie, nach der die menschlichen Gesellschaften unterschiedliche Grade an Soziabilität und Rationalität erreicht hätten. Am oberen Ende der Skala mit einem hohen Maß an Gesetzen und Ordnung läge die civilisation, die er in den nordeuropäischen Nationen beobachtet haben will. Am unteren Ende die Regionen der barbarie ohne jegliche Organisation, die er unter den Australiern, Hottentotten und Lappen vermutete, an den „Rändern“ der Welt. Das Entstehen unterschiedlicher Menschenrassen erklärte Buffon aus den klimatischen Bedingungen, die auch auf den Zivilisationsgrad wirkten Wichtige Unterscheidungsmerkmale waren für ihn die Hautfarbe, Körperform und das Naturell der einzelnen Menschengruppen. Die günstigste 29 Klimazone für die Entwicklung harmonischer Menschen liege zwischen dem 40. und 50. Breitengrad. Eine dunkle Haut dagegen sei Zeichen für das Fehlen von Zivilisation. Was Linné und Buffon theoretisch formuliert hatten, versuchten einige ihrer Forscherkollegen naturwissenschaftlich am Objekt zu belegen. Zahlreiche anatomische Studien wurden gemacht, Schädel vermessen, Haut präpariert, Körper ausgestopft20. Als Begründer der physischen Anthropologie gilt Johann Friedrich Blumenbach, der den Begriff der „kaukasischen Rasse“ einführte. Er untersuchte insbesondere Schädelformen und diagnostizierte, daß die Georgier die harmonischsten Köpfe, die Afrikaner die häßlichsten Köpfe besäßen.21 Zu diesem Zeitpunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konsolidierte sich die wissenschaftliche Meinung, daß bestimmte äußerliche Merkmale Rückschlüsse auf moralische und intellektuelle Qualitäten zuließen und damit also auch auf den Entwicklungsstand einer Nation. Was für Blumenbach an der Schädelform ablesbar sein sollte, meinte der holländische Anatom Pieter Camper an der Stellung des Kiefers und der Stirn zu erkennen, dem sogen. „Gesichtswinkel“. Er war der Auffassung, daß je steiler dieser Winkel, desto fortgeschrittener sei der Entwicklungsstand der Nation. Ausgehend von Campers Ansatz untersuchte Samuel Thomas Sömmering das Gehirnvolumen. Er meinte festgestellt zu haben, daß bei Schwarzen die gehirnfassende Höhle kleiner sei, als bei Weißen (Martin, 1993, S. 269ff.). Eine wissenschaftliche „Entdeckung“, die sich trotz ihrer Fragwürdigkeit bis heute in den Köpfen vieler hält 22. Der Mediziner Franz Joseph Gall war es, der eine besonders gewölbte Stirn als Indiz für kriminelle Neigungen erkannt haben wollte. Obwohl er Spekulationen über den Zusammenhang einer gewölbten Stirn und den Entwicklungsstand einer Nation ablehnte, wurden phrenologische Studien23 in Folge immer häufiger zur rassischen Klassifizierung herangezogen. 20 Dabei führte die Erwartungshaltung oftmals zu biologisch nicht erklärbaren Fehlschlüssen. So will zum Beispiel der Chirurg Friedrich des II., Johann Meckel, nach Öffnung afrikanischer Körper festgestellt haben, daß sowohl Gehirn als auch Blut der Afrikaner schwarz seien (Poliakov, 1974 zitiert nach Hofbauer, 1995, S.46). 21 Auch an der Universität Berlin wurden solche Studien durchgeführt. 1833 erhielt das Museum der Universität Berlin in Spiritus eingelegte Köpfe von „Schwarzen“ aus Bahia. Es wird vermutet, daß sie bei einer der Revolten ums Leben gekommen waren (Martin, 1993, S.469) 22 Mir sind im Verlauf dieser Arbeit immer wieder Personen begegnet, Brasilianer und Europäer, die sich noch heute darauf, berufen, daß die Schwarzen ja weniger Gehirnmasse und infolgedessen weniger Entwicklung hätten. 23 Auch die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelnde Kriminalanthropologie bezog sich auf die Schädelforschung. Vor diesem wissenschaftlichen Hintergrund sind auch die Forschungen des brasilianischen Gerichtsmediziners Nina Rodrigues zu sehen. Seine Studien lieferten in Konsequenz jedoch reiches Material über die afro-brasilianische Kultur um die Jahrhundertwende (s. dazu in der Einleitung 1.3) 30 Nicht nur die Naturwissenschaftler, auch die bedeutendsten europäischen Philosophen des 18. Jahrhunderts wie Voltaire, Kant oder Hegel fällten über die Afrikaner und deren Entwicklungsmöglichkeiten ein negatives Urteil. „Der Neger stellt den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit dar: von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muß man abstrahieren ... es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden“ urteilte Hegel (zitiert nach Hofbauer, 1995, S.51). Trotz der negativen Einschätzung der Afrikaner sprach sich beispielsweise Voltaire gegen die Sklaverei in den Kolonien aus. Als „Vater“ der Rassentheorien gilt jedoch der Franzose Arthur Comte de Gobineau, der Mitte des 19. Jahrhunderts ein umfassendes Erklärungsmodell der Weltgeschichte aufgrund seiner Rassentheorien entwickelte („Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“). Anders als seine naturwissenschaftlichen Vorläufer, die Schädel und Knochen vermaßen, entwickelte Gobineau Mitte ein theoretisches auf seinen Erfahrungen und Reisen fußendes Konzept. Ihn beschäftigte insbesondere die Frage nach den Ursachen für den Untergang der Großreiche, die er in deren Tendenzen zur Homogenisierung ausmachte. Europa sah er als den „Adel der Menschheit“, während sich die Afrikaner mit ihrem tierähnlichen Charakter auf der untersten Entwicklungsstufe befänden. Auch Gobineaus Zeitgenosse Ernest Renan zählte die Schwarzen zu den niedrigsten Rassen, die von Natur aus zur Arbeit auf dem Land bestimmt seien, um die Werke der Weißen durchzuführen. Insofern trügen die Eroberungen der Weißen und die Kolonialkriege zur Weiterentwicklung der Menschheit bei. Gobineaus zweijähriger Aufenthalt als Botschafter in Brasilien 1868-1870 bestätigte ihn in seinen pessimistischen Prognosen über das zivilisatorische Potential der „Neger“ und die Dekadenzerscheinungen der Zivilisationen durch Blutvermischung. „Alle hier sind häßlich, undenkbar häßlich: wie Affen“ soll er geschrieben haben (zitiert nach Skidmore, 1989, S. 45). Er beklagte, daß kein einziger Brasilianer reines Blut habe, wie die unzähligen Farbnuancen zeigten. Nach seinem Aufenthalt in Brasilien sagte er das Aussterben der Brasilianer für das Jahr 2134 voraus, da er der Meinung war, daß die Mischlingsbevölkerung nach einigen Generationen unfruchtbar werde. Eine der Problematiken, welche die Naturwissenschaftler im 18. und 19. Jahrhundert besonders beschäftigte, war die Frage, ob es bei der Verbindung von Menschen 31 unterschiedlicher Rassen zu Unfruchtbarkeit käme, so wie im Tierreich bei Kreuzungen von Pferden und Eseln zu Maultieren. Als eines der Kriterien zur Bestimmung einer eigenständigen Spezies galt damals die (Un-)Fruchtbarkeit der Kreuzungsprodukte. Bei Unfruchtbarkeit läge der Beweis für eine polygenetische Abstammung vor, also eine gänzlich andere genetische Zusammensetzung der einzelnen Rassen. Mit der Situation in den Kolonien konfrontiert, argumentierten besonders die Reisenden wie Gobineau und zuvor der britische Arzt Long (Jamaica) - offensichtlich entgegen ihrer tatsächlichen Beobachtungen -, daß die Beziehungen zwischen Menschen unterschiedlicher Rassen tatsächlich zu Unfruchtbarkeit und letztendlich zum Aussterben führe. Hofbauer verweist darauf, daß sich der Terminus „Mulatte“ sicherlich auch deshalb durchsetzen konnte, weil er in Zusammenhang mit der These der Unkreuzbarkeit stehe: sowie im Spanischen als auch im Portugiesischen bezeichnet „mula“ das Maultier (Hofbauer, 1995, S.43). Die Situation in den Kolonien beschäftigte auch einige bedeutende Naturforscher wie zum Beispiel Charles Darwin. Während seiner Beagle-Weltreise machte er auch in Brasilien Station und war entsetzt über die Auswüchse der Sklaverei, die er hier beobachten konnte. Der Begründer der Evolutionstheorie, nach der die natürliche Auslese durch den Überlebenskampf und die Anpassung an die Umwelt bewirkt werde, äußerte sich vermutlich bewußt kaum zur Evolution des Menschen. Sein Cousin, Francis Galton, nahm einige seiner Argumentationslinien auf und entwickelte daraus die Eugenik, die Erbgesundheitslehre, mit der es möglich werden sollte, Fehlentwicklungen der Menschheit zu korrigieren. Gegen Ende des 19 Jahrhunderts wurde die Trennlinie zwischen biologisch-genetischen und sozial-kulturellen Ansätzen durch die Biologisierung des Rassenkonzepts immer deutlicher. Bis dahin waren zum Beispiel die Begriffe Ethnie und Rasse weitgehend synonym verwendet worden. Die Ethnologie war das Studium der Rassen. Die Kategorie Rasse erlebte im 20. Jahrhundert eine Transformation von einer biologischen Einteilung zu einer sozialen. Das Forschungsinteresse wandte sich den „RassenBeziehungen“ zu. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch konnte sich die kulturalistische Anthropologie durchsetzen. Als „Erbsünde der Anthropologie“ bezeichnete Claude LeviStrauss (Levi-Strauss, 1972, S.8) die Verwendung des rein biologischen Rassebegriffs. 32 2.1.2 Die moderne Rassismusdiskussion Die meisten Sozialwissenschaftler gingen auch im 20. Jahrhundert weiterhin von der Ungleichheit der Rassen und Kulturen aus, auch wenn sie sich von rein naturwissenschaftlichen Sichtweisen abgrenzten. Die Kategorie Rasse wurde zu einem spezifischen Profil biologischer und kultureller Eigenschaften: allen, die gleiche phänotypische Merkmale besaßen, wurden auch die kulturellen Charakteristika unterstellt. Der Rasse-Diskurs wurde so durch die Sozialwissenschaften weiterhin legitimiert. In den 70er Jahren wurde das Studium der Rassenbeziehungen auf ethnische Beziehungen ausgedehnt (Banton, 1987) „Auf diese Weise haben Sozialwissenschaftler ... perverserweise das Leben einer Idee verlängert, die ausdrücklich und endgültig auf den Müllhaufen analytisch nutzloser Ausdrücke geworfen werden sollte“ (Miles, 1989, S.355). Auch die ersten „schwarzen“ Ankläger des weißen Rassismus Frantz Fanon und der Begründer der Negritude-Bewegung Léopold Senghor stellten nicht grundsätzlich die Existenz von Rassen in Frage, auch wenn sie das Rassenkonzept kritisierten. Frantz Fanon, dessen Texte unter dem Eindruck des sich in Dekadenz befindenden Kolonialsystems geschrieben wurden, verweist auf den Zusammenhang zwischen Rassismus und Ausbeutung. Den Unterdrückten bliebe nur eine Alternative: die Imitation der Unterdrücker und das Ablegen der rassischen Eigenart (Fanon, 1986). Nach heutigen Forschungen gibt es keine wissenschaftlich überzeugende Grundlage für die Aufteilung der Menschheit in biologisch unterscheidbare Rassen. Genetisch sind Rassen nicht eindeutig feststellbar.24 Das heißt nicht, daß es nicht physiologische und phänotypische Unterschiede, unterschiedliche Hautfarben und Körpermerkmale gebe. Für die Gesamtheit phänotypischer Unterschiede sind weniger als 0,1% der Gene verantwortlich - aber die Unterschiede einer genetisch gleich definierten Gruppe sind genauso groß, wie die genetisch unterschiedlich definierter Gruppen (Cavalli-Sforza, 1994). Dennoch wurde der Begriff Rasse nicht abgeschafft. Er ist nicht nur nach wie vor sozial relevant, in den letzten Jahren hat er einen regelrechten Boom erfahren. Körperliche Unterschiede sind nicht per se Vorbedingung für Rassismus. Sie können es aber unter bestimmten Umständen werden. Dann nämlich, wenn die Stigmatisierung der Anderen 24 Dennoch gibt es immer wieder Versuche, insbesondere in den USA, rassische Unterschiede naturwissenschaftlich zu belegen. Zu den neuesten Forschungstendenzen gehört es beispielweise auch soziales Verhalten mit biologischen Grundlagen zu erklären, die sogen. Soziobiologie. 33 soziale, politische und wirtschaftliche Maßnahmen rechtfertigt, welche die Anderen von den materiellen oder symbolischen Ressourcen ausschließen. „Rassistische Ideologien entstehen also immer dann, wenn die Produktion von Bedeutungen mit Machtstrategien verknüpft sind und diese dazu dienen, bestimmte Gruppen vom Zugang zu kulturellen und symbolischen Ressourcen auszuschließen“ (Hall 1989:913) Beim Rassismus25 handelt es sich um eine Ausschließungspraxis, bei der eine bestimmte Gruppe bei der Verteilung von Ressourcen und Dienstleistungen benachteiligt oder in der gesellschaftlichen Hierarchie über- bzw. unterrepräsentiert werde. Rassismus bezieht sich nicht nur auf konkrete Handlungen, sondern auch auf deren vorsätzliche oder ungewollte Folgen. Immer handelt es sich um ein dialektisches Verhältnis von Ein- und Ausschließung. Rassismus funktioniere sozusagen als Spiegel, in dem die negativen Merkmale des anderen als positive Merkmale des Selbst zurückgeworfen werden. Seine Existenz werde dadurch begünstigt, dass er relativ kohärent und praktisch adäquat sei, d.h. er reproduziere im Denken bestimmte beobachtbare Regularitäten und liefere kausale Erklärungen dafür (Miles, 1989). Rassismus ist also keine einmalige, statische Ideologie und nicht historisch zufällig. Empirisch „hat es viele Rassismen gegeben, wobei jeder historisch spezifisch und in unterschiedlicher Weise mit den Gesellschaften verknüpft war“ (Hall, 1978, S.26; zitiert nach Miles, 1989, S. 361) Rassismen unterscheiden sich beispielsweise nach der Gruppe, die Objekt des Rassismus ist, nach den natürlichen Merkmalen, denen Bedeutung beigemessen werde, nach den zugeschriebenen Charakteristika. Immer aber werde die Welt in zwei Pole des „wir“ und „die Anderen“ gespalten. Die Anderen werden aus der Familie der Nation ausgeschlossen. Als „institutionellen Rassismus“ bezeichnet Miles Ausschließungspraxen, die aufgrund eines rassistischen Diskurses stattfänden, aber dennoch nicht mehr ausdrücklich damit gerechtfertigt würden oder, zweitens, bei der Veränderung eines explizit rassistischen Diskurses in einen verdeckten, so dass die ursprüngliche Bedeutung erhalten bleibe, aber sprachlich anders verpackt werde. „Will man also das Vorhandensein von institutionellem Rassismus erfassen, muss man auf die Geschichte des Diskurses rekurrieren und zeigen, dass vor dem Schweigen ein rassistischer Diskurs existierte“ (Miles, 1989, S.362). 25 Miles unterscheidet drei Vorgänge in Zusammenhang mit Rassismus: Bedeutungskonstitution (signification), Rassenkonstruktion (racialisation), Rassismus (racism).Zunächst werde eine Auswahl von biologischen oder somatischen Merkmalen zur Klassifizierung vorgenommen, um daraus die auszuwählen, die angenommene Unterschiede bezeichnen. Um Rassenkonstruktion - ein Begriff, der zuerst von Fanon benutzt wurde - handele es sich, „wenn soziale Beziehungen dadurch strukturiert werden, dass biologische Merkmale die Bedeutung bekommen, unterschiedliche soziale Gruppen zu konstruieren“ (Miles, 1989, S. 356). 34 Das Vorurteil ist ein wichtiges Element für den Erhalt rassischer Diskriminierung. Das Vorurteil ist ein Unterprodukt des Rassismus. Eine ablehnende Haltung bei den zwischenmenschlichen Beziehungen, eine negative Bewertung, die von vornherein da ist Sie wird aufrecht erhalten, auch wenn die Fakten dagegen sprechen, weil es sich nicht auf eine konkrete Basis stützt (Crochik, 1995). Vorurteile beziehen emotionale und kognitive Aspekte mit ein. Rassische Vorurteile entwickeln sich aufgrund einer Überlegenheitsidee einer Gruppe über eine andere und haben das Ziel der Stigmatisierung dieser Gruppe. Ihnen werden ebenso negative wie vermeintlich positive Haltungen und Verhaltensweisen zugeschrieben. Rassische Vorurteile sind überall in der Gesellschaft präsent, im Alltag des Individuums, den sozialen Beziehungen und den Medien. Die Stereotypen sind die Leitfäden für die Verbreitung der Vorurteile. Sie sollen das Problem, vereinfachen. Sie verhindern, das über die Auswirkungen der sozialen Bedingungen nachgedacht wird. Ihre Inhalte sollen den Status Quo erhalten. Die Stereotypen bringen das Stigma hervor, das dem anderen aufgedrückt wird. Sie erschweren seinen sozialen Aufstieg, machen ihn unglaubwürdig. „Die Rasse als soziales Attribut ist historisch gewachsen und funktioniert als eines der wichtigsten Kriterien bei der Verteilung sozialer Hierarchien.... Die Rasse ist einer der fundamentalen Aspekte der Reproduktion der sozialen Klassen“ schrieb der langjährige Leiter des Centro de Estudos Afro-Asiáticos in Rio de Janeiro (Hasenbalg, 1979, S.90). Auch der brasilianische Wirtschaftswissenschaftler Hélio Santos unterscheidet Rassismus von rassischen Vorurteilen und Diskriminierung. Von Rassismus spricht er, wenn einer Gruppe bestimmte negative Aspekte aufgrund ihrer körperlichen oder kulturellen Aspekte zugeschrieben werden, während individueller oder persönlicher Rassismus in enger Verbindung zu rassischen Vorurteilen steht, sich also jemand aufgrund seiner Herkunft überlegen fühlt. Rassismus und Vorurteile sind Haltungen, Diskriminierung ist die praktische Umsetzung (H.Santos, 2001, S.109f.) In seinem Land unterscheidet Santos drei Formen rassischer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt: Die „beschäftigungsmäßige Diskriminierung“ (discriminação ocupacional) stelle die Fähigkeit der Afro-Brasilianer in Frage bestimmte Aufgaben erfüllen zu können. Bei der „lohnabhängigen Diskriminierung“ (discriminação salarial) erhielten Afrobrasilianer weniger Geld für gleiche Arbeit. Als „Diskriminierung durch das Erscheinungsbild“ (discriminação pela imagem) bezeichnet er den Sachverhalt, dass Afro-Brasilianer angesichts 35 des europäischen Ideals für bestimmte Tätigkeiten nur ungern angestellt werden26 (H.Santos, 2001, S.90) Alkemeyer & Bröskamp lenken die Aufmerksamkeit auf den ambivalenten Charakter der Rassenkonstruktion. Nicht die negative Bewertung der anderen sei konstituierend für Rassismus, Rassismus kann auch in gutgemeinten Handlungen oder Paternalismus gegenüber diesen Gruppen versteckt sein. Deshalb sei es sowohl analytisch, als auch politisch wichtig zwischen Xenophobie, Rassenhass und Idealisierung zu unterscheiden (Alkemeyer & Bröskamp, 1996). In Brasilien kommen solchen gutgemeinten Handlungen und paternalistischen Attitüden gegenüber den Afro-Brasilianern besondere Bedeutung zu. Xenophobie und Rassenhass sind dagegen Sachverhalte, die nicht typisch für die brasilianische Gesellschaft sind. Das alte Konzept der Rasse wird gegen Ende des 20 Jahrhunderts zunehmend ersetzt durch das Konzept der Kultur. „Wir versuchen den Diskurs des Rassismus rational zu analysieren, während er seine Macht und Dynamik gerade aufgrund der mythischen und psychischen Energien gewinnt, die in die Kultur investiert werden“ (Hall, 1989, S.921). Es geht nicht mehr darum, Rassenreinheit zu bewahren, sondern kulturelle Identität. Über kulturelle Identität verfügt jemand, kann sie erwerben oder den anderen damit identifizieren. Kulturelle Identität ist ein eher positiv besetzter Begriff. Hinter ihm kann aber auch die Vorstellung stehen, dass die kulturellen Grenzen nicht überwindbar und die Kulturen unvereinbar miteinander sind. Jede Kultur soll existieren, aber innerhalb ihrer Grenzen. „The model propagated here is one of a heterogenous world of homogenous people, each group with its own living space“ (Alkemeyer & Bröskamp, 1996, S.43). Balibar spricht in diesem Zusammenhang von „Rassismus ohne Rassen“ (Balibar, 1990). 2.2 („Schwarze“) Kultur und Identität Was ist Kultur? Vom Lateinischen „Bebauung“, „Pflege“ (des Körpers und Geistes), „Ausbildung“ kommend ist Kultur, laut Lexikon, die „Gesamtheit der typischen 26 Noch in den 80er Jahren stellte der sogen. „código 4“ die verklausulierte Bezeichnung der Hautfarbe des Kandidaten im Nationalen Beschäftigungs System (Sistema Nacional de Emprego) Santos, 2001, S.91. 36 Lebensformen größerer Gruppen einschließlich ihrer geistigen Aktivitäten, besonders der Werteinstellungen. ... Kultur im engeren Sinne bezeichnet alle Bereiche der menschlichen Bildung im Umkreis von Erkenntnis, Wissensvermittlung, ethischen und ästhetischen Bedürfnissen“ (Meyer, 1998, S. 234). Kultur ist also der Kontext bzw. ein Rahmen, in dem gesellschaftliche Verhaltensweisen, Institutionen und Ereignisse verständlich werden. 2.2.1 Kultur und kulturelle Identität – auf den Spuren von Clifford Geertz und Pierre Bourdieu Den phänomenologischen Herangehensweisen, die positivistisch Ab-straktionen mit Sinngehalten zu verbinden suchen, stehen seit den 70er Jahren kulturalistische oder interpretative Verhaltensweisen gegenüber. Zu den wichtigsten Beiträgen zum Verständnis kultureller Systeme gehören die Arbeiten des amerikanischen Anthropologen Clifford Geertz. Er vertritt einen semiotischen Kulturbegriff und versteht Kultur als das selbstgesponnene Bedeutungsgewebe, in welches der Mensch verstrickt sei. Kultur sei ein „geschichtlich übermittelter Komplex von Bedeutungen und Vorstellungen, die in symbolischer Form zutage treten und es den Menschen ermöglichen, ihr Wissen über das Leben und ihre Einstellung zur Welt einander mitzuteilen, zu erhalten und weiterzuentwickeln“ (Geertz, 1994, S.2) Kultur sei also ein System sozialer Symbole oder - anders formuliert - artikulieren sich kulturelle Formen in den sozialen Handlungen der Menschen. Durch ihre „dichte“ Beschreibung, welche die komplexen Vorstellungswelten herausarbeite, eröffne sich eine Möglichkeit des Verstehens von Kultur. Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kultur gehöre das Erkennen und Deuten dessen, „was man wissen oder glauben muss, um in einer von den Mitgliedern dieser Gesellschaft akzeptierten Weise zu funktionieren“ (Goodenough zitiert nach Geertz, 1994, S. 17). Für diese Arbeit lieferten die Überlegungen Clifford Geertz´ den Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit den kulturellen Manifestationen der Afro-Brasilianer, insbesondere die von ihm geforderte „dichte Beschreibung“, welche die teilweise übereinander gelagerten und ineinander verwobenen Gedankenwelten der zu untersuchenden Individuen darzustellen versucht. Zu den wichtigsten Arbeiten über die Funktionen von Kultur in den 90er Jahren gehören die Arbeiten des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. In den heutigen westlichen 37 Gesellschaften identifiziert er nicht nur eine ökonomische und soziale Machtverteilung, sondern auch eine kulturelle. Die soziale Praxis werde symbolisch und ästhetisch organisiert. Gesellschaftliche Macht werde über die Zustimmung zu Geschmack und Symbolen ausgeübt. Kulturelle Formen haben eine soziale Herkunft und werden bei Bourdieu in einem vom Habitus geprägten sozialen Handeln erworben. Er unterscheidet die einfache Kultur von der Kultur der Klassengesellschaft, wobei letztere als Herrschaftsprodukt funktioniere. Neben dem ökonomischen gebe es also ein kulturelles Herrschaftsprodukt in der bürgerlichen westlichen Klassengesellschaft (Bourdieu, 1984, S.16). Der Geschmack ist der kulturelle Code, der ungleich verteilt sei. Auf der Ebene der symbolischen Auseinandersetzung entfalte er differenzierende Wirkung. Bei Bourdieu gibt es eine Konkurrenz auf der Ebene des Symbolischen, um die Definition des legitimen Lebensstils. Kulturelles Wissen und intime Vertrautheit mit der legitimen Kultur stellen das „kulturelle Kapital“ dar. Kulturelles Kapital könne drei Formen annehmen: Es könne verinnerlicht, also inkorporiert sein, es könne objektiviert werden in Form von kulturellen Gütern und sogar institutionalisiert werden (Bourdieu, 1984, S.13). Der Geschmack verwandele die soziale, dingliche Welt, Personen und Sachen, in eine mit Bedeutung ausgestattete symbolische Welt. Dabei handele es sich um ein verinnerlichtes System von Klassifikationsschemata, zur Ordnung der Welt, zur Entschlüsselung und Orientierung. Der Geschmack ist der praktische Orientierungssinn, der „sense of one´s place“, der soziale Differenzen, die in den Habitus-Formen verkörpert sind, bemerkt. Als „Habitus“ bezeichnet Bourdieu ein „subjektives, aber nicht individuelles System verinnerlichter Strukturen, gemeinsamer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu1987, S.112). Die kulturellen Abgrenzungen („distinctions“) seien die wesentliche Grundlage kulturellen Wandels, insbesondere der verschiedenen schichtspezifischen Lebensstile und Formen des kulturellen Konsums. Es bestehe eine Tendenz, das System der sozialen Stratifikation zu verstärken. Die sozialen Verhaltensweisen werden über das Bildungssystem kulturell reproduziert (Bourdieu, 1984). Die Kulturtheorie Bourdieus verbindet Ästhetik mit Praxis. Für ihn handeln die Menschen nicht nach Theorien, sondern gemäß einer spezifischen Praxis, verfolgen bestimmte Strategien und wenden erworbenes Wissen an. Innerhalb ihres sozialen Umfeldes entwerfen die Menschen ihre Antworten auf die Anforderungen der Situation, indem sie handeln. 38 Bourdieus Kulturstudie bezieht sich auf Frankreich, ein europäisches Land mit einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Sie liefert jedoch auch einige wertvolle Denkansätze für die Beschäftigung mit der Kultur in Brasilien, deren grundlegender Unterschied zu Frankreich das Zusammentreffen europäischer, afrikanischer und indianischer Kulturelemente ist. Die europäisch geprägte Kultur, die sich von der einfachen Volkskultur unterscheidet, ist dominierend, wenn auch nicht dominant. Sie ist die Kultur, die den Geschmack prägt, nach deren Codes bewertet wird. Die afrikanische Kultur ist die am weitesten verbreitete, deren einzelne Elemente (Samba!) zum Aufbau einer nationalen Identität von den herrschenden europäischen Schichten übernommen wurden. Die Beziehungen der Kulturen sind nicht statisch, sondern in einem permanenten Austausch und Wandel begriffen. Zu einem der wichtigsten Faktoren bei der Beschäftigung mit der brasilianischen Kultur, gehört die Beachtung einer weiteren Komponente: Geschmacksurteilen aufgrund von bewussten oder unbewussten rassischen Vorurteilen und Diskriminierung. Auf die Bedeutung des Körpers als Gegenstand von Geschmacksurteilen verweist Gebauer (Gebauer, 1982, S. 313-329). Die Formen körperlicher Präsentationen, die eigenen und die der Anderen, werden wahrgenommen und bewertet. Jede noch so flüchtige oder intensive Wahrnehmung sei immer auch ein Akt der Dechiffrierung auf der Basis eines inkorporierten kulturellen Codes. Geschmacksurteile drücken Empfindungen, Bilder, Normen etc aus. Wo die Geschmacksnormen auseinanderstreben, äußere sich der Geschmack häufig negativ als Ablehnung, im extremsten Fall als Diskriminierung aufgrund körperlicher Unterschiede. Der Geschmack sei das ästhetische Prinzip, das die Darstellung der sozialen (bzw. ethnischkulturellen) und personalen Identität auf der Ebene des Körperlichen einrichtet (Gebauer, 1982, S. 313-329). Kulturelle Identität hängt eng mit dem Begriff der ethnischen Identität zusammen. Ethnizität ist ein seit den 70er Jahren viel diskutiertes Konzept, das ausgehend von der Definition Barths, die Existenz ethnischer Gruppen von der Herausbildung und Bewahrung ethnischer Grenzen abhängig macht (Barth, 1969). Dabei handelt es sich nicht, wie zunächst angenommen, um objektive Klassifikationssysteme, sondern um subjektive in der alltäglichen Praxis eingesetzte Klassifikationssysteme der handelnden Individuen, auf deren Grundlage 39 Eigen- und Fremddefinitionen vorgenommen werden27. Ethnische Grenzen sind soziale Konstrukte, Vorgänge der Ein- und Ausschließung der anderen. „Ethnische Gruppen tendieren dazu, sich weniger durch den Bezug auf ihre eigenen Charakteristika zu definieren, als vielmehr durch den Ausschluss anderer“ (Bröskamp, 1993, S.188). So verstanden liefert die Ethnizitäts-Diskussion wertvolle Anregungen für die Beschäftigung mit dem Rassismus und der Frage nach der kulturellen Identität der Afro-Brasilianer. Bleibt die Frage nach den Entwicklungsbedingungen für die Ausformulierung von kultureller Identität: Ist kulturelle Identität quasi naturgegeben oder entwickelt sie sich nicht vielmehr aus der Krise heraus, insbesondere im Übergang traditioneller zu modernen Gesellschaften (Dittrich & Radtke, 1991, S.24). Bröskamp lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass das Habituskonzept eine innovative Perspektive einer „praxeologischen Ethnizitätsforschung“ ermögliche. Ethnische Identität unterscheide sich nicht von anderen Formen kollektiver Identität und solle in Zusammenhang mit anderen sozio-strukturellen Kategorien betrachtet werden. „In dem vom Habitus erzeugten Reproduktions- und Distinktionsstrategien (Heirats-, Freundschafts-, Fortpflanzungs-, Bildungs-, Konsumstrategien etc.) ist das affektive Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit immer mit einem uneingestandenen, weil gesellschaftlich verschleiertem ökonomischen Kalkül untrennbar verschmolzen, das allen Formen kultureller Praxis und kulturellen Konsums zugrunde liegt“ (Bröskamp, 1992) 2.2.2 Schwarze Kultur und Identität Schwarze Kultur ist für viele eine besondere Form von Kultur, nicht nur für den britischen Soziologen Stuart Hall „ein widersprüchlicher Raum per Definition“ (Hall, 1992, S.26). Was ist „schwarze Kultur“? Nur von „Schwarzen“ gemachte Kultur, nur „Schwarzen“ verständlich? “In its expressivity, its musicality, its orality, in its rich, deep and varied attention to speech, in its inflections toward the vernacular and the local, in its rich production of 27 Die primordialistischen Ansätze gehen davon aus, dass ethnische Gruppen sich dauerhaft durch das affektive Potential primordialer Bindungen halten, während die instrumentalistischen Ansätze ethnische Identitäten eher als instrumentell eingesetzte Gruppenstrategien von Interessengruppen verstehen. 40 counternarratives, and above all, in its metaphorical use of the musical vocabulary, black popular culture has enabled the surfacing, inside by the mixed and contradictory modes even of some mainstream popular culture, of elements of discourse that is different other forms of life, other traditions of representation” (Hall, 1992,S.27). Ausdrucksstärke, Musikalität, Oralität, Sprachgewandtheit, Betonung des Lokalen, Schaffung von Gegenwelten und der metaphorische Gebrauch des musikalischen Vokabulars sind die Aspekte, mit denen Stuart Hall die moderne schwarze populäre Kultur charakterisiert. Auch er betont die Bedeutung der Musik als wichtigster Ausdrucksform und nennt als weiteres Element die Inszenierung des Körpers „Style …has become itself the subject of what is going on“ (Hall, 1992, S.27) Es waren die Begründer der Négritude-Bewegung, schwarze Intellektuelle aus den französischen Kolonien der Karibik und Afrikas, die in den 30er Jahren in Paris eine kulturphilosophisch und literarische Bewegung in Gang setzten, die sich erstmals kontinentumfassend Gedanken über „schwarze Kultur“ machten. Zwar gebe es keine „reinen Neger“, aber es gebe die „Negerkultur“, die durch den Rhythmus charakterisiert werde schrieb der Senegalese Léopold S. Senghor (Senghor, 1967, S.23). „Das heißt, dass die Negermusik wie die Skulptur, wie der Tanz im nährenden Boden verwurzelt ist, dass sie beladen ist mit Rhythmen, mit Lauten, und Geräuschen der Erde. ... Auch sie vermittelt Gefühle - keine Sentimentalitäten allerdings. Sie vermittelt der verarmten, okzidentalen Musik, die sich immer auf die gleichen zufälligen, vor allem zu engen Regeln stützte, den nötigen Saft....Der fleischgewordene Rhythmus“ (Senghor, 1967, S.26). Die „schwarze“ Musik stellt nicht erst seit den 60er Jahren einen Bereich dar, der als „typisch“ für Menschen mit dunkler Haut angesehen wird. Seit sich Blues und Jazz als Musikformen ab Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten durchsetzten, gibt es die Diskussion um die typisch „schwarze Musik“. „Ohne Unterdrückung und ohne Rassismus gibt es keinen Blues“ schrieb Senghors karibischer Zeitgenosse Frantz Fanon und trifft damit einen zentralen Aspekt, wenn von schwarzer Musik die Rede ist (Fanon, 1986, S.141). Sie gilt als die Musik der Sklaven und ihrer Nachfahren auf den Plantagen, als die Musik der ausgebeuteten und entwurzelten Industriearbeiter, als die Musik der Underdogs und Marginalisierten in den Städten. Mit Bob Marley erlangte der jamaikanische Reggae in den 70er Jahren seinen weltweiten Durchbruch. Anfang der 80er Jahre haben jugendliche 41 Schwarze in New York den Rap und die HipHop-Kultur erfunden, die heute überall in der Welt zu finden sind. Die Verbreitung afrikanischer Musik begann ab Mitte der 80er Jahre zunächst noch stark über den Bezug zu den alten Kolonialmächten. Bis heute ist „black music“ also ein fester Begriff für bestimmte Musikrichtungen, die anfänglich oder vorwiegend von Afro-Amerikanern gemacht wurden, inzwischen aber viel weiter gefasst werden muss. Der englische Soziologe Paul Gilroy prägte den Begriff des Black Atlantic, der die kulturelle Dynamik der schwarzen Diaspora aus einem neuen Blickwinkel betrachtet. Es geht nicht mehr darum, die afrikanischen Wurzeln der kulturellen Praktiken in den schwarzen Gemeinschaften zu erkennen und deren Authentizität im Vergleich zum „Original“ zu bewerten, wie es lange Zeit Praxis von Anthropologen und Soziologen war. Der Begriff des Black Atlantic steht für die Dynamik des interkontinentalen Austausches. Auf die schwarze bzw. afro-amerikanische Musik übertragen bedeutet dies, dass sie nicht aus einer einzigen Wurzel gespeist wird, sondern aus einem weit verzweigten Netz miteinander in Beziehung stehender Traditionen schöpfen kann. Teilweise sei es heute nicht mehr möglich zu erkennen, ob eine bestimmte Musikrichtung wie sie heute in Afrika oder der Diaspora gespielt wird, auf dem schwarzen Kontinent oder in den Amerikas erfunden wurde (Gilroy, 1993) Zur Internationalisierung schwarzer Kultur trägt, so der italienische Anthropologe Lívio Sansone, die Konvergenz bestimmter struktureller Faktoren bei, wie ökonomische Situation, Stellung im Arbeitsmarkt, Position in der Gesellschaft etc., aber auch der von den Schwarzen selbst gesuchte Austausch (Sansone, 1994). Für ihn nehmen in diesem Gefüge die USA und die ‘African Americans’ die zentrale Rolle ein. Von hier kämen die meisten Impulse, während Afrika und zunehmend Brasilien als Quelle der Inspiration gelten. Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen soll die schwarze Kultur als „eine spezifische Sub-Kultur der afrikanisch-amerikanischen Bevölkerung innerhalb eines sozialen Systems, das die Hautfarbe oder die Herkunft der Hautfarbe als wichtiges Kriterium annimmt, um Menschen zu unterscheiden und zu trennen“ (Sansone, 1995, S.66) definiert werden. Die Bedeutung der Kultur zur Ausbildung einer kulturellen Identität klang bereits vorher schon an, dies gilt jedoch in besonderem Maße für die schwarze Kultur und Identität. Überall in Lateinamerika, aber ganz besonders in Brasilien, wird schwarze Identität mit Rückgriff auf die lokalen schwarzen Traditionen formuliert, aber auch unter Bezug auf Objekte, Symbole und Musikstile, die es in der internationalen schwarzen Jugendkultur gibt. Die Art und Weise, 42 wie neue Musik- und Lebensstile von schwarzen Jugendlichen kreiert werden, und ihre Bedeutung ähneln sich: Die linguistische Innovation bei der rhetorischen Stilisierung des Körpers, die Haarmoden, die Arten zu gehen, zu stehen, zu reden und Zusammengehörigkeit auszudrücken, aber auch die erhöhten Erwartungen und die Art und Weise einen fremden sozialen Raum zu erobern. Bei der Kreierung der neuen Stile sind die mimetischen Prozesse besonders wichtig. Als Mimesis bezeichnet der Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf „Prozesse produktiver Nachahmung“ (Wulf, 2003), die Identifikation einer Person mit einer anderen. Sie enthalten eine Handlungs- und eine Wissenskomponente. Für Wulf und seinen Forschungskollegen Gebauer ist Mimesis ein „verbales Etikett für vielfältige soziale Prozesse“ (Gebauer u. Wulf, 1992, S.14). „Mimesis ist nicht an die Grenzziehungen zwischen Kunst, Wissenschaft und Leben gebunden. .... Mimetische Prozesse sind nicht eindeutig; vielmehr sind sie ambivalent. ... die sich mimetisch zu angenommenen Wirklichkeiten verhaltenden Bilder der Massenmedien fördern die Ästhetisierung der Welt. Sie schaffen vorgebliche oder konstruierte Wirklichkeiten, verändern sie, saugen sie auf“ (Gebauer u. Wulf, 1992, S.10). Bezogen auf die afro-brasilianische Kultur haben die mimetischen Prozesse m.E. eine herausragende Bedeutung: In der Musik, im Tanz, beim Capoeira und ganz besonders bei den rituellen Handlungen des Candomblé wird Wissen fast ausschließlich durch Nachahmung, Zuschauen, Wiederholen erworben. Auch in Zusammenhang mit der Entwicklung der Blocos Afros lassen sich die mimetischen Prozesse zur Konstruktion einer neuen schwarzen Identität beobachten. Über die Mimesis kommt es zur „Produktion einer symbolischen Welt, die praktische und theoretische Bestandteile einbezieht. ... Während das moderne rationale Denken auf das einzelne isolierte Erkenntnissubjekt bezogen ist, ist Mimesis immer eine Angelegenheit eines Beziehungsgeflechts von Personen: Die mimetische Erzeugung einer symbolischen Welt nimmt Bezug auf andere Welten und ihre Schöpfer und schließt andere Personen in die eigene Welt ein“ (Gebauer u. Wulf, 1992, S.11). Schwarze Kultur kann also auch als Prozess verstanden werden, durch den die Afro-Brasilianer ihre Handlungen innerhalb der Gesellschaft orientierten und ihnen Bedeutungen gaben über die Manipulation der Symbole (Morales, 1990, S.19). Die Organisation über Symbole ist für den brasilianischen Sozialwissenschaftler Muniz Sodré das entscheidende Merkmal der schwarzen brasilianischen Kultur gegenüber dem westlichen 43 Denken, das er als ein begriffliches, bestimmendes Denken ansieht.. „Eine Kultur, die sich auf Symbole gründet, ist offen für Ambivalenz und Flexibilität. Das Symbol organisiert, es benennt nicht. Der Sinn wird sozial gefüllt“ sagt Sodré im Interview (die tageszeitung, 27.12.1994) In der afro-brasilianischen Kultur, insbesondere in der Religion des Candomblé gibt es keine einfache Trennung zwischen Materiellem und Symbolischem. Es gibt soziale Beziehungen zu den Kräften der Natur und den Göttern. Für Sodré ist das Terreiro, die Candomblé-Kultstätte, das zentrale Element der schwarzen Kultur in Brasilien. Auch er sieht die Musik als eine der wichtigsten Ausdrucksformen schwarzer Kultur. „Die Musik ist die Waffe, mit der er ein ihm nicht zugängliches Territorium erobert und dieses mit den Besonderheiten seiner Mentalität neu konstituiert“ sagt Sodré und gibt zwei Beispiele: Anfang des Jahrhunderts durften in Rio de Janeiro Schwarze nicht durch den Vordereingang in die Häuser der weißen Oberschicht. Als die Schwarzen dann anfingen den weißen Brasilianern Gitarrenunterricht zu geben, durften sie auch den Vordereingang benutzen. Das zweite Beispiel ist das „Sambahaus“ einer Priesterin Anfang des Jahrhunderts in Rio. „Ihr Haus war sozusagen eine Metapher für diese Strategien der Eroberung. Im Vorderteil des Hauses wurden Bälle gegeben, die den Normen der gehobenen Gesellschaft entsprachen. Im mittleren Teil war ein Restaurant, wo die Gäste essen konnten. Im hinteren Teil des Hauses wurden jedoch religiöse Kulte praktiziert sowie samba rasgado (wörtlich: zerrissener Samba) getanzt, ein Tanz der in der Öffentlichkeit als unmoralisch verpönt war. Das Ballhaus funktionierte, wie eine spanische Wand, wie eine Raummetapher der Widerstandshaltung schwarzer Kultur. ... Die Struktur dieses Hauses ist wie ein semiotisches Dispositiv der Übereinkunft und Verhandlung. Das sind die Strategien der schwarzen Kultur. Gekämpft wird nur als letzter Ausweg“ (die tageszeitung, 27.12.1994). Schwarze Identitäten in Brasilien sind also keine Naturgegebenheit. Sie werden konstruiert. Anders als in den USA, wo die ethnische Abstammung entscheidend ist bei der Definition und Identität als african american, klassifizieren die meisten Brasilianer nach dem Erscheinungsbild und den sozialen Verhältnissen. Die Frage nach der Hautfarbe ist nicht allein eine Angabe zur Beschreibung des äußeren Erscheinungsbildes einer Person wie die Augenfarbe oder das Geburtsdatum. In der brasilianischen Realität (nicht nur in dieser, aber hier im Besonderen) ist sie ebenso Symbol einer bestimmten als „normal“ empfundenen sozialen Position, wie Signal für die Art der sozialen Umgangsformen oder Zeichen für den Zugang zu gesellschaftlichen Räumen. „Die Frage nach der Abgrenzung ist ja nicht bloß eine akademische Spitzfindigkeit, um das ´Studienobjekt´ besser in den Griff zu bekommen, sie ist 44 vor allem auch Teil der brasilianischen Alltagsdynamik“ beobachtet der österreichische Anthropologe Hofbauer treffend. Im Verlauf der Arbeit wird sich zeigen, dass zum Aufbau einer „neuen“ afro-brasilianischen Identität ebenso auf die traditionelle schwarze Kultur zurückgegriffen wird, wie – begünstigt durch die zunehmende Globalisierung - Bezug auf ein großes Reservoir moderner, internationaler schwarzer Kultur genommen wird. Der symbolische Austausch zwischen Schwarzen auf beiden Seiten des Atlantik ist ein gutes Beispiel für die Beobachtung des Anthropologen Ulf Hannerz. In dem Maße, wie die Entwicklung von Massenmedien, elektronischen Konsumgütern, Freizeitindustrie und die Globalisierung der westlichen urbanen Gesellschaft im allgemeinen einen Homogenisierungsprozess bedeuten, bieten sie auch die Möglichkeiten für die Schaffung neuer ethnischer Subkulturen und kultureller Heterogenität (Hannerz, 1989). Das Besondere bei den afro-brasilianischen kulturellen Manifestationen ist, dass die lokalen schwarzen Traditionen so stark sind, dass etwas Eigenes entsteht, eine eigene Musikform wie z.B. der Samba-Reggae. Bei den Blocos Afros handelt es sich also nicht um jugendliche schwarze Musikgruppen, die auch Reggae oder Rap spielen und sich mit dem dazugehörigen Universum identifizieren, sondern die etwas Neues gemacht haben. Dadurch werden sie auch zur Quelle der Inspiration für Menschen anderer schwarzer Kulturen. 45 3.Afro-brasilianische Kultur seit über 100 Jahren im Blickpunkt der Wissenschaften Seit mehr als 100 Jahren beschäftigen die afro-brasilianische Kultur und die Rassenbeziehungen in Brasilien Sozial- und Geisteswissenschaftler. Die brasilianischen Forschungen stehen, wie bereits erwähnt, in engem Zusammenhang mit der Entwicklung Brasiliens zu einer Nation und dem Selbstbild des Landes, während sie andererseits bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts in einen internationalen Kontext eingebettet sind. Die Publikationen sollen hier fünf Perioden zugeordnet werden. Anschließend sollen die wichtigsten Tendenzen der Karnevals-Forschung in Brasilien vorgestellt werden. 3.1 Afrikaner in Brasilien - ein Problem für die Elite Bei den ausländischen Wissenschaftlern und Besuchern sind die afro-brasilianische Kultur und das Miteinander der Rassen in Brasilien von Anfang an auf großes Interesse gestoßen. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert brachten die Reisenden Jean Baptiste Debret, Johann Moritz Rugendas und Johann Baptist Spix & Karl Friedrich Philipp von Martius Szenen vom Leben der afrikanischen Sklaven in Bild und Schriften nach Europa mit 28. Der Gerichtsmediziner Nina Rodrigues (1862-1906) war der erste brasilianische Wissenschaftler, der über Afrikaner und ihre Nachfahren in Brasilien geforscht hat. Erst 26 Jahre nach seinem Tod erscheint 1932 das Buch „Os africanos no Brasil“, Ergebnis der Forschungen zwischen 1890 und 1905. Auf der Basis der herrschenden Rassenideen seiner Zeit beschäftigte sich der aus dem Bundesstaat Maranhão stammende Naturwissenschaftler mit dem „Neger-Problem“. Schwarze galten als menschliche Anormalität und Nina Rodrigues versuchte dies wissenschaftlich zu belegen. Trotz der „dem ranzigen Geruch seiner Zeit“ (A.Santos, 1996, S.42), wie der bahianische Musikforscher Santos es formuliert hat, ist das Werk Rodrigues reich an Informationen zur schwarzen Kultur um die Jahrhundertwende. Seinen Spuren folgt der Alagoaner Artur Ramos, ebenfalls Gerichtsmediziner am Instituto Médico Legal in Salvador, der 1934 „O negro brasileiro“ veröffentlicht. In Ramos Schriften erscheint die schwarze Kultur folkloristisch und fremdartig. 28 Jean Baptiste Debret „Voyage pittoresque e historique au Brésil“ von 1834, Johann Moritz Rugendas „Voyage pittoresque dans le Brésil“ von 1835, Johann Baptist Spix & Karl Friedrich Philipp von Martius „ Reise in Brasilien in den Jahren 1817 bis 1820“ 46 Den Ethnografen Manuel Querino dagegen fasziniert die afrikanische Kultur in Brasilien. Das 1938 veröffentlichte Werk „Costumes africanos no Brasil“ ist frei von rassistischen Prämissen. Wie Querino fühlte sich auch der Anthropologe Edison Carneiro von der „baianidade negra“ angezogen. Sein 1936 erschienenes Buch „Religiões negras“ und der von ihm organisierte Zweite Afro-Brasilianische Kongreß in Salvador ein Jahr später, tragen entscheidend zur Aufwertung der afrikanischen Einflüsse in der brasilianischen Kulturgeschichte bei. Hier beginnt, was Santos als „Liebes“-Verhältnis zwischen Intellektuellen und der schwarzen Kultur, insbesondere dem Candomblé bezeichnet (A.Santos, 1996, S.34). Als „großes Abenteuer“ beschreibt Edison Carneiro auf dem Zweiten Afro-Brasilianischen Kongreß in Salvador 1937 die „Entdeckung der Psyche des Schwarzen (Negers) in Brasilien und im besonderen des bahianischen Schwarzen (Neger), unverstanden, ausgebeutet, unterdrückt durch den Weißen ohne Recht auf einen Platz an der Sonnenseite in der Gesellschaft“ (Carneiro zitiert nach Santos, 1996, S. 35). Carneiro gehörte - wie der bahianische Schriftsteller Jorge Amado - zur sogenannten „Academia dos Rebeldes“, einem Kreis Intellektueller, die von marxistischen Ideen beeinflusst waren und sich für die Volkskultur interessierten. Das Leben der einfachen Leute in Salvador und auf dem Land in der Kakaoregion um Ilhéus ist es, das der weltweit erfolgreichsten brasilianischen Schriftsteller bereits in seinen ersten Romanen aus den 30er Jahren „País do carnaval“ (Land des Karnevals), „Cacau“ (Kakao), „Suor“ (Schweiß) und „Jubiabá“ beschreibt. 3.2 Brasildade – die Entstehung eines Mythos Anfang des 20. Jahrhunderts konsolidiert sich Brasilien als Nation unter den Vorzeichen der Ideologie und Praxis der „Aufhellung“ (embranquecimento ). Die rassische Zusammensetzung ihres Landes betrachtete die brasilianische Elite zunächst als Hindernis für Fortschritt und Modernität. Die negative Haltung wich erst langsam einer positiveren Sichtweise der rassischen Vermischung, welche die rassische Heterogenität nicht mehr als Hindernis nationaler Integration und Fortschritts ansieht. Die biologische und kulturelle Vermischung der Menschen wurden als Indiz für Toleranz und Harmonie in den Rassenbeziehungen gewertet. Der Mythos der Rassendemokratie war geboren. 47 Den Grundstein für diese veränderte Sichtweise hat der Soziologe Gilberto Freyre mit dem Buch „Casa grande e senzala“ gelegt. Im selben Jahr in dem Hitler in Deutschland die Macht ergreift, 1933, veröffentlicht der in Recife/Pernambuco geborene Gilberto Freyre das Buch „Herrenhaus und Sklavenhütte“, eine Absage an die deterministischen und rassistischen Theorien seiner Vorgänger. Mit ihm verlagert sich der Fokus der afro-brasilianischen Studien von der medizinisch-biologischen Perspektive zu einer soziologisch-historischen Herangehensweise. Das Buch Freyres begründet eine neue – und bis heute gültige Sichtweise Brasiliens, die in ihrer Ausstrahlung mit den Werken Cervantes, Camões, Tolstois oder Sartre auf Bild und Selbstbild Spaniens, Portugals, Russlands oder Frankreichs vergleichbar ist. Freyre war davon überzeugt, daß Brasilien durch die fast komplette Abwesenheit rassischer Vorurteile Modell einer „Neuen Welt in den Tropen“ sei, das dem Rest der Welt ein Beispiel zur Lösung ihrer Rassenprobleme gäbe. Den Beispielcharakter des Landes sah Freyre in der kolonialen Vergangenheit und den aus seiner Sicht positiven Erfahrungen des Sklavensystems begründet. Er argumentierte, daß durch die relativ häufige Rassenvermischung während der Kolonialzeit eine große gemischte Bevölkerung herangewachsen sei. Damit werde rassischen Vorurteilen von vornherein der Boden entzogen. Beim Übergang ins 20. Jahrhundert habe diese harmonische Verbindung von Schwarzen und Weißen die Basis der breiten Demokratisierung der brasilianischen Gesellschaft geliefert. Die rassische Zusammensetzung Brasiliens wird nun nicht mehr als Hindernis der Entwicklung gesehen, sondern als eine positive Besonderheit Brasiliens. Der Mischling wird zum Symbol nationaler Identität, der brasildade, der Mischung von Portugiesen, Afrikanern und Indianern. Die teilweise stark romantisierende Darstellung der Sklaverei wird zur Hauptkritik am Werk Freyres. Die „Vermischung“ der Rassen sei weder vorurteilsfrei noch demokratisch vor sich gegangen. Die sexuellen Beziehungen zwischen Sklavenhaltern und Sklavinnen waren bestimmt durch die bestehenden Machtverhältnisse und eher von Gewalt als rassendemokratischen Gedanken geprägt. Darüber hinaus stand die reaktionäre Haltung Freyres und seine politische Nähe zur Militärregierung ab 1964 im Konflikt zu den Sichtweisen vieler seiner Forschungskollegen. Dennoch bestätigt der Anthropologe Darcy Ribeiro dem Buch „Herrenhaus und Sklavenhütte“ eines der wichtigsten Bücher der brasilianischen Kultur zu sein. „Er lehrte uns, uns mit unserer lusitanischen und negroiden Herkunft auszusöhnen, derer wir uns alle ein wenig schämten... Gilberto verdanken wir vor allem gelernt zu haben, im Gesicht jeden von uns oder unserer Onkel und Neffen – wenn schon nicht mit Stolz, wenigstens mit Ruhe – fleischige Lippen, gekräuselte Haare oder die 48 breiten Nasen unzweifelhaft afrikanischer Herkunft zu erkennen“ (Mattos, 2000, S.2). Bis heute wird das Werk Freyres mit seiner romantisch erscheinenden Einschätzung der Rassenbeziehungen und der rein positiven Sicht der Rassenvermischungen stark kontrovers diskutiert. Ab Mitte der 30er Jahre kamen verschiedene ausländische Forscher nach Brasilien, v.a. Nordamerikaner wie Charles Wagley, Ruth Landes oder der Historiker Stanley Stein. Die meisten dieser Forscher beschäftigen sich mit den Menschen in Bahia. Der Franzose Roger Bastide forscht - ebenso wie Ruth Landes (Landes 1947) – über die kulturellen Äußerungen der „Afrikaner in Brasilien“, insbesondere die afrobrasilianischen Religionen „Religiões africanas no Brasil“ (Bastide, 1960). Die Arbeiten Melville Herskovits (Herskovits, 1943) und Franklin Fraziers (Frazier, 1942) in den 40er Jahren stimmen in der positiven Bewertung der Rassenbeziehungen in Brasilien überein, wie sie sich auch in der Forschung Ruth Landes über Frauen in den Candomblés niederschlägt. Eine der wenigen spezifischen Arbeiten zum Stand der Rassenbeziehungen ist die Forschung Donald Piersons (Pierson, 1942). Piersons Studien bejahen die Existenz von Vorurteilen. Dabei handele es sich jedoch in erster Linie um „Klassen“- und nicht „Rassen“Vorurteile. Die Ergebnisse unterschieden sich insofern von den Ergebnissen der Studien in den Kleinstädten der Südstaaten der USA und den Arbeiten der Chicago School. Etwa zur selben Zeit kommt auch der Schriftsteller Stefan Zweig nach Brasilien. Der Eindruck des harmonischen Miteinander der Menschen verschiedenster Hautfarbe prägte den schwärmerischen Reisebericht „Brasilien - Land der Zukunft“29. Der Mythos der Rassendemokratie wird Brasilien die nächsten Jahrzehnte begleiten. 3.3 Der Fall aus dem Paradies - die Studien der UNESCO Der Vorbildcharakter Brasiliens als Rassendemokratie war es, der die UNESCO in den 50er Jahren veranlasste ihre Studien über den Stand der Rassenbeziehungen in Auftrag zu geben. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die sich verändernden Rassenbeziehungen im Zuge der sozialen Umwandlungen nach Abschaffung der Sklaverei und werden zu einer Herausforderung für die etablierte Vorstellung über das harmonische Miteinander der Rassen 29 Um das Buch Zweigs hat sich eine Diskussion über die Hintergründe entwickelt. S. dazu Drekonja- Kornat 1998. 49 dar. Zum ersten Mal konstatieren sozialwissenschaftliche Studien die Existenz von Vorurteilen und Rassendiskriminierung. Dabei kommen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen im wirtschaftlich stagnierenden Nordosten mit einer schwarzen Bevölkerungsmehrheit und dem vom sozialen Wandel geprägten Südosten mit starker europäischer Einwanderung. Die unter Leitung von Wagley geführten Studien kommen zum Ergebnis, daß sich in Brasilien anders als in den USA kein kastenartiges Gesellschaftssystem mit rigiden Barrieren formiert habe, wohl aber eine Klassengesellschaft, bei der die Kategorie Rasse ein Aspekt der Beziehungen zwischen den Klassen sei (Wagley, 1952). Zwar gebe es eine starke Korrelation zwischen Hautfarbe und sozialer Stellung, aber dies erkläre sich aus den bis dahin nicht ausreichend vorhandenen Aufstiegschancen für Schwarze durch Bildung und wirtschaftliche Verbesserungen. Rassische Vorurteile seien also ein Klassen-Phänomen. Charles Wagley arbeitete in vier Kleinstädten im Innern Bahias und Parás, Thales de Azevedo und René Ribeiro untersuchten die Rassenbeziehungen in Salvador und Recife, Städten des Nordostens. Trotz des scharfen Bewußtseins der physischen Unterschiede, das sich beispielsweise in den verschiedenen Bezeichnungen der rassischen Typen zeigte, würden diese von den Betroffenen nicht in Beziehung zu rassischer Diskriminierung gesetzt. Außerdem würden die Vorurteile zwar verbal ausgedrückt, aber angeblich nicht im Verhalten bestärkt (Hasenbalg, 1996, S.18). Deutlich ist der Einfluss der Arbeiten Gilberto Freyres und Donald Piersons bei diesen Studien zu spüren, die immer wieder Vergleiche zur rassischen Situation in den USA ziehen. Auch der bahianische Wissenschaftler Thales de Azevedo bestätigt grundsätzlich das Konzept der Klassengesellschaft, bei der die Rasse ein Aspekt für die Art der sozialen Beziehungen sei. Gleichzeitig betont er jedoch die Wichtigkeit des angeborenen Status bedingt durch Familienzugehörigkeit und Hautfarbe. Er geht sogar soweit, sie über den erworbenen Status (Reichtum und Beschäftigung) zu stellen (Azevedo, 1955)30. Die Arbeiten Costa Pintos in Rio de Janeiro, sowie Roger Bastides und Florestan Fernandes in São Paulo kommen zu dem Ergebnis, dass die Veränderung des Status der Schwarzen von Sklaven zu Bürgern mit ihrem teilweisen Ausschluß aus dem Arbeitsmarkt einhergehe. Zunächst seien die europäischen Immigranten und die weißen bzw. hellhäutigen Brasilianer in die neue Klassengesellschaft integriert worden. Erst nach 1930 beginne die langsame 30 Bis heute sind auch nach meinen Erfahrungen in Bahia familiäre Herkunft (Nachname!) und Hautfarbe zwei entscheidende Faktoren der gesellschaftlichen Zuordnung. 50 Integration der Schwarzen mit der Sozialgesetzgebung Vargas´. Die unterschiedlichen Bezeichnungen der Phänotypen sei Ausdruck der Ideologie der Aufhellung, die das Stigma der Negritude internalisiert habe. Biologische Aufhellung werde gleichbedeutend mit sozialer Aufhellung. Eine dunkle Hautfarbe funktioniere gleichzeitig als Stigma der Rassen, wie als Symbol einer unteren sozialen Schicht. Die Arbeiten bewegen sich in kritischer Distanz zu Freyres und Piersons Einschätzungen. Der Soziologe Florestan Fernandes (1920-1995) wird zu einem der wichtigsten Kritiker Freyres. Wie Freyre sieht Fernandes die Sklaverei als eine der Determinanten der Rassenbeziehungen in Brasilien. Aber anders als bei Freyre, ist für Fernandes die Sklaverei eine der Ursachen der rassischen Vorurteile und des Überlegenheitsgefühls der Weißen. Nach Abschaffung der Sklaverei habe sich die Position der ehemaligen Sklaven im wirtschaftlichen System und deren soziale Repräsentation nicht verändert. Ihren Opfern dagegen habe sie die einfachsten Grundrechte und Freiheiten verweigert und in der Folge die Möglichkeit genommen mit den Weißen im 20. Jahrhundert um Arbeit, Einkommen und Bildung zu konkurrieren. Dadurch werde ein círculo vicioso geschlossen: so wie die diskriminierenden Verhaltensweisen den sozialen Aufstieg verhindern, fehle es in der Klassengesellschaft an Referenzen für eine neue Bewertung des Faktors Hautfarbe (Fernandes, 1978). Neben den direkten negativen Auswirkungen der Sklaverei betont Fernandes ihren autoritären Charakter, der einer tatsächlichen Rassendemokratie im Wege stehe. Wie Freyre blickt auch Fernandes optimistisch auf die Zukunft der Rassenbeziehungen, allerdings gemäß seines marxistischen Ansatzes mit gänzlich anderer Perspektive: die Weiterentwicklung des Kapitalismus und der bürgerlichen Revolution des 20. Jahrhunderts würden nach und nach die Vorherrschaft der Weißen beenden und durch eine moderne Klassengesellschaft ersetzen, in der die Kategorie Rasse zugunsten der Kategorie Klasse an Bedeutung verliere (Fernandes, 1978). In Brasilien wird das Studium der Rassenbeziehungen als eigenständiges Forschungsgebiet in die sich gerade etablierende brasilianische Soziologie integriert. Einer der ersten schwarzen Wissenschaftler, der Soziologe Guerreiro Ramos, bestätigt, eine soziale Pathologie der brasilianischen Gesellschaft gegenüber der Rassenfrage. Bis dahin waren die Rassenbeziehungen nur in generalisierender Form, vermischt mit anderen Fragen, behandelt worden. Zu den bekanntesten Schülern Florestan Fernandes an der renommierten Universidade de São Paulo (USP) gehörten Octávio Ianni und Fernando Henrique Cardoso, von 1995 bis 2002 Präsident Brasiliens. Beide beschäftigten sich mit den Auswirkungen der 51 Sklaverei auf die Formation der brasilianischen Gesellschaft und dem Mythos der Rassendemokratie (Cardoso, 1962; Ianni, 1961, 1977, 1978). Die Militärdiktatur ab 1964 unterdrückte jegliche Diskussion über die rassische Diskriminierung völlig. 1969 bewertete der Nationale Sicherheitsrat Brasiliens (Conselho de Segurança Nacional do Brasil) die akademischen Studien, welche die rassische Diskriminierung dokumentierten, als erstes Beispiel linker Subversion. In der härtesten Phase der zwanzigjährigen Militärdiktatur Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre wurden zahlreiche Studenten und Akademiker wegen vermeintlich linker Tendenzen gefangen genommen und sogar gefoltert. Die Militärregierung entzog Fernandes, Ianni und Cardoso ihre akademischen Titel. Sie mussten wie viele andere Intellektuelle und Künstler ihr Land verlassen. Erst nach der politischen Öffnung ab Ende der 70er Jahre kehrten sie aus dem Exil zurück. 3.4 Rassismus - ein Tabu, schwarze Kultur als Studienobjekt geduldet Die Beschäftigung mit den Rassenbeziehungen wird von der Militärregierung als subversiv betrachtet. Die afro-brasilianische Kultur und insbesondere der Candomblé beschäftigen jedoch auch weiterhin in- und ausländische Forscher. In Salvador war bereits 1959 das Centro de Estudos Afro-Orientais (CEAO) mit dem Ziel gegründet worden, die afro-bahianische Tradition akademischer Forschung fortzusetzen und eine bibliografische Sammlung schwarzer Kultur in Brasilien zusammen zustellen. Im zweitausend Kilometer von São Paulo entfernt gelegenen Bahia entwickelt sich eine feste Beziehung zwischen Wissenschaft und schwarzer Kultur, insbesondere dem Candomblé. Viele der ausländischen CandombléForscher entwickeln eine so enge Beziehung zu ihrem Forschungsbereich, daß sie selbst eingeweiht werden. Der Franzose Pierre Verger (1902-1996) beschäftigt sich Zeit seines Lebens mit der afrikanischen und afro-brasilianischen Kultur - sei es als Fotograf, Ethnograph, Biologe oder Mensch. Seine Arbeit über den transatlantischen Sklavenhandel „ Flux e reflux de la traite des esclaves entre le golfe de Bénin et Bahia de Todos os Santos, du dix-septième au dixneuvième siècle“ dokumentiert die Dreiecks-Beziehung, die sich zwischen Europa, Afrika und Amerika über die drei Jahrhunderte konsolidiert hatte (Verger, 1968). Seine Fotos dokumentieren den Candomblé in Brasilien und Afrika. In seinen minutiösen Studien beschäftigt er sich mit den verschiedensten Aspekten der afro-brasilianischen Kultur und 52 Geschichte (Verger, 1995,1992, 1981). Die Französin Giséle Binon-Cossard schreibt 1970, ebenfalls an der Sorbonne, Paris, ihre Doktorarbeit über den Candomblé Angola „Contribution à l´étude des candomblés au Brésil“ und wird selbst Priesterin. Auch die in Österreich geborene Argentinierin Juana Elbein dos Santos geht nach ihrer Ankunft in Bahia in den 70er Jahren eine lebenslange Verbindung mit der afro-brasilianischen Kultur und ihren Menschen ein. Ihre Interpretationen über die theologischen Visionen in den afrobrasilianischen Religionen „Os nagô e a morte“ (Elbein dos Santos 1977) und die lebhafte intellektuelle Auseinandersetzung in der von ihr ins Leben gerufenen „Gesellschaft zum Studium der Kulturen und der Schwarzen Kultur in Brasilien“ (SECNEB) mit den verschiedensten Aspekten afro-brasilianischer Kultur haben eine Reihe von Veröffentlichungen hervorgebracht. Auch viele der bahianischen Wissenschaftler sind eng mit dem Candomblé verbunden wie die Anthropologen Vivaldo Costa Lima und Júlio Braga, die sich mit den unterschiedlichen Aspekten der Religion vom Lesen der Wünsche der Orixás aus den Kauri-Muscheln bis zur Bedeutung des Essens beschäftigen (Braga, u.a. 1988, Lima, 1977) . Zu den anderen Aspekten schwarzer Kultur gibt es bis auf die Arbeit des Ethnologen Waldeloir Rego über Capoeira Angola (Rego, 1968) und vereinzelte Beobachtungen der Historiker bis Mitte der 80er Jahre wenig Literatur. Erst in den letzten Jahren erscheint eine größere Anzahl von Arbeiten zur afro-brasilianischen Kultur und den Rassenbeziehungen sowohl in Brasilien wie auch den USA und Europa. 3.5 Rassenbeziehungen aus neuen Perspektiven Die während der Militärzeit (1964-1985) fast gänzlich zum Erliegen gekommene RassismusDiskussion kommt erst in den 80er Jahren wieder in Gang. Mit der Auswertung des Zensus von 1980 durch das staatliche Statistik-Institut IBGE wurde die sozio-ökonomische Diskriminierung der Afro-Brasilianer mit quantitativen Daten erstmals offiziell belegt (Oliveira, u.a. 1985 (IBGE). Die neueren Forschungsarbeiten (Hasenbalg & Silva, 1988, Lovell, 1991) zeigen, daß für die sozio-ökonomischen Ungleichheiten zwischen Afro-Brasilianern und weißen Brasilianern die Rassenunterschiede eine Rolle spielen. Seitdem sind eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten zur afro-brasilianischen Kultur erschienen, insbesondere in Bahia 53 (UFBA / CEAO), Rio de Janeiro (UFRJ / CEAA / Museu Nacional) und São Paulo (USP / PUC / UNICAMP). Die Universidade Federal da Bahia (UFBA) hat seit 1992 ein eigenes Forschungsprogramm „A Cor da Bahia“ (wörtlich: Die Farbe Bahias), das Studien zu Rassenbeziehungen, schwarzer Kultur und Identität in Bahia durchführt. Darüber hinaus sollen insbesondere junge Afro-Brasilianer zur wissenschaftlichen Forschung angeregt werden. Der langjährige Koordinator des Projekts, der Anthropologe Jocélio Teles dos Santos, hat zahlreiche Arbeiten über Sklaverei, afro-brasilianischen Synkretismus und die Auswirkungen politischer Maßnahmen auf die afro-brasilianische Bevölkerung veröffentlicht (J.Santos, 1999, 1997). An der UFBA hatten auch die europäischen Anthropologen Michel Agier und Lívio Sansone Gast-Professuren und veröffentlichten zahlreiche Artikel über Rassenbeziehungen und schwarze Gegenwartskultur (z.B. Agier, 1992, 1990; Sansone, 1993, 1992). Neben der UFBA ist es besonders das CEAO, das den intellektuellen Austausch mit der afrobrasilianischen Kultur fördert. Die jeweiligen Leiter - seit den 90er Jahren Júlio Braga, Jefferson Bacelar und Ubiratan Castro - haben zahlreiche Arbeiten zu Aspekten afrobrasilianischer Religion und Kultur veröffentlicht (Bacelar, 1989; Braga, 1992, 1988). Seit 1965 gibt das CEAO eine etwa halbjährlich erscheinende Publikation heraus, in der die wichtigsten Aufsätze zu afro-brasilianische Themen veröffentlicht werden, die Revista AfroÁsia. Die Diskussion über eine „schwarze“ Identität der Afro-Brasilianer ist erst in den letzten Jahren thematisiert worden (z.B. Bacelar, 1989). Unter den Historikern ist besonders João José Reis (UFBA) mit seinen Arbeiten über die Sklavenaufstände und die Beziehungen zwischen Sklaven, freien Afrikanern bzw. AfroBrasilianern und Portugiesen hervorzuheben (Reis, 1988, 1987). Den Alltag der Sklaven beschreibt die Historikerin Kátia de Queirós Mattoso mit vielen Details (Mattoso, 1990). Über die Rebellionen der Sklaven und insbesondere die Sklavenfluchtburgen „quilombos“ genannt, haben auch die Historiker Décio Freitas und Clovis Moura gearbeitet (Freitas, 1984, C.Moura, 1988). In Rio de Janeiro stellt das lange Zeit von Carlos Hasenbalg geleitete Centro de Estudos AfroAsiáticos der Universität Candido Mendes eine Referenz für Soziologen, Anthropologen, Historiker und andere Sozialwissenschaftler dar, die sich mit modernen Aspekten schwarzer Kultur befassen. Auch an der staatlichen Universität (Universidade Federal do Rio de Janeiro) und insbesondere am Museu Nacional wird zu diesen Fragen gearbeitet. Der Verlagsbeirat 54 der halbjährlich erscheinenden Zeitschrift „Estudos Afro-Asiáticos“ liest sich wie ein „who is who“ der einschlägigen Carioca-Forscher, wie u.a. Yvonne Maggie, Nelson do Valle Silva, Caetana oder Peter Fry (Fry, 1982; Maggie, 1992; Silva, 1996). Das CEAA, u.a. von der Ford-Foundation gefördert, bemüht sich um den intellektuellen Austausch mit ausländischen, v.a. nordamerikanischen Brasilianisten. Der Kommunikationswissenschaftler Muniz Sodré beschäftigt sich mit verschiedenen Fragen der afro-brasilianischen und zeitgenössischen Kultur (Sodré, u.a.1988, 1983). Selbst Bahianer ist der in Rio lebende Sodré eng mit dem Candomblé seiner Heimat verbunden. An den Universitäten São Paulos wird in verschiedenen Fachbereichen zur afrobrasilianischen Kultur und zum Rassismus gearbeitet: an der USP z.B. der Anthropologe Kabengele Munanga (Munanga, 1999, 1996), Reginaldo Prandi über Candomblé (Prandi, 1991), sowie die Historikerin Maria Luiza Tucci Carneiro (Carneiro, 1998). Auch an der katholischen Universität PUC (Pontifícia Universidade Católica) und der angesehenen UNICAMP im bei São Paulo gelegenen Campinas (Beatriz Dantas über Candomblé, Dantas, 1988) sind in den letzten Jahren zunehmend Mestrado- und Doktorarbeiten zum Thema erarbeitet worden. Anders als in Rio oder Salvador gibt es jedoch in Sao Paulo kein neben den Universitäten arbeitendes Institut mit afro-brasilianischem Forschungs-Schwerpunkt. In geringerem Umfang wird auch anderen Universitäten zur afro-brasilianischen Kultur geforscht, u.a. an der Universidade de Brasília, in Recife (Fundação Joaquim Nabuco), São Luis de Maranhão, aber auch der bundesstaatlichen Universität von Porto Alegre in Rio Grande do Sul. 1995 wurde von der renommierten Tageszeitung Folha de S. Paulo (FSP) eine großangelegte Untersuchung initiiert, die eine umfassende Analyse der rassischen Vorurteile darstellt und den signifikanten Titel trägt „Höflicher Rassismus“. Diese Untersuchung ist bezeichnend für den veränderten Stand der Diskussion der Rassenbeziehungen. Diese Veränderungen konstatiert auch der amerikanische Historiker Thomas Skidmore, der zur ersten Generation Brasilianisten gehörte und bereits in den 70er Jahren die Rassenbeziehungen in Brasilien mit der Situation in den USA verglichen hat (Skidmore, 1976). Die sich verändernden Rassenbeziehungen und die schwarze Kultur sind Forschungsgegenstand einer neuen Generation nordamerikanischer Brasilianisten, die oftmals selbst afro-amerikanischer Herkunft sind (Andrews, 1998; Butler, 1998; Hanchard, 1999, 1994; Lewis, 1992). Die meisten der neuen Studien vergleichen die brasilianische Realität 55 mit der anderer Länder, insbesondere der USA und verweisen auf die Unterschiede zwischen den von den brasilianischen Schwarzen eingeschlagenen Wege zu sozialem Aufstieg und den us-amerikanischen Erfahrungen. In der deutschsprachigen Literatur finden sich zu den spezifisch afro-brasilianischen Themen nur wenig wissenschaftliche Arbeiten. Die afro-brasilianische Religion des Candomblé ist Thema mehrere Bücher des Autors Hubert Fichtes (Fichte, 1989, 1985, 1976,). Obwohl oder gerade weil Fichte kein Akademiker ist, sind es seine Beschreibungen des Candomblé, die diesen einem größeren Publikum näher bringen. Die Rolle der Frauen im Candomblé ist Thema der Doktorarbeit der deutschbrasilianischen Anthropologin Erica Jane von Hohenstein (von Hohenstein, 1991). Über den Zusammenhang Rassismus - kultureller Widerstand heben sich die Arbeiten des österreichischen Ethnologen Andreas Hofbauers (1995, 1989) hervor. Mit dem Thema Karneval als Spiegel politischer Kultur beschäftigt sich die 1994 erschienene Arbeit von Karin Engell „Dreh dich Baiana, in den Farben meines Herzen“ (Engell, 1994). Neben den Übersichten zur populären Musik in Brasilien (Schreiner, 1985) beschäftigen sich stärker musikethnologisch orientierte Arbeiten mit der traditionellen Musikkultur (Pinto, 1986). Über afro-bahianische Musikkultur veröffentlichte der Brasilianer Tiago Oliveira Pinto31 darüber hinaus „Capoeira, Samba, Candomblé“ (Pinto, 1991).Der Musik-Ethnologe Gerhard Kubik gilt als einer der besten Kenner der afrikanischen Musik (Kubik, 1988,1986, 1984). Eine minutiöse Beschreibung der Candomblé-Rhythmen liefert Angela Lühning in ihrer Dissertation „Die Musik im Candomblé nagô-ketu“ (Lühning, 1990). Die seit 1988 in Salvador lebende deutsche Forscherin ist Professorin an der bundesstaatlichen Universität und führt das Lebenswerk Pierre Verger´s in seiner Stiftung fort. Zum Thema Trance als (TanzTherapie erschienen darüber hinaus verschiedene (nicht-wissenschaftliche) Bücher (Spinu & Thorau, 1994). 3.6 Der brasilianische Karneval als Forschungsthema Wie kein anderes Ereignis bietet Karneval die Möglichkeit zum Verständnis der brasilianischen Gesellschaft. Kein Fest prägt das Bild Brasiliens so nachdrücklich wie der Karneval – nach außen wie nach innen -eine Vielzahl von unterschiedlichen 31 Tiago de Oliveira Pinto ist Leiter des 1995 in Berlin eingerichteten Brasilianischen Kulturinstituts. 56 sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeiten belegen dies - unabhängig davon, ob sie den Karneval als Fortsetzung oder Umkehr der existierenden Verhältnisse interpretieren (da Matta, 1983; Queiroz, 1992). Erst in den letzten drei Jahrzehnten ist der brasilianische Karneval jedoch zum Forschungsthema der Sozialwissenschaften avanciert. Wohl gab es bereits um die Jahrhundertwende Aufzeichnungen von Anthropologen und Notizen in Zeitungen und Zeitschriften zu den Karnevalspraktiken, aber systematische, theoretische Arbeiten zum Thema sind eine Neuheit. Die Mehrheit der Literatur zum brasilianischen Karneval, sowohl der inländischen wie ausländischen, beschäftigt sich mit dem Karneval in Rio de Janeiro. Bereits die ersten europäischen Reisenden, die im 19. Jahrhundert nach Brasilien kamen (Jean Baptiste Debret, 1834 und Johann Moritz Rugendas, 1835), beschäftigten sich mit dem Karneval, bzw. seinem Vorläufer, dem Entrudo. Als erster Soziologe, der eine Theorie über Karneval formulierte, gilt Roger Caillois. Ausgehend von den Prinzipien Mauss´ und Durkheims stellt er den Gegensatz des täglichen Lebens mit seinen festen Ordnungsprinzipien, den Überschwang des Festes mit seiner Regellosigkeit gegenüber. Bei einer Reise nach Lateinamerika 1949 glaubt er insbesondere im Karneval von Rio de Janeiro eine Bestätigung seiner Theorie gefunden zu haben (Queiroz, 1992; S.207). Die erste Studie über die Karnevalstraditionen in Rio de Janeiro auf Grundlage des Materials der National-Bibliothek (Biblioteca Nacional) wird 1957 von Eneida Morães veröffentlicht. Sambistas und Mitglieder der Escolas de Samba wie Hiram Araújo & Amaury Jorio publizieren erstmals ihre Erfahrungen in den 70er Jahren (Araújo & Jório 1969). Mikhail Bachtin erweitert die Karnevals-Debatte Ende der 60er Jahre um den für die heutige Diskussion richtungweisenden Ansatz, Karneval als Moment der Befreiung von der herrschenden Ordnung zu interpretieren. Aus der Beschäftigung mit dem Karneval des Mittelalters sieht er in den „Tollen Tagen“ die Möglichkeit zur Aufhebung aller hierarchischer Strukturen und die Installation einer egalitären alternativen Gesellschaft. „Karneval ist ein Schauspiel ohne Rampe, ohne Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und Zuschauer...Der Karneval wird gelebt – nach besonderen Gesetzen und solange diese Gesetze in Kraft bleiben. Das karnevalistische Leben ist ein Leben, das aus der Bahn des Gewöhnlichen herausgetreten ist. Der Karneval ist die umgestülpte Welt... Jegliche Distanz zwischen den Menschen wird aufgehoben... Die Menschen, sonst durch die unüberwindbaren Schranken der Hierarchie getrennt, kommen auf dem öffentlichen Karnevalsplatz in familiäre 57 Berührung miteinander“ (Bachtin, 1969, S.49f.). Bachtins Überlegungen werden zum Ausgangspunkt für die Interpretation des brasilianischen Karnevals durch Roberto da Matta, einem der ersten brasilianischen Anthropologen, die sich ausführlich mit dem Thema beschäftigt haben. Roberto da Matta legte mit dem Werk „Carnavais, Malandros e Herois“ den Grundstein einer lang anhaltenden Diskussion über die Bedeutung des Karnevals und Aspekte der „brasildade“, der Brasilianität. Ausgehend von Bachtin argumentiert er, dass es während des Festes zu einer Umkehrung der gesellschaftlichen Werte komme. Insofern habe der Karneval eine Ventilfunktion und ermögliche den Abbau von gesellschaftlichen Spannungen und Druck. Dadurch werde das Vertrauen in die soziale Ordnung gestärkt (da Matta, 1983). Seit da Matta die Funktion des Karnevals als Ventil des gesellschaftlichen Drucks herausstellte, ist die Diskussion um die Funktion und Auswirkungen des Festes nicht abgebrochen. Zu einer gänzlich anderen Einschätzung des Karnevals kommt Maria Isaura Pereira Queiroz in ihrer Analyse der Karnevalstraditionen. Die Autorin zeigt, wie die Eliten ihre Vorstellung der sozialen Ordnung auch auf den Karneval übertragen. „Der Überschwang des Benehmens annulliert weder das Gefüge noch die Werte und Vorurteile der Gesellschaft, im Gegenteil“ (Queiroz, 1992, S. 151). Der Karnevals-Mythos der Umkehrung der Verhältnisse sei sozusagen als „trompe-l´oeil“ konstruiert, welcher die Illusion als Realität vorführt. „Der Ritus annuliert nicht das soziale Gefüge, dessen Verschwinden nur in den Gedanken derer, die das Fest erleben, existiert. Der Ritus erweckt in ihnen das Gefühl, welches das Fest durch eine andere Realität als die tägliche Realität ersetzt hat, die jedoch weiterhin alles Handeln bestimmt“ (Queiroz, 1992, S.195). An diese Diskussion knüpfen viele der folgenden Arbeiten an. Die Mehrheit der Literatur beschäftigt sich mit dem Karneval in Rio de Janeiro, aber auch die Entwicklungen des bahianischen Karnevals - von den Blocos Afros zu den Karnevalsunternehmen der Blocos de Trio - ziehen zunehmend Forscher an. Das entscheidende Charakteristikum des Karnevals scheint seine Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit zu sein. Im Karneval scheint manchmal alles möglich, alte Werte werden durch neue ersetzt, es scheint zu einer Umkehrung des Alltags zu kommen – während gleichzeitig die Beziehung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräfte durchscheint. Der Karneval ist dynamisch und abhängig von den gesellschaftlichen Prozessen. Die Karnevalsgruppen sind auch Ausdruck der 58 Lebensbedingungen ihrer Mitglieder. Sie können zu Trägern von Protesten und Forderungen werden, die ihren Widerstand gegen die aufgezwungenen Bedingungen zeigen. In Bahia sind die Arbeiten der in der Forschungsgruppe S.A.M.BA zusammentreffenden Wissenschaftler hervorzuheben, die sich mit den Entwicklungen des bahianischen Karneval beschäftigen (Guerreiro, 2000; M. Moura, z.B.1996, 1987; Santos, 1996). Das Entstehen der Blocos Afros beschreibt Antonio Risério in seinem Buch „Carnaval ijexá“ (Risério,1981). 59 4. Der Weg der Forschung – Fragestellungen und Methoden Die Einleitung gab einen Überblick über das Thema dieser Arbeit, die Bedeutung kultureller Manifestationen bei Prozessen gesellschaftlicher Veränderungen, konkret den Beitrag der Bewegung der Blocos Afros zu den Veränderungen der Rassismus-Diskussion in Brasilien. Einige der wichtigsten Aspekte, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, wurden kurz vorgestellt: die besondere rassische Zusammensetzung der Bevölkerung; die Sklaverei; der Mythos der Rassendemokratie; der Karneval als besonderer gesellschaftlicher Moment; Salvador, Hauptstadt Bahias, der Ort des Geschehens; die Einbettung in einen größeren Zusammenhang schwarzer Kultur und schließlich die Akteure. Die anschließenden theoretischen Überlegungen widmeten sich den zwei grundlegenden Fragen: Was ist Rassismus? Was ist schwarze Kultur? Dabei zeigte sich, dass die brasilianische Situation bei der Theoriebildung immer eine Rolle gespielt hat: für die Entwicklung der Rassentheorie Gobineaus ebenso wie später als Ideenlabor für die Art des Zusammenlebens der Rassen. Die kulturellen Äußerungen der Afro-Brasilianer haben sich seit der Sklaverei in einem transatlantischen Austausch befunden und die Aufmerksamkeit der Reisenden und Wissenschaftler auf sich gezogen. Das darauf folgende Kapitel über die brasilianischen Forschungen zur afro-brasilianischen Kultur ergänzt die theoretischen Überlegungen insofern, als es den engen Zusammenhang zwischen Forschung und gesellschaftlichen Kontext verdeutlicht. Für die Forschungen über die Rassenbeziehungen und die afro-brasilianische Kultur war die Entwicklung Brasiliens zu einer Nation und das Selbstbild des Landes von großer Bedeutung, während sie gleichzeitig bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts in einen internationalen Kontext eingebettet waren. Das wissenschaftliche Denken ist also Teil eines gesellschaftlichen Zusammenhangs und die gesellschaftlichen Gegebenheiten reflektieren sich im Stand der Wissenschaften. 4.1 Hypothesen und zentrale Forschungsfragen Ab Ende der 70er Jahre, vor allem aber Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre, wurde die brasilianische Öffentlichkeit zunächst entsetzter, später begeisterter Zeuge von Vorgängen, welche die Rassismus-Diskussion verändern werden: Schwarze Karnevalsgruppen demonstrieren gegen die rassische Diskriminierung und bieten neue, zunächst nur ästhetische Identifikationsmuster. Damit machen sie erstmals einer breiteren Öffentlichkeit das 60 Unsichtbare sichtbar: Den latent in der brasilianischen Gesellschaft vorhandenen Rassismus und seine Konsequenzen. Die ästhetische Identifikation wird bei einigen Gruppen jedoch auch von einem explizit politischen Diskurs und konkreten in die Praxis umgesetzten Aktionen wie Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen begleitet. Die dieser Arbeit zugrundeliegende These sieht die Bedeutung der kulturellen Bewegung der Blocos Afros darin, Vorläufer der heutigen politischen Forderungen (und erster Umsetzungen) nach gezielten Maßnahmen zur Integration von Afro-Brasilianern in die brasilianische Gesellschaft zu sein, wie sie zum Beispiel in den Quotenregelungen einiger Universitäten und auf Regierungsebene zum Ausdruck kommen. Zugespitzt: Ohne die kulturelle Bewegung aus Bahia, allein mit politischen Formen des Widerstands, wäre die heutige Diskussion nicht denkbar. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen ist es die spezielle Art der Rassenverhältnisse, deren typische Charakteristika der hohe Anteil der Afro-Brasilianer, die starke Vermischung und die besondere Form der Diskriminierung sind. Rassismus verurteilen die meisten Brasilianer, dennoch ist rassische Diskriminierung an der Tagesordnung (s. Kapitel 8). Rassen sind – wie in Kapitel 2 beschrieben – nicht eindeutig feststellbar, rassische Diskriminierung erfolgt anhand bestimmter körperlicher Merkmale (zum Beispiel Hautfarbe, Haare etc), die bewertet werden. Dem Körper als Gegenstand von Geschmacksurteilen kommt im brasilianischen Kontext also eine besondere Bedeutung zu, da die rassische Diskriminierung nicht gesetzlich fixiert ist, oft nicht eindeutig und insbesondere im persönlichen Bereich eine besondere Rolle spielt. Im Karneval erreicht der „Rassenprotest“ im Auftreten und die Denunzierung des Rassismus in den Liedtexten weite Kreise der Bevölkerung - mehr als es über rein politische Bewegung möglich wäre. Zum anderen ist es die besondere Bedeutung der afro-brasilianischen Kultur im brasilianischen Kontext, einer Volkskultur, einer „schwarzen Kultur“, aus der immer wieder Elemente zum Aufbau einer brasilianischen Identität stammen. Bourdieu hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass kulturelle Formen einen sozialen Hintergrund haben. Die dominierende Kultur in Brasilien ist die europäische Kultur, welche die Portugiesen, später vor allem die Deutschen, Italiener und Spanier mit in die Neue Welt brachten. Das europäische Ideal dominiert den Geschmack, während es gleichzeitig die Elemente der 61 schwarzen Kultur sind, insbesondere der Samba, die das besondere Brasilianische, die Brasildade, ausmachen. Die Stärke und Bedeutung der afro-brasilianischen Kultur nehmen dabei eine Sonderrolle in Vergleich zu anderen Ländern der schwarzen Diaspora ein. Der Geschmack, so Bourdieu, ist ein kultureller Code, der auf der Ebene des Symbolischen seine differenzierende Wirkung entfaltet. Die kulturelle Bewegung der Blocos Afros schafft – zunächst im Karneval - neue ästhetische Modelle für den schwarzen Körper, welche die Umkehrung des herrschenden Geschmacks bedeuten. So überwinden sie auch die negative Stigmatisierung, die damit einher geht. Im Verlauf der Zeit bewirkt die Identitätsfindung im Karneval auch Veränderungen im „normalen“ gesellschaftlichen Umfeld. Eine neue kulturelle Identität bildet sich heraus. Dabei handelt es sich um keine klar definierte ethnische Identität (das verbietet sich allein schon aus der speziellen brasilianischen Situation), sondern eher um die Identität einer Gruppe mit gemeinsamen Interessen. Für die Verbreitung der neuen schwarzen Ästhetik sind die mimetischen Prozesse von entscheidender Bedeutung. Das liegt auch daran, dass die afro-brasilianische Kultur eine lange orale Tradition hat, über Jahrhunderte im Verborgenen gepflegt wurde und ein starkes Widerstandspotential hat. Es sind aber auch die historischen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in Brasilien und insbesondere die zunehmende Globalisierung, die auf die Art der Rassenverhältnisse und die afro-brasilianische Kultur gewirkt haben. Die Blocos Afros sind Teil eines größeren Zusammenhangs, einer die Kontinente übergreifenden schwarzen Kultur wie sie von Gilroy (1993) Sansone (1995) u.a. beschrieben werden. Diese Menschen eine das Gefühl der gemeinsamen Vergangenheit, wobei ein imaginäres oder reales Afrika als eine Bank der Symbole funktioniere. Die Entwicklungen in der Kommunikationstechnologie und der Freizeitindustrie bilden den Rahmen für die Entwicklung. Im Verlauf der Arbeit wird verfolgt, wie sich aus einem Karnevalsverein marginalisierter schwarzer Jugendlicher eines Altstadt-Ghettos ein komplexes schwarzes Kultur-Unternehmen entwickelt hat, dessen Charakteristika perkussive Musik und der Protest gegen Rassismus sind: die Grupo Cultural Olodum aus Salvador da Bahia im Nordosten Brasiliens. Olodum verbindet edukative Praktiken mit strategischem networking und unternehmerischem Handeln, ohne das politische Kalkül außer Acht zu lassen. Die unterschiedlichen Ebenen sollen dabei nicht isoliert betrachtet werden , sondern in einen Zusammenhang gestellt werden. 62 Zu den die Arbeit leitenden Fragen gehörten: Sind die Blocos Afros Organisationen, die zur Schaffung einer kulturellen oder ethnischen Identität beitragen oder inwieweit sind sie Ausdruck eben dieser Identität? Wie entsteht eine schwarze Identität? Wie wird sie vermittelt? Welche Rolle kommt der Musik als Teil der Jugendkultur dabei zu? Warum tauchte die Bewegung zu eben jenem Zeitpunkt auf? Welche ökonomischen und politischen Faktoren waren auf nationaler und lokaler Ebene für das Entstehen dieser neuen schwarzen Bewegung entscheidend? In welchem größeren internationalen Zusammenhang lässt sich die Bewegung der Blocos Afros einordnen? Was unterscheidet die Schwarzenbewegung in Bahia von anderen vergleichbaren Bewegungen? Was sind die Charakteristika der Grupo Cultural Olodum? Wie entwickeln sie ihren Diskurs? An welchen Vorbildern orientieren sie sich? Wie versuchen sie in der Realität zu agieren? Was bedeutet die Identitfikation mit der Gruppe auf individueller Ebene? Welche Motivationen spielen eine Rolle sich der Gruppe anzuschließen? Welche Komponenten haben zum Erfolg geführt? Inwieweit haben die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen das Handeln Olodums begünstigt oder gar erst ermöglicht? Welche Faktoren innerhalb der Gruppe waren entscheidend für Ihren Erfolg? Wie muss die Bedeutung der Blocos Afros heute eingeschätzt werden? 4.2 Zwischen Konzepten und Emotionen - die Instrumente In dieser Arbeit wird ein qualitativer Ansatz der Sozialforschung verfolgt. Besonderer Wert wurde auf eine induktive Vorgehensweise gelegt. Der von mir gewählte Weg der Forschung hat sich stark in Zusammenhang mit der untersuchten Realität entwickelt. Es ging mir darum, nicht mit wissenschaftlichen Determinismen an gesellschaftliche Zusammenhänge heranzugehen, sondern die Realität, noch dazu in einer fremden Kultur, schrittweise zu erschließen und, in einem zweiten Schritt, verständlich zu machen. Der französische Soziologe Michel Maffesoli kritisiert die deterministische Anwendung sozialwissenschaftlicher Methodik und gibt intuitiven, sensiblen Herangehensweisen den 63 Vorzug (Maffesoli 1987). Zunächst bin ich von einer relativ offenen Fragestellung ausgegangen: Welche Bedeutung haben die „neuen“ kulturellen Äußerungen der AfroBrasilianer vor dem Hintergrund der sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen weißen und schwarzen Brasilianern? Erst mit Bezug auf die erhobenen Daten und die gemachten Erfahrungen und nicht „ex ante“ wurden die die Arbeit leitenden Hypothesen generiert und wichtigsten Fragestellungen formuliert (Dieckmann, 2000, S.444). In dieser Arbeit wird die Grupo Cultural Olodum unter drei verschiedenen Aspekten betrachtet. Die Gliederung folgt dabei zwar einer gewissen chronologischen Ordnung entsprechend der Bedeutung der einzelnen Bereiche, die jedoch bereits von Anfang an nebeneinander existiert haben: Olodum als Karnevalsverein und Musikgruppe (Kapitel 1012), Olodum als sozial und kulturpolitische Einrichtung (Kapitel13-15), Olodum als schwarzes Unternehmen (Kapitel 16). Dabei wird die Entwicklung einer schwarzen Identität und eines Anti-Rassismus-Diskurses vor dem Hintergrund (schwarzer) Jugend- und Musikkultur am Beispiel Olodums verfolgt. Die Umsetzung dieser Ideen in konkrete sozialpolitische Formen zeigen sich am deutlichsten in dem von den Gedanken Paulo Freires beeinflussten Modell der interethnischen Erziehung in der Escola Cirativa Olodum (Freire, 1991). Das geschickte Identitäts- und Kulturmanagement zeugen vom unternehmerischen Potential und Verhalten der Gruppe, „Entrepreneurship“ (Faltin & Zimmer, 1995). Zu den während des Forschungsprozess berücksichtigten Richtlinien gehörte das Prinzip der Offenheit gegenüber Personen und Methoden sowie das Prinzip der Flexibilität, also der Anpassung an neue Konstellationen (z.B. Lameck, 1995a). Diesen Prinzipien kommt in einer so dynamischen, sich schnell verändernden gesellschaftlichen Realität Brasiliens besondere Bedeutung zu. Der Untersuchungsgegenstand ist ja keine unabänderliche Größe, sondern wird durch Handlungs- und Deutungsmuster reproduziert und modifiziert. So gesehen kann die Arbeit „prozesshafte Ausschnitte der Produktion und Konstruktion sozialer Realität“ (Lameck, 1995a, S.25) wiedergeben. Die Arbeit vor Ort ermöglichte es, aktuelle Veränderungen und den sozialen Wandel mit einzubeziehen. Der Forschungsprozess wird geprägt durch die Kommunikation zwischen dem Forscher und den untersuchten Personen. Dabei handelt es sich immer um ein dynamisches Verhältnis. Die untersuchten Personen sollten nicht Objekte des Forschers sein, sondern als Subjekte wahrgenommen werden Die kommunikativen Fähigkeiten des Forschers sind ausschlaggebend für den Forschungsprozess. In den Lehrbüchern wird vom Forscher bei interessierter Zurückhaltung Neutralität erwartet, 64 in der Praxis kann aber auch Loyalität erwartet werden (s.dazu 4.3). Die methodischen Instrumente wurden gemäß der Untersuchungssituation ausgewählt. Im Vorfeld der eigentlichen Feldforschung lernte ich die vier wichtigsten Blocos Afros in Salvador kennen. Ich nahm an ihren Proben teil, besuchte Informationsveranstaltungen, ging zu ihren Festen, beobachtete sie in der Vorkarnevalszeit und im Karneval 1992. Mit jedem der vier Präsidenten bzw. der leitenden Gruppe von Direktoren machte ich Interviews. Die relativ offen gehaltenen Interviews folgten einem Leitfaden, der jedoch flexibel gehandhabt werden mußte. Sie lieferten die ersten Informationen über die Bewegung der Blocos Afros. Deutlich wurden darin die Ziele der Gruppen, ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten, ihre Charakteristiken. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang der 90er Jahre, wurden auch vier weitere Personen aus der bahianischen Kulturszene und der Schwarzenbewegung interviewt. Darüber hinaus besuchte ich eine Vielzahl von kulturellen Veranstaltungen, traf Journalisten und Forscher, sprach mit vielen Menschen, sammelte Material in Archiven und Bibliotheken – kurz: tauchte ein in die schwarze Welt Bahias. Die acht mehrstündigen Interviews wurden transkribiert und lieferten die Basis für mein Wissen über die Blocos Afros (insbesondere Kap. 9) Der überwiegende Teil der Feldforschung wurde 1993/1994 durch ein 18monatiges Stipendium des DAAD/CAPES ermöglicht. Die Feldforschung konzentrierte sich auf die Gruppe Olodum. In 20 ausführlichen Interviews kommen Personen Olodums zu Wort über Rassismus, ihre Ziele, Wünsche, Vorstellungen bei der Arbeit mit der Gruppe. Dabei handelte es sich um halbstandardisierte Leitfragen-Interviews mit offenen und geschlossenen Fragen. Die offene Gesprächsführung bei Orientierung am Leitfaden sichert, dass die forschungsrelevanten Fragen angesprochen werden und die Interviews vergleichbar werden. Die Reihenfolge der Fragen ist ebenso veränderbar, wie ad-hoc Fragen gestellt werden können so soll der natürliche Interaktionsfluss erhalten bleiben. Die permanente spontane Operationalisierung stellt eine hohe Anforderung an den Interviewer. Es handelt sich um eine asymmetrische Interaktion zwischen Menschen, bei der die Distanz sich ebenso als Vorteil wie als Nachteil erweisen kann (s. dazu 4.3). Die 20 Interviewpartner wurden aus dem engeren Kreis der Gruppe Olodum ausgewählt. Sechs von ihnen gehörten zur Diretoria Executiva, dem ranghöchsten Gremium Olodums. Die meisten von ihnen waren seit den Gründungszeiten dabei und von ihnen erhoffte ich mir vor allem Informationen über die Motive der Gruppe. Sechs weitere gehörten zum Kreis der 65 Diretoria Administrativa, der Verwaltungsebene der Gruppe. Drei Interviewpartner kamen aus der Gruppe der Trommler und Musiker, drei weitere aus der Gruppe der Angestellten Olodums. Dazu kamen noch zwei Vertreter der Theatergruppe Olodums. Die 20 Interviews wurden aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Die Interviews übersetzte ich dann aus dem Portugiesisch ins Deutsch. Das reichhaltige Material (alle zwischen 60 und 120 Minuten Länge) wurde einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen, um die inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Die Zitate werden als Ankerbeispiele in die Arbeit aufgenommen. Die Interviews liefern die wichtigsten Informationen über die Ziele, persönliche Motivationen und konkrete Arbeit Olodums. Neben den Interviews war die teilnehmende Beobachtung eines der wichtigsten Forschungsinstrumente. Die teilnehmende Beobachtung kann den alltäglichen Bedeutungshorizont erschließen (Friedrichs, 1990, S.226). Sie kann den Blickwinkel erweitern und stellt den Versuch der Optimierung dar. Die Leitfaden-Interviews erwiesen sich als ein aufwendiges und nur für bestimmte Personengruppen geeignetes Forschungsinstrument. Die Interviewtermine müssen vereinbart und eingehalten werden, die Interviewsituation ist eine formellere und kann deshalb u.U. als unangenehm empfunden werden. Ein informelles Gespräch am Rande einer Veranstaltung, das Beobachten und Miterleben können ohne in die eigentliche Handlung einzugreifen, unverfälschte Informationen zu einzelnen Aspekten geben. So waren die zahlreichen Gespräche bei den verschiedensten Veranstaltungen der Gruppe, bei Seminaren und Diskussionsveranstaltungen ebenso wie im Café oder der Bar mit einer großen Zahl junger Afro-Brasilianer, politischen Militanten ebenso wie Kulturschaffenden oder „einfachen“ Besuchern eine der wichtigsten Informationsquellen. Sie lieferten die vielen Mosaiksteinchen, die hier zu einem Gesamtpanorama zusammengesetzt wurden. An einigen Stellen dieser Arbeit werden die wahrgenommenen Sachverhalte als „dichte Beschreibung“ im Sinne von Geertz´ dargestellt. Damit soll der Komplexität der gesellschaftlichen Realität Rechnung getragen und dem Leser die Möglichkeit eigener Visualisierung gegeben werden. Die Textstücke habe ich in einen Kasten gestellt. Die Musik ist das wichtigste Mittel zur Formulierung und Verbreitung des Universums Olodum. Deshalb soll in dieser Arbeit auch eine qualitative Analyse der Musik Olodums, insbesondere der Liedtexte, hinsichtlich der Symbole zur Konstruktion einer eigenen 66 schwarzen Identität, sowie der Entwicklung der Perkussion vorgenommen werden. Dazu wurden die ersten acht Platten hinsichtlich Klangeindrucks, Präsentation und Rhythmus verglichen, vor allem aber eine Inhaltsanalyse der Musiktexte gemacht. An einigen Liedtexten wird beispielhaft das Gesagte erläutert. In Verbindung mit der Musikanalyse werden auch die wechselnden Karnevalsthemen vorgestellt, welche die Inspiration zur Entwicklung der Liedtexte gaben. Von mir entwickelte Fragebögen kamen während der Feldforschung zweimal zum Einsatz, erwisen sich aber als ein nur eingeschränkt angemessenes Instrument der Forschung: während des Karnevals 1994, um Informationen von einer größeren Zahl von Menschen zu bekommen und unter den bei Olodum beschäftigten Menschen zur Erfassung von statistischen Daten. Die von mir entwickelte Fragebögen wurden bei der Ausgabe der Karnevalskostüme im Februar 1994 eingesetzt. Neben den Angaben zur Person waren sieben offene Fragen zu Olodum, Karneval, Rassismus und Pelourinho zu beantworten. Trotz der mit dem Einsatz der Fragebögen verbundenen Probleme, auf die in im Kapitel 12 eingehen werde, lassen sich einige Aussagen zu den Karnevalsteilnehmern machen. 50 derbei Olodum beschäftigten Arbeitskräfte füllten einen von mir konzipierten Fragebogen aus, der neben den Angaben zur Person sechs Fragen zur Arbeit bei Olodum beinhaltete. Die Fragebögen wurden im Dezember 1994 über die Finanz-Abteilung verteilt und nach ca. zwei Wochen an mich zurückgegeben. Sie liefern Informationen zu den Angestellten und ihre Beziehung zu Olodum (Kapitel 16). Auf vorhandenes Material konnte ich zurück greifen bei der Auswertung der 30 von den Kandidatinnen zur Mulher Olodum ausgefüllten Fragebögen. Die von der Gruppe entwickelten Fragen geben Aufschluss über die Art und Weise des Rassismus-Diskurses und seine Umsetzung in die Praxis. Bei einer Arbeit, in der es um Rassismus in einer Gesellschaft geht, die diesen weitestgehend zu negieren sucht, ihn dort wo er auftaucht gesellschaftlich verurteilt, und deren nationale Identität auf einer Ideologie der Rassenvermischung aufbaut, stellt sich ein Problem der ethnographischen Beobachtung besonders: die Aussagen, denen wir gegenüberstehen, stellen keinen unbearbeiteten sozialen Diskurs dar. Das bedeutet, dass immer wieder nach den nicht artikulierten Hintergründen gefragt werden muss, um die Realität zu entschlüsseln. Es muß sozusagen um die Ecke gedacht werden, was übrigens charakteristisch für das soziale 67 Verhalten vieler Bahianer ist. Das Beispiel des Zwinkerers, das Geertz in Anlehnung an Gilbert Ryle benutzt, läßt sich auf mein Forschungsgebiet besonders gut anwenden: Wer zuckt mit dem Augenlied, wer zwinkert oder wer parodiert den Zwinkernden - u.U. ohne verstanden zu werden? Was bedeutet zum Beispiel die Existenz von zwei Fahrstühlen - einem für die Bewohner und deren Gäste, einem für das Dienstpersonal - in den meisten Appartmenthäusern? Wie erklärt sich das Verhalten des Portiers, der „automatisch“ den offensichtlich gut gekleideten dunkelhäutigen Besuchern den Dienstbotenaufzug zuweist, während die europäisch aussehenden Bekannten selbst in Badehose zum „elevador social“ geschickt werden? Wie ist der Protest des Europäers bei der Wohnungsgesellschaft zu interpretieren, es handele sich um Rassismus, daß seine dunkelhäutigen Freunde - vom ebenso dunkelhäutigen Portier - an den Dienstbotenaufzug verwiesen werden, wenn diese möglicherweise bisher immer eben diesen benutzt haben? Es kommt bei der vorliegenden Thematik besonders darauf an, „Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen“ (Geertz, 1994, S. 30). Das Risiko der Fehlinterpretationen läßt sich dabei leider nicht ganz ausschalten. 4.3 Schwierigkeiten und Besonderheiten bei der Feldforschung Die Beschäftigung mit Rassismus ist sicherlich in allen Gesellschaften nicht nur eine sehr komplexe, sondern auch äußerst sensible Fragestellung, die sich bei einer starren, stark schematisierten Herangehensweise nur wenig erschließt. Dies gilt um so mehr, je verborgener, subtiler sich die rassische Diskriminierung im Alltagsleben präsentiert. Es geht ja nicht um eine einfache Verifizierung oder Falsifizierung der These, ob es Rassismus gibt, sondern um eine Darstellung seiner Ausprägung, seiner Besonderheiten. Die Beschäftigung mit Rassismus in einer fremden Kultur setzt neben der Analyse der sozioökonomischen Eckdaten die genaue Kenntnis der allgemeinen gesellschaftlichen Organisation und Spielregeln, sowie - insbesondere in Brasilien - die Fähigkeit zur Entschlüsselung der sprachlichen Nuancen und subtilen Verhaltensweisen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen voraus. Das bedeutet für die Forschung nicht nur einen großen zeitlichen Aufwand bei der Beobachtung und Recherche des Zusammenspiels der gesellschaftlichen Kräfte, sondern erfordert auch ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Bereitschaft zum Eintauchen in diese fremde Kultur. 68 Das Schwergewicht meiner Feldforschungen liegt zeitlich zwischen den Jahren 1993 und 1995. In diesen Zeitraum fallen die Mehrzahl der Interviews, die Fragebogenerhebungen, die teilnehmende Beobachtung etc. Dieser Zeitpunkt ist auch der Höhepunkt der Bahia-Welle, des Erfolgs Olodums, der öffentlichen Thematisierung des Rassismus. Doch auch die Entwicklungen der letzten Jahre gehen zwangsläufig in diese Arbeit mit ein. Olodum hat musikalisch an Erfolg eingebüßt, den Anti-Rassismus-Diskurs konsolidiert und die Vermarktung einer neuen schwarzen Kultur perfektioniert. Die Art und der Einsatz der Forschungsinstrumente ergaben sich aus der spezifischen Problematik und den daraus resultierenden Schwierigkeiten damit. Wie bereits erwähnt, ist die Diskussion des Rassismus ein sensibles Thema und in Brasilien in besonderer Weise tabuisiert. So stehen sich der offizielle und von der breiten Mehrheit der hellhäutigen dominierenden Klasse geführte Diskurs, der das Vorhandensein rassischer Diskriminierung negiert und der immer lauter werdende Protest der Afro-Brasilianer gegenüber. Die Blocos Afros sind die modernen Ausdrucksformen einer tief verwurzelten, auf afrikanische Ursprünge zurück gehenden Kultur, die sich ihre Eigenheiten im Widerstand gegen Sklaverei und Unterdrückung bewahrt hat. Das Mißtrauen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen hat eine lange Vorgeschichte. Für die Forschung bedeutete dies einen besonderen Balance-Akt, denn zunächst wird die europäische Forscherin der weißen, brasilianischen Mittel- oder Oberschicht zugeordnet. Es ging also darum Grenzen und Abgrenzungen zu überwinden, Vorurteile zu entkräften, Eifersüchteleien zu umgehen. In dem besonderen Umfeld der Blocos Afros und des Pelourinho wird sie - mit zunehmender Bedeutung des ausländischen Tourismus - als Gringa identifiziert, die, vom Zauber des Exotischen betört, Freundschaften schließt und schon bald wieder entschwunden ist, oder von der man sich handfeste Vorteile erhofft. Die Forschungssituation als Frau ist zudem ambivalent, weil einerseits öffnen sich manchmal leichter Türen, andererseits ist gerade die Beziehung zu den anderen Frauen durch das „Gringa-Phänomen“ erschwert und die Glaubwürdigkeit abhängig davon, eben diesen Klischees nicht zu entsprechen. Während der gesamten Forschung wurde der Handlungsspielraum immer wieder neu ausgehandelt. Dabei ging es um Vertrauensbildung auf verschiedenen Ebenen, denn zwischen Trommlern, Direktoren und Angestellten, zwischen individuellen und kollektiven Meinungen, Haltungen, und Urteilen einer stark heterogenen Gruppe können sich Abgründe auftun. Einige 69 Forschungsinstrumente wie zum Beispiel der Einsatz von Fragebögen innerhalb der Gruppe wurde erst möglich, nachdem ich von den entscheidenden Personen des Direktoriums akzeptiert wurde. Dabei wiederum kam mir zugute, dass ich in den letzten Monaten der Forschungszeit die Durchführung des Habitat-Projektes mit der Escola Criativa Olodum in Salvador betreut hatte. Langfristig war auch auf anderen Ebenen wichtig, das ein gewisses Verhältnis des gegenseitigen Entgegenkommens entstand, also beispielsweise Begleitung beim Besuch ausländischer Gäste Olodums. Das Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz, Idealisierung und Ablehnung muß ständig neu definiert werden. Es dauert lange, eine stärker auf Vertrauen basierende Ebene zu den Mitgliedern der Schwarzenbewegung herzustellen. Für die Forschung folgt daraus, daß zum Beispiel für ein längeres Interview, womöglich noch mit Aufnahmegerät, erst einmal ein Minimum an Vertrauensbeziehung hergestellt werden mußte - sonst sind die Interviewpartner eben einfach nicht erschienen. So waren zu Beginn der Forschung innerhalb der Gruppe Olodum vor allem die teilnehmende Beobachtung und die vielen informellen Gespräche wichtig. Der größte Feind: der Faktor Zeit, die größte Hilfe: Präsenz bei allen möglichen Veranstaltungen über die Jahre hinweg und Ausdauer. Als Mitteleuropäerin an einen anderen Zeitbegriff gewöhnt, ist Geduld eine der wichtigsten Tugenden für die Forschung gewesen. Ein besonderes Problem stellte auch die Sprache dar. Das in Salvador gesprochene Portugiesisch ist stark regional eingefärbt und gilt in ganz Brasilien als für Außenstehende schwer zu verstehen. So gibt es zum Beispiel mehrere Wörterbücher, die den brasilianischen Touristen das „Baianês“ verständlich machen sollen. Im Umfeld der Blocos Afros unter den schwarzen Jugendlichen wird zudem noch eine Art Jugendjargon gesprochen, der in seiner Art mit dem Slang, den die Afro-Amerikaner in den USA sprechen, vergleichbar ist. Gíria werden die für die einzelnen Gesellschaftsgruppen üblichen umgangssprachlichen Redewendungen genannt, die typisch für das brasilianische Portugiesisch sind. Die Auseinandersetzung mit der sozialen Realität Brasiliens stellt eine andere Schwierigkeit dar. Zum einen sind es die eklatanten Kontraste zwischen Arm und Reich, Schwarz und Weiß, die ins Auge stechen, an die sich der Blick jedoch gewöhnt. Zum anderen ist es die Widersprüchlichkeit, Verschwommenheit der sozialen Realität, der die europäische Forscherin gegenüber steht. Was kurz zuvor noch eindeutig, abgrenzbar erschien, verliert seine Konturen, weicht einem sich widersprechenden Gesamtbild. Der französische Soziologe 70 Michel Maffesoli bezeichnet Brasilien als ein „Laboratorium der Post-Moderne“ im Gegensatz zum Rationalismus Europas. „Die Art und Weise, wie die Brasilianer trotz der eklatanten sozialen Unterschiede vereint sind, widerspricht dem europäischen Individualismus der Moderne. Die Dimension Laboratorium bezieht sich auf das Experimentelle, auf „try and error“- Verhalten der brasilianischen Lebensbewältigung. Die sozialen Beziehungen entsprechen nicht der in Europa üblichen Einteilung in soziale Klassen“ (Maffesoli in: Folha de São Paulo 1999, 20.02. Caderno 4, S. 10). Die Rassenvermischung war und ist eine der wichtigsten Grundlagen für die spezifische Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen in Brasilien. Bis heute sind die Rassenbeziehungen in Brasilien bestimmt von ambivalenten Verhaltensweisen, deren Wurzeln in die Zeiten der Sklaverei zurückreichen. Zu den hervorstechenden Merkmalen dieser Beziehungen gehören Paternalismus und Personenkult, Nepotismus und der „jeitinho“, der Dreh, wie man mit einem Abstrich hier und einem Zusatz dort, trotzdem zum Ziel kommt. Maffesoli bestätigt auch den Niedergang der großen institutionellen Strukturen und Akteure zugunsten der Entwicklung neuer, direkterer Formen sozialer Organisation. Der Ästhetik dieser Gruppen komme dabei eine besondere Bedeutung zu (Maffesoli, 1987). Die Blocos Afros sind die modernen Ausdrucksformen einer Widerstandskultur und Karneval ist eine typisch brasilianische Überlebensstrategie - was aus europäischen Augen an sich schon widersprüchlich erscheint. Den Versuchen rationaler Abstraktion steht eine soziale Vitalität gegenüber, die diese nicht nur erschweren oder sogar verhindern, sondern auch ebenso typisch für zeitgenössisches Geschehen, wie den speziellen Fall Brasilien sind. „Brasilien verkörpert das Emotionale und Gefühlsbetonte wie wenige andere Kulturen der Welt. Dabei beschränke ich mich nicht nur auf das Fest, auf Karneval und Fußball. Ich beziehe mich auf eine alltägliche Haltung, auf eine Vorstellungswelt, in der die Emotionen als Widerstand gegen die Schwierigkeiten herangezogen werden. (...) Gilbert Durand hat mir gezeigt, dass es zwischen dem Rationalen und Irrationalen das Nicht-Rationale gibt: die Vorstellungswelt, das Emotionale, die Gefühle, das Sensible, die Fantasien, der Traum, all das, was das seelische Leben der Menschen ausmacht. Es gibt keine Menschheit ohne diese Vorstellungswelt.“ (Maffesoli in: Folha de São Paulo 1999, 20.02. Caderno 4, S. 10). 71 Während einerseits das Eintauchen und Kennenlernen zum Verständnis der fremden Realität notwendig sind, fehlt anderseits plötzlich die Distanz. Daraus ergeben sich auch Fragen nach den Parametern der Forschung: Betrachte ich die Realität, der ich gegenüberstehe, nach europäischen Maßstäben oder muß ich nicht viel stärker relativieren und vor dem spezifisch bahianisch-brasilianischen Hintergrund zu anderen Schlüssen kommen. Um diesem Dilemma entgegen zu wirken und dem Wunsch der Realität in ihrer Komplexität gerecht zu werden, werde ich einerseits viele Begebenheiten beschreiben - so hat der Leser mehr Freiheit zu seinen eigenen Schlüssen zu kommen – andererseits einen breiten Ansatz verfolgen und wo nötig, bzw. soweit möglich, disziplinenübergreifend arbeiten in den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Bereichen wie Soziologie, Anthropologie, der Erziehungswissenschaften oder der Musikwissenschaft. 72 5. Über 350 Jahre Sklaverei - brasilianische Geschichte der Rassenbeziehungen „In diesem Land haben die Neger, die wichtigste Rolle: Ich denke, dass im Grunde mehr sie die Herren sind als die Sklaven der Brasilianer. Alle Arbeit wird von den Schwarzen gemacht, aller Reichtum wird durch schwarze Hände erwirtschaftet“ beobachtete die europäische Reisende Ina von Binzer 1881 (zitiert nach IBASE, 1989, S.16). Die Rassenbeziehungen in Brasilien können nur vor dem Hintergrund der Sklaverei verstanden werden. Die Sklaverei prägte die Eigentumsverhältnisse und das Machtsystem, die menschlichen Beziehungen und die religiösen Äußerungen, den Aufbau der Nation und der brasilianischen Identität, kurz die gesamte Geschichte und Gegenwart des Landes. Die Afrikaner waren nicht als freie Menschen nach Brasilien gekommen, sondern wurden grausam ihrer Heimat entrissen und als unmündige Handelsware von den portugiesischen Kolonisatoren in die Neue Welt verschleppt. Durch die Intensität des Sklavenhandels waren die Afrikaner schon bald keine Bevölkerungsminderheit in Brasilien mehr. Dennoch blieb ihre Integration in die Gesellschaft asymmetrisch, sie stellten die Basis der gesellschaftlichen Prozesse ohne jedoch direkt auf sie einzuwirken. Dieses Kapitel widmet sich den Rassenbeziehungen vom Beginn der portugiesischen Kolonialisierung bis zur Abolition. Zunächst wird ein kurzer Überblick über Ausmaße und Entwicklung des Sklavenhandels gegeben. Schwerpunkt des Kapitels sind jedoch die unterschiedlichen Mittel und Wege, derer sich der schwarze Widerstand bediente, dem Sklavendasein zu entkommen. Dazu gehören die direkten Widerstandsformen, die Sklavenfluchtburgen, quilombos genannt, und Aufstände ebenso, wie die indirekten Formen kulturellen Widerstands, die sich in der Religion, Musik und Tanz äußern. Die verschiedenen Schritte bis zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei schließen das Kapitel ab. 5.1 Sklaverei - Rückgrat der Kolonialgesellschaft Im Jahr 1500 landete Pedro Alvares Cabral in der Nähe des heutigen Porto Seguro im Süden des Bundesstaates Bahia und „entdeckte“ Brasilien für die portugiesische Krone. Zunächst war das Land für Portugal nur von geringem Interesse, da man auf keine Reichtümer stieß, 73 wie sie die Spanier in ihren Kolonien vorgefunden hatten. Das für die Färberei genutzte Brasilholz, pau-do-Brasil, gab dem „Papageienland“ wie die portugiesischen Seeleute den Landstrich getauft hatten, seinen endgültigen Namen. Erst als der Anbau von Zuckerrohr in Brasilien gelang, gewann die Kolonie an Bedeutung für die portugiesische Krone. Mit dem Zucker begann das die brasilianische Geschichte prägende Kapitel der Sklaverei. Ab 1530 teilte der portugiesische König Dom João III. Brasilien auf in 15 erbliche Lehngüter, sogen. capitanias. Die portugiesischen Lehnsherren durften die Ländereien nach Gutdünken nutzen und hatten auch die Aufgabe, von der Küste her das Landesinnere zu erschließen. Die einheimische indianische Bevölkerung setzte dem so gut wie keinen Widerstand entgegen. Zucker war im Mittelalter zu einem heiß begehrten Luxusartikel in Europa geworden, der zunächst aus Asien importiert worden war. Bis ins 19. Jahrhundert als die Zuckergewinnung aus Rüben gelang, blieb der Zucker aus Amerika eines der wichtigsten Handelsgüter. Als die Portugiesen Brasilien in Besitz nahmen, waren sie bereits führend im weltweiten Handel mit Zucker. Bis Ende des 16. Jahrhunderts hatten die portugiesischen Kolonisatoren in den Capitanias Pernambuco und Bahia bereits über 100 Zuckerrohrplantagen mit Mühlen und Brennereien, engenhos genannt, angelegt. Die sich rasch ausbreitende Plantagenwirtschaft in Brasilien erforderte Arbeitskräfte, für die die Kolonialherren nicht auf die im Land anwesenden Indianer zurückgreifen konnten. Die ersten Afrikaner wurden vermutlich bereits 1531 nach Brasilien gebracht, rund 90 Jahre bevor die ersten Sklaven in Nordamerika an Land gingen (Prado Júnior, 1994). Sie stellten für Jahrhunderte das wichtigste Arbeitskräftereservoir nicht nur der Zuckerrohrplantagen, sondern der gesamten landwirtschaftlichen Produktion Brasiliens. Das Ausmaß des Sklavenhandels zwischen Afrika und den Amerikas kann nur grob geschätzt werden. Zwischen 9 und 12 Millionen Menschen wurden in die Neue Welt verschleppt (Conniff M.& Davis T., 1994, S.47). Brasilien und die Karibik-Inseln nahmen die jeweils größten Kontingente mit bis zu fünf Millionen Menschen auf - je zehnmal soviel wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Zahl der Menschen, die in Afrika verschleppt wurden, lag noch wesentlich höher. Denn sowohl beim Einfangen, wie auch während der Wartezeit in den Kerkern vor Antritt der Überfahrt und insbesondere während der mehrwöchigen Schiffsreise eingepfercht in den Rumpf der Galeeren, kamen unzählige Menschen ums Leben. 74 Den internationalen Sklavenhandel regelten ab 1603 die Ordenações Filipinas. Anders als England und Frankreich, erlies Portugal keine Richtlinien, welche die Behandlung der versklavten Bevölkerung in der Kolonie gesetzlich regelten. Nahezu ohne Kontrolle bedeutete dies, dass die Sklavenherren auf ihren Gütern einen nahezu unbeschränkten Machtbereich hatten. Im April 1549 etablierte sich Tomé de Souza in São Salvador da Bahia de Todos os Santos und übernahm als General-Gouverneur die Kolonialverwaltung vor Ort. Gemeinsam mit ihm kamen als Vertreter der Kirche die ersten Jesuiten ins Land. Die Kirche nahm eine ambivalente Position gegenüber der Institution der Sklaverei ein. Bis auf vereinzelte Stimmen unterstützten sie Sklavenwirtschaft in der Kolonie, lehnten aber die Versklavung der einheimischen indianischen Bevölkerung ab. Der Jesuit Antônio Vieira (1608-1697) war einer der vehementesten Befürworter der Versklavung der Afrikaner. Er unterstrich den von Natur aus sklavischen Charakter des schwarzen Volkes und ging sogar soweit, die Sklavenarbeit als Möglichkeit zur Rettung ihrer bis dahin in sündigen, schwarzen Körpern hausenden Seelen zu preisen (Hofbauer, 1995). Die zur Sklavenarbeit „ungeeigneten“ Indios wurden von den Jesuiten in sogen. Reduktionen vereint. Darin, so hofften sie, könnten sie eine neue göttliche Gesellschaft gründen. Laut Hofbauer wurde die ambivalente Haltung der Jesuiten gegenüber der Sklaverei geprägt von den wirtschaftlichen und sozialen Anforderungen des Kolonialreiches: Erst mit der Etablierung des auf afrikanischen Sklaven basierenden Kolonialsystems wurden sie zum „beschützenden Vormund“ der Eingeborenen (Hofbauer, 1995). Mit der Verbrennung der Archive auf Anordnung des damaligen Finanzministers Rui Barbosa 1890, gingen in Brasilien alle Unterlagen, die den Sklavenhandel dokumentierten, verloren. Barbosa wollte mit der Vernichtung der Auflistungen des Sklavenhandels eventuellen Regressansprüchen ehemaliger Sklavenhalter nach Abschaffung der Sklaverei zuvorkommen. Gleichzeitig beraubte er mit seinem Akt jedoch die Millionen von Nachfahren afrikanischer Sklaven ihrer Geschichte. So kann sich die Geschichtsforschung nur auf die Dokumente in den Archiven Europas und Afrikas und vereinzelte Aufzeichnungen von Reisenden, Kaufleuten oder Militär beziehen Auch wenn die Schätzungen der Historiker teilweise weit auseinanderliegen, scheinen inzwischen die meisten von einer Zahl zwischen 3,5 Millionen und fünf Millionen Afrikaner auszugehen, die in Brasilien an Land gebracht wurden (z.B. Conniff, M & Davis, T., 1994; IBASE, 1989; Viana Filho, 1988). 75 Der bahianische Historiker Luis Viana Filho unterscheidet vier Phasen der Geschichte der „Sklavenimporte“: Die ersten Sklaven im 16. Jahrhundert kamen von der Guinea-Küste, während im 17. Jahrhundert der Angola-/Kongo-Zyklus folgte. Im 18. Jahrhundert wurden die meisten Sklaven zunächst von der Mina-Küste und später dem Golf von Benin verschleppt. Mit der Illegalisierung des Sklavenhandels auf Betreiben der Engländer ist die Herkunft der Sklaven im 19. Jahrhundert nur schwer belegbar, vermutlich stammten sie ebenfalls aus Westafrika (Viana Filho, 1988). Die wirtschaftlichen Bedürfnisse Brasiliens waren entscheidend für die Entwicklung des Sklavenhandels. Im 17. Jahrhundert wurden rund 560.000 Sklaven an Land gebracht (IBASE, 1989). Die Sklaven wurden zunächst auf den Zuckerrohr-Plantagen des Nordostens eingesetzt, wo sich Bahia und Pernambuco als das Zentrum der Kolonialisierung herauskristallisierten. Nach dem Zucker war es vor allem Tabak, der im fruchtbaren Hinterland der Stadt Salvador, dem Recôncavo, angebaut wurde. Minuziös beschreibt Pierre Verger die Dreiecks-Beziehung, die sich zwischen Europa, Afrika und Amerika während drei Jahrhunderten konsolidiert hatte. Die portugiesischen Schiffe brachten europäische Handelswaren zum Verkauf gegen Sklaven nach Afrika. Dann überquerten sie den Atlantik und verkauften die Sklaven in Brasilien. Von dort kehrten die Schiffe mit Kolonialwaren beladen wieder nach Europa zurück (Verger, 1987). Gegen Ende des 17. Jahrhunderts stießen aus São Paulo kommende Expeditions-Truppen, bandeirantes genannt, südlich von Bahia, im Gebiet des heutigen Minas Gerais, auf Gold in den Flussbetten und leichtzugängliche Goldadern im Gebirge. Kurze Zeit später wurden hier auch Diamanten und Edelsteine gefunden. Es kam zu einem Goldrausch, der das Gebiet innerhalb kürzester Zeit zu einer der reichsten Regionen der Erde machte. „Die größte bis dahin entdeckte Goldmasse wurde mit der geringsten Zeitaufwendung gewonnen“ (Galeano, 1981, S.61) Im Laufe des 18. Jahrhunderts holten die portugiesischen Kolonisatoren mehr Gold aus brasilianischer Erde, als die Spanier während der vorhergehenden zwei Jahrhunderte aus ihren Kolonien. Der Bedarf an Sklaven in der Kolonie wurde unersättlich - auf den Plantagen ebenso wie in den Minen und in den Haushalten der schnell wachsenden Städte. Im 18. Jahrhundert verdreifachte sich die Zahl der Sklavenimporte auf rund 1.600.000 Menschen (IBASE, 1989) Die Stadt Ouro Preto wurde zu einer der reichsten Städte der südlichen Hemisphäre. 1763 wurde der Sitz der Kolonialverwaltung aus dem Nordosten (Salvador) nach 76 Rio de Janeiro verlegt. Darin zeigt sich auch die Verschiebung der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung aus dem Nordosten in den Südosten des Landes. 1808 flüchtete der portugiesische Hof vor Napoleon nach Brasilien. Fast 15.000 Menschen wurden mit Hilfe Englands nach Rio de Janeiro verschifft. Die Stadt am Zuckerhut erlebte eine Boom-Phase bis dahin unbekannten Ausmaßes. Aus Dankbarkeit gegenüber den Engländern wurden die brasilianischen Häfen für englische Produkte geöffnet. England und Portugal, die bereits seit dem Vertrag von Methuen von 1703, enge wirtschaftliche Beziehungen pflegten, unterbanden die industrielle Entwicklung Brasiliens. Manufakturen, welche die europäische Produktion hätten schädigen können, wurden verboten (Galeano, 1981). Zwischen 1801 und 185532 wurden noch einmal fast 1,8 Millionen Afrikaner nach Brasilien gebracht (IBASE, 1989). 1822 rief Dom Pedro die Unabhängigkeit Brasiliens aus und krönte sich selbst zum Kaiser. Der britische Einfluss blieb dennoch weiterhin spürbar. Die Größe Brasiliens und die regional unterschiedlichen Interessen wirkten sich auch auf die Sklaverei und den Prozess zu ihrer Abschaffung aus. Bahia beispielsweise knüpfte unabhängig von Portugal eigene, direkte Handelsbeziehungen mit der Westküste Afrikas. Der in Bahia angebaute Tabak, der laut Dekret des portugiesischen Königs nicht nach Portugal exportiert werden durfte, konnte in Afrika gegen Sklaven getauscht werden. Die kürzeste Verbindung Brasilien-Afrika verband Salvador mit der Westküste des schwarzen Kontinents. Ende des 19. Jahrhunderts hatte Portugal seinen Kolonialbesitz weiter ins afrikanische Inland ausgedehnt. Anders als in Rio de Janeiro gab es dadurch in Bahia im 19. Jahrhundert wesentlich mehr aus Westafrika stammende sudanesische Sklaven (Nagô, Malê) als BantuSklaven aus Zentralafrika (Verger, 1987). Die historischen Quellen weisen immer wieder auf die Unterschiede zwischen Bantu- und sudanesischen Sklaven hin. Es scheint, als seien die Bantu eher zur Assimilation der luso-brasilianischen Kultur bereit gewesen33 als die stark durch den Islam beeinflussten westafrikanischen Sklaven, die an den meisten Rebellionen beteiligt waren, wie z.B. die Malê. Anfang des 19. Jahrhunderts wandelte sich Großbritannien vom Befürworter zum Anführer der Kampagnen gegen die Sklaverei. Nachdem als erstes Land Dänemark 1792 den 32 In diesem Jahr wurden offiziell die letzten Sklavenimporte an Land gebracht. Wie viele Sklaven und wie lange noch Sklaven heimlich nach Brasilien gebracht wurden, ist schwer abschätzbar. 33 So lernten die Bantu schneller die Sprache, andererseits stammen die Wörter afrikanischen Ursprungs des brasilianischen Portugiesisch fast alle aus dem Bantu-Sprachraum, wie zum Beispiel muamba (Schmuggelware) oder quicila (Streitigkeit). 77 Sklavenhandel verboten hatte, war es 1807 Großbritannien (Conniff, M. & Davis, T.,1994, S.163) Auf Druck Großbritanniens, das seine Einnahmen aus dem Zucker schützen wollte, wurde das erste Gesetz, das die brasilianische Sklaverei verbot 1845 in London verabschiedet (Galeano, 1981, S.98). Bis zum Erlass des ersten brasilianischen Gesetzes, das den Sklavenhandel verbot, vergingen jedoch noch einmal fünf Jahre. 5.2 Schwarzer Widerstand zwischen Verhandlung und Konflikt „Das tägliche Leben eines Sklaven war so etwas wie ein Capoeira-Spiel - Kampf, Musik und Tanz zur selben Zeit“ (Reis, J.J. & Silva, E., 1989, S.11). Von Beginn an haben sich die Afrikaner nicht widerstandslos in ihr Schicksal als Sklaven ergeben. In Afrika wurden sie von Sklavenfängern oder verfeindeten Stämmen eingefangen, entführt und an die Küste gebracht, wo sie von Sklavenhändlern aufgekauft wurden. Noch heute sind an der Westküste Afrikas die Festungen zu besichtigen, wo sie vor der Überfahrt gefangengehalten wurden. Auch bei der Überfahrt auf den Galeeren kam es zu vereinzelten Unruhen und Selbstmorden. Eine gemeinsame Aktion war jedoch nicht möglich, wurden doch Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprache, Kultur und Traditionen in den Schiffsbäuchen zusammengepfercht. In Brasilien achteten die Händler darauf, Menschen derselben Herkunft an verschiedene Sklavenherren zuverkaufen, um von vornherein das Widerstandspotential zu vermindern. Neben dem Suizid war die individuelle oder kollektive Flucht zunächst der einzige Ausweg dem Sklavendasein zu entgehen. Doch wohin? Im unwirtlichen Hinterland konnten die Flüchtigen allein nicht überleben, in den besiedelten Gebieten machten sie sich verdächtig. Dennoch wurden bereits im 16. Jahrhundert Fluchtversuche dokumentiert. Die erste SklavenFluchtburg, quilombo genannt, in Bahia datiert von 1575 - damit gab es für die Flüchtigen ein Ziel und eine reelle Chance außerhalb der Plantagen zu überleben. Denn die Sklavenhalter bemühten sich ihre entlaufenen Sklaven wieder einzufangen, wobei sie auch die Dienste von professionellen Sklavenjägern, sogen. capitães de mato, in Anspruch nahmen. Wiedereingefangene Sklaven wurden grausam bestraft und vielen ein „F“ für fugitivo (Entlaufener) auf die Wange gebrannt. Exemplarisch soll auf den größten und wichtigsten dieser Quilombos, dessen letzter Anführer zum wichtigsten Idol der brasilianischen Schwarzenbewegung geworden ist, eingegangen werden. 78 Als eine permanente Situation zwischen Verhandlung und Konflikt wurden die Beziehungen der Sklaven zu ihren Sklavenhaltern von den verschiedenen Historikern charakterisiert (z.B. Mattoso, K., 1992 und Reis, J.J. & Silva, E., 1989). Wenn die „Verhandlungen“ fehlschlugen, blieben den Sklaven zwei Möglichkeiten: entweder die Flucht oder die Rebellion. Welche Alternative die unzufriedenen Sklaven wählten, hing nicht nur von der indiviuell unterschiedlichen Situation, sondern auch von den historischen Gegebenheiten ab. Fluchtversuche und Rebellionen traten dann verstärkt auf, wenn die dominierende Gruppe der Sklavenhalter durch äußere (z.B. Kolonialkriege) oder innere Unruheherde (Unabhängigkeit) gespalten war. Auf einen der wichtigsten Aufstände, die Revolta dos Malês, soll unter Punkt 5.2.2 eingegangen werden. Abgesehen von wenigen Ausnahmen stellte die Flucht von Sklaven keine größere Bedrohung für die Kolonialgesellschaft dar. Wesentlich stärker bedrohten die besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufflammenden Aufstände und Revolten die Sklavenhaltergesellschaft. Schon die Ahnung einer Rebellion konnte als Korrektiv für die Auswüchse der Sklaverei wirken. 5.2.1 Zumbi und die Quilombos von Palmares Der Begriff Quilombo kommt vermutlich aus dem Quimbundo des angolanischen Sprachraums und beschreibt eine Ansammlung von Hütten.34 Die Quilombos lagen in unzugänglichen Gebieten, wo sich die entlaufenen Sklaven, aber auch andere von der Kolonialgesellschaft an den Rand gedrängte Individuen, von Ackerbau, Jagd und Fischfang ernährten. Gebrauchsgegenstände, insbesondere Waffen, die in den Quilombos nicht hergestellt werden konnten, besorgten sich die Quilombolas bei Überfällen auf benachbarte Dörfer. Verbreitet war wegen des permanenten Frauenmangels in den Quilombos auch der Raub von Sklavinnen und Indio-Frauen. 35 In den meisten Quilombos entwickelten sich im Lauf der Zeit Organisationsstrukturen mit einer zentralen Entscheidungsinstanz an der Spitze. Die Zahl und Größe der Quilombos in Brasilien lassen sich nur schwer schätzen. Waren sie zu Beginn der Sklaverei die einzigen möglichen Überlebensformen außerhalb des 34 Häufig wurde auch die Bezeichnung mocambo, Strohdachhaus, benutzt. Die Kolonialverwaltung definierte erst 35 Unter den Sklaven war die geschlechtliche Verteilung von vornherein ungleich: es kamen gemäß der Nachfrage nach Arbeitskräften viel mehr Sklaven männlichen Geschlechts an Land. 79 Sklavendaseins, kamen mit fortschreitender Entwicklung der Kolonie andere Lebensformen für Afrikaner, Sklaven und deren Nachkommen dazu. Im Hinterland des heutigen Bundesstaates Alagoas im Nordosten Brasiliens lagen die Quilombos von Palmares, die wegen ihrer Größe und Resistenz in die brasilianische Geschichte eingegangen sind. Ihr letzter Anführer, Zumbi, ist zum wichtigsten Helden der brasilianischen Schwarzenbewegung geworden. Bis heute läßt sich kein Datum ermitteln, wann genau der erste Quilombo von Palmares gegründet wurde. Bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts sollen von einem großen Zucker-Engenho entlaufene Sklaven im Süden der Capitania Pernambuco in die unwirtliche Hochebene der Serra da Barriga geflüchtet sein. Sie hatten gegen die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen rebelliert. Der Ausbruch des portugiesisch-holländischen Krieges an der Nordostküste Brasiliens ab 1624 schuf ein Klima, das vielen Sklaven die Flucht erleichterte. Immer mehr und immer größere Fluchtburgen wurden im Hinterland Recifes errichtet. Die Quilombos von Palmares stellten schon bald eine Herausforderung für die Kolonie dar. Bereits während der holländischen Besatzungszeit (1630-1654) wurden zwei größere Expeditionen gegen Palmares geschickt - erfolglos (Freitas, 1984, S.54ff). Immer wieder wurden Truppen von der Kolonialverwaltung in Recife mit Unterstützung der Fazenda-Herren zusammengestellt. Palmares konnten sie nichts anhaben. Einerseits war die Motivation dieser Truppen, die zum großen Teil aus weißen Kriminellen, Indios und befreiten Sklaven bestanden, nicht besonders groß. Viele von ihnen sollen sogar zu den Gegnern übergelaufen sein. Andererseits waren die Palmarinos mutige und geschickte Kämpfer, die mit GuerillaTaktiken jahrzehntelang den militärischen Expeditionen36 zur Zerstörung der Quilombos erfolgreich widerstanden. Palmares hatte sich im Laufe der Zeit zu einem prosperierendem Staat im Staate entwickelt. Mais, Bohnen, Maniok, Zuckerrohr, Kartoffeln und Bananen wurden auf den urbar gemachten Böden angebaut. Das Land war Gemeinschaftseigentum und wurde von allen bestellt. „Tudo era de todos e nada de ninguém“ urteilte ein von den Fazenda-Herren nach Palmares entsandter Spion (nach Freitas, 1984, S.37). Gegen Mitte des 17. Jahrhunderts am 36 Nicht nur die Portugiesen mußten Niederlagen gegen die Palmarinos einstecken. Während der holländischen Besetzung des brasilianischen Nordostens (1630-1654) waren bereits zwei holländische Expeditionen nach Palmares geschickt worden. 80 Höhepunkt seiner Entwicklung sollen zwischen 20.000 und 30.000 Menschen in dem rund 27.000 Quadratkilometer großen Gebiet gelebt haben. Im Lauf der Zeit entwickelten sich zentrale Organisationsstrukturen in den Quilombos, die zunächst unabhängig von einander existierten. Die jeweiligen lokalen Anführer bestimmten den „Großen Chef“, wie die wörtliche Übersetzung von Ganga-Zumba lautet. Er stammte aus Macaco, das in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit seinen 8.000 Einwohnern zum größten der Quilombos von Palmares angewachsen war. Der Ganga-Zumba wurde wie ein König verehrt und behandelt. Seitdem Palmares vom Conselho Ultramarino in Lissabon gegenüber der Krone als Ursache für den Rückgang der Zuckerproduktion verantwortlich gemacht worden war, nahmen die Bestrebungen zu, das „Problem“ Palmares endgültig zu lösen. Nachdem es erstmals unter Führung von Fernão Carrilho gelungen war, den Palmarinos größere Verluste zuzufügen, schwenkte der damalige Gouverneur von Pernambuco, Dom Pedro Almeida, 1678 auf den Verhandlungsweg ein. Eine Art Friedensvertrag wurde geschlossen, nach dem allen in Palmares Geborenen die Freiheit zugesichert wurde. Die Palmarinos sollten in einem zugeteilten Gebiet leben, Cucaú, und dort in Frieden Ackerbau und Handel betreiben können. Ganga-Zumba unterzeichnete den Vertrag und Dom Almeida kehrte nach Portugal zurück mit der Überzeugung das Problem gelöst zu haben (Freitas, 1984, S.108ff). Nicht alle Palmarinos zogen mit Ganga-Zumba in das im Vertrag vorgesehene Gebiet. Die Zurückgebliebenen sammelten sich um einen neuen Anführer, der als Zumbi in die brasilianische Geschichte eingehen sollte. Zumbi, der 1655 in Palmares geboren war, wurde als Baby zusammen mit anderen bei einer Attacke Gefangenen nach Recife gebracht. Dort wuchs er in der Obhut eines Paters auf, der ihn Francisco nannte und ihn in Portugiesisch, Latein und Religion unterrichtete. Mit 15 Jahren flüchtete Francisco nach Palmares und nannte sich fortan Zumbi (J.Santos, 1988, S.27f). Schon zwei Jahre später wurde er zum Anführer seiner Gruppe gewählt, bei der Expedition Carrilhos war er bereits GeneralKommandeur der palmarinischen Truppen. Während Ganga-Zumba mit seinen Anhängern in Cucaú saß, begann Zumbi den Einfluß seines Vorgängers zu untergraben. Dabei kam ihm die ungeschickte Politik der Portugiesen zugute, die immer mehr Menschen veranlaßte von Ganga-Zumbas Seite zu ihm überzulaufen. Schließlich kam es zu einem blutigen Kampf zwischen den beiden Gruppen, bei dem GangaZumba und seine Anhänger getötet wurden. 81 Zu Beginn der 90er Jahre des 17. Jahrhunderts verschärfte sich die Stimmung zwischen der Kolonialmacht und den Palmarinos. Der Zucker war in der Krise und eine Hungersnot aufgrund einer Dürreperiode kasteite den Nordosten. Als Schuldigen machte man schnell Palmares aus. Kriegsstimmung breitete sich aus. Die Kolonialverwaltung suchte nach geeigneten Militärführern, die Priester riefen von den Kanzeln zum Krieg gegen Palmares auf. Auch Zumbi bereitete Palmares auf die unausweichliche Auseinandersetzung mit der Kolonialmacht vor. Im Januar 1694 brach ein 9.000 bis 11.000 Mann starkes Heer unter Führung von Domingos Jorge Velho zum entscheidenden Schlag gegen die Quilombos auf. Dieser war aus dem 2000 Kilometer südlich gelegenen São Paulo, wo er sich einen Namen als erfolgreicher Heerführer im Kampf gegen die Eingeborenen gemacht hatte, nach langen Verhandlungen zu dieser Aktion bereit. Die Palmarinos hatten sich inzwischen auf die Serra da Barriga zurückgezogen und Macaco zu einer Festung ausgebaut. Holzpalisaden und Gräben schützten die Stadt. 22 Tage lang belagerten die Truppen von Domingos Jorge Velho Palmares bevor sie zum entscheidenden Schlag ansetzten. Ihnen war es gelungen eine behelfsmäßige Befestigungsanlage zu errichten, die es ihnen ermöglichte ihre Kanonen in Schußweite der Holzpalisaden zu bringen. Zumbi, der die Gefahr erkannte, versuchte in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1694 den Rückzug seiner Leute. Dabei wurden sie von den portugiesischen Truppen entdeckt und ein gewaltiges Gemetzel machte Palmares innerhalb kürzester Zeit dem Erdboden gleich. Nur einige wenige Frauen und Kinder überlebten die Schlacht. Auch Zumbi hatte überlebt und sich mit rund 2000 Männern in der Serra da Barriga verstecken können. Einer seiner Vertrauten, der in portugiesische Gefangenschaft geraten war, verriet sein Versteck. Am 20. November 1695 wurde Zumbi in einen Hinterhalt gelockt und getötet. In Recife, das bereits den Fall Palmares mit einem sechstägigen Fest und Messen gefeiert hatte, wurde sein Kopf auf einer Lanze gespießt zur Schau gestellt - oftmals totgesagt mußte sein Tod aller Welt bewiesen werden (Freitas, 1984, S.160ff). Viva Zumbi! Der Todestag Zumbis wurde 1979 von der Vereinigten Schwarzenbewegung, kurz MNU genannt, zum „Tag des Schwarzen Bewußtseins“ (Dia da Consciência Negra) ausgerufen. Damit protestierten sie gegen den offiziellen Feiertag der Abschaffung der Sklaverei, den 13. Mai, den Tag des Goldenen Gesetzes. Heute feiern die verschiedensten Gruppen der 82 brasilianischen Schwarzenbewegung den 20. November mit Protestmärschen, Diskussionsveranstaltungen, Capoeira- und Tanzveranstaltungen. Der Name Zumbís ist seit 1996 in das Buch der Helden des Vaterlandes (Livro dos Heróis da Pátria) aufgenommen – eine Initiative, die von der afro-brasilianischen Senatorin Benedita da Silva ausging. Bis heute gibt es in den unterschiedlichen Regionen Brasiliens Dörfer und Städte mit überwiegend dunkelhäutiger Bevölkerung, die auf Quilombos zurückgehen. In vielen dieser Quilombos haben sich sprachliche und kulturelle Eigenheiten besonders erhalten, wie beispielsweise in Cafundó 140 Kilometer von São Paulo (Revista da Folha de São Paulo, 14.05.1995), den Quilombos des Vale do Ribeira (Folha de São Paulo, 30.03.1997) oder bei den kalungas im Norden Goiás (Folha de São Paulo, 27.8.1995). Die Verfassung von 1988 garantiert den Quilombolas die Anerkennung ihrer Ansprüche auf das Land. Die Fundação Palmares wurde ins Leben gerufen, um die Umsetzung in die Wege zu leiten. Unter Präsident Fernando Henrique Cardoso sind die ersten Quilombos legalisiert worden. Die Bodenrechte des Quilombo Rio das Rãs im Südwesten des Bundesstaates Bahia, nahe des Rio São Francisco, sind 1995, im 300. Todesjahr Zumbis, nach langwierigen Prozeduren den dort lebenden Nachfahren zugesprochen worden (Isto é, N° 1310, 09.11.1994) Die Fundação Palmares hat inzwischen 724 Quilombo-Gebiete registriert, in denen rund 2 Millionen Menschen leben. 32 Quilombos wurden davon bereits anerkannt und 18 haben die endgültigen Landrechte bekommen. (www.palmares.gov.br 24.04.2003) 5.2.2 „Tod den Weißen“ - Aufstände und Revolten Während des gesamten 19. Jahrhundert vor Abschaffung der Sklaverei kam es zu mehreren Sklavenaufständen und -revolten, die sich schnell zu einer Bedrohung der Sklavenhaltergesellschaft auswuchsen. Die gesellschaftlichen Strukturen begannen sich ab Anfang des 19. Jahrhunderts stark zu verändern. Die Übersiedlung des portugiesischen Hofes 1808 nach Rio de Janeiro spaltete schon nach kurzer Zeit die hellhäutige Elite des Landes in Brasilianer und Portugiesen. Die Portugiesen beanspruchten, was bisher allein Privileg und Besitz der einheimischen Elite war. Andererseits machten sie sich über den Provinzialismus der Brasilianer lustig. Im Nordosten des Landes bestimmten weiterhin die alteingesessenen Familien das Geschehen. Aber auch hier wurden die Unterschiede zwischen dem Leben auf dem Land und in der Stadt immer deutlicher spürbar. Besonders in den Städten verloren die 83 klaren gesellschaftlichen Trennlinien zunehmend ihre Kontur zugunsten eines Durcheinanders von Sklaven, bereits Befreiten (libertos) und Freien , Leihsklaven und Sklaven, die ihre Dienste anboten, aber ihren Sklavenhaltern eine vorab vereinbarte Summe zu zahlen hatten (sistema de ganho). Während auf dem Land die Sklavenbevölkerung weitestgehend abhängig von den Entscheidungen der Fazenda-Herren blieb, öffneten sich in der Stadt wesentlich grössere Freiräume. In den Strassen der Stadt bewegte sich also ein buntes Menschengemisch von Afrikanern, Mischlingen und Europäern, in Brasilien geborenen Sklaven und bereits Befreiten und Freien, die selbstständig Dienste anbieten, Leihsklaven und Dienstboten. Zu den häufigsten Arbeiten der männlichen Sklaven gehörte das Tragen von Lasten und Sänften, sowie die Arbeiten am Hafen und in den Lagern und in den verschiedenen handwerklichen Berufen. Die Sklavinnen waren im allgemeinen mit den Tätigkeiten im Haushalt oder als Wäscherin, Köchin oder Schneiderin beschäftigt. Der Grossteil der Bevölkerung lebte in grosser Armut, während die weisse Elite ihren Reichtum weiterhin ungeniert zur Schau stellte (Mattoso, 1990). Die bahianische Wirtschaft prosperierte nach einer großen Krise seit ca. 1770 wieder: die Zuckerpreise waren gestiegen, die Baumwolle- und Tabak-Plantagen wuchsen. Salvador wächst zwischen 1775 und 1807 um über 30 %. Fast drei Viertel der Bevölkerung sind Afrikaner oder Afro-Brasilianer (Reis, 1987, S.15). Als Afrikaner werden die in diesem Zeitraum aus Afrika kommenden Sklaven bezeichnet. Ihrer Herrkunft nach waren die Bewohner der Stadt also Brasilianer, Afrikaner oder Europäer. Für die in Brasilien geborenen „Afro-Brasilianer“ kam schon damals die Hautfarbe als weiteres Unterscheidungsmerkmal dazu: crioulo hießen die Schwarzen, cabra und mulatos die „Mischlinge“. Zu diesem Zeitpunkt setzte sich die Bevölkerung aus rund 40% Sklaven und rund 30% freien AfroBrasilianern (Reis, 1987, S.16) zusammen. Die Europäer waren in der Minderheit. Dennoch waren sie es, die die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen trafen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vorgaben. Die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal 1822 ist als „Grito de Ipiranga“ in die Geschichtsbücher eingegangen. Dom Pedro I. hatte auf dem Ipiranga-Hügel in der Nähe von São Paulo mit dem Ausruf „Unabhängigkeit oder Tod“ das Land als unabhängig erklärt. Im rund 2000 Kilometer entfernten Nordosten jedoch wurde die Unabhänigkeit von Portugal erst 84 durch einen mehrere Monate andauernden Krieg erkämpft. Besonders in Bahia mit seiner großen und unruhigen Sklavenbevölkerung verschärfte der Unabhängigkeitskrieg die unterschiedlichen Positionen in der Bevölkerung. Die Föderalisten und Republikaner kämpften gegen die portugiesischen Truppen, mit der Abschaffung der Sklaverei hatten sie jedoch nicht viel im Sinn. Auf der anderen Seite hofften Sklaven, Befreite und Freie die Gunst der Stunde nutzen zu können und mit der Unabhängigkeit auch einen besseren Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen. Dabei waren sie in unterschiedliche Lager gespalten: Die in Brasilien geborenen Sklaven wollten sich aus der Sklaverei befreien, die Afrikaner jedoch sollten davon ausgeschlossen werden. Die Freien und Befreiten waren indes damit beschäftigt, bessere soziale Bedingungen zu erkämpfen. Der wirtschaftliche Boom der vorangegangenen Jahrzehnte war abgeflaut und die Wirtschaft in eine tiefe Krise geraten. Nachdem auch in Bahia die Unabhängigkeit erkämpft war, blieb die Region weiterhin in Unruhe und immer wieder kam es zu Aufständen unter der Sklavenbevölkerung. An den mehr als 20 bahianischen Rebellionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts beteiligten sich laut Reis kaum Mulatten oder Crioulos, sondern hauptsächlich Yoruba-stämmige Afrikaner (Reis, 1987)37. Der wichtigste städtische Sklavenaufstand nach Zahl der Aufständischen und Organisationsgrad war die sogenannte Revolta dos Malês von 1835. Malês wurden die Menschen sudanesischer Herkunft mit islamischen Glauben genannt, die besonders gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach Brasilien gebracht wurden (Reis, 1987, S.170). Diese Afrikaner pflegten die Ausübung und Verbreitung der Lehren Mohammeds auch in Brasilien und richteten sogar geheime Koranschulen ein, so daß es unter der dunkelhäutigen Bevölkerung Salvadors zu einer Islamisierungswelle kam. Die Revolta dos Malês war keine spontane Erhebung, sondern ein von islamischen Sklaven geplanter Aufstand. So wurde zum Beispiel der Plan für die Eroberung der Stadt in arabischen Schriftzeichen verfaßt. Dieser Aufstand wird oft auch als Revolta dos Búzios, der Muschel-Aufstand bezeichnet, denn die Aufständischen hatten als eines der Erkennungszeichen vereinbart Muscheln bei sich zu tragen. Der Zeitpunkt für den Aufstand wurde mit Umsicht gewählt: Eine Woche nach dem wichtigsten Heiligenfest Bahias, dem Bonfim-Fest, im Januar. An diesem Tag pilgerte ein 37 Laut Hofbauer stammen die „Mohrenköpfe“ die 1833 an der Universität Berlin zu medizinisch-anthropologischen Untersuchungszwecken aus Brasilien eintrafen, von Opfern einer dieser Revolten (Hofbauer, 1995, S. 238) 85 Großteil der Stadtbevölkerung zu der auf einer Halbinsel gelegenen Bonfim-Kirche. Die Verschwörer hofften durch den Überraschungseffekt ihre zahlenmäßige Unterlegenheit auszugleichen. Aber der Aufstand wurde verraten.38 In der Nacht und im Morgengrauen des 25. Januar 1835 waren zwischen 200 und 500 Verschwörer in den Straßen Salvadors unterwegs. An verschiedenen Punkten der Stadt legten sie Brände und es kam zu Kämpfen mit Toten und Verletzten. Der Versuch, einen ihrer Anführer aus dem Gefängnis zu befreien, schlug fehl. Als sich ein Teil der Aufständischen bereits auf dem Weg aus der Stadt hinaus nach Bonfim befand, wurden sie von der Kavallerie gestellt. Es wurde heftig gekämpft. Schätzungsweise 70 Menschen sind bei der Rebellion ums Leben gekommen, die meisten unter den Aufständischen. Viele der Aufständischen wurden gefangengenommen und einigen gelang die Flucht (Reis, 1987, S. 87ff; Verger, 1992, S.339ff.). Anders als die meisten Aufstände vorher, zielte die Revolta dos Malês auf soziale Veränderung. Ziel war es, ein Bahia für Afrikaner zu errichten. Alle Weißen, aber auch Mulatten sollten getötet werden. Inwieweit die Religion diese Rebellion inspiriert hat, läßt sich nicht eindeutig bestimmen. Tatsache ist, daß sie zu einem Moment geschah, in dem der Islam sich unter den Afrikanern Bahias ausbreitete und daß die Anführer der Rebellion auch religiöse Führungspostionen einnahmen (Reis, 1987, S.137). Dennoch lässt sich nach Reis nicht von einem „Heiligen Krieg“ moslemischer Prägung sprechen, sondern einem Aufstand der Afrikaner (moslemischen Glaubens oder nicht). Nach der Rebellion wurde Bahia von einem Klima der Repression und Hysterie erfasst und viele Afrikaner fielen der Rache der Gewinner zum Opfer. Über 200 Aufständische wurden für ihre Teilnahme verurteilt, darunter vier Todesurteile für die Anführer (Reis, 1987, S.254ff). Die Revolta dos Malês ist bis heute der wohl kämpferischste Ausdruck schwarzen Widerstands in Brasilien. Jedes Jahr im Januar ist das Datum Anlass für die verschiedensten 38 Eine befreite Schwarze erzählte ihrem weissen Nachbarn von den Dingen, die ihr zu Ohren gekommen waren. Von ihrem Mann hatte sie Gerüchte über die Ankunft von Afrikanern aus dem Recôncavo in der Stadt und einen bevorstehenden Kampf gehört. Der Nachbar überbrachte das Gehörte dem zuständigen Richter, dieser die Nachrichten in den Gouverneurspalast (Reis, 1987, S.87ff) 86 Feierlichkeiten der Schwarzenbewegung. Im Pelourinho-Viertel in Salvador ist eine Strasse nach einem der Anführer der Bewegung, João de Deus, benannt. 5.2.3 Trommeln im Kirchenhof – die katholischen Bruderschaften Während das System der Sklaverei die gewalttätigen Strukturen des Zusammenlebens vorgab, wurde das Leben auf den Plantagen und in den Städten bestimmt durch ein Geflecht von Streitigkeiten, Zugeständnissen und Gefälligkeiten über die Grenzen der sozialen Beziehungen. Die Sklaven wehrten sich auf unterschiedliche Art und Weise dagegen unmündiges Objekt der Sklavenhaltergesellschaft zu sein. Neben den Forderungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation, wie zum Beispiel der Wunsch nach einem eigenen kleinen Stück Land und dem Recht zum Verkauf der dort gezogenen Naturalien, waren es vor allem die kulturellen und religiösen Freiräume, welche die Sklaven im Alltag zu erobern versuchten (Reis, J.J. & Silva, E., 1989). Besondere Bedeutung hatten dabei die religiösen Praktiken des Candomblé, sowie die vielfältigen musikalischen und tänzerischen Äußerungen, auf die im folgenden Kap. 6 eingegangen wird. Zwischen Verhandlung und Konflikt, das wurde bereits weiter vorn gesagt, bewegten sich die Afrikaner und AfroBrasilianer, immer bemüht Freiräume innerhalb des Systems zu schaffen, die ihnen das Leben erträglicher machen konnten. Die wichtigste, legale Organsationsform der Sklaven und Freien waren die unterschiedlichen katholischen Vereinigungen: die Drittorden und Bruderschaften, die sich bereits seit dem 17. Jahrhundert entwickelten. Hier konnten sich die Sklaven ungestört und mit Duldung ihrer Herren treffen, ging es doch vordergründig nur um die Erziehung im katholischen Glauben und die Heranführung an die europäische Zivilisation. Einige Sklavenherren, wie zum Beispiel der einflussreiche Conde dos Arcos, hofften durch die Stärkung der Differenzen unter den Afrikanern das Potential eines Aufstands aller Sklaven zu mindern. Eine Hoffnung, die nicht durch die Realität bestätigt wurde. In den Bruderschaften fanden sich überwiegend Sklaven und Freie derselben Ethnie zusammen und tauschten Informationen in ihren jeweiligen Sprachen aus. So wurde beispielsweise die „Irmandade de Nossa Senhora da Boa Morte“ von Yorubá-Frauen gegründet, während sich die Männer angolanischer Herkunft im „Ordem Terceira do Rosário de Nossa Senhora das Portas do Carmo“ in der Kirche Nossa Senhora do Rosário am Pelourinho-Platz zusammenfanden (Vieira Filho, 1995, S.69). Über 87 die Bruderschaften entwickelten die Sklaven ein System gegenseitiger Hilfe, insbesondere für die Unterstützung im Alter und bei Invalidität, die Organisation der Beerdigung und den Kauf des Freibriefs. Nach Auffassung des Anthropologen Bastides waren es gerade die katholischen Bruderschaften, die zum Überleben des Candomblés beigetragen haben (Bastide, 1971). Dieselben Personen, die einen bestimmten Candomblé frequentier(t)en, (waren) sind Mitglieder einer Bruderschaft. Das ist teilweise bis heute in Salvador und dem Recôncavo zu beobachten, insbesondere bei den beiden bereits erwähnten Bruder- bzw. Schwesternschaften. Die Irmandade de Nossa Senhora da Boa Morte veranstaltet jedes Jahr im August ein mehrtägiges Fest, bei dem sich katholische und Candomblé-Elemente vermischen. Das Fest ist in den letzten Jahren zu einem der wichtigsten Ereignisse der Schwarzenbewegung geworden und wird von einer wachsenden Zahl von African-Americans besucht. In den schwarzen Bruderschaften konnten die Sklaven und ihre Nachfahren neue soziale Kontakte knüpfen. Ihren Mitgliedern boten sie einen Raum zur Ausübung ihrer kulturellen, religiösen und profanen Manifestationen. Dadurch konnten die traditionellen Formen von Musik, Tanz, Sprache etc. erhalten werden (Vieira Filho, 1995, S.70). Die Möglichkeit, die Erlaubnis für Feste und Umzüge bekommen, war allein durch die Irmandades möglich, die allmählich den Status von bürgerlichen Gesellschaften bekamen (A.Santos, 1996, S.77). Ab dem Moment, wo der katholische Glauben durch die Mitgliedschaft in einer Bruderschaft „bewiesen“ wurde, kam dies in den Augen der Kolonisatoren einem Abschied von der afrikanischen Vergangenheit gleich. Während die Eliten die Hegemonie der europäischen Kultur wünschten, lebte die Mehrheit der Bevölkerung in einem Ambiente mit großer ethnischer und kultureller Vermischung bei starker afrikanischer Präsenz. Der Begriff batuque wurde von den Portugiesen eher missbilligend benutzt, um die Tänze der Schwarzen zu bezeichnen. Die Batuques waren an kein festes Datum gebunden. Sie nutzten die Feiertage der katholischen Kirche für ihre musikalischen und tänzerischen Veranstaltungen. Traditionell wurden dafür die Atrien der Kirchen anlässlich der katholischen Festtage genutzt. Es gab keine getrennten Kirchen, sondern jede Kirche konnte eine schwarze Bruderschaft haben. Da die Bewohner der Kolonie enge Beziehungen zu den Bruderschaften hatten, waren deren Feierlichkeiten und Kalender eines der wichtigsten Ordnungsschemata für das soziale Leben in Brasilien. Insofern muss man davon ausgehen, dass die sozialen Beziehungen viel stärker als bisher angenommen von 88 multikulturellen Elementen geprägt waren. (A. Santos, 1996:81). Auch die Weißen waren keine einheitliche Gruppe und verfolgten ganz unterschiedliche Interessen. In diesem pluralen und vielfältigen sozialen Ambiente, dessen kulturelles Leben durch den katholischen Festkalender bestimmt war, wurden die Prozessionen zu einer Art Refugium für die Manifestationen schwarzer Musik und Tanzes. Bei den europäischen Beobachtern (Debret, Rugendas u.a.) dieser Feierlichkeiten erregten insbesondere die afrikanischen Musik- und Tanzelemente Aufsehen. Für die Schwarzen war der Batuque über den Freizeitspaß hinaus auch eine Bestätigung ihrer Identität und Herkunft. Batuque und Samba gehören eng zusammen. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts war ihre Bedeutung nahezu identisch. Über die Herkunft des Begriffs Samba gibt es unterschiedliche Auffassungen. Einige bringen ihn mit dem Begriff semba in Verbindung, den ein portugiesischer Reisender im 19. Jahrhundert aus Luanda mitgebracht hatte. Dort soll er einer Tanzveranstaltung beigewohnt haben, deren zentrales Element eine „umbigada“ (umbigo ist der Bauchnabel) oder semba war. (Arthur Ramos, Edison Carneiro zitiert nach Santos, 1996, S. 67f.) Der von ihm beschriebene Tanz, bei dem Bauchnabel an Bauchnabel bewegt wurde, erinnert in seiner Beschreibung einer auch heute noch üblichen „Samba de Roda“.39 Die offensichtliche Erotik und die Impertinenz einer afrikanischen Manifestation in den Senzalas und vor allem im städtischen kolonialen Raum ängstigte die Sklavenherren. Dahinter stand auch die Befürchtung, dass sie eine latente Gefahr des Aufruhrs und der Revolte in sich trugen (Santos, 1996, S.65f.). Sie fürchteten das Rebellionspotential und die ethnische Bestätigung, die sie in den Batuques wahrnahmen. Die Angst, welche die afrikanische Musik und Tänze hervorriefen, zeigt, dass es sich um einen symbolischen Kampf handelte. Die Batuques stellten für die bahianischen Autoritäten fast immer ein Ärgernis dar. 1814 wurden in Salvador die Batuques durch den damaligen Gouverneur Conde dos Arcos verboten. Er selbst schränkte jedoch ein: Das Verbot solle nicht zu streng verstanden werden und empfahl den Polizisten moderates Vorgehen (Verger, 1987, S.334). Die Doppeldeutigkeit in den Beziehungen zwischen Sklaven, Freien und den Kolonialherren Elite sollte seiner Auffassung nach anhalten. Er sah die Notwendigkeit zur Zerstreuung, eventuell, 39 Heute dominiert der Samba in seinen verschiedenen Ausprägungen. Von batucadas ist vor allem im privaten Bereich die Rede, womit meistens mit für den Samba typischen Perkussionsinstrumenten ausgestattete Gruppen gemeint sind, die sich zum Musizieren zusammenfinden. 89 so sein Kalkül, würden die Sklaven unterschiedlicher Kultur und Herkunft sogar Rivalitäten entdecken, die einen Zusammenschluss verhindern würden. Erst nach dem Aufstand der Malês wurden diese Zusammenkünfte strenger kontrolliert. Nach Tinhorão wurden die Batuques ab dem Zeitpunkt verfolgt, als die bahianische Elite den oftmals religiösen Charakter der Tanzveranstaltungen bemerkte, der unter Umständen zu gefährlich werdender Einheit werden könnte (Tinhorão, 1998, S.72). Um den Verboten zu entgehen, nahmen die Batuques Elemente der Kultur der Kolonisatoren auf. Auch hierbei handelt es sich um kulturellen Relativismus wie Chauí ihn beschreibt, der typisch für die populären Kulturen in Brasilien ist (Chauí, 1994, S.124). Die Batuques existierten in einem transkulturellen Kontext und wurden zu den entscheidenden Symbolen afrikanischer Herkunft und Präsenz, da nur wenige andere plastische Symbole vorhanden waren. Die Bruderschaften wurden bekannt für ihre aufwendigen Feiern und Umzüge anlässlich der verschiedenen katholischen Feste. Zu einem der auffälligsten Anlässe wurden die sogen. reisados, Krönung der Könige und Königinnen40 der Bruderschaften, die nach der Krönungsmesse mit einem pompösen Umzug und viel Musik durch die Straßen zogen. Verger meint sogar, die Eliten hätten, die Sklaven und Ex-Sklaven dazu motiviert, ihre Religiosität während der pompösen Feste und Prozessionen der katholischen Kirche auszudrücken. Die Prozessionen der Reis Congos gelten als Beispiel für eine Inversion der gesellschaftlichen Regeln. Diese Krönungsfeierlichkeiten gelten als Ursprung verschiedener schwarzer Karnevalsgruppen wie die Afoxés und Maracatus, aber auch die ternos, ranchos und bois. Die Feierlichkeiten und religiösen Prozessionen der Kolonialzeit gelten, insbesondere wegen der Teilnahme der Sklavenbevölkerung mit ihren Trommeln und Tänzen als Vorläufer des Karnevals. Über den Karneval und seine Eroberung durch die Nachfahren der Sklaven als Raum für deren kulturelle Äußerungen siehe im Kap.6. 5.3 Der lange Weg zum „Goldenen Gesetz“. Politisch, wirtschaftlich und sozial nahm Brasilien eine Sonderrolle unter den Ländern der beiden Amerikas ein: Während die anderen lateinamerikanischen Länder um ihre 40 Die Wahl der Könige und Königinnen fiel meist auf die Männer und Frauen, die innerhalb der Bruderschaft das beste Ansehen besaßen und auch gegeüber der Obrigkeit über einen perfekten Leumund verfügte. 90 Unabhängigkeit gegen die spanische Krone kämpften, war Brasilien ein unabhängiges Kaiserreich angeführt von einem portugiesischen Monarchen. Die Wirtschaft basierte auf der Landwirtschaft und war abhängig von der Sklavenarbeit, auch noch nach Verbot des Sklavenhandels ab 1850. Die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Brasiliens hatten sich bis ins 19. Jahrhundert kaum verändert. Auf den Zuckerboom im Nordosten des Landes, folgte der Gold- und Diamantenrausch in Minas Gerais, der von den Kaffeeexporten im Südosten abgelöst wurde. Nach Umsiedlung der Königsfamilie 1808 begann Großbritannien verstärkt Druck auf Portugal auszuüben. Einerseits sollten britische Produkte freien Zugang zum brasilianischen Markt haben, anderseits sollte der Sklavenhandel und als Folge die Sklavenarbeit verboten werden. 1822 rief Dom Pedro die Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal aus. Mit Kaiser Dom Pedro hatte Brasilien einen Monarchen na der Spitze einer stark hierarchisch strukturierten Gesellschaft, der liberaler und offener gegenüber den sozialen Fragen war, als der große Teil der alten politischen Elite. Im Verlauf ndes 19. Jahrhunderts wurden das geistige Klima im Land und die politische Theorie mehr und mehr beeinflußt durch die Strömungen aus Frankreich - die Ideen der Aufklärung und die Ideale der französischen Revolution. Die politische Debatte über die Abschaffung der Sklaverei in Brasilien zog sich fast durch das gesamte 19. Jahrhundert. Ausgangspunkt war der politische Druck des britischen Imperiums, das um seine wirtschaftlichen Interessen zu schützen darum bemüht war, die Sklavenarbeit in der Neuen Welt einzuschränken. Durch Hilfe Großbritanniens bei der Übersiedelung der Königsfamilie nach Rio de Janeiro war der portugiesische Hof den Briten verpflichtet. So wurde Dom João VI. 1810 genötigt, ein Abkommen zu unterzeichnen, in dem er sich zur schrittweisen Abschaffung der Sklaverei verpflichtete. Auf dem Wiener Kongreß 1815 besiegelten Portugal und Großbritannien das Ende des internationalen Sklavenhandels nördlich des Äquators. Auch die diplomatische Anerkennung der Unabhängigkeit Brasiliens 1822 verbindet Großbritannien mit der Forderung nach Abschaffung der Sklaverei. 15 Jahre später verpflichtet sich das inzwischen unabhängige Brasilien den internationalen Sklavenhandel zu unterbinden - auch wenn die konkrete Umsetzung noch auf sich warten läßt (Verger, 1987, S.304,321ff.) In Brasilien war die Abschaffung der Sklaverei noch lange nicht durchzusetzen. Erst das nach dem damaligen Justiz-Minister benannte Gesetz Lei Eusébio Queiroz von 1850 bedeutet den entscheidenden Schritt zum Verbot des Sklavenhandels. Der Anteil Sklaven an der 91 Gesamtbevölkerung hatte sich seit Beginn der Diskussion ganz erheblich reduziert: Während 1810 noch über die Hälfte (53%) der Bevölkerung aus Sklaven besteht, sind es 1850 nur noch 18%. Kurz vor dem Verbot der Sklaverei (1884) stellen die Sklaven nur noch einen Anteil von 9% (nach Freitas, 1983, S.139). Inzwischen war auch ein Teil der brasilianischen Elite zum Umdenken gekommen. Die Sklaverei wurde zwar noch als ökonomische Notwendigkeit betrachtet, aber immer seltener mit moralisch-ethischen Argumenten verteidigt. Die Mehrheit der Sklavenbesitzer jedoch verteidigte die alten Privilegien. Während zu Beginn der Kolonialisierung der Großteil der Sklaven auf den Zuckerrohr- und Tabakplantagen des Nordostens oder in den Gold- und Diamantenminen Minas Gerais schuftete, lebten in den beiden Dekaden vor Abschaffung der Sklaverei rund drei Viertel der brasilianischen Sklaven in der Kaffee-Region im Südosten Brasiliens. Brasilien stürzte sich von 1865 bis 1870 zusammen mit Argentinien und Uruguay in einen blutigen Krieg gegen Paraguay. Auch viele Sklaven nahmen freiwillig oder gezwungenermaßen an den Kämpfen teil. Denen, die lebend zurückkehrten, stellt ein kaiserliches Dekret 1866 die Freiheit, alforria, in Aussicht. Der Paraguay-Krieg machte deutlich, daß es zu wenig freie Männer für den Militrädienst gab. Es wird geschätzt, daß rund vier Fünftel der brasilianischen Truppen von Sklaven und freien Afro-Brasilianern gestellt wurden. Auf 60.000 bis 100.000 Menschen dunkler Hautfarbe belaufen sich die Schätzungen, der im Paraguay-Krieg Gefallenen (Chiavenato, 1987, S.204). Das 1871 erlassene „Gesetz des freien Bauches“, Lei do Ventre Livre, war der nächste entscheidende Schritt zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei. Es sah die Befreiung der Sklavenkinder bis zum achten Lebensjahr vor. Zwei Jahre zuvor war bereits verboten worden, Sklaven auf Auktionen unter öffentlicher Zurschaustellung zu verkaufen, sowie Ehepaare bzw. Eltern von ihren Kindern zu trennen. Das neue Gesetz garantierte den Sklavenbesitzern eine Entschädigungszahlung für die Verluste durch die Befreiung der Sklavenkinder. Die Mehrheit von ihnen nutzte jedoch die ebenfalls im Gesetz vorgesehene Alternative, die Kinder und Jugendlichen noch bis zum 21. Lebensjahr für sich arbeiten zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt setzte sich die brasilianische Bevölkerung zu fast zwei Dritteln aus Menschen dunkler Hautfarbe (42,18 % pardos, 19,68% negros) zusammen, gegenüber den 38,14% weißer Bevölkerung,. Die Sklaven hatten (1874) einen Anteil von 15% an der Gesamtbevölkerung (nach Freitas, 1983). 92 In den letzten zwei Jahrzehnten vor dem endgültigen Verbot der Sklaverei wurde die Abolition in verschiedenen Kreisen diskutiert. Die ideengeschichtlichen Strömungen Europas vom Darwinismus bis zum Liberalismus hatten auch unter der brasilianischen Elite Verbreitung gefunden. Radikale Positionen gab es selten, nur der Jurist und ehemalige Sklave Luiz Gama schockierte die brasilianische Gesellschaft mit seinem öffentlichen Ausspruch „Jeder Sklave, der seinen Herrn tötet, egal unter welchen Umständen tut dies in legitimer Selbstverteidigung“ (zitiert nach Hofbauer, 1995, S.198). Die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei wurde im wesentlichen von Denkern der hellhäutigen Elite angeführt. Zum Anführer der Abolitionisten-Bewegung wurde Joaquim Nabuco, der 1880 die „Brasilianische Gesellschaft gegen die Sklaverei“ gründete. Nabuco stammte aus einer Familie von Großgrundbesitzern und lebte zwischenzeitlich auch in London. Die Abolitionisten um Nabuco strebten die Bildung eines liberalen, modernen Staates an, in dem ein harmonisches Zusammenleben von Schwarz und Weiß möglich werden sollte. Der Ausfall der Sklavenarbeit sollte durch die Immigration von Arbeitswilligen aus Europa, deren Effizienz für wesentlich größer gehalten wurde, kompensiert werden. Das Buch „O Abolicionismo“ von 1833 wurde zu einem Klassiker der Bewegung. Die Sklaverei hielt er wohl für moralisch verwerflich, vor allem aber für ein Hindernis auf dem Weg zu einem liberalen und kapitalistischen Brasilien „Die Immigration wird verhindert, die körperliche Arbeit entwertet, das Aufkommen von Industrien verzögert, der Verfall gefördert, das Kapital von seinem natürlichen Kurs abgebracht, die Maschinen ferngehalten und der Haß zwischen den Klassen hervorgerufen“ (Nabuco zitiert nach Skidmore, 1976, S.35). Auch Nabucos Ideal war ein weißes Brasilien. Eine der wenigen Gruppierungen, die bereits im letzten Jahrhundert radikalere Positionen vertrat, war die „Caifazes“ – Gruppe aus São Paulo, die auch eine Zeitschrift herausgab. Darin setzte sich die „Caifazes“-Gruppe zunächst für eine schrittweise Abschaffung der Sklaverei und eine Förderung der europäischen Integration ein. Doch mit den sich überstürzenden Ereignissen kurz vor Abschaffung der Sklaverei, gingen auch die Artikel in eine andere Richtung: die europäische Immigration wurde kritisiert und sogar Repatriationsforderungen für die ehemaligen Sklaven gestellt. Damit machte sich die Organisation „bis zu einem gewissen Grad zum ideengeschichtlichen Vorläufer“ (Hofbauer, 1995, S.199) jener schwarzen Gruppierungen, die sich ab den 20er Jahren dieses Jahrhunderts in São Paulo zusammenfanden. 93 Sklaverei und Rassismus waren auch für die brasilianischen Abolitionisten zwei deutlich von einander verschiedene Fragen. Sie gingen zum großen Teil davon aus, daß es in Brasilien keine rassischen Vorurteile gäbe. „Die Sklaverei hat zu unserem großen Glück, niemals die Seele der Sklaven gegen seinen Herrn eingenommen und auch nicht zwischen den beiden Rassen den gegenseitigen Haß geschürt, der natürlicherweise zwischen Unterdrückten und Unterdrückern existiert“ schrieb Nabuco (zitiert nach Skidmore, 1976, S.39). Selbst die Befürworter der Sklaverei hätten niemals auf Theorien der Minderwertigkeit der schwarzen Rassen „per se“ bei ihrer Argumentation zurückgegriffen. Das Gesetz Lei Saraíva-Cotegipe von 1885 sah die Befreiung der Sklaven über 65 vor. Ein Jahr später wurde das Auspeitschen verboten - der symbolträchtige Schandpfahl, der pelourinho, verlor seine Bedeutung. Zu diesem Zeitpunkt flüchteten immer mehr Sklaven von den Fazendas in São Paulo. Das Militär (Marschall Deodora da Fonseca) weigerte sich die entflohenen Sklaven zu verfolgen, auch die Kirche setzte sich nun für die Abschaffung der Sklaverei ein. Am 13. Mai 1888 schließlich unterzeichnete Prinzessin Isabel das „Goldene Gesetz“, Lei Auréa, das die Sklaverei abschaffte. Betroffen davon waren noch rund eine halbe Million Sklaven, ein Anteil von 5,6% der Gesamtbevölkerung. „Der kürzeste Gesetzestext der brasilianischen Geschichte, der keinerlei Maßnahmen für die Integration der zu befreienden Bevölkerung vorsah“ schreibt Hofbauer (Hofbauer, 1995, S.125). Während den ehemaligen Sklavenbesitzern ein Zuschuss für die Lohnkosten freiwilliger Arbeiter gewährt wurde, bedeutete der Schritt in die Freiheit für viele die Entwicklung „vom arbeitenden Sklaven zum sklavischen Arbeiter“ wie der brasilianische Wirtschaftswissenschaftler Hélio Santos schreibt (Santos, 2001, S.77). 1889 wird Brasilien Republik. Ein Jahr später lässt der damalige Finanzminister Rui Barbosa aus Angst vor Regressansprüchen der Sklavenhalter alle Dokumente, die die Sklaverei betreffen verbrennen. 94 6. Die drei „C“ afro-brasilianischer Kultur – Carnaval, Capoeira, Candomblé Der von Muniz Sodré verwendete Begriff des território negro, wörtlich: Schwarzes Territorium, bezieht sich auf diese Konstruktion einer speziellen Lebensweise (Sodré, 1988). Die Afro-Brasilianer entwickelten während der Sklaverei eigene Formen sich zu organisieren, zu schlafen, zu arbeiten, ihre Religion auszuüben41. Typisch bei diesen Organisationsformen sei die Inkorporation europäischer Werte zum afrikanischen Erbe und die mündliche Weitergabe von Erfahrungen und Meinungen. Afro-Brasilianer haben also autonome und einzigartige Räume geschaffen des Miteinanderlebens, der Religion und Arbeit, in denen sie traditionelle Elemente der afrikanischen Zivilisationen bewahrten oder, bzw. und, sie auch mit europäischen Elementen vereinten. In diesen Gruppen wurden neben religiösen, vor allem musikalische und tänzerische Ausdrucksformen geschaffen, erhalten und gepflegt, die als afro-brasilianische oder schwarze (brasilianische) Kultur bezeichnet werden sollen. Dazu gehören insbesondere die Religion des Candomblé, der Kampftanz Capoeira und der Karneval, sowie die bereits zuvor beschriebenen katholischen Bruderschaften. 6.1 Land des Karnevals Seit der Kolonialzeit wird in Brasilien in den Karnevalstagen42 gefeiert, wobei sich der Charakter des Festes den sich verändernden Lebensbe-dingungen angepasst hat. Brasilianische Forscher unterscheiden häufig drei Phasen (nach von Simson in: Vieira Filho, 1995, S. 9): Erstens, vom Beginn der Kolonialzeit bis etwa 1850, als das Entrudo mit lusitanischem Charakter in Brasilien während der Karnevalstage gefeiert wurde. Die zweite Phase zwischen 1850 und 1920 des als „venezianisch“ oder „bürgerlich“ bezeichneten Karnevals, mit Maskenbällen und den Umzügen der großen Karnevalsgesellschaften, bei denen sich die unteren Schichten vor allem als Zuschauer vergnügten. Drittens, der moderne 41 Ein wichtiger Treffpunkt der Freien und der Sklaven, die Dienstleistungen anboten, in den Städten waren die sogen. Cantos (wörtlich: Ecken) und lojas (Kollektivunterkünfte). Die Cantos befanden sich in der Nähe ihrer Aufgabenbereiche und waren wie die Bruderschaften ethnisch orientiert. 42 Über die Ursprünge des Karnevals gibt es unterschiedliche Auffassungen: Einige sehen ihn auf die DionysosFeste der Griechen zurückgehen, andere berufen sich auf die römische Tradition der Saturnalien-Feiern, während der die gesellschaftlichen Zusammenhänge umgekehrt und die Sklaven wie die Herren bedient wurden. Charakteristisch für diese Feiern waren die reichen Festgelage, die sexuellen Freiheiten und die vorübergehende Aufhebung bzw. ritualisierte Umkehrung der sozialen Ordnung. Übereinstimmung herrscht, dass ein wichtiger Faktor für die Entwicklung des Karnevals die Auseinandersetzung des Christentums mit derartig ausgelassenen Festtraditionen war (Hofbauer, 1995, S.165). 95 Karneval, der sich seit 1920 als größte festa popular des Landes bestätigt hat und als dessen wichtigstes Charakteristikum die Escolas de Samba in Rio de Janeiro gelten. Bis heute ist im Karneval von Rio de Janeiro (und São Paulo) der Umzug der Sambaschulen das wichtigste Ereignis, während Salvador und Recife/Olinda Zentren des Straßenkarnevals sind43. Diese Einteilung ist hilfreich, aber vernachlässigt einen wichtigen Aspekt: die Beteiligung der afrikanischen Sklaven und ihrer Nachfahren am Fest. Der Karneval, das wurde bereits gesagt, etablierte sich seit der Kolonialzeit als ein Spannungsfeld zur Aushandlung unterschiedlichster gesellschaftlicher Interessen und Bedürfnisse. Im folgenden soll deshalb insbesondere der Beitrag der Afro-Brasilianer am Karneval berücksichtigt werden. 6.1.1 Die wilden Sitten des Entrudo Die Portugiesen brachten die Sitte in den Karnevalstagen das entrudo44 zu feiern mit in die Neue Welt. Dort hatte sich bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts diese Art des Feiern vor Beginn der Fastenzeit etabliert. Beim Entrudo ging es darum, die anderen Menschen auf der Straße mit Wasser oder anderen, weniger angenehmen Flüssigkeiten voll zuspritzen und mit Mehl, Schlamm, Bohnen oder Mais zu bewerfen. Nach Augenzeugenberichten soll es in den Tagen des Entrudo auf den Straßen zu regelrechten Mehl- und Schlammschlachten zwischen teilweise auch maskierten Gruppen gekommen sein. Die gesellschaftliche Position bestimmte auch die Hierarchie des Entrudo-Spiels: So durften beispielsweise die reichen Weißen alle bewerfen, während freie Schwarze nur ihresgleichen oder Sklaven bewerfen durften. Die Sklaven wurden zu Helfern bei der Ausstattung und Organisation des Entrudos. Sie wurden eingesetzt zur Produktion der aus Wachs hergestellten laranjinhas, Orangen, die mit Flüssigkeiten gefüllt wurden. Die Sklaven trugen ganze Tabletts mit Laranjinhas durch die Straßen, die die Herren als Wurfgeschosse benutzten. Zum Entrudo-Spiel blieb den Sklaven nur die Zeit während der Morgendämmerung, bevor die Herrschaften auf die öffentlichen Plätze kamen. Der Eindruck, den Reisende wie Debret oder Darwin gewannen, dass es sich beim Entrudo um ein demokratisches Spiel gehandelt habe, entsprach nicht der brasilianischen Realität45. Die ethnischen und sozio-ökonomischen 43 Zur Entwicklung des Karnevals in Salvador seit der Erfindung des Trio Elétricos zum größten Straßenfest der Welt, s. Kapitel 12. 44 Zur Wortetymologie: Ursprünglich bedeutete entrudo wahrscheinlich einziehen oder eindringen. 45 Vielleicht bezieht sich die deutsche Forscherin K. Engell auf diese Schilderungen, wenn sie in ihrem Buch über Karneval in Brasilien zu dem Schluss kommt, dass beim Entrudo alle Schichten gleichermaßen profitiert 96 Grenzen wurden beim Entrudo trotz des Durcheinanders nicht überschritten (Queiroz, 1992, S.47). 6.1.2 Der Große und der Kleine Karneval Seit der Ankunft des portugiesischen Königshauses in Rio de Janeiro gab es Bestrebungen die neuen Karnevalsmoden aus Europa in Brasilien einzuführen. 1840 wurde erstmals in einem Hotel in Rio ein mondäner Maskenball veranstaltet. Auf der Straße herrschten weiterhin die wilden Gebräuche des Entrudo. Bei dem turbulenten Festgebaren kam es immer wieder zu Ausschreitungen und Auseinandersetzungen, die man mit gesetzlichen Verordnungen in den Griff zu bekommen hoffte.1853 schließlich wurde das Entrudo verboten. Zu diesem Zeitpunkt begann sich der sogen. „Venezianische Karneval“, auch „Großer Karneval“ genannt, mit seinen europäischen Musiktraditionen wie Walzer, Polka und Märschen, mehr und mehr zu etablieren. Beim ersten Karnevalsumzug 1855 in Rio de Janeiro war sogar die Königsfamilie anwesend. Die Bälle und Feierlichkeiten blieben der hellhäutigen Elite vorbehalten, die sich nach der öffentlichen Präsentation in ihre Salons zurückzog. Die Moden aus der Hauptstadt Rio de Janeiro wurden mit etwas zeitlicher Verzögerung auch im fast 2000 Kilometer entfernten Salvador eingeführt. Ab Anfang der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts begann die hellhäutige Elite im Nordosten die ersten Karnevalsbälle mit Maskierungen und prächtiger Kleidung zu veranstalten. 1859 wurde den Sklaven auch in Bahia die Teilnahme am Entrudo bei Androhung körperlicher Strafen verboten (Vieira, 1995, S. 177). Dies stellte die erste Normatisierung der Teilnahme der Afro-Brasilianer am Karneval dar. Ab Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts wurden in Salvador die ersten Karnevalsgesellschaften gegründet, deren Mitglieder uniformiert an den Bällen teilnahmen. Die Autoritäten stimulierten öffentliche Bälle in den Strassen, die zu diesem Zweck geschmückt wurden. 1884 brachte der Karnevals-Club Cruz Vermelha erstmals einen Karnevalswagen, carro de idéia (wörtlich Idee-Wagen) auf die Strasse, der von nun an fester Bestandteil der Umzüge wurde (Vieira Filho, 1995, S.93ff). 1887/88 wurden die Bemühungen das Entrudo einzudämmen und durch den zivilisierten venezianischen Karneval zu ersetzen, auch in Bahia immer stärker. hätten, denn aus dem zitierten Werk von M.I. Pereira de Queiroz kann sie diesen Schluss nicht hergeleitet haben – im Gegenteil (Engell, 1994, S.284). 97 Während der letzten beiden Dekaden ersetzte der Karneval schließlich das Entrudo. Die Europäisierung des Festes mit den zivilisierteren Gebräuchen des Karneval ersetzte die Anarchie und Gewalt des Entrudo. Diese Art des Feierns blieb zunächst den hellhäutigen, besser gestellten Schichten der Gesellschaft vorbehalten. Die Afro-Brasilianer organisierten sich in eigenen Gruppen zum Karnevalsfest, die meist verallgemeinernd als Afoxés bezeichnet wurden. Diese Gruppen zeigen den Wunsch, den Karneval als Raum der öffentlichen Zurschaustellung des eigenen zivilisatorischen Erbes zu nutzen. Die Trennung zwischen den Clubs der feinen Gesellschaft und dem Volk zeigte sich auch räumlich: während der Elite das noble Stadtzentrum zwischen Campo Grande und Rua Chile vorbehalten war, wo Stühle aufgestellt wurden, auf denen man gesittet den Umzügen beiwohnen konnte, feierte das Volk seinen Karneval zwischen Terreiro de Jesus und Baixa de Sapateiros, und in den bevölkerungsreichen Stadtvierteln wie Liberdade, Garcia, Tororó oder Itapagipe. Der Karneval der Eliten auf der Straße hielt jedoch nur kurze Zeit an und wich schließlich den Bällen in den geschlossenen Clubs46. „Während die Weißen allein oder als Paar tanzen, tanzen die Schwarzen in Gruppen, beleben das Gemeinsame“ soll der Franzose Roger Bastide die zwei Tendenzen des Karnevals beschrieben haben (Bastide zitiert nach Verger, 1981, S.83). Während sich die Eliten mehr und mehr in ihre Vereinssitze zurückzogen, wurden die Straßen von den unteren Schichten okkupiert, was Risério als „Afrikanisierung des Karneval“ bezeichnet (Risério, 1981). 6.1.3 Afrikanisierung des Karnevals Mit der Etablierung des modernen Karnevals festigte sich die Präsenz der Afro-Brasilianer in den öffentlichen Umzügen. Hierbei zeigte sich die Bereitschaft der Afro-Brasilianer trotz Stigmatisierung, den öffentlichen und symbolischen Raum des Festes ebenbürtig zu beanspruchen. Die Feste bildeten den Raum für freie soziale Mischung. „Die Gründer dieser afro-karnevalistischen Organisationen haben sich sicherlich nicht vorstellen können, dass ihre Erfindungen sich zu Organisationen entwickeln würden, die zu den repräsentativsten Ausdrücken bahianischer Kultur würden, die zusammen mit dem Orixá-Kult die Verbreitung und Legitimation schwarzer Kultur bewirkten“ (A. Santos, 1996, S. 145). 46 Zu Beginn dieses Jahrhunderts stoppte die öffentliche Verwaltung die Investitionen in den Karneval und überließ die Organisation der Privatinitiative. 98 Raphael Rodrigues Vieira Filho weist auf die Vielfalt der afro-brasilianischen Gruppen in Salvador in der Zeit von 1836 bis 1930 hin, die bisher oberflächlich allein als Afoxé in die Geschichte eingegangen waren (Vieira Filho, 1995). Vieira unterscheidet gegen Ende letzten Jahrhunderts drei unterschiedliche Organisationsformen der Afro-Bahianer: die nach dem Vorbild der großen Karnevalsvereine uniformierten Clubs wie die „Embaixada Africana“ und die „Pândegos da África“, die eher spontanen, Samba und Batuque47 tanzenden und singenden kleineren Vereinigungen und die Afoxés, deren Thematik eng mit den Orixás und dem Candomblé verbunden ist (Vieira, 1995, S. 100)48. Die schwarzen Karnevalsgruppen, die großen Vereinigungen ebenso wie die Sambas und Batuques, wurden von Nachbarn eines Stadtviertels oder Arbeitskollegen gegründet. Bei den Afoxés sind es vor allem die Angehörigen eines Candomblé-Hauses, die im Karneval mit öffentlichen Ritualen auf den Straßen feiern. Bis heute hat sich die Art des Auftretens und Umzugs der Afoxé kaum verändert. Ihr wichtigstes Charakteristikum ist, dass sie Rhythmen, Gesänge und Tänze aus den öffentlichen Festen des Candomblé auf die Strasse bringen. Das aus dem Yorubá stammende Wort Afoxé bezeichnet in Bahia auch das Instrument xequeré, eine Kalabasse, über die ein Netz aus Muscheln/Perlen gezogen ist, das bei drehenden Bewegungen Rassellaute erzeugt. Das Xequeré ist ein Instrument, das auch von Orchestern im Candomblé benutzt wird. Neben dem Xequeré gehören atabaques (Trommlen) und agogôs (Doppelglocken) zu den typischen Instrumenten der Afoxé-Gruppen. Die Kostüme der Afoxés sind inspiriert in einer afrikanischen Ästhetik, wie sie im Candomblé präsent ist. Die enge Verbindung zu den religiösen Praktiken des Candomblés hat sich bis heute erhalten. Die Auftritte der Afoxés gegen Ende letzten Jahrhunderts stießen in der Presse auf Kritik. Den „Candomblé auf der Strasse“ wie Bastide diese Gruppen charakterisierte, hielt man für einen Mangel an Zivilisation. Darüber hinaus war die Ausübung des Candomblé zu diesem Zeitpunkt verboten. Dennoch hielten diese Gruppen Diskriminierung und Verbot stand. 47 Als Batuque wurden während der gesamten Kolonisation und Kaiserreichs die von Perkussion begleiteten Gesänge und Tänze der Sklaven und ihrer Nachfahren bezeichnet (s. Kapitel 5.). 48 Die Afoxés in Bahia gehen, wie die Maracatus von Recife, auf die Festtraditionen der Reis Congos zurück, die prächtigen Umzüge anlässlich katholischer Feiertage (s. dazu Kap.6) 99 Der Karneval war innerhalb kürzester Zeit zu einem Anlass geworden, an dem die AfroBrasilianer Elemente ihres symbolischen Erbes auf die Straße brachten. Die Embaixada Africana wurde 1895 gegründet. Dieser Karnevalsverein nahm mit prächtigen Kleidern und einem König an der Spitze am Umzug teil. Wie ihr Name bereits andeutete, verstand sich die Embaixada als eine Vertretung Afrikas und inkorporierte afrikanische Elemente in einen Umzug, der an den europäischen Vorbildern der großen Karnevalsclubs orientiert war. Mit Fanfaren und aus Europa importierten Karnevalswagen zog die Embaixada durch die Straßen Salvadors. Die Embaixada Africana, wie auch die Pândegos da África, nutzten Elemente, die sie von den großen Clubs kopierten wie zum Beispiel die Gala-Uniformen, die Allegorie-Wagen oder der Einsatz von Blasinstrumenten. Die beiden großen schwarzen Karnevalsgesellschaften versuchten dem europäischen Wissenschafts-Rassismus zu begegnen, indem sie ihre Fähigkeit der Organisation demonstrierten. Jenseits der traditionellen Formen kultureller Manifestationen der Schwarzen, suchten sie eine neue, von der Gesellschaft akzeptierte Art des Ausdrucks ohne jedoch die Dimension der Afrikanität zu verlieren (Vieira, 1995, S.125). Mit der Nutzung afrikanischer Symbolik, dem Bezug zu afrikanischen Königreichen etc. versuchten die ehemaligen Sklaven die eigene Kultur aufzuwerten. Darüber hinaus waren sie dabei eine neue kulturelle Identität als Städter, als schwarze Bürger Salvadors zu konstruieren. Die beiden schwarzen Karnevalsvereinigungen konkurrierten erfolgreich mit den großen Karnevals-Clubs der Weißen um die Gunst des Publikums. In der zeitgenössischen Presse spiegelt sich die Sympathie wider. Dabei wird besonders hervorgehoben, dass es sich bei diesen Gruppen, anders als bei anderen schwarzen Karnevalsgruppen, um eine zivilisierte Form der Teilnahme am großen europäischen Fest handelte. (Zeitung „ A Bahia“, vom 02.03.1897 zitiert nach Vieira, 1995, S.114). Der Gerichtsmediziner Raimundo Nina Rodrigues, der mit seinen Aufzeichnungen wichtige Informationen über die Afrikaner und ihre Nachfahren um die Jahrhundertwende in Bahia lieferte, sieht die unterschiedlichen Organisationsformen der schwarzen Karnevalsgruppen als Zeichen unterschiedlichen Entwicklungsstandes und zitiert einen Kommentar aus dem Jornal de Notícias vom 12. Februar 1901, in dem die ungeordnete Beteiligung der Schwarzen am Fest kritisiert wird (Rodrigues, 1988, S.157): „ Ich beziehe mich auf das große Fest des Karnevals und den Missbrauch, der mit ihm getrieben wird ... und der Art wie sich dieses großartige Fest der Zivilisation unter uns 100 afrikanisiert hat. Ich spreche hier nicht von den uniformisierten Clubs wie der Embaixada Africana, den Pândegos da Africa etc., aber diese Batuques und Candomblés, die ... diesen enormen Lärm ohne Klang und Töne produzieren, sollten die Autoritäten ebenso verbieten, wie die den traditionellen Samba anstimmenden Maskierten, da dies mit dem Stand unserer Zivilisation nicht vereinbar ist“ Die Organisation der Embaixada Africana, die ihre Musiken und Gebräuche auf den europäischen Geschmack abstimme, sei besser an die Zivilisation angepasst. In den „ungeordneten“ Gruppen feierten nach Ansicht Rodrigues, die weniger intelligenten Menschen Karneval (Rodrigues, 1988, S.180). Die öffentliche Kritik an den afrobrasilianischen Gebräuchen im Karneval lieferte Material zur Untermauerung der Theorien des Wissenschafts-Rassismus. Zu den größten Sorgen, gehörte offenbar der Eindruck, den die Stadt auf ausländische Reisende machen könnte (Vieira, 1995, S.162). Es sollte der Eindruck von Zivilisation und Ordnung erweckt werden, obwohl die tägliche Routine eine andere war. Die schwarze Musik der Bahia de Todos os Santos führte trotz Verbots und Verfolgung zur sozialen Mobilisierung der unterdrückten Segmente. (A. Santos, 1997, S.91) Ab 1902 nahm die Intoleranz der hellhäutigen Schichten gegenüber dem afro-brasilianischen Karnevalstreiben weiter zu. Die Taktik der Presse war es, diese Gruppen mit dem Entrudo in Bezug zu bringen. 1905 wurden die afro-brasilianischen Karnevalsvereinigungen verboten. Viele von ihnen ignorierten das Verbot oder suchen nach Wegen, es zu umgehen. Die Gruppen erhalten andere Namen bzw. verschleiern ihre Aktivitäten. Bis 1914 werden die Repressalien durch die Polizei immer stärker. In diesem Zeitraum tauchen vermehrt Gruppen auf, deren Thematik sich mit den Indianern beschäftigen. Vieira wertet dies als Versuch die Verbote zu umgehen (Vieira, 1995, S.131). In der folgenden Dekade wurden Elemente und kulturelle Werte der Afro-Brasilianer zunehmend von anderen karnevalesken Gruppen übernommen. Auch auf die Heiligen- bzw. Kirchenfeste der Vor-Karnevalszeit, die sogen. festas de largo, färben die musikalischen und tänzerischen Formen ab. Der Samba verdrängt auch in Salvador nach und nach den Maxixe bei den Karnevalsfesten49. Neben den Umzügen der traditionellen Clubs der oberen Schichten Cruz Vermelha oder Fantoches do Euterpe nahmen verschiedene rassisch gemischte Karnevalgruppen am Umzug teil. 49 In der Studie „Brancos e Pretos na Bahia“ versucht der amerikanische Soziologe Donald Pierson u.a die ethnische Komposition des Karnevals von 1936 festzuhalten (Pierson, 1942). 101 6.1.4 „Glanz und Gloria“ - der moderne Karneval der SambaSchulen Noch während der ersten Dekaden dieses Jahrhunderts dominierten die Eliten den Karneval in der damaligen Hauptstadt Rio de Janeiro. Erst mit Gründung der Samba-Schulen ab Ende der 20er Jahre sollte sich dies grundlegend ändern. Zwar hatten bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts die einfacheren Leute, überwiegend Afro-Brasilianer, angefangen, an denselben Tagen, an denen die Oberschicht den „Großen Karneval“ beging, auf der Straße zu feiern. In sogen. Ranchos oder blocos wurde auf der Straße musiziert und getanzt, was als „Kleiner Karneval“ bezeichnet wurde. Die Ranchos gingen auf nachbarschaftliche Gruppen zurück, die ihre Freizeit gemeinsam verbrachten. Durch die wirtschaftlichen Veränderungen war Rio de Janeiro zu einem Pol der Migranten aus dem verarmten Nordosten geworden. Hier siedelten sie sich auf den schwer zugänglichen Hügeln, den morros, an. Diese Siedlungen erhielten den Namen Favelas. Zu einem der wichtigsten Treffpunkte wurden die Häuser der tias, „Tanten“ genannten Frauen, die aus Bahia nach Rio de Janeiro gekommen waren. Viele von ihnen waren Candomblé-Priesterinnen oder hatten zumindest eine enge Beziehung zum Orixá- Kult, dessen Praxis zu diesem Zeitpunkt noch streng verboten war. Bei diesen Treffen in den Häusern der bahianischen Tias saß man zusammen, plauderte, musizierte, sang und tanzte (Vergleich mit Interview Sodré). Unter den verschiedenen Rhythmen dominierte schon bald der Samba. „Als der Samba noch von Leuten vom morro gemacht und konsumiert wurde, wurde er von der Polizei unterdrückt und war gezwungen sich in den Candomblés zu verstecken“ schreibt Peter Fry (Fry, 1982, S.51) Mit der Zeit war es die wachsende Bedeutung des Karnevals, welche die Transformation von Repression in Unterstützung mit sich brachte. 1928 wurde als erste Samba-Schule die Estação Primeira de Mangueira gegründet. In den folgenden Jahren nahmen immer mehr Escolas de Samba am Karneval teil. Für die besten Darbietungen gab es Prämierungen, die von einzelnen Zeitungen gestiftet wurden. Nach und nach fanden die Eliten Gefallen an Musik und Tanz dieser von ihrem Fest Ausgeschlossenen, die sich immer wieder über die Verbote hinwegsetzten. Zum bürgerlichen Karneval gesellte sich so allmählich der Karneval der unteren Schichten, in ihrer Mehrheit Afro-Brasilianer. Der Karneval konsolidierte sich als Fest mit stark afro-brasilianischen Komponenten. Zur Karnevalsmusik par excellence wurde durch den Einfluss der Entwicklungen Rio de Janeiros 102 der Samba. Die Erfindung von Plattenspieler und die Entwicklung des Radio trugen zur weiteren Verbreitung des Samba bei. 1936 legalisierte die Präfektur von Rio die Teilnahme der Samba-Schulen am Karneval. Als Endpunkt der Umzüge wurde die Praça Onze nördlich des Zentrums bestimmt. Thematisch wurden die Samba-Schulen bei ihren Umzügen und Musiken auf die Geschichte Brasilien festgelegt, politischer Protest war verboten. Auch für die Struktur gab es Vorschriften: Jede Schule mußte eine porta-estandarte, eine Fahnenträgerin, und einen mestre-sala, Tanzmeister, und eine Gruppe von Bahianerinnen, baianas, haben – Elemente, die auch heute einzeln in die Punktewerte beim Wettkampf der Samba-Schulen eingehen (Queiroz, 1995, S.92ff). Um 1940 wurde den Sambaschulen dann sogar der Umzug auf den Avenidas im Zentrum Rio de Janeiros erlaubt. Der Aufstieg der Samba-Schulen zwischen 1930 und 1950 muss vor dem Hintergrund gravierender politischer und gesellschaftlicher Veränderungen in Brasilien gesehen werden. Mit zunehmender Durchsetzung demokratischer Prinzipien waren die herrschenden Eliten von der Gunst der Wähler abhängig. Durch das Wahlrecht für Frauen und die Senkung des Wahlalters wuchs das Wahlvolk. Die Industrialisierung im Südosten, also Rio und São Paulo, vergrößerte die regionalen Unterschiede, der Nordosten verarmte zunehmend. Die Migrationsströme aus dem Nordosten schwollen an und führten zur Expansion der Favelas. Die populistische Politik ist auf der Suche nach vereinigenden Symbolen und einem brasilianischen Diskurs. Der Aufstieg des Samba steht in Beziehung zum Diskurs der brasilianischen Nation und der Rassendemokratie. Die Inkorporierung des Mestizen wurde zum typischen Element der brasilianischen Nation. „Der Sieg des Samba war auch der Sieg des Projekts der Nationalisierung und Modernisierung der brasilianischen Gesellschaft“ schreibt Hermano Vianna in seiner Studie über die Transformation des Samba von einer Volkskultur zum Ausdruck nationalen Stolzes auch der Eliten (Vianna, 1995, S.127). Warum suchten sich die Produzenten der nationalen Symbole und der Massenkultur immer wieder Dinge aus, die ursprünglich von den dominierten Gruppen produziert werden? Fry hat darauf eine einleuchtende Antwort: „Die Konvergenz ethnischer Symbole in nationale Symbole verschleiert nicht nur eine Situation rassischer Dominanz, sondern macht es auch viel schwieriger, sie zu denunzieren“ (Fry, 1982, S.52f). Die Akzeptanz des Samba durch die Eliten wurde auch durch die Ankunft der europäischen Immigranten beeinflusst, der man skeptisch gegenüberstand. Nationalistische Ideen standen hoch im Kurs und insgeheim 103 unterstellte man, dass der in der brasilianischen Gesellschaft beobachtete Aufhellungsprozess auch den Karneval erreichen würde. Bis heute ist der soziale Hintergrund der Samba-Schulen in den Favelas und armen Vorstadtgebieten beheimatet. Obwohl zunehmend mehr Angehörige der Mittel- und Oberschicht am Umzug teilnehmen, rekrutiert sich die Mehrheit der Mitglieder einer Schule aus diesen Gegenden. Die Mehrzahl der bateria, Perkussionisten, und passistas, herausragende Samba-Tänzer, ebenso wie die Komponisten der Musiken oder die Altherrenriege der comissão de frente, kommen aus den Favelas von den Hügeln der Stadt. Der Alltag des Lebens in den Favelas ist neben wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten seit den 80er Jahren geprägt durch die Gewalt, die von den Banden des Drogenhandels ausgeht. Die enge Verbindung der meisten Samba-Schulen mit den Glücksspielkönigen des verbotenen „jogo de bicho“, eine Art Tier-Lotto, hat Tradition. 1946 wurde das bereits seit Ende letzten Jahrhunderts übliche Glücksspiel verboten - zu einem Zeitpunkt, als sich in Rio de Janeiro die ärmeren Wohnviertel in den Vorstädten und die Favelas ausbreiteten. Um das Glücksspiel auch nach dem Verbot fortzusetzen, brauchten die bicheiros, die Glücksspielkönige, eine Gruppe von Leuten ihres Vertrauens. Das konnte ihnen die Samba-Schule bieten. Darüber hinaus stellten die Mitglieder der Samba-Schulen ein Kontingent von Wählern dar, die den banqueiros den Rücken bei Verhandlungen mit der Polizei, den Politikern und der Regierung stärkten. Die Bicheiros dankten die Unterstützung mit großzügigen Spenden. Mit dem Geld der Bicheiros konnten die Samba-Schulen nicht nur ihre prächtigen Umzüge finanzieren, sondern auch die administrativen Strukturen entwickeln, die für ihr Wachstum nötig waren. Der Einflussbereich eines Bicheiro deckt sich in etwa mit dem Einzugsbereich einer SambaSchule, deren Präsident oder Ehrenpräsident er in der Regel wird. Ihre Territorien verteidigen sie mit allen Mitteln gegen die Konkurrenz. Fast alle großen Samba-Schulen werden heute von einem Bicheiro kontrolliert (Queiroz, 1995, S.97f.). Ab den 60er Jahren wurden die ersten Tribünen entlang der Avenida Central (heute Av. Rio Branco) in Rio de Janeiros Zentrum errichtet. Seit 1984 findet der Wettkampf der Samba-Schulen in dem von Oscar Niemeyer dafür konzipierten Sambódromo statt. Zwei Nächte lang präsentieren die 14 besten Samba-Schulen der Grupo Especial ihren das Jahr über vorbereiteten Umzug. Die Vorführungen der bis zu 104 5000 Mitglieder umfassenden Gruppen sind an Prächtigkeit und Überschwang kaum zu überbieten. Zehn unterschiedliche Kriterien fließen in das Urteil der mehrköpfigen Jury ein, das am Aschermittwoch vor laufenden Fernsehkameras den Gewinner bestimmt. 6.1.5 „Hinter dem Trio Elétrico“- Karneval in Salvador da Bahia Der Erfolg der Samba-Schulen Rio de Janeiros färbte auch auf den Karneval in Salvador ab. Die bahianischen Batucadas haben in den 50er Jahren die Moden der Escolas de Samba aus Rio de Janeiro übernommen. Auch hier wurden dem Vorbild der Cariocas, der Einwohner Rio de Janeiros folgend, Escolas de Samba gegründet. Mitte der 60er Jahre gab es 19 SambaSchulen in Salvador, die jedoch nicht die Dimensionen und den Glamour der Escolas de Samba von Rio erreichten (Santos, 1996, S.187). Aus den Reihen der Samba-Schulen sind eine Vielzahl von bekannten (und unbekannteren) Sambistas hervorgegangen wie Batatinha, Ederaldo Gentil50, Edil Pacheco, Chocolate da Bahia, Nelson Rufino und anderen, die Musiken für die verschiedenen afro-karnevalesken Gruppen machen. Ab Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre wird das Trio Elétrico, eine Art fahrbare Bühne mit Lautsprecherboxen zum festen Bestandteil und Symbol des bahianischen Karnevals. Als der Mechaniker Dodô (Adolfo Nascimento) und der Radiotechniker Osmar (Osmar Macedo) 1950 in einem improvisierten Karnevalswagen am Festumzug teilnahmen, ahnten sie nicht, dass sie damit die Weichen stellten für die Veränderungen des bahianischen Karnevals. Das Auto, ein alter Ford Baujahr 1929, transportierte die beiden Musiker, die auf ihren elektrifizierten Gitarren51 (Cavaquinho und Gitarre) pernambucanischen Frevo52 spielten. Im darauffolgenden Jahr erweiterte sich die „Dupla Elétrica“ um einen Musiker zum „Trio Elétrico“ und wurde am Boden von einer Gruppe Perkussionisten begleitet. Die Karnevalsneuheit wurde ein Riesenerfolg: „200 Meter hüpfender und sich amüsierender Menschen wie nie zuvor in Bahia“ erinnert sich Osmar (nach Goés, 1982, S.19) Damit wurde die Figur des passiv dem Karneval beiwohnenden Beobachters durch den aktiv tanzenden ersetzt. 50 Einer der erfolgreichsten Samba-Enredo wurde „Canto de Louvor a uma Raça“ von Ederaldo Gentil von 1971 für die Samba-Schule Filhos do Tororó. Im Jahr zuvor war Brasilien zum dritten Mal Weltmeister geworden. 51 Zu diesem Zeitpunkt gab es noch gar keine elektrischen Gitarren in Brasilien. 52 Der Frevo ist ein für den Karneval in Pernambuco typischer Rhythmus. Seine Elektrifizierung war eine Neuheit in der brasilianischen Musik. 105 Die kulturelle Bewegung des „Tropicalismo“ steht in enger Beziehung zur Entwicklung des Trio Elétrico. Zu den bekanntesten Vertretern der Bewegung gehören die bahianischen Musiker Caetano Veloso, Gilberto Gil, Maria Bethânia und Gal Costa - bis heute beliebte, national und international erfolgreiche Musikstars. Die Musik von Caetanos Veloso „Atrás do Trio Elétrico“, in der es heißt: „Hinter dem Trio hinterher, gehen (tanzen) nur die nicht, die schon gestorben sind“ macht die Musikwagen des bahianischen Karnevals im ganzen Land bekannt. Zur gleichen Zeit, 1969, erscheint die erste Platte einer Trio-Gruppe, des Trio Tapajós (Goés, 1982, S.70ff) Zunächst bewirkte das Trio eine „Demokratisierung“ des bahianischen Karnevals. Hinter den fahrbaren Musik-LKW´s tanzten die Menschen auf der Straße. So wie die Afrikanisierung der ersten Karnevals dieses Jahrhunderts die Straße als Schauplatz des Festes erobert hatte, war es das Trio, das diesen Schauplatz konsolidierte und allen zugänglich machte „Hinter dem Trio gab es eine Art Freizone, wo alle Unterschiede verschwinden, vor allem die sozialen“, schreibt der bahianische Forscher António Risério (Risério, 1981, S.113). In dem bis dahin sozial und rassisch segmentierten Fest schaffte das Trio zunächst einen Freiraum absoluter Gleichheit. Zunehmend animierte das Trio auch die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht am Karneval auf der Straße teilzunehmen. Wie bisher nur die einfachen Leute, begann auch die Mittelklasse Karnevals-Clubs zu gründen. Zu den ersten dieser Clubs gehörten die auch heute noch existierenden „Internacionais“ (1962) und die „Corujás“ (1963), beides bei Gründung reine Männer-Vereine. Es waren diese „neuen“ Karnevalsteilnehmer, welche die Privatisierung des Karnevalsraums auf der Straße um das Trio Elétrico einleiteten. Ab der ersten Hälfte der 70er Jahre ersetzten die ersten Trio-Wagen die traditionellen Karnevalsorchester innerhalb der cordas, der Seile eines Bloco. Damit die Karnevalisten in Ruhe auf der Straße feiern konnten, nahmen die Organisatoren ein Seil mit, das die Grenzen der Gruppe markierte und das von einigen Helfern getragen wurde. So begann die Entwicklung der heutigen Blocos de Trio. An den traditionellen Karnevalsclubs Internacionais und Corujás zeigen sich die Veränderungen der letzten 30 Jahre: Musikalisch wurden die Blas- und Perkussionsorchester durch die Trio Elétricos ersetzt, die leichten Abadás, an den Seiten offene T-Shirts, lösen die aufwendigeren Verkleidungen ab, Frauen werden zugelassen, das Durchschnittsalter sinkt und die Vereinssitze der Karnevalsgruppen werden in die besseren Viertel der oberen Mittelschicht verlegt. Der Umzug der Blocos mit 106 zunehmendem Erfolg in bessere Stadtviertel ist inzwischen übliche Praxis – nicht nur wegen des Statusgewinns, sondern auch wegen der Nähe zu den potentiellen Mitgliedern. Heute sind es nicht mehr nur die Blocos de Trio, sondern fast alle größeren Karnevalsgruppen, die ein Trio Elétrico zur Präsentation ihrer Musikattraktionen nutzen. Die Blocos de Indio Die Blocos de Indios sind historisch betrachtet Bindeglieder zwischen den Afoxés der Jahrhundertwende und den Blocos Afros. Sie sind entstanden durch Veränderungen in den Samba-Schulen und einen neuen Freizeitsinn, der durch die Symbole der modernen Kulturindustrie geprägt war (Santos, 1991, S. 51-70). Sie übernahmen die Rhythmen und die Art des Umzugs von den Sambaschulen und wählten die nordamerikanischen Indianer, die sie aus den Kinofilmen kannten, als Vorbilder für die Gestaltung der Kostüme. Die Blocos de Indio gehörten zu den wichtigsten Karnevalsvereinigungen der 70er Jahre. Einer der größten Blocos waren die auch heute noch existierenden Apaches do Tororó, die mit bis zu 5000 Teilnehmern auf die Straße gingen. Überwiegend schwarze Jugendliche waren es, die sich im Karneval als Indianer verkleideten, Samba spielten und tanzten. Einen ethnisch-politischen Diskurs gab es nicht. De facto aber boten die Blocos de Indios einen Raum der Zusammenkunft für die schwarzen Bahianer. „Die negros in Bahia hatten in den Apaches das erste Mal vor Augen, wie es ist, wenn 5000 Menschen singen, zusammen sind. Zu dieser Zeit gab es Blocos de Trio wie die Internacionais oder Os Corujas, das waren alles Blocos der Weißen und die Elite liebte das. Es gab keine größere schwarze Gruppe auf der Strasse und mit einem Gesang, der dazu in der Lage war, den mächtigen Namen der Corujas zum Schweigen zu bringen. Die Apaches schafften dies. Sie kamen durch die Avenida Sete mit fünftausend singenden Menschen und das war eine mächtige Musik, ein perkussiver Samba mit der Stimme der schwarzen Sänger“ erinnert sich João Jorge Rodrigues, langjähriger Präsident Olodums. Während Bacelar der Auffassung ist, dass die Blocos de Indios zwar überwiegend von Schwarzen formiert werden, jedoch keine Bekräftigung der Negritude darstellen (Bacelar 1989:90), sieht Santos sie – obwohl sie Symbole einer anderen Kultur nutzen – als einen Ausdruck schwarzer Musik, nämlich des Samba. Erstmals 1973/74 wurden von den Blocos de Indios auch Themen der afro-brasilianischen Kultur aufgegriffen. Eine der Besonderheiten des bahianischen Karnevals sind neben den lautstarken Blocos de Trio, die blocos afros und afoxés, die dem Ereignis eine besondere ethnische, schwarze Note 107 geben. Mitte der 70er Jahre beginnt ein Prozess den António Risério treffend als ReAfrikanisierung des bahianischen Karnevals beschrieben hat. Ausgangspunkt der Entwicklungen war die Gründung des ersten Bloco Afro Ilê Aiyê (s. dazu Kap.10) Anfang der 80er Jahre kommt es zum Wiederaufleben des 1949 von Hafenarbeitern gegründeten Afoxé „Filhos de Gandhi“, übersetzt die Söhne Gandhis 53. Der nahezu in der Versenkung verschwundene Afoxé wächst u.a. dank des Engagements des aus seinem Londoner Exil nach Bahia zurückkehrten Musikers Gilberto Gil, wieder zu einer starken Gruppe. Heute sind es bis zu 4.000 Söhne Gandhis, die im Karnevalszug einen friedlichen, weißen Klangteppich mit ihren sanften Ijexá-Rhythmen bilden. Sie tragen weiße Gewänder und Turbane und versprühen Agua de Alfazema, das „Kölnisch Wasser“ Bahias. Ihre blauweißen Ketten sind eine begehrte Trophäe der Mädchen und Frauen und die Filhos de Gandhi wissen um ihre Attraktivität. Die Filhos de Gandhi sind heute eines der Wahrzeichen des bahianischen Karnevals. 6.2 Capoeira –Tanz der Kämpfer Einem Mitteleuropäer zu erklären, was Capoeira ist, stößt immer schnell auf Verständigungsgrenzen. „Capoeira verbindet so Gegensätzliches wie Kampf und Tanz, Gewalt und Ästhetik, Spiel und tödlichen Ernst, Ritual und Spontaneität, choreographische Strenge und Bewegungsimprovisation, Magie und Realitätssinn, Körperschulung und Lebensphilosophie“ (Onori,1988, S.9). Capoeira ist kreisförmig, widersprüchlich, fließend, unfassbar – und deshalb so schwer mit nordeuropäischer Rationalität zu verstehen. Capoeira ist auch einer der Schlüssel zur brasilianischen Realität. Wer von außen auf eine Capoeira-Roda schaut, der sieht in der Regel eine Gruppe von Menschen, die einen Kreis (roda) formen, in dessen Mitte sich zwei Personen mit mal schnellen, mal langsamen Bewegungen aufeinander zu- und voneinander wegbewegen. Sie teilen Tritte und Stöße aus und weichen ihnen aus, gehen in den Handstand oder schlagen ein Rad. Dazwischen bewegen sie sich mit federnden, wiegenden Schritte um den Mittelpunkt des Kreises. Dieser Grundschritt wird ginga genannt. Nicht einen Moment lassen sie sich aus 53 Der Afoxé Filhos de Gandhi ist inspiriert und beeinflusst durch das Bildmaterial, das die Kinoindustrie hervorgebracht hatte. Einer der Gründungsväter beschreibt, wie eine Gruppe von Arbeitskollegen in einer Pause im Februar 1949 den Film Filhos de Gandhi über die gewaltfreie Revolution der Inder zur Befreiung ihres Landes von der britischen Kolonialherrschaft in einem Kino in Salvador sahen, wonach die Idee entstand die Karnevalsgruppe so zu nennen (Jornal da Bahia, 20.2.1971 zitiert nach A. Santos, 1996, S.198). 108 den Augen. Ihren Rhythmus bestimmt die Musik. Die im Kreis stehenden Menschen singen Lieder und Refrains und klatschen den Rhythmus dazu. Angeführt werden sie von einer Gruppe von Musikern, die auf Perkussionsinstrumenten spielen. Den Ton gibt ein Instrument an, das mit seinem langen Holzbogen an dem eine Kalebasse befestigt ist und der gespannten Metallsaite an einen Bogen erinnert: das Berimbau, dessen merkwürdige Töne durch Anschlagen der Saite mit einem Holzstäbchen hervorgerufen werden. Mindestens ein Berimbau gibt es, komplett jedoch ist eine Capoeira mit drei Berimbaus unterschiedlicher Sonorität (gunga, média, viola). Zur Musikgruppe gehört außerdem eine mit den Händen gespielte Faßtrommel (atabaque) und ein Schellen-Tamburin (pandeiro), manchmal auch eine Doppelglocke (agogô) und ein Ratsche (reco-reco). Die Musiker wechseln sich ebenso ab, wie die Vorsänger und die im Kreis spielenden Kampftänzer. Für die Herkunft des Wortes Capoeira gibt es unterschiedliche Erklärungsversuche. Einerseits bezeichnet capoeira, abgeleitet aus der indianischen Tupi-Sprache, auch heute noch ein gerodetes Stück Wald, eine Urwaldlichtung. Hier, so die Interpretation, trafen sich die Sklaven zum Üben und Spielen. Andererseits verweist Waldeloir Rego auf die Nähe des Begriffs zum Hahnenkampf, der auch heute noch überall in Bahia in geheimen Wettkämpfen stattfindet. Capão bezeichnet im Portugiesischen den kastrierten Hahn, capoeira wurden die Hühnerkörbe genannt, in denen die Sklaven das Federvieh transportierten. Der Name sei auf die Träger übergegangen, die sich in den Straßen Rio de Janeiros im Capoeira-Spiel übten (Rego, 1968, S.23ff.) Wer einmal eine Capoeira-Roda gesehen hat, dem wird auch sonst die Assoziation nicht schwer fallen. Jogar capoeira, Capoeira spielen, sagt man in Brasilien. Aber aus dem Spiel kann von einem Moment auf den anderen Ernst werden. Dann werden die eben noch angedeuteten Tritte und Stöße zu einer Waffe, die den Kontrahenten verletzen und sogar töten können. Capoeira ist also auch eine Kampftechnik, die von den Sklaven entwickelt oder bereits aus Afrika mitgebracht wurde54. Eine der am häufigsten geäußerten Erklärungen über das Entstehen der Capoeira ist, dass die Sklaven das Training von Kampftechniken durch die Musik- und Gesangsbegleitung und die tänzerischen Einlagen decken wollten. Wer Capoeira trainiert, tut 54 An diesem Punkt entzünden sich heftige Diskussionen zwischen den verschiedenen Capoeira-Gruppen. Die „Angoleiros“ vertreten die Position, dass es Capoeira (unter einer anderen Bezeichnung) bereits in Afrika gegeben habe, und die Bantu-Sklaven sie nach Brasilien mitgebracht haben. Die Vertreter der Capoeira Regional sind dagegen der Auffassung, die Capoeira sei erst in Brasilien von den Sklaven entwickelt worden und insofern eine typisch brasilianische Angelegenheit. 109 dies auch, um eben diese kämpferischen Elemente zu erlernen, und bis heute gelten Capoeirista als Persönlichkeiten, vor denen man sich ein bisschen in Acht nehmen sollte. Die Geschichte der Capoeira ist geprägt von der Marginalisierung des Kampf-Tanzes. Im 19. Jahrhundert wurde die Capoeira mehr und mehr zu einer Kampftechnik, derer sich insbesondere rivalisierende Straßengangs in den Städten Salvador und Rio de Janeiro bedienten. Im Straßenkampf benutzten die Capoeirista auch Rasierklingen und speziell angefertigte Messer, die sie am Körper versteckt bei sich trugen (Rego, 1968, S.297)55. Die sogen. „maltas de capoeira“ , die Straßengangs, bekämpften sich nicht nur untereinander. Sie wurden auch von Politikern unter Vertrag genommen, um politische Gegner einzuschüchtern oder Probleme der Elite zu „bereinigen“. Aus Angst vor politischen Attentaten und beunruhigt durch die unsichere Situation auf den Straßen, bemühte sich der portugiesische König Dom João bereits kurz nach seiner Ankunft in Brasilien 1808, um den Aufbau einer effizienten Polizeieinheit seines Vertrauens. Diese Polizeitruppe sollte insbesondere gegen die Capoeiras und Candomblés vorgehen. Chef der Spezialeinheit wurde Major Miguel Nunes Vidigal, selbst ein gefürchteter Capoeira-Kämpfer (Rego, 1968, S.295). Aus dieser Zeit stammt vermutlich der Rhythmus der Capoeira-Musik, der cavalaria heißt und mit dem das Ankommen der Polizei angekündigt wurde (und wird). Andererseits waren es gerade der Mut und die kämpferischen Fähigkeiten der Capoeirista, die diese prädestiniert für einen Kriegseinsatz im Namen Brasiliens erschienen ließen.. Ob sie zwangsrekrutiert wurden, wie Onori meint, oder aber sich freiwillig mit Freiheitsversprechungen angelockt zum Kriegseinsatz meldeten, ist bis heute nicht eindeutig geklärt (Onori, 1988, S.21). Auf jeden Fall nahmen eine Vielzahl von Capoeirista am Paraguay-Krieg (1864-1870) teil, bei dem mehrere Tausend Nachfahren afrikanischer Sklaven ums Leben kamen. Auch nach Abschaffung der Sklaverei fühlte sich die Elite durch die Capoeira bedroht. So wurde das Strafgesetzbuch von 1890 um ein Kapitel ergänzt, das sich mit dem Problem der „vadios e capoeiras“ („Müßiggänger und Capoeiras“) beschäftigte. Das Kapitel XIII verbot unter Androhung von Gefängnisstrafe, auf öffentlichen Plätzen Capoeira zu üben. Ausländer konnten sogar des Landes verwiesen werden (Código Penal, livro III, cap. XIII, 1890 nach Pinto, 1991, S.44). 55 Der brasilianische Soziologe Gilberto Freyre vermutet, dass es erst die Verfolgung durch die Polizei war, die eine Kriminalisierung der Capoeira nach sich zog und die Capoeirista in Ergänzung zu Kopfstössen und Tritten, zu Rasierklingen und Messer greifen ließ (Freyre, 1990, S.407f). 110 Während der ersten Dekaden dieses Jahrhunderts entwickelten sich Teile der Capoeira mehr und mehr zu einem nationalen Sport bzw. einer Folkloretradition. Mestre Bimba, Manoel dos Reis Machado, gilt als Begründer der moderneren Form der Capoeira, der sogen. Capoeira Regional. Ihren Namen erhielt sie, weil sie so zunächst nur in Bahia praktiziert wurde. Nachdem Mestre Bimba bei einem Aufenthalt in Rio de Janeiro mit orientalischen Kampfsportarten in Kontakt gekommen war, integrierte er in Anlehnung daran neue Bewegungen in die traditionelle Capoeira. Mestre Bimba war ein mutiger Kämpfer, der gegen Gegner anderer Sportarten antrat. 1932 eröffnete er die erste Capoeira-Schule (academia) in Salvador. Dort setzte er die von entwickelten neuen Trainingsmethoden und –Abläufe (sequências) in die Praxis um und erhielt 1937 die offizielle Registrierung der bahianischen als Sportlehrer (Sodré, 2002, S.64ff). Mestre Bimba bemühte sich, die Capoeira vom Bezug zur Marginalität zu befreien. Es heißt, dass in seiner Akademie nur trainieren durfte, wer eine „carteira assinada“, ein unterzeichnetes Arbeitsbuch besaß. „Sobald sie also reglementiert und zwischen vier Wände verbannt war, stellte Capoeira für den Gesetzgeber keine Gefahr mehr dar, auf der Straße jedoch war sie nach wie vor unerwünscht“ (Pinto, 1991, S.45). Bis heute ist die Capoeira der academias eine Sache, die Capoeira der Straße eine andere. Auf der Straße treffen sich die Capoeirista der unterschiedlichsten Schulen. Da ist es schwer vorhersehbar, wie sich eine Roda entwickeln wird. Mestre Bimba war es auch, der als erster vor einem brasilianischen Präsidenten Capoeira zeigte. Der populistische Präsident Getúlio Vargas soll die Capoeira als den „einzig wirklichen Nationalsport“ bezeichnet haben (Almeida, 1986). Präsident Vargas war es, der per Präsidenten Dekret das Gesetz aufgehoben hat, das die Capoeira und den Candomblé kriminalisierte (Sodré, 2002, S.67). Als Teil der Volkskultur eignete sich die Capoeira bestens zum Aufbau zu einem nationalen Symbol. In den Zeitungen avancierte sie von den Polizeiauf die Sport- und Kulturseiten. Capoeira Angola56 heißt noch heute eine Richtung der Capoeira, die sich gegenüber der „moderneren“, sportlichen Capoeira Regional insbesondere auf ihre Tradition und afrikanischen Wurzeln beruft. Ob es Capoeira bereits in Afrika, im Angola-Raum, gegeben hat oder ob dort dem Berimbau ähnliche Instrumente benutzt werden, lässt sich bis heute nicht eindeutig klären. Die Anhänger der traditionellen Capoeira vertreten die Auffassung, dass Capoeira bereits in Afrika praktiziert und von den Sklaven mit nach Brasilien gebracht 56 Pinto mutmaßt, dass es sich bei der Capoeira de Angola um eine Art Initiation für junge Männer gehandelt habe, die stark mit rituellen Werten behaftet war (Pinto, 1991, S.47) 111 wurde (zum Beispiel Mestre Morães von der Grupo Capoeira Angola Pelourinho). Die bisherigen Studien scheinen aber doch eher die Vermutung zu bestätigen, dass die Capoeira erst in Brasilien von den Sklaven „als rituelle Kampfpraxis und eine Art Geschicklichkeitstraining der jungen Männer im Gefangenendasein der Sklaverei“ entwickelt wurde (Pinto, 1991, S.43). Auf den ersten Stichen aus Brasilien von Moritz Rugendas vom Anfang des 19. Jahrhunderts ist beispielweise kein Berimbau zu sehen (Rugendas, 1835). Zwischen den Vertretern der beiden Capoeira-Richtungen gibt es nicht nur über die Herkunft der Capoeira, sondern auch in allen anderen Fragen heftige Kontroversen und Divergenzen. Insbesondere mit dem Bemühen der Schwarzen-Bewegung beim Aufbau einer neuen afrobrasilianischen Identität und der Valorisierung „schwarzer“ Kultur, hat die Capoeira eine besondere Bedeutung erhalten: Während die Capoeira Regional als die „weiße“, angepasste Capoeira eingeschätzt wird, die auch in den Schulen der Mittel- und Oberschicht als brasilianischer Sport gelehrt wird, gilt die Capoeira de Angola als die authentische Äußerung schwarzen Widerstands, die (mit wenigen Ausnahmen57) heute fast nur noch in Bahia praktiziert wird. Die Bewegungen der Capoeira de Angola sind langsamer, meist dicht am Boden, tänzerischer. Es gibt einen Moment, wo einer der Spieler den anderen zu einem Tänzchen auffordert, bei dem die beiden Körper sich dicht an dicht bewegen. Die Musik hat größeren Einfluss auf das Geschehen in der Roda als bei der Capoeira Regional. Drei Schlüsselbegriffe gehören zum Verständnis der Capoeira – und insbesondere der Capoeira Angola: malícia und malandragem, sowie mandinga oder mandingueiro. Die wörtliche Übersetzung „Verschlagenheit, Gerissenheit“ und „Gaunerei“ ist im Deutschen viel zu negativ besetzt. In der Capoeira gilt ein Spiel voll malandragem als besonders spannend, raffiniert und schlagkräftig, ein Spieler mit viel malícia ist besonders unberechenbar. Der Begriff mandinga stellt eine Assoziation zum Universum der Götter der afrobrasilianischen Religion her, die der betreffende Capoeirista vermutlich um Unterstützung im Kampf gebeten hat, ein mandingueiro ist ein Zauberer58. 57 Capoeira de Angola gibt es auch in Städten wie Rio de Janeiro, São Paulo oder Belo Horizonte. Bei diesen Gruppen handelt es sich jedoch fast immer um Ableger einer Gruppe aus Bahia. 58 Zu einer der besten und umfassendsten Arbeiten über Capoeira gehört das Buch von Lewis 1992: Ring of Liberation. 112 6.3 Candomblé – die Religion der afrikanischen Götter Die Sklaven brachten ihre Götter mit über den Atlantik. Gehörten sie in Afrika zum Kult der Flußgöttin Oxum, so verehrten sie auch weiterhin diese Göttin in der Neuen Welt. Durch die neuen Lebensumstände in der Sklaverei bedingt, verschmolzen die verschiedenen Kulte (für Oxum, für Xangô, für Iemanjá) zum Candomblé, der eine Vielzahl von Göttern, orixás genannt, umfasst. Zu den am häufigsten in Brasilien verehrten gehören der kämpferische Ogum (Schmiede, Eisen, Kriege) , der Jäger Oxossi, der Herr der Pflanzen, Ossaim, Xangô, der Herr des Donners und des Feuers, die Göttin des Windes Iansã, die Flussgöttinnen Oxum und Obá, die Meeresgöttin Iemanjá, der durch den Regenbogen symbolisierte Oxumaré, der Orixá der ansteckenden Krankheiten Omolu (Obaluaê) und die alte Gottheit der Seen und Sümpfe Nanã Buruku. Oberhaupt der Götterfamilie ist Oxalá, der in zwei Ausprägungen verehrt wird: als alter, weiser Oxalufã symbolisiert er den Frieden, als junger Oxaguiã ist er agil und kriegerisch. Exu, der Herr der Wege, nimmt eine Sonderstellung unter den Orixás ein und wird vor allem als Mittler zwischen den Welten in Anspruch genommen. Über den Orixás regiert der oberste Gott Olódùmaré, der für die Menschen nicht erreichbar ist (Verger, 1997, S.17ff.). Wie die Sklaven aus verschiedenen Reichen Afrikas nach Brasilien kamen, so sind auch im Candomblé Unterschiede in den religiösen Praktiken durch die Einteilung in Nationen (nações) aufgrund der ethnischen Herkunft vorgenommen worden. Zu den wichtigsten Linien zählen die aus dem Südwesten des heutigen Nigeria und der angrenzenden Volksrepublik Benin stammenden Nation der nagô-ketu, und die Candomblés der Nationen jeje (ebenfalls westafrikanisch) und angola. Eine brasilianische Besonderheit sind die Candomblés de caboclo, die indianische Elemente mit aufgenommen haben (Lühning,1990, S.6ff; Pinto, 1991, S.160ff). Das Spektrum der dem bahianischen Candomblé ähnlichen afro-brasilianischen Kulte reicht vom Batuque in Rio Grande do Sul, über den Xangô in Pernambuco, zur Casa das Minas in Maranhão, die auf den Kult einer königlichen Familie aus dem alten Dahomey zurückgeht59. In die Umbanda, deren Entwicklung im Zusammenspiel mit den Urbanisierungsprozessen im Südosten des Landes, insbesondere in Rio de Janeiro zu betrachten ist, flossen verschiedene 59 Hubert Fichte, der sich auf unterschiedliche Art und Weise mit verschiedenen Praktiken der afroamerikanischen Religionen beschäftigt hat, beschreibt „Das Haus der Mina in São Luiz de Maranhão (Fichte, 1989). 113 kulturelle und religiöse Traditionen ein, wie beispielsweise der Kardecismus. Die Bezeichnung macumba wird im wesentlichen als unspezifischer, oft negativ besetzter Begriff im Sinne „schwarzen Zaubers“ benutzt. Der Xangô-Kult ist in der Neuen Welt sehr verbreitet, in Brasilien, Kuba und den anderen Antillen-Inseln. In Pernambuco, nördlich von Bahia, bezeichnet er die Gesamtheit der Candomblé-Kulte. Der Candomblé ist eine Religion, die allein durch die mündliche Überlieferung überlebt hat. Bis heute werden die Legenden der Orixás, die religiösen Praktiken und Regeln des Zusammenlebens überwiegend mündlich weitergegeben. In den traditionellen Häusern geschieht dies bis heute überwiegend in den afrikanischen Sprachen, vor allem in Yorubá. Die alten Damen mit einer langen Vergangenheit im Glauben erzählen die Geschichten der Götter ihren Kindern und Enkeln - den blutsverwandten und denen aus der spirituellen Familie. Erst in den letzten Jahren wird in einigen Candomblé-Häusern dieses Wissen stärker systematisiert und schriftlich festgehalten60. Der Candomblé umgibt eine Aura des Geheimnisvollen, des geheim gehaltenen Wissens und des Losgelöstseins von den Dingen, die in Brasilien normalerweise den Lebensrhythmus bestimmen. Die Entfaltung des Axé, der positiven Energie, die in den Kräften der Natur enthalten ist, gehört zu den Grundprinzipien der afrikanischen Religion. Die Kenntnisse der Pflanzen und Kräuter zu medizinischen und religiösen Zwecken, die Fähigkeit die Zukunft vorherzusagen oder Probleme zu lösen mittels geheimer Praktiken, machen die Candomblés und ihre Würdenträger bis heute zu Orten, die ebenso verehrt, respektiert wie gefürchtet sind. Erst seit Ende letzten Jahrhunderts gibt es Aufzeichnungen von Wissenschaftlern, die sich mit dem Phänomen beschäftigen wie Nina Rodrigues oder Edison Carneiro. Die religiöse Gedankenwelt und Praktiken haben seitdem jedoch eine Vielzahl von Anthropologen, Soziologen etc. angezogen, darunter viele Ausländer wie Roger Bastide, Ruth Landes oder Pierre Verger. Anfang der 80er Jahre hat es 1920 Kultstätten, terreiros genannt, in der damals zwei Millionen Einwohner zählenden Stadt Salvador gegeben (Barbosa, 1984 nach Lühning, 1990, S.10). Auch heute wird die Zahl auf rund 2000 Kultstätten geschätzt. Dabei gibt es große Unterschiede sowohl hinsichtlich der Größe der Kultstätte, der Zahl ihrer Anhänger, des 60 Es gibt sogar ein Schul-Projekt auf dem Gelände eines Terreiros, in dem die Grundschüler mit Bezug zu ihren religiösen Wurzeln lernen (s. dazu Schaeber, 2003). 114 Alters, der Art der religiösen Praktiken. Jedes Terreiro verfügt über eine jeweils eigene Tradition. Als ältestes Terreiro gilt das Ilê Iyanassô, die Casa Branca (wörtlich: weißes Haus), das um 1830 gegründet wurde. Davon spalteten sich um die Jahrhundertwende das Ilê Axé Opô Afonjá61 und das Iyá Omi Axé, genannt Gantois62 ab. Bis heute gehören die drei Häuser zu den bekanntesten und traditionellsten Häusern Salvadors. Während seiner ganzen Geschichte wurde dem Candomblé, wie allen anderen kulturellen und religiösen Äußerungen der afrikanischen Sklaven in Brasilien und ihrer Nachfahren, mal mit Unterstützung und mal mit Ablehnung begegnet. Immer wieder wurden die Anhänger des Candomblé verfolgt und ihre Kultstätten zerstört. Die Repression der 30er Jahre unter Vargas ist bis heute in Erinnerung und wurde vielfach dokumentiert und ging sogar in die Literatur ein in Jorge Amados Roman „Tenda dos Milagres“ (in der deutschen Übersetzung: Die Geheimnisse des Mulatten Pedro). Zu dieser Zeit war der Candomblé nicht als Religion anerkannt und alle den Candomblé betreffenden Angelegenheiten dem Polizei-Kommissariat für Spiele und Gebräuche („jogos e costumes“) zugeordnet. Weder der erste noch der zweite Afro-Brasilianische Kongress (1934 und 1937) konnten an der Illegalität etwas ändern. Die Repression brachte es mit sich, dass Angehörige der Candomblés auch geschickte Allianzen mit Persönlichkeiten der Gesellschaft eingingen , die einen gewissen Schutz der Gemeinschaft versprachen. Erst 1976 wurden die Candomblé-Häuser von der bis dahin gültigen gesetzlichen Meldepflicht befreit. Das entsprechende Dekret wurde bei der Lavagem do Bonfim, dem wichtigsten religiös-profanen Volksfest zu Ehren Oxalas im bahianischen Sommer, verabschiedet (Riserio, 1981, S.20). Von staatlicher Seite brauchen die Candomblés keine Verfolgung mehr zu befürchten, im Gegenteil: einigen der traditionellen Häuser ist es sogar gelungen, ihre Grundrechte anerkannt zu bekommen63. Von kirchlicher Seite werden die Candomblés jedoch teilweise heftigst kritisiert, insbesondere von den evangelistischen Pfingstkirchen. Gerade in den letzten Monaten hat es heftige Angriffe in den Fernsehprogrammen einzelner Pfingstkirchen und gewalttätige Übergriffe auf einzelne Candomblé-Stätten in Salvador gegeben. Innerhalb der 61 Das Ilê Axé Opó Afonjá wurde von zwei in ganz Brasilien bekannten Kultleiterinnen geführt: Aninha (Eugênia Ana dos Santos) und Mãe Senhora (Maria Bibiana do Espírito Santo). Heute ist dort Mãe Stella Hüterin des Axé. 62 Auch das Gantois wurde von einer in ganz Brasilien respektierten Ialorixá geleitet, deren Rat auch von hohen Politikern und Künstlern gesucht wurde: Mãe Menininha. 63 Als erstes Terreiro wird die Casa Branca (Ilê Axé Iam Nasso-Oka) 1982 von der Stadtverwaltung geschützt. 115 katholischen Kirche gibt es neben den Abgrenzungsbestrebungen wie sie insbesondere vom vorigen Kardinal Erzbischof Salvadors, Dom Lucas Moreira Neives , verfolgt wurden, auch Tendenzen, welche die Integration von afro-brasilianischen Elementen und Symbolen in die Messen befürworten64. Aber auch in den einzelnen Candomblé-Häusern wird über Synkretismus unterschiedlich gedacht: während einige Priesterinnen und Priester den Synkretismus ablehnen, sind in anderen Häusern die Trennlinien zwischen katholischem Glauben und Orixá-Kult teilweise nur schwer auszumachen. Der Großteil der Anhänger der Candomblés, insbesondere der kleinen, unbekannten Häuser, setzt sich aus der überwiegend dunkelhäutigen Nachbarschaft in den armen Vierteln zusammen. Zur Klientel der bekannteren Häuser gehören allerdings längst nicht mehr nur diese Bevölkerungsgruppe, sondern auch hellhäutige Vertreter der Mittel- und Oberschicht, darunter bekannte Politiker, Künstler und Unternehmer. Die öffentlichen Feste sind allen zugänglich, an den internen Zeremonien dürfen jedoch nur die in das Ritual eingeweihten Personen teilnehmen. Im folgenden soll nun eine öffentliche Festzeremonie für den Orixá Xangô im Ilê Axé Opô Afonjá beschrieben werden. „Kao kabicilê“65- “Kommt den König zu sehen“ - das Fest Kurz bevor das Fest beginnt herrscht Stille im barracão, dem Festsaal des terreiro. Am Kopfende steht der holzgeschnitzte Lehnstuhl, auf dem während der Zeremonie die ialorixá, die Priesterin, Platz nimmt. Rechts und links davon die Stühle, die für die Würdenträger des Hauses, die obás, vorgesehen sind. Auf der rechten Seite ist ein Bereich abgegrenzt, der den Musikern vorbehalten bleibt. Hier stehen die drei verschieden großen Trommeln, atabaques genannt, die mit rot-weißen Schleifen in den Farben des Orixá geschmückt sind, dem das heutige Fest gewidmet ist. Xangô, Herr über Blitz und Donner, ehemals König von Oyo Dahomey, von dem gesagt wurde, er könne Feuer speien. Xangô gilt als viril, kraftvoll, gewalttätig und gerecht. Er wird gefürchtet von den Lügnern, Gaunern und Übeltätern. Sein Symbol ist die Doppelaxt oxé, , 64 In Salvador gibt es seit der Amtszeit des engagierten, progressiven afro-brasilianischen Hilfs-Bischofs Dom Gílio Felício die Pastoral Afro, die den Dialog zwischen Schwarzenbewegung, Candomblé und katholischer Kirche wieder in Gang brachte. 65 „Kommt den König zu sehen, wie er auf die Erde hinabsteigt“ – mit diesen Worten wird Xangô begrüßt. 116 sein Instrument die xeré, eine Rassel aus einer länglichen Kabasse gefertigt. An jedem Mittwoch, dem ihm gewidmeten Wochentag, gibt es amalá, ein Gericht aus Okra-Schoten. Sein Opfertier ist der Hammel, dessen Hörner schnell wie der Blitz sein können. Xangô ist ein eleganter Verführer. Er hatte drei Frauen Oyá, Oxum und Obá, die zu Flüssen wurden (Verger i. Carybé-Buch) Der gesamte Festsaal ist mit Zweigen und Blättern liebevoll hergerichtet für das Fest des Orixá Xangô, der hier „Herr im Hause“ ist. Das 1910 gegründete Terreiro Axé Opô Afonjá in Salvador ist dem Kult .... An den Wänden und an der Decke hängen aus Holz geschnitzte Symbole seiner Insignien. In der Mitte des Saales wurden Buchstaben mit Körnern, Blütenblättern und farbigen Pulver auf den Boden gemalt. Nach und nach treffen immer mehr Gäste ein, die an dem Fest teilnehmen möchten. Rechts des Eingangs ist der Bereich für die Frauen, auf der linken Seite für die Männer. Bei vielen Besuchern glänzt das Haar noch feucht vom Duschen und alle haben frischgebügelte neue oder sorgfältig aufbewahrte Kleider an. Es erinnert an den Auftritt einer Königsfamilie, als eine Gruppe von Menschen, angeführt von der trotz ihres Alters flinken Mãe de Santo den Weg vom Haus Xangôs herüber zum Barracão kommt. Als Mãe Stella in ihren weiten Festkleidern umgeben von den Würdenträgern des Hauses, den Ogãs und Obás des Orixá Xangô, hoheitsvoll hereinrauscht, beginnen die Trommler einen speziellen Rhythmus zu spielen. Die Trommler beginnen mit Händen und später auch mit kleinen Stöcken auf die mit Ziegenfellen überzogenen Trommeln zu schlagen. Die mit der Mãe de Santo hereingekommenen Menschen verbeugen sich vor dem Eingang, dann bewegen sie sich zu den Trommeln. Die Trommler begrüßen Würdenträger, diese verbeugen sich vor ihnen, berühren mit der Hand den Boden. Danach begrüßen sie die inzwischen am Kopfende in der Mitte des Saales thronende Iyalorixá und nehmen auf den Ehrenplätzen Platz. Die zwölf Minister Xangôs (Obás) repräsentieren die Minister des Hofs von Oyó. Sie wurden 1937 von Mãe Aninha eingesetzt, sechs sitzen zur Rechten, sechs zur Linken des Königs. Jetzt ist die Reihe an den Filhas die Santo nacheinander ein ähnliches Begrüßungsritual zu vollziehen. Das Ilê Opô Afonjá ist eines der größten und wichtigsten Terreiros Brasiliens. Heute Abend sind es mehr als 50 Filhas de Santo, die hier im Barracão am Fest teilnehmen. Sie alle tragen festliche Kleider in den Farben des heute verehrten Orixás. Noch haben alle ihre Köpfe mit Turbanen verhüllt. Mit einem leichten Anschlagen des adjá, einer metallenen Glocke, beginnt die Zeremonie: die Iaos formen einen Kreis und beginnen langsam zu tanzen. 117 Nacheinander werden die Musiken der verschiedenen Orixás gespielt. Jeder Orixá hat seinen eigenen Rhythmus, seine eigenen Lieder. Die Anwesenden singen in Yorubá. Ein Kinderchor, der hinter den Trommlern Platz genommen hat, singt laut in der afrikanischen Sprache. Die Trommeln rufen die Götter. Einige Heiligentöchter beginnen zu stolpern, taumeln, mit unkoordinierten Bewegungen beginnt die Trance. Der Turban wird abgenommen, die Schuhe werden ihnen ausgezogen, die Schmuckgegenstände aus Sicherheitsgründen weggenommen, Männern werden die Hosen hochgekrempelt. Einige tanzen wild, stoßen tiefe Schreie aus, begrüßen die Anwesenden, andere befinden sich in einem ruhigen Dämmerzustand. Um die in Trance gefallenen, kümmern sich andere Frauen des Terreiros, die Ekedi genannt werden. Nachdem für alle Orixás gesungen und getrommelt wurde, werden die von den Göttern besessenen Heiligentöchter hinausgebracht. Es ist das Fest Xangôs, der Feuer speien kann. Eine Gruppe angeführt von den Ministern Xangôs kommt vom Haus Xangôs zurück. Minister tragen bordeauxrote Samtschärpen und Mützen auf die in Gold ihre Namen gestickt sind. Eine Tonschale mit Feuer wird von Kopf zu Kopf gereicht. Einige der in Trance befindlichen Iaôs schlucken Feuer. Das Fest hat seinen ersten Höhepunkt erreicht. In der folgenden Pause werden die Lieblingsspeisen Xangôs an die Anwesenden verteilt. Später kommen die Orixás in ihren Festkleidern herein: Xangô begleitet von seinen Frauen Oya, Oxum und Obá. Die afrikanischen Götter manifestieren sich während der Feste in den Körpern der Heiligentöchter. Die Anhänger begrüßen sie feierlich. Einige schenken Blumen, andere drehen Kreise mit Geldscheinen um den Kopf des Orixá und legen sie vor Trommlern ab. Wieder werden die Musiken der einzelnen Orixás gespielt bis das Fest spät schon nach Mitternacht zu Ende geht. 118 7. Zwischen Anpassung und Abgrenzung – die brasilianische Schwarzenbewegung im 20. Jahrhundert Das Goldene Gesetz hatte formal die Sklaverei beendet, Mechanismen für eine Integration der Afro-Brasilianer in die Gesellschaft sah es jedoch nicht vor. Für die Sklaven und ihre Nachfahren begann mit der Abolition der Kampf gegen die ungleiche Integration in die moderne Gesellschaft – von der Beseitigung der wirtschaftlichen Ungleichheiten bis zur Anerkennung der kulturellen Besonderheiten. Die Haltung der Afro-Brasilianer wurde dabei ebenso durch ihre soziale Situation geprägt, wie durch die zeitgenössischen gedanklichen Strömungen und die sich verändernden politischen Voraussetzungen. Seit der Jahrhundertwende war es vor allem das Selbstverständnis und der Mythos Brasiliens als erster Rassendemokratie und, damit verbunden, die Ideologie (und Praxis!) der Aufhellung, die den Rassenbeziehungen ihren Stempel aufsetzten. Seit der Kolonialzeit war es zudem zu einer Vermischung der Menschen unterschiedlicher Herkunft gekommen, so dass sich die eindeutigen Trennlinien der Rassen verwischten. Umso schärfer jedoch wurden die Unterscheidungen aufgrund der Hautfarbe und der Feinheiten der äußeren Merkmale als Zeichen für die Art der Integration in die Gesellschaft. Das Fehlen einer segregativen Gesetzgebung bei gleichzeitiger rassischer Diskriminierung wurde charakteristisch für die Situation Brasiliens. Zu Beginn dieses Kapitels soll ein Überblick über die sich verändernden Rassenbeziehungen in Brasilien des 20. Jahrhunderts gegeben werden. Er liefert den Rahmen für das Verständnis der Geschichte der brasilianischen Schwarzenbewegung zwischen Assimilierung und Abgrenzung. Die gravierenden Veränderungen der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse der letzten hundert Jahre haben sich auf die Lebenssituation aller Brasilianer ausgewirkt, für die Afro-Brasilianer jedoch in besonderem Maße Bedeutung gehabt: vom Sklaven zum freien Arbeiter und mündigen Bürger ist es ein langer Weg, dessen Ziel bis heute nicht zufriedenstellend erreicht ist. Der Widerstand gegen die Ketten der Sklaverei wurde abgelöst vom Kampf für eine gerechte Integration in die bürgerliche Gesellschaft. Charakteristisch für die unterschiedlichen Formationen der brasilianischen Schwarzenbewegung ist dabei das Schwanken zwischen Assimilierungs- und Abgrenzungsbestrebungen – Tendenzen, die auch durch den gesellschaftlichen und 119 ideengeschichtlichen Rahmen geprägt werden. Zwei Phasen hat es im 20 Jahrhundert gegeben, die starke politische Organisationen der Afro-Brasilianer hervorbracht haben, die noch stark durch die Aufhellungs-Thesen beeinflusste Frente Negra Brasileira (Schwarze Brasilianische Front) der 30er Jahre und die heute politisch stärkste Gruppe, der 1978 gegründete Movimento Negro Unificado (Vereinigte Schwarze Bewegung, abgekürzt: MNU). Trotz der Unterschiede der beiden Bewegungen lassen sich wirtschaftliche und politische Parallelen bei der Entstehung erkennen, während in den Phasen dazwischen die brasilianische Schwarzenbewegung entweder politisch unterdrückt (Vargas, Militärdiktatur) oder sich in einer Zeit der Restaurierung und Reflektion befand. 7.1 Die Nation wird aufgehellt Parallel zur Diskussion um die Abschaffung der Sklaverei begann ein Prozess in Brasilien, der als Ideologia do branqueamento, Ideologie der Weißwerdung, Teil der brasilianischen Kultur wurde. Dahinter steht die Vorstellung, dass die allmähliche Aufhellung der brasilianischen Bevölkerung Fortschritte für die Entwicklung der Nation bedeute, bzw. auf individueller Ebene die Anpassung an das weiße Ideal sozialen Aufstieg ermögliche. Ideengeschichtlicher Hintergrund dafür waren die aus Europa nach Brasilien dringenden Rassentheorien und die evolutionistische Sichtweise der Entwicklung der Menschheit. Die Theorie und Praxis der Aufhellung der brasilianischen Gesellschaft prägten den Aufbau der Nation und das brasilianische Selbstverständnis - auch der Afro-Brasilianer. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts wurde die rassische Zusammensetzung Brasiliens immer häufiger als maßgebend für die gesellschaftliche Situation des Landes gesehen. Die Elite Brasiliens wurde dabei durch die in Europa entwickelten Rassentheorien beeinflusst, welche die Überlegenheit der europäisch-arischen Völker wissenschaftlich zu belegen versuchten und nur ihnen höhere Entwicklungsstufen der Zivilisation zutrauten. Während der Sklaverei beschäftigte die Situation der Afrikaner und Afro-Brasilianer die gesellschaftlichen Führungsgruppen im wesentlichen unter wirtschaftlichen Aspekten oder polizeilichen Gesichtspunkten. Mit der Abolition wurden sie zum Rassenproblem, das der Elite als das entscheidende Hindernis auf dem Weg zu einer europäisch geprägten Nation schien. 120 Um die „Entwicklung“ Brasiliens im historischen Prozess voranzutreiben, schien es daher geeignet, die europäische Immigration zu fördern. Die Europäer sollten die Arbeitskraft ersetzen, die durch die Abschaffung der Sklaverei entfallen war. Darüber hinaus würde die Immigration den Aufhellungs-Prozess beschleunigen (Skidmore, 1976, S.40). Bereits 1866 wurde die erste Immigrationsorganisation gegründet. Ihr Gründer argumentierte unter anderem, dass die weißen Arbeitskräfte produktiver als schwarze seien. Diese Vorstellung wurde von vielen seiner Zeitgenossen geteilt (Hofbauer, 1995, S.123). Selbst Gegner der Sklaverei, wie der Abolitionist Joaquim Nabuco, waren überzeugt von den positiven Konsequenzen, welche die europäische Immigration mit sich bringe. Zwischen 1871 und 1920 kamen über drei Millionen Europäer nach Brasilien vor allem Italiener (60%), Portugiesen und Deutsche (Hofbauer, 1995, S.77). Manche Gesellschaften übernahmen sogar die Reisekosten der Immigranten. Sie hatten einen anderen Start für das Leben auf brasilianischer Erde, als die rund fünf Millionen Afrikaner, die als Sklaven in den vorhergehenden drei Jahrhunderten hier angekommen waren. Die Immigration von Menschen mit dunkler Haut wurde andererseits gezielt unterbunden: Zwei Jahre nach dem Goldenen Gesetz verbot ein Dekret die Einreise von Afrikanern und Asiaten nach Brasilien. Wie sich die Welle europäischer Immigration auf die Zusammensetzung der brasilianischen Bevölkerung ausgewirkt hat, lässt sich auch mit Blick auf die Statistik nur schwer interpretieren. Nach dem Zensus von 1940 ergab sich ein Bevölkerungsanteil von fast zwei Dritteln (63,47%) weißen und nur einem Drittel dunkelhäutigen Brasilianern (21,20% pardos, 14,64 % Schwarze). Statistisch bedeutete dies eine Verkehrung der Zusammensetzung der Bevölkerung im Vergleich zum Zensus von 1874. Ob es jedoch tatsächlich zu einem solchen Anstieg des hellhäutigen Bevölkerungsanteil während der vorhergehenden zwei Generationen gekommen war, bleibt fraglich. Sicherlich spiegelt dieser Zensus auch die Konsequenzen der Ideologie der Weißwerdung, die sich im Bestreben zeigen, als möglichst hellhäutig eingestuft zu werden. Die politischen und gesellschaftlichen Umstände des Estado Novo, wie das Regime des 1937 mit einem Staatsstreich an die Macht gekommenen Präsidenten Getúlio Vargas genannt wurde, nährten und bedienten sich der Ideen Freyres zum Aufbau des Mythos der Rassendemokratie. Getúlio Vargas ist als populistischer Führer eines aufstrebenden Staates, des Estado Novo (1937-1945), in die Geschichte Brasiliens eingegangen. Während seiner 121 Amtszeit wurden eine Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen eingeführt - von der Verstaatlichung von Schlüsselindustrien (Öl, Automobil) bis zu einer umfangreichen Arbeitsgesetzgebung - die noch heute ihre Auswirkungen haben. Vargas ist es, der ganz gezielt Elemente der bis dahin zumindest verpönten, größtenteils sogar verbotenen „schwarzen“ Volkskultur rehabilitiert und zu nationalen Symbolen aufwertet. Das beste Beispiel dafür ist der Samba, der in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zum zentralen Element der Definition nationaler Identität wurde (Vianna, 1995, S.28). Die Samba-Schulen und der Karneval, aber auch die bis dahin verbotene Capoeira wurden während der Vargaszeit gesellschaftsfähig. In Bahia wurde der Sportschule Mestre Bimbas 1937 die offizielle Anerkennung gewährt. Während eines Besuchs in Salvador in seiner zweiten Amtsperiode 1953 empfängt Präsident Vargas den bekannten Capoeirista Mestre Bimba und erhebt die Capoeira zum einzigen wirklichen Nationalsport (Almeida, 1986, S.44) Während einerseits also Teile der schwarzen Kultur zu nationalen Symbolen aufgebaut und in die brasilianische Kultur inkorporiert werden, verteidigt das Vargas-Regime anderseits den Mythos der Rassendemokratie gegen ihre Kritiker und setzt die Politik der Aufhellung fort. 1937 verbietet Vargas beispielsweise die erste größere Organisation der brasilianischen Schwarzenbewegung, die Frente Negra Brasileira (Schwarze Brasilianische Front). Die Immigrationspolitik bevorzugt nach wie vor die europäische Einwanderung, wie das Dekret zur Immigration von 1945 zeigt, dass die Notwendigkeit in der ethnischen Komposition des Landes die begünstigenden Charakteristiken seiner europäischen Herkunft zu berücksichtigen. 7.2 Assimilierung zur Überwindung der Rassenschranken Die Armut und Marginalisierung der schwarzen Bevölkerung hielt auch nach der Abschaffung der Sklaverei an. Auf dem Arbeitsmarkt konkurrierten sie mit den europäischen Migranten, deren Einwanderung von der hellhäutigen Elite gefördert wurde. Die AfroBrasilianer übernahmen die schweren körperlichen Arbeiten und hatten kaum Chancen, über Bildung und Ausbildung Zugang zu besseren Tätigkeiten zu erhalten. Nur im öffentlichen Sektor boten sich einige wenige Möglichkeiten. Die erste Industrialisierungsphase brachte auch in Brasilien ein städtisches Proletariat hervor und führte zum Entstehen einer kleinen, aber wachsenden Mittelklasse, zu der fast ausschließlich weiße Brasilianer gehörten. Da 122 Analphabeten vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, blieb der Großteil der Afro-Brasilianer ohne politische Repräsentation. Die marginale Position der Afro-Brasilianer wurde als Bestätigung all der negativen Eigenschaften, wie Faulheit, Ignoranz, Dummheit, Unfähigkeit gesehen, welche die Elite ihnen zuschrieb. Die Aufhellungs-Ideologie schien durch die Umstände bestätigt zu werden. Die ersten Jahre der Republik waren bewegt und immer wieder kam es zu Unruhen, wie der Chiabata-Revolte66. Die Afro-Brasilianer waren zwar an einzelnen Konflikten beteiligt, übernahmen dabei aber keine Führungspositionen. Die Arbeiterbewegung war von europäischen Immigranten dominiert und beim häufiger rebellierenden Militär waren sie von den gehobenen Positionen ausgeschlossen. Die Nachfahren der Sklaven bemühten sich um Integration und fühlten sich als Brasilianer. „Wir haben nicht vor unsere Rasse zu erhalten, sondern uns in den Busen der priviligierten weißen Rasse zu infiltrieren, ... weil ... wir sind keine Afrikaner, sondern reine Brasilianer“ hieß es auf einem ihrer Flugblätter (zitiert nach Andrews, 1998, S.213). Die Katholischen Bruderschaften stellten auch zu Beginn dieses Jahrhunderts noch eine wichtige Organisationsform von Schwarzen dar. Ihre Rolle begann sich jedoch langsam zu verändern. Die Konflikte mit der Kirche wegen der zu besonderen Anlässen üblichen öffentlichen Tänze hielten an. Aus einigen der Bruderschaften, das wurde bereits gesagt, sind die verschiedenen von Afro-Brasilianern gemachten Karnevalsvereine hervorgegangen. Die Mitglieder der Samba-Schulen kamen zum überwiegenden Teil aus der Arbeiterschaft. Aufstiegsoriente Schwarze hielten sich von den Karnevalsgruppen und den Sambaschulen fern, waren aber auch nicht in den sozialen Clubs und Tanzgesellschaften der hellhäutigen Elite zugelassen. Sie gründeten ihre eigenen Clubs. Kosmos, Elite-, Smart-Club hießen die Vereinigungen, deren Namen bereits die Selbsteinschätzung zeigen. Hier konstruierten sie eine eigene Welt, in der sie nicht den Diskriminierungen der Weißen, aber auch nicht der Nähe der breiten schwarzen Masse ausgesetzt waren. Bei diesen Gruppen handelte es sich um eine Art von „Selbsthilfeorganisationen“, die dem Beispiel der Immigranten-Vereine folgend, soziale Aktivitäten organisierten. Diese Gruppen verfolgten keine politischen Ziele, hatten aber verschiedene positive, soziale Effekte. Nach Fernandes trugen sie dazu bei, das 66 Der als Revolta da Chiabata in die brasilianische Geschichte eingegangene Aufstand der Marine 1910 wurde ausgelöst, durch die Weigerung einiger Marine-Soldaten weiterhin, wie zu Zeiten der Sklaverei, ausgepeitscht zu werden. 123 Sozialbewusstsein durch gemeinsame Interessen zu stärken und die Minderwertigkeitskomplexe zu reduzieren (Fernandes, 1978, S.230). Viele dieser Gruppen gaben kleine Publikumszeitungen heraus. Diese Zeitungen spiegelten Interessen und Sorgen der Afro-Brasilianer wider und geben Hinweise über die ökonomische Basis67. Zeitungen wie „O Clarim da Alvorada“ oder „A Voz da Raça“ - offizielle Zeitung der Frente Negra - beschäftigten sich ausführlich mit dem sozialen Aufstieg und wirtschaftlichen Fortschritt der schwarzen Bevölkerung. In anderen Zeitungen standen soziale Aktivitäten wie Feste und Bälle im Vordergrund. Die Sozial-Kolumnen schwarzer Zeitschriften zeigten deutlich die Wichtigkeit dieser Ereignisse. Erwähnt wurden aber auch Erlebnisse rassischer Diskriminierung, wie den Zugang zu Hotels verweigert bekommen oder nicht bedient zu werden in Restaurants oder Friseurläden. Ein Thema, zu dem die Meinungen in den 20er Jahren noch weit auseinander lagen und das häufig diskutiert wurde, war die Frage des Zutritts von schwarzen Brasilianern zu den öffentlichen Parks und Plätzen. Nach Hofbauer war die in den Zeitungen publizierte Einschätzung der eigenen Situation deutlich von der branqueamento-These und den Einschätzungen der weißen Elite geprägt (Hofbauer, 1995, S.199). Gegen Ende der 20er Jahre war der Mythos der Rassendemokratie für viele Afro-Brasilianer durch die Realität entschleiert. Der Wunsch nach gleichen Chancen und einem gerechten und harmonischen Zusammenleben war jedoch stark zu spüren. 1927 wurde in São Paulo das Centro Cívico Palmares gegründet, mit dem Ziel der schwarzen Gemeinde eine Bibliothek zugänglich zu machen. Das Interesse an Biographien schwarzer Persönlichkeiten war deutlich spürbar. Während Palmares und der Kampf der Palmarinos zu einem nationalen, ja mythischen Freiheitssymbol wurde, distanzierte man sich von den gewalttätigen Revolten wie der „Revolta dos Malês“. Anders als bei vergleichbaren Bewegungen in den USA war Afrika kein Thema dieser Gruppierungen. Im Gegenteil: an Garveys Ideen zur Rückkehr nach Afrika wurde Kritik geübt. Die Gruppierungen der 20er und 30er Jahre hoben den Beitrag der AfroBrasilianer am Aufbau der brasilianischen Gesellschaft hervor. 67 Über die schwarze Presse siehe Ferrara 1986. 124 7.3 Frente Negra Brasileira – die erste politische schwarze Vereinigung Das Palmares-Zentrum entwickelte sich zu einem Treffpunkt von Afro-Brasilianern, wo Fragen gemeinsamen Interesses diskutiert wurden. Zu ihnen gehörte auch Arlindo Veiga dos Santos, ein Bahianer, der nach São Paulo gekommen war und dort als Sekretär für die Rechtsfakultät arbeitete. Veiga dos Santos war Mitarbeiter der schwarzen Presse und eine der herausragenden schwarzen Persönlichkeiten São Paulos in den 20er Jahren. 1931 gründete er eine ausdrücklich politische Organisation, welche die Arbeit des Centro Cívico vervollständigen sollte: die Frente Negra Brasileira, die Schwarze Brasilianische Front, kurz FNB. Sie war die erste schwarze Gruppe, die sich am Vorbild europäischer politischer Organisationsstrukturen orientierte. In allen größeren Städten richtete sie Ortsgruppen ein und ihre Mitglieder wiesen sich durch Mitgliedsausweise aus. Umgehend breitete sich die FNB über den gesamten Staat São Paulo, das südliche Minas und Espírito Santo aus. Auch in Bahia und Rio Grande do Sul gab es Vertretungen der FNB. Innerhalb kurzer Zeit wurde die FNB zur ersten großen überregionalen Schwarzenbewegung des Landes mit rund 60.000 bis 70.000 Mitgliedern (nach Hofbauer, 1995) Der Erfolg der FNB steht in engem Zusammenhang mit den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der Alten Republik: Zum einen waren Auswirkungen der wirtschaftlichen Depression für die Afro-Brasilianer besonders stark zu spüren; zum anderen hatte das politische Klima dazu geführt, dass während der vorhergehenden beiden Dekaden immer deutlicher nachgefragt wurde, mit welcher Begründung das politische Sagen allein der weißen Elite überlassen war und die Integration der Schwarzen in den politischen Prozess gefordert wurde. Die Frente Negra Brasileira verstand sich als politische Interessenvertretung einer sozialen Gruppe, stellte sich aber auch aktiv den sozialen Herausforderungen. Zu ihrem wichtigsten Anliegen gehörte der Zugang für Afro-Brasilianer zu den Bildungsinstitutionen – Voraussetzung einer besseren Integration in die Gesellschaft. Die FNB bot Alphabetisierungskurse für Erwachsene an und richtete eine Schule ein. In der FNB eigenen Klinik gab es medizinische und zahnmedizinische Behandlung zu günstigen Preisen. Zu gesünderem und besserem Wohnen wurde später auch der Bau des eigenen Hauses durch gegenseitige Hilfe und Kleinkredite zum Kauf stimuliert. Trotz des ausgeprägten Engagements für die Mitmenschen dunkler Hautfarbe ist das Gesellschaftsbild 125 der FNB durch die herrschenden weißen Vorstellungen und die Aufhellungs-Ideologie geprägt, was sich insbesondere im Tenor der Mitglieder-Zeitschrift verfolgen lässt. Die Zeitschrift „A Voz da Raça“ zirkulierte ab 1933 landesweit. In ihrer Zeitschrift wird deutlich, dass die Imitation weißer Kultur und die Distanzierung von als typisch schwarz geltenden Traditionen zwei Seiten einer Medaille sind. Insbesondere wurde auf die verderblichen Einflüsse des Samba, der Trommeleien und des Zuckerrohrschnapses hingewiesen. Auch die ästhetischen Vorstellungen orientierten sich am Vorbild der kultivierten weißen Mode, mit nicht zu kurzen Röcken und geglättetem Haar. Man bemühte sich, dem weißen Ideal ähnlich zu werden, um die angeborenen Hindernisse zu überwinden eine Denkweise, die bereits existierende Minderwertigkeitsgefühle sicherlich verstärkte. Dahinter stand die Vorstellung, dass erst nach Durchlaufen eines soziokulturellen Anpassungsprozesses eine zufriedenstellende Integration der Afro-Brasilianer in die Gesellschaft möglich sei. (Hofbauer, 1995) Im Laufe ihrer Existenz konnte die FNB allerdings nur wenig konkreten politischen Druck ausüben. 1933 ließ sich Arlindo Veiga dos Santos, dessen autoritärer Führungsstil der Organisation ihren Stempel aufsetzte, für die Abgeordneten Versammlung aufstellen – mit wenig Erfolg. Ab 1936 wurde die Frente Negra Brasileira sogar zur politischen Partei. Erfolglos bei Wahlen, blieb die FNB eher als Lobby tätig - mit streng nationalistischem Unterton. Der in den 30er Jahren aufgekommene Nationalismus in ganz Brasilien richtete sich vor allem gegen die armen europäischen Einwanderer. Auch die FNB bezog Stellung gegen die weitere Immigration von Ausländern nach Brasilien, die ja mit den Afro-Brasilianern auf dem Arbeitsmarkt in direkter Konkurrenz standen (Andrews, 1998). In weiten Kreisen der brasilianischen Gesellschaft herrschte die Auffassung, dass diese Immigranten über ebenso wenig Bildung und Niveau verfügten, wie das eigene gemischtrassige Volk, aber zudem noch politisch radikaler waren. Mit der Machtergreifung Getúlio Vargas 1937 endete eine Phase aktiver politischer Mobilisierung. Die schwarzen Organisationen verschwanden zwar nicht komplett, standen von nun aber unter anderen Vorzeichen. Die politischen Organisationen wie die FNB wurden verboten und aufgelöst, die Tanz- und sozialen Clubs blieben bestehen. Teile der schwarzen Kultur wurden von Vargas massiv unterstützt, insbesondere die Samba-Schulen (Vianna, 1995). Die kleine schwarze Mittelklasse, welche die wirtschaftliche Entwicklung 126 hervorgebracht hatte, zeigte kein Interesse an eigener politischer Organisation, sondern allein an den Aufstiegsmöglichkeiten, die sich durch den wirtschaftlichen Fortschritt boten. Auch unter Vargas bleibt die Aufhellungs-Ideologie en vogue wie ein Dekret von 1945 zur Immigration zeigt. Darin wird die Notwendigkeit die europäische Herkunft in der ethnischen Zusammensetzung Brasiliens zu erhalten und entwickeln (Hofbauer,1995). 7.4 Kurze Blüte zwischen zwei Diktaturen: Schwarzes Theater Mit dem Ende der Vargas-Diktatur 1945 kam es zu einer Welle von Versuchen die schwarze Bewegung der 30er Jahre wiederherzustellen. So lebte die 1937 ausgelöschte schwarze Presse in São Paulo wieder auf, wurde 1944 in Rio de Janeiro das Teatro Experimental do Negro gegründet. Diese und andere schwarze Organisationen waren nicht direkt an der Politik beteiligt, sondern befassten sich mit sozialen, kulturellen und edukativen Fragen. Die Aufgabe künstlerisch-politischer Aktivität wurde darin gesehen, das kulturelle Niveau der Schwarzen anzuheben und langsam gesellschaftliche Veränderungen hervorzurufen. (Hanchard, 1994) Der Gründer des Teatro Experimental do Negro Abdias do Nascimento ist sicher eine der auffälligsten Persönlichkeiten der brasilianischen Schwarzenbewegung68. Bis heute ist der inzwischen über 80jährige als Künstler und Militant aktiv. Er war bereits eine der führenden Persönlichkeiten der 1937 verbotenen Frente Negra Brasileira. Während der Militärdiktatur musste Abdias do Nascimento ins Exil gehen, was sich stark auf seinen Diskurs auswirkte. Er emigrierte in die USA, später nach Nigeria, wo er an verschiedenen Universitäten lehrte. Nach seiner Rückkehr befasste er sich ausschließlich mit der Frage der brasilianischen Schwarzen und ging aktiv in die Politik. 1983 wurde er als Abgeordneter der PDT („Partido Democrático Trabalhista“) ins Parlament gewählt. 1990 wurde er als einer der ersten AfroBrasilianer in den Senat gewählt. Dort brachte er einen Gesetzesvorschlag zu einer Quotenregelung für Afro-Brasilianer ein. Vier Jahre nach Gründung des Theaters, lancierte Abdias de Nascimento die Zeitschrift Quilombo, in der er seine Überlegungen zum Rassismus darlegte. Rassismus sei eine Art 68 Als ich mit Abdias do Nascimento im Jahr 1987 ein Interview machte, war er kurz zuvor aus den USA zurückgekehrt. Ich interssierte mich bereits für Rassenproblematik, aber mir war zum Zeitpunkt des Interviews nicht wirklich bewusst, wer mir gegenübersaß. Aus dem Gespräch in seiner Wohnung ging ich sehr beeindruckt hinaus. 127 psychischer Defekt, der sich in klimatisch-geografisch ungünstigen Räumen entwickelt habe „psicoracismo“. Die Weißen fühlten sich kulturell unterlegen, da den Theorien Cheikh Anta Diops69 folgend, der Ursprung westlicher Zivilisation in Afrika liege und auch Christus dunkle Haut habe. Auch der schwarze Widerstand sei eine Art psychologisches Phänomen, das allen afro-brasilianischen kulturellen, religiösen und politischen Formen inne wohne und am authentischsten im Quilombo anzutreffen sei. Mit seinem „O Quilombismo“ legte er 1980 ein globales Konzept vor, dessen Ausgangspunkt und Ziel eine Quilombo-Gesellschaft nach dem Beispiel Palmares war. Die politische Bewegung der brasilianischen Schwarzen solle eine freie, gerechte und egalitäre Gesellschaft anstreben, deren Wirtschaft auf kommunitären Prinzipien aufbaue. „ Die Republik von Palmares war der erste und einzige Versuch in der brasilianischen Geschichte, echte Freiheit, ethnische Harmonie und wirtschaftliche Gleichberechtigung zu verwirklichen“ (Nascimento, 1983, S.42f nach Hofbauer, 1995, S.206). Zumbi sei der Begründer des historisch-kulturellen quilombismo-Begriff, der aus dem historisch-kulturellen Entwicklungsprozess gewachsen sei. Die Idee des Quilombismo sei von den verschiedenen schwarzen Aufständigen und Freiheitskämpfer wie den Males, Luís Gama, oder Chico Rei fortgesetzt worden. Für Abdias do Nascimento sind alle afro-brasilianischen Vereinigungen und Praktiken wie Candomblé, Capoeira, Bruderschaften, Musik- und Tanzgruppen etc. Ausdruck des Quilombismo. Quilombos seien in den verschiedenen Ausprägungen in allen Kulturen der afrikanischen Diaspora präsent, wie die marrons in Jamaika, die cimarrones in Cuba etc. Das Wirtschaftssystem im Quilombo sei die Anpassung der Ujamaa70, der afrikanischen Form des Sozialismus, an die brasilianischen Verhältnisse. Für alle Schwarzen in der Diaspora fordert er den Aufbau einer pan-afrikanischen Kultur. In einem 16 Punkte-Programm71 legt er seine Vorstellungen zu Arbeit, Familie, Bildung und Kultur dar (Nascimento, 1980, S.275ff) Viele weiße Brasilianer reagierten auf diese Ideen mit Abwehr. Dahinter stand die Angst, dass der weiße Rassismus durch einen schwarzen Rassismus ersetzt würde. Bis heute ist die Angst vor einem Gegen-Rassismus in Diskussionen mit hellhäutigen Brasilianern zu spüren. Die Mobilisierung der Afro-Brasilianer beunruhigt die Mehrzahl der Weißen in zweierlei Hinsicht: Erstens, wird dadurch vor Augen geführt, dass Brasilien keine Rassendemokratie 69 Auf den afrikanischen Wissenschaftler Cheikh Anta Diop beziehen sich auch die Mitglieder Olodums um die These zu untermauern, daß der Pharaoh Tut-ench-Amun dunkelhäutig sei. 70 Ujamaa heißen die traditionellen ländlichen Organisationsformen, die im sozialistischen Tansania von Präsident Nyerere in den 60er/70er Jahren verbeitet wurden. 71 Arbeit (Recht und Pflicht), Kind (Mutterschutz bis Kinderkrippe), freie Schulbildung (Geschichte Afrikas, afro-brasilianische Uni), Religionsfreiheit, kreative Gesellschaft, keine Bürokratie, Beteiligung von Frauen 128 ist, wie es vorgibt und zweitens ist den weißen Brasilianern bewusst, dass sie an der Spitze einer durch Armut und Rassismus spannungsgeladenen Gesellschaft stehen. Den schwarzen Brasilianern ist im allgemeinen diese Angst der Weißen bewusst. Sie reagieren darauf, indem sie Dinge vermeiden, die zu einer Verstärkung dieses Bildes führen. Die weitere Industrialisierung und das wirtschaftliche Wachstum Brasiliens wirken sich auch auf die sozialen Beziehungen aus. Ganz langsam, verhältnismäßig in viel geringerem Ausmaß, steigt das Bildungsniveau auch der Afro-Brasilianer. Die Offenheit der politischen Institutionen wie Gewerkschaften und Volksparteien gegenüber der Rassenthematik nimmt in den 50er Jahren langsam zu. Erstmalig ab Mitte der 50er Jahre übernehmen einzelne Schwarze Führungspositionen in den Gewerkschaften - eine Tendenz, die in den 60er und 70er Jahren noch verstärkt wird. Die weiße Mittelschicht beäugt dies mit Ablehnung, während die Arbeiterschicht den schwarzen Kollegen mit offenen Armen gegenüber steht. An einer politischen afro-brasilianischen Bewegung gibt es kein Interesse. Zu den wichtigsten politisch-sozialen Organisationen der Afro-Brasilianer in der 50er Jahren gehörten die Frente Negra Trabalhista (1948), União Nacional dos Homens de Cor (1949), Conselho Nacional das Mulheres Negras (1950). 1951 wird ein Gesetz verabschiedet, dass erstmalig in der brasilianischen Geschichte rassische Diskriminierung verbietet Das Gesetz Lei Afonso Arinos verbietet die Diskriminierung von Rasse, Hautfarbe und Religion. Der Auslöser dafür war, die Diskriminierung der dunkelhäutigen us-amerikanischen Tänzerin Katherin Dunham, welcher der Zugang zu ihrem Hotel in São Paulo verweigert worden war (Hasenbalg, 1979, S.224) In der Praxis hatte das Gesetz zunächst leider nur wenig Auswirkungen, es wurde jahrelang keine einzige Verurteilung bekannt. Als die Militärs 1964 die Regierung des Präsidenten João Goulart stürzen, herrscht seitens der Mittel- und Oberschicht Erleichterung. Das ab 1968 einsetzende Wirtschaftswachstum, das als „Brasilianisches Wunder“ (milagre brasileira) in die Geschichte eingegangen ist, bringt insbesondere den Angestellten und Beamten wirtschaftliche Verbesserungen. Obwohl Brasilien 1965 die von der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossene Internationale Konvention zur Eliminierung aller Formen von Rassendiskriminierung 129 unterzeichnet, wird das Thema Rassismus zum absoluten Tabu72. 1969 verbietet Regierung General Médicis die Verbreitung von Nachrichten über Indianer, Todes-Schwadrone, Guerilla, schwarze Bewegung und rassische Diskriminierung. Jegliche politische Opposition wird unterdrückt und führende Persönlichkeiten der Schwarzenbewegung und die Intellektuellen, die sich mit Rassismus beschäftigen, sind gezwungen das Land zu verlassen. Das brasilianische Wirtschaftswunder (1968-1974) begünstigt die Mehrzahl der AfroBrasilianern nur in relativ geringem Ausmaß. Außerdem schienen die Ungleichheiten zwischen hellen und dunklen Brasilianern immer größer zu werden, je mehr sich die AfroBrasilianer beruflich und bildungsmäßig verbesserten. Ab Mitte der 70er Jahre wurden immer mehr Schwarzen mit höherem Bildungs- und Berufsniveau bewusst, welche Barrieren sich ihnen in den Weg stellten, um ihren gerechten Anteil am Wirtschaftswachstum zu erhalten. 7.5 Movimento Negro Unificado –Vereinte Schwarzen Bewegung Erst als der Druck der Militärregierung etwas nachließ, die politische Öffnung des Landes eingeleitet wurde, kommt es zur Gründung einer neuen politischen schwarzen Kraft. Die bereits seit 1975 in Gang gekommene Re-Artikulierung der Schwarzenbewegung mündet in der Gründung des Movimento Negro Unificado Contra a Discriminaçao Racial, („Vereinigte Schwarze Bewegung gegen rassische Diskriminierung“), später nur noch Movimento Negro Unificado, MNU, genannt. Am 7.7. 1978 trafen sich Vertreter verschiedener schwarzer Gruppierungen auf den Stufen des Teatro Municipal in Sao Paulo und riefe das MNU ins Leben. In der Mehrzahl waren es junge Afro-Brasilianer, die besser ausgebildet, politisch bewusster und unzufrieden mit ihrer Situation als Schwarze in einer rassisch stratifizierten Gesellschaft sind. Die Nachrichten über die internationale Schwarzenbewegung, insbesondere die Befreiungsbestrebungen in den portugiesischen Kolonien Afrikas und die Bürgerrechtsbewegungen in den USA motivierten sie. Schon nach kurzer Zeit hat das MNU regionale Vertretungen in Rio de Janeiro, Minas Gerais und Rio Grande do Sul, in Goiás und Brasília, sowie Pernambuco und Bahia und wird damit nach der Frente Negra die zweite überregionale Schwarzenbewegung des Landes. 72 So wurden zum Beispiel auch die Daten über Rasse des Zensus von 1960 nicht veröffentlicht und im darauffolgenden Zensus 1970 nicht erhoben. 130 Das MNU unterscheidet sich deutlich von den Gruppierungen der 30er Jahre. Es geht nicht mehr darum, um jeden Preis assimiliert zu werden, sondern im Gegenteil wird immer mehr Wert auf Abgrenzungen und die schwarzen Eigenheiten gelegt. Dabei wurden die AfroBrasilianer des MNU beeinflusst von den schwarzen Strömungen aus den USA und der Karibik, aber auch durch afrikanische Einflüsse. Dies zeigte sich beispielsweise in einer neuen Ästhetik: Haare sollen nicht mehr geglättet werden, als chic galt unter MNUAnhängern der Afrolook nach dem Vorbild Angela Davis´ oder die strenge Brille Malcom X. Dem Vorurteil der vermeintlichen Rückständigkeit schwarzer Kultur wurde der Stolz auf eine Kultur des Widerstands gegen Jahrhunderte der Unterdrückung entgegengesetzt. Es begann die Aufarbeitung und Neubewertung der Geschichte. Die Aufstände und Revolten der Sklaven und ihrer Nachfahren wurden mit typisch okzidentalen Idealen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Demokratie, Fortschritt assoziiert. Das Zusammengehörigkeitsgefühl sollte geweckt werden. Die Suche nach der reinen schwarzen Kultur73 begann, synkretistische Formen wie beispielsweise Umbanda oder die Congadas wurden abgelehnt. Im Zentrum des Interesses der neuen Schwarzenbewegung standen die Quilombos von Palmares als Beispiel effizienten Widerstands. Das MNU fordert den Todestag Zumbis, 20. November, als Gedenktag einzuführen und protestiert gegen den 13. Mai als offiziellen Tag der Abolition. „Wir ... sind stolz darauf von Zumbi ... abzustammen.... und fordern den Todestag des großen nationalen Anführers Zumbi, der für den ersten und einzigen Versuch, in Brasilien eine demokratische bzw. freie Gesellschaft aufzubauen, verantwortlich war, in der für alle – Schwarze, Indios, Weiße – ein großer politischer und sozialer Fortschritt erreicht wurde ...“ hieß es im Dokument der zweiten Nationalversammlung des MNU 1979 in Salvador. Die Ablehnung des 13. Mai war eine vor allem von Intellektuellen eingenommene Haltung, denn für viele Teile der Volkskultur blieb der 13. Mai weiterhin ein Tag besonderer Bedeutung als Festtag der pretos velhos oder für Congada-Treffen. Ausgangspunkt für die Gründung des MNU waren die kulturellen Gruppen der 50er und 70er Jahre gewesen. Anders als bei ihnen stand die politische Orientierung jedoch ausdrücklich im Vordergrund. Ziel war es, der Masse der Afro-Brasilianer rassische Diskriminierung und Ungleichheit bewusst zu machen und zu Widerstand zu mobilisieren. Das MNU hoffte auf die 73 Im Candomblé ist diese Suche nach dem Ursprünglichen unter dem Begriff „Pureza nagô“ in die anthropologische Forschung eingegangen. 131 Regierung und politischen Parteien Druck ausüben zu können, damit diese Politiken verfolgten, die zur Verbesserung der Situation der Schwarzen beitragen würden. Die Basis des MNU sah den Rassismus zunächst als unabänderliche Folge des Kapitalismus. Zum Erreichen einer neuen Gesellschaftsordnung mit einer wahrhaften und gerechten Teilnahme müsse also das kapitalistische System durch den Sozialismus abgelöst werden. Diese Haltung wirkte ebenso abschreckend auf viele politisch weniger radikale AfroBrasilianer, wie die Diskussion darum, ob allein die dunkle Hautfarbe mit schwarzer Kultur gleichgesetzt werden könne und zum Beispiel schwarze Brasilianer auch für hellhäutige Kandidaten stimmen könnten. Das Erstarken der Schwarzenbewegung führte dazu, dass alle Oppositionsparteien Interesse an Fragen der rassischen Diskriminierung und Ungleichheit entwickelten und in ihre Programme aufnahmen. Politisch mussten die dunkelhäutigen Kandidaten in allen Parteien Niederlagen hinnehmen. Die afro-brasilianischen Kandidaten erhielten nur wenig Stimmen, weder von schwarzen, noch von weißen Brasilianer, wenn überhaupt dann eher von Schwarzen mit höherem Bildungsniveau (Valente, 1982). Diese führte zu Reflexionen darüber, ob eine unabhängige Schwarzenbewegung sinnvoll oder die Rassenproblematik in den Parteien bereits gut aufgehoben sei. Die politische Schwarzenbewegung wurde im wesentlichen nur von der afro-brasilianischen Mittelschicht unterstützt. Die breite Masse zeigte an der Bewegung kein Interesse. Für die armen Schwarzen schien die rassische Diskriminierung angesichts der Armut, in der die meisten lebten, nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Dabei ist ihnen die Diskriminierung wohl bewusst. Die brasilianische Rassenideologie liefert zudem ausreichend Motive, ein Problem zu ignorieren, das sich nur selten offen stellt. Afro-brasilianische Kandidaten, welche die Rassenproblematik in den Vordergrund stellen, hatten bislang nur wenig Chancen gewählt zu werden. Als geschickter hat es sich erwiesen, die Rassenfrage in eine umfassende soziale Basis zu integrieren. Nach den Erfahrungen der ersten Jahre beginnt die Schwarzenbewegung vermehrt Allianzen zu schließen, beispielsweise mit Teilen der Kirche und Sozialwissenschaftlern, die sich wieder des Themas Rassismus annehmen. Vier Faktoren waren es nach Andrews, die das Erstarken der Schwarzenbewegung ab Ende der 70er Jahre begünstigt haben: Erstens, der steigende Frust der schwarzen Mittelklasse 132 angesichts der rassischen Barrieren, die ihren Fortschritt verhinderten; zweitens, die zunehmende Einsicht, dass eine rein kulturelle Annäherung das Rassenproblem lösen könne; drittens, die konkreten Beispiele der Schwarzenbewegungen im Ausland; viertens, die allgemeine Mobilisierung und Organisation der brasilianischen Gesellschaft als Folge der politischen Öffnung (Andrews, 1998, S.301). Gemeinsam ist den Aktivisten der Schwarzenbewegung eine gewisse schwarze Symbolik und der Zugang zur Rassismus-Problematik. Zumbi und Palmares sind zu ethnischen Symbolen der Afro-Brasilianer geworden. Das typische Profil der meisten Aktiven der Schwarzenbewegung ist der Intellektuelle, der beim sozialen Aufstieg behindert wurde und spürt, dass selbst perfekte Anpassung an die Normen der weißen Gesellschaft nicht ausreichen (Souza, 1991). Daher wurde in Brasilien die Redewendung „Torna-se negro“ geprägt, „Schwarzer werden“. Der Afro-Brasilianer wird in der Regel nicht „schwarz“ geboren, sondern entwickelt erst dann eine schwarze Identität, wenn er sich bestimmter Unterdrückungsmechanismen bewusst wird. Die Überwindung der Rassenvorurteile ist besonders schwierig in einem Kontext, der deren Existenz negiert, aber sie beständig reproduziert. Anders als die früheren Gruppierungen der Schwarzenbewegung hinterfragen die schwarzen Aktivisten heute die gegebenen sozialen Verhältnisse. Gesellschaftliche Strukturen, welche die afro-brasilianische Bevölkerung benachteiligen, werden offengelegt und reklamiert. Dabei haben die unterschiedlichen politischen Ansätze seit Mitte der 80er Jahre zur Schwächung des MNU als wichtigster politischer Organisation geführt. Noch bevor die politische Vertretung der Schwarzenbewegung, das MNU, in São Paulo gegründet wurde, finden sich im fast 2000 Kilometer entfernten Bahia schwarze Jugendliche zusammen, um in einer Karnevalsgruppe mit dem afrikanischen Namen Ilê Aiyê am Karneval teilzunehmen und so gegen die rassische Diskriminierung zu protestieren. Der Karneval liefert den Freiraum für diesen Protest während der Militärdiktatur (s. dazu auch Kapitel 6, das sich mit dem Thema Karneval und seiner besonderen Bedeutung für die Afro-Brasilianer beschäftigt)74. 74 Mehr noch als der Karneval bietet die afrobrasilianische Religion Candomblé Raum für kulturelles Widerstandspotential . 1976 ist Bahia ist der erste Bundesstaat, der die polizeilich Registrierung der afro-brasilianischen Kultstätten streicht. 133 8. „Racismo Cordial75“ - der höfliche Rassismus Brasiliens „Zum größten Erstaunen wird man nun gewahr, dass alle diese schon durch die Farbe sichtbar von einander abgezeichneten Rassen in vollster Eintracht miteinander leben ... Was in anderen Ländern nur auf Papier und Pergament theoretisch festgelegt ist, die absolute staatsbürgerliche Gleichheit im öffentlichen wie im privaten Leben, wirkt sich hier sichtbar im realen Raum aus, in der Schule, in den Ämtern, in den Kirchen, in den Berufen und beim Militär, an den Universitäten, an den Lehrkanzeln: es ist rührend, schon die Kinder, die alle Schattierungen der menschlichen Hautfarbe abwandeln - Schokolade, Milch und Kaffee Arm in Arm von der Schule kommen zu sehen, und dieses körperliche wie seelische Verbunden sein reicht empor bis in die höchsten Stufen, in die Akademien und Staatsämter. Es gibt keine Farbgrenzen, keine hochmütigen Schichtungen, und nichts ist für die Selbstverständlichkeit dieses Nebeneinanders charakteristischer als das Fehlen jedes herabsetzenden Wortes in der Sprache“, schreibt Stefan Zweig (Zweig, 1984, S. 13f.). Wie mit keinem anderen Land verbindet sich mit Brasilien die Vorstellung von Menschen mit den verschiedensten Hautfarben, die harmonisch im fünftgrößten Land der Erde zusammenleben. So ähnlich, wie es Zweig in seinem Buch „Brasilien - Land der Zukunft“ vor rund 60 Jahren schwärmerisch beschrieben hat76. Doch die Realität sieht anders aus. Die Vorstellung des Rassenparadieses ist dem zunehmenden Bewußtsein gewichen, daß es in Brasilien zwar zu einer starken Durchmischung der Bevölkerung seit der Kolonialzeit gekommen ist, daß aber dennoch die rassische Diskriminierung der Afro-Brasilianer Bestandteil der Geschichte und Gegenwart des Landes ist. Erst seit dem Entstehen einer neuen Schwarzenbewegung in den 70er Jahren findet eine öffentliche Debatte über den brasilianischen Rassismus statt. In der Einleitung wurde es bereits gesagt: Ca. 45% der rund 170 Millionen Brasilianer sind dunkler Hautfarbe. Knapp 6% davon (ca. 10,5 Mio) werden unter der Bezeichnung „schwarz“ („preta“ 77) erfaßt, fast 39% in der Kategorie „dunkel“ („parda“), (ca. 66 Mio). Etwas mehr als die Hälfte (rund 90,7 Mio) der Brasilianer hat laut Statistik eine weiße Haut. Der Anteil 75 Unter dem Titel Racismo Cordial hat die renommierte Tageszeitung Folha de São Paulo 1995 eine Untersuchung über Rassenvorurteile veröffentlicht, auf die ich mich in diesem Kapitel noch mehrfach beziehe. 76 Zu den Interpretationen bezüglich der Entstehung des Brasilian-Buches von Zweig siehe unter 2.2 in diesem Kapitel, (Drekonja-Kornat, 1998) 77 Ich benutze weiterhin die Ausdrücke schwarz oder Afro-Brasilianer, wie anfänglich definiert. Sie umfassen die statistischen Kategorien preto und pardo. Die Kategorien aus dem Zensus und der Erhebung benutze ich teilweise im portugiesischen Original - zum einen, weil wir im Deutschen nicht über so viele Bezeichnungen verfügen und zum anderen, um sie von den bereits definierten Bezeichnungen zu unterscheiden. 134 der Menschen asiatischer Herkunft liegt bei rund 0,5 Prozent (0,9 Mio), die indianische Bevölkerung bei ca 0,4% (0,7 Mio Menschen) (www.ibge.gov.br , 18.03.2003). Die AfroBrasilianer sind also keine Minderheit. Im Vergleich ist ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung des Landes viermal so hoch, wie jener der African Americans in den USA (Skidmore, 1992). In 18 der 27 Teilstaaten stellen die Afro-Brasilianer die Bevölkerungsmehrheit. Der Bundesstaat Bahia hat vor Maranhão und Rio de Janeiro, den größten Anteil afrobrasilianischer Bevölkerung, knapp 80% (www.ibge.gov.br, 24.04.2003). Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Situation der Afro-Brasilianer in der brasilianischen Gesellschaft. Dazu werden die Daten zur wirtschaftlichen und sozialen Situation der AfroBrasilianer vorgestellt. Vorab aber sollen die besonderen Schwierigkeiten der statistischen Datenerhebung und Interpretation in Brasilien diskutiert werden. Anschließend wird die Besonderheit des sich oftmals versteckt präsentierenden brasilianischen Rassismus darzustellen versucht. 8.1 „Lass Deine Farbe nicht unbemerkt durchgehen – Schwierigkeiten bei der Statistik Nach der Statistik ist Brasilien auf den ersten Blick ein Land mit zwei großen Bevölkerungsgruppen: den weißen und den dunkelhäutigen Brasilianern. Aber was in Zahlen gepackt so einfach aussieht, versteckt eine komplexe Realität. Denn schon bei der Quantifizierung der Zusammensetzung der Bevölkerung tritt eines der grundlegenden Probleme der Rassenbeziehungen zutage: Wer ist in Brasilien weiß, wer ist dunkelhäutig? Die Antwort auf diese Frage findet nicht nur auf einer persönlichen Ebene statt und berührt die eigene Identität, sondern hat auch politische Implikationen. Die Liste ist lang: Von „Richtung kastanienfarben“ („acastanhada“) insgesamt vier Kombinationen, über fünf Varianten „gelb“(„amarela“), zwei „Blau“töne („azul“), und 14 Schattierungen „weiß“ („branca“ ) - von „sehr weiß“ („bem-branca“) über„blass-weiß“ („branca-pálida“), und „schmutzig-weiß“(„branca-suja“) - kommen wir zu „Kaffee“ („café“) und Kaffee mit Milch („café com leite“), bzw. „Zimt“ („canela“) und „Schokolade“ („chocolate“). „Dunkel“ („escura“), „galizisch“ („galega“), „orange“ („laranja“), „lila“ („lilás“), „blond“ („loira“), über die Zwischentöne „halb-weiß“ („meio-branca“), „halb135 gelb“ („meio-amarela“), „halb-braun“ “meio-morena“), oder „halb-schwarz“ („meio-preta“ kommen wir zur meist gewählten Bezeichnung „morena“, für die es im Deutschen keine treffende Übersetzung gibt. Wir behelfen uns mit der Bezeichnung „braun“, womit ein großes Spektrum von Hautnuancen bezeichnet werden soll, die dunkler als die mitteleuropäische aber heller als die dunkle Haut der Afrikaner ist. Die befragten Brasilianer differenzierten, indem sie der Bezeichnung „morena“ noch ein weiteres Attribut zufügten: „gebräunt“ („morenabronzeada“), „zimten“ (morena-canelada), „dunkel“ („morena-escura“) etc. Weiter im Alphabet geht es mit mulattin-farben („mulata“), Neger-farben („negra“) und „schwarz“(„preta“). Wie stellen wir uns jemanden vor, dessen Hautfarbe „ein bisschen hell“, („pouco-clara“), oder „ein bisschen braun“ („pouco-morena“), bzw. „Richtung weiß“ („puxa-para-branca“) oder „fast neger-farben“ („quase-negra“), ist. Es folgen vier Varianten der Kategorie „gebräunt“ („queimada-de-praia“) oder („-de-sol“), „vom Strand“ oder „der Sonne“, bis zu drei „Rosa“-Tönen . „Rothaarig“,(„ruiva“), oder „russisch“ („russo“) „getoastet“ („tostada“) und „weizen-farben“ („trigo“), bis zu „trüb“ („turvo“), „grün“ ( „verde“), und „rot“ („vermelha“. 143 Bezeichnungen für die eigene Hautfarbe fanden die von der Nationalen Haushaltserhebung (PNAD) 78 1998 befragten Brasilianer, als es darum ging ihre Hautfarbe zu beschreiben - eine verwirrende Vielfalt von Ausdrücken, die zumindest eines deutlich zeigen: die Abgrenzung ist diffus, die Identitätsfrage komplex. Wer ist in Brasilien „weiß“ oder „schwarz“, „gelb“ oder „rot“, „Mestize79“ oder „Mulatte80“? Wie kommt es zu dieser Begriffsvielfalt? Welche Werte spiegeln sich darin? Beim staatlichen Statistik-Institut IBGE werden fünf Kategorien verwendet: schwarz (preto), dunkel (pardo), gelb (amarelo), weiß (branco), indianisch (indígena). Nicht eines der wichtigsten fünf staatlichen Forschungsinstitute benutzt den Begriff „negro“. Einige NichtRegierungsorganisationen nutzen die Bezeichnung „negro“ für die Gruppe aus „pretos“ und „pardos“, wie zum Beispiel das IPEA (Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada) und das IUPERJ (Instituto de Pesquisas do Rio de Janeiro), die selbst keine Erhebungen vornehmen, aber Daten des IBGE und anderer Institute interpretieren (Folha de São Paulo, 22.10.2001, 78 Die Pesquisa Nacional por Amostra de Domicílios (PNAD) sind repräsentative Haushaltserhebungen des staatlichen Statistikinstituts Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE), die grundlegende Daten zur sozio-ökonomischen Situation der Brasilianer mit Berücksichtigung der Hautfarbe lieferte. Bis heute beziehen sich brasilianische Wissenschaftler auf die damals erhobenen Daten, z.B. do Valle Silva, 1996. 79 Im Deutschen bezeichnet Mestize die Nachfahren von Weißen und Indianern. Das brasilianische mestiço kann wörtlich als Mischling übersetzt werden. Im Speziellen bezieht es sich auf die Mischlinge weißer und schwarzer Eltern. 80 Mulatte wird im deutschen Sprachgebrauch benutzt zur Bezeichnung der Nachkommen von afrikanischen und europäischen Vorfahren. Im Deutschen ist der Begriff weniger negativ besetzt als der Ausdruck Neger. In Brasilien dagegen weckt die Bezeichnung stark negative Assoziationen: Der Begriff ist eine Ableitung des Worts mula, Maultier. Dennoch ist zum Beispiel in Rio de Janeiro mulata ein feststehender Ausdruck für Frauen, die Samba-Shows, meistens für Touristen, machen, „trabalhar como mulata“, „als Mulattin arbeiten“. 136 Especial1). Im folgenden Text werden also entweder die Originalbezeichnungen oder aber die zuvor definierten Ausdrücke Afro-Brasilianer, Schwarze, schwarz, dunkelhäutig verwendet. 8.1.1 Geschichte des Zensus Die Schwierigkeit den Anteil der afro-brasilianischen Bevölkerung zu quantifizieren hat in Brasilien Geschichte. Mal wurde die Eigenschaft Hautfarbe in den Volkszählungen erfasst, mal nicht. Es wechselten die zur Verfügung stehenden Bezeichnungen und die Erhebungsmethode. Zum ersten Mal wurde im Zensus von 1872 die Bevölkerung eingeteilt in die Kategorien weiß (branco), schwarz (preto)“, dunkel (pardo) und „caboclo“. Caboclo bezeichnete damals die indianische Bevölkerung und wurde später gebraucht für die Nachfahren von Weißen und Indios. Außerdem wurde unterschieden zwischen Sklaven und Freien. Zwei Jahre nach Abschaffung der Sklaverei, 1890, entschied man sich zur Identifizierung der Hautfarbe der Brasilianer für die Kategorien weiß (branco), schwarz (preto), indianisch (caboclo) und mestizisch (mestiço) für die Kinder weißer und schwarzer Elternteile. In den darauffolgenden Volkszählungen 1900 und 1920 wurde die Hautfarbe nicht erhoben. Seit 1940 wird alle zehn Jahre vom staatlichen Statistikinstitut (IBGE) ein Zensus gemacht. Für die Hautfarbe stehen vier Kategorien zur Verfügung: weiß, schwarz (preta), gelb (amarela) und dunkel (parda). Im Zensus von 1970 wurde die Hautfarbe nicht erhoben. Ein Jahr zuvor hatte die Regierung General Médicis die Verbreitung von Nachrichten über rassische Diskriminierung und schwarze Bewegung verboten. Im letzten Zensus von 1991 wurde als weitere Unterscheidung der Bevölkerung indianisch (indígena) aufgenommen. Der Zensus in Brasilien war und ist eines der Auseinandersetzungsfelder zwischen denen, die Brasilien für ein weißes Land halten und denen, die es für ein Land mit einer dunkelhäutigen Mehrheit sehen. Der Zensus hilft nicht nur zu zählen, sondern bringt Rassen- und FarbKategorien hervor. „Von 1920 bis 1950 feierte der brasilianische Zensus die vermeintliche Aufhellung der Bevölkerung. Diese Haltung offenbart sich im Sprachgebrauch der IBGETexte“, sagt Melissa Nobles, die sich in Ihrer Doktorarbeit „Shades of Citzienship: Race and Censuses in Modern Politics“ mit dem brasilianischen Zensus beschäftigt (Nobles, 1995). Das IBGE hilft das offizielle Brasilien-Bild durch Terminologie und Methodik zu belegen. „Die Idee der Rassendemokratie wurde unterstützt durch die Unterstellung rassischer 137 Vermischung. Durch die Nutzung des Terminus Farbe statt Rasse durch das IBGE wurde der Gedanke der Vermischung aufrecht erhalten. Die Begründung war, dass die Vermischung die Frage nach den Rassen unwichtig machte. Rasse schien kein größeres Problem zu sein.“ (Folha de São Paulo, 6.6.1999, mais!, S. 5). Für den Zensus im Jahr 2000 waren entscheidende Veränderungen zur Verbesserung der Erfassung der afro-brasilianischen Bevölkerung vorgesehen: 1. alle Fragebögen, und nicht wie beispielsweise 1991 nur ein Viertel, sollten die Frage nach der Rasse/Hautfarbe beinhalten; 2. die Bezeichnung „preta“, sollte durch „negra“ ersetzt werden; 3. die Kategorie „parda“ sollte unterteilt werden in „afro-descendentes“ und andere (Folha de São Paulo: 2.11.1997). Damit wäre ein wichtiger Kritikpunkt der Schwarzenbewegung berücksichtigt worden und die bisher nur im privaten Gebrauch übliche Bezeichnung negra in die offizielle Statistik aufgenommen : „Schwarz ist eine Farbe, aber kein Mensch“ hieß einer der Slogans des Movimento Negro, die mit ihrem stolzen Gebrauch zu einer Umbewertung des Wortes beigetragen haben (s.dazu auch 4.2.3). Die Einführung der Untergruppe „afro-descendentes“, „Afro-Abstammende“ sollte der Bedeutung der ethnischen Abstammung der Brasilianer Rechnung tragen. Anders als in den USA, wo die ethnische Abstammung entscheidend ist zur Definition und Identität als african american, klassifizieren die meisten Brasilianer nach dem Erscheinungsbild und den sozialen Verhältnissen. In den bisher veröffentlichten offiziellen Ergebnissen sind die neuen Kategorien jedoch nicht zu finden. 8.1.2 Eigen- und Fremdeinschätzung Abgesehen von den wenig zufriedenstellenden Kategorien bleibt ein Problem bei der Erhebung des Datenmaterials die Eigen- wie die Fremdzuschreibung der Hautfarbe. Bei den Haushaltsbefragungen des IBGE wird jeder Interviewer angehalten wird, jedes einzelne Familienmitglied selbst zu befragen. Jeder Befragte muss sich dann, auch wenn er zunächst eine andere Bezeichnung benutzt, einer dieser Kategorien zu ordnen. (Folha de São Paulo, 22.10.2001, Especial). Nur beim gewerkschaftsnahen DIEESE (Departamento Intersindical de Estatística e Estudos Sócio-Econômicos) werden die Personen durch den Forscher klassifiziert, der sich an körperlichen Merkmalen orientiert wie den Haaren, der Nase und der Hautfarbe. „Trotz Trainings neigen die Forscher dazu, die Menschen höher sozialer Schichten weißer einzuschätzen“ sagt Lúcia Santos Garcia, Technikerin des DIEESE und verantwortlich 138 für Forschung über Arbeit und Arbeitslosigkeit in Rio Grande do Sul (Folha de São Paulo, 22.10.2001, Especial). In der von der Datafolha 199581 durchgeführten Untersuchung zu Rassenvorurteilen in Brasilien beispielsweise wurde die Frage nach der Hautfarbe auf drei Ebenen gestellt: 1.) Eindruck des Interviewers, 2.) Selbsteinschätzung und 3.) Einschätzung bei Konfrontation mit den vom staatlichen Statistikamt IBGE verwendeten Kategorien. Die beiden wichtigsten Ergebnisse: Laut IBGE ist Brasilien ein Land mit einer weißen Mehrheit, nach Eigeneinschätzung der befragten Brasilianer haben jedoch 59% eine dunkle Haut. Und: Fast ein Viertel (24%) der von den Interviewern als weiß klassifizierten Menschen, gab bei Befragen die eigene Hautfarbe mit morena an (Datafolha, 1995, S.36). Letzteres ist auch Zeichen für die in Brasilien zu beobachtende Neigung, jemanden als heller zu beschreiben, als er tatsächlich ist - oftmals aus Höflichkeit. „An vielen Orten ist die Frage nach der Hautfarbe unhöflich. Die Frage nach der Rasse oder Hautfarbe ist eine ausgehandelte Antwort zwischen dem, der fragt und dem, der antwortet“ schildert Edith Piaza ihre Erfahrungen als Forscherin der Fundação Carlos Chagas, die u.a. über die Problematik der Hautfarbe beim Zensus arbeitet (Folha de São Paulo, 2.11.1997). 8.1.3 Braun („Morena“) ist die Farbe Brasiliens Das IBGE benutzt die Bezeichnung „pardo“, unter der die 143 Bezeichnungen in einer Kategorie vereinheitlicht werden. Ein unglücklicher Begriff: Laut brasilianischem Lexikon „Aurélio“ ist „pardo“ „1. eine Farbe zwischen weiß und schwarz, fast dunkel; 2. ein schmutziges Weiß, zweifelhaft; 3. eine wenig glänzende Farbe zwischen Gelb und Kastanie“ (Aurélio, 1986, S.1269). Die meisten Afro-Brasilianer lehnen den Begriff ab. Wohl kaum jemand würde sich selbst als pardo klassifizieren. „Pardo ist keine Farbe von Menschen, es ist eine Farbe von Katzen oder Einpackpapier“, wird die Historikerin Wania Sant’Anna in der Folha de São Paulo zitiert (Folha de São Paulo, 2.11.1997). Von NichtRegierungsorganisationen und der Schwarzenbewegung wird der Terminus pardo abgelehnt. Bei der Selbsteinschätzung würden die Afro-Brasilianer nach anderen, sympathischeren Begriffen suchen, um die eigene Hautfarbe zu beschreiben. 81 Die von der Tageszeitung Folha de São Paulo in Auftrag gegebene Untersuchung zur Situation der Rassenvorurteile erfasste über 5000 Brasilianer über 16 Jahre, altersmäßig gestreut, in 121 Munizipien verteilt auf die verschiedenen Regionen. Die Befragten wurden nach den vorhandenen statistischen Daten nach Geschlecht, Alter und sozio-ökonomischen Niveau repräsentativ ausgewählt (s. Datafolha, 1995, S.90). 139 Die offizielle Statistik behilft sich mit dem Begriff pardo, die Menschen suchen ihre Hautfarbe anders zu beschreiben. Nach einer früheren Haushaltsanalyse des IBGE gaben sich 46% der Brasilianer Bezeichnungen, die unter die Kategorie parda gehören. Dabei fiel der Löwenanteil von zusammen 35% auf die Einschätzung „morena“ bzw. „morena clara“, (IBGE 1976). In der repräsentativen Umfrage des Statistikinstituts der Folha de São Paulo Datafolha von 1995 gaben sogar 43% der Befragten als ihre Hautfarbe morena mit den Abwandlungen hell oder dunkel an (Datafolha, 1995, S.36). In die offizielle Statistik ist der Begriff bisher dennoch nicht eingegangen und soll es auch in Zukunft nicht. Das Wort moreno stammt laut „Aurélio“ aus dem Spanischen oder Lateinischen und bedeutet so viel wie „die dunkle Farbe der Mauren“ (Aurélio, 1986, S.1159). In Brasilien ist moreno ein eher positiv besetzter Begriff, der zudem noch weit genug ist, alle möglichen Hautschattierungen zwischen europäischem Weiß und afrikanischem Schwarz zu umfassen. Dies zeigt sich auch im täglichen Sprachgebrauch: Jemanden mit „moreno“ oder „morena“ zu rufen, ist immer höflich und kann sogar schmeichelhaft sein. Jemanden mit „preto“ oder „negra“ zu rufen, käme fast immer einer Beleidigung gleich. So vermeiden viele Brasilianer diese beiden Bezeichnungen im Gespräch und sprechen, wenn jemand eine sehr dunkle Haut hat, lieber von moreno. Weit verbreitet ist es, insbesondere bei Brasilianern mit rassischen Vorurteilen, die „unaussprechliche“ Tatsache der dunklen Haut unbenannt zu lassen und sich schnell mit den Fingern über die Haut am Unterarm zu streichen. Diese typische Geste zusammen mit dem fast konspirativen Gebaren beim Gespräch, in dem es dann meist um Unterschiede zwischen den hell- und dunkelhäutigen Brasilianern geht, sind deutliche Zeichen dafür, wie tief verinnerlicht auch die Scham über die Existenz von Rassenvorurteilen ist, doch dazu später noch etwas. Die Dominanz der Einschätzung morena kann auch als Zeichen tieferliegender historischer Prozesse gewertet werden. Die Vermischung der Rassen und die damit assoziierte Tendenz der Aufhellung der brasilianischen Bevölkerung, die sogen. Ideologia de branqueamento, sowie der Mythos der Rassendemokratie prägen die Rassenbeziehungen seit dem letzten Jahrhundert (Skidmore, 1976; Hasenbalg, 1995). „Der Mischling bestimmt das körperliche Aussehen der brasilianischen Nation und begründet die Demonstration der demokratischen Essenz des nationalen Charakters“ resümiert do Valle Silva (Silva, 1996, S.81). Mit der 140 gänzlichen Abschaffung der Farb-Unterschiede und der Absorbierung spezifischer Identitäten zugunsten einer umfassenden „metaraça: os morenos“ erreiche die Rassendemokratie ihren Höhepunkt.82 Das Dilemma bei einer Volkserhebung zur Quantifizierung des Anteils der Afro-Brasilianer ist groß: Pardo ist eine hauptsächlich in der Statistik und in den Dokumenten auftauchende Bezeichnung, moreno wird in der Eigeneinschätzung benutzt, geht aber nicht in die offiziellen Daten ein, preto ist eine für die Statistik anerkannte Klassifizierung, aber im Sprachgebrauch zwischen Unbekannten eher eine Beleidigung. So erklärt sich, dass die Unterschiede zwischen Eigen- und Fremdklassifizierung auffällig sind und bei der Erhebung von Datenmaterial zur Situation der Afro-Brasilianer immer wieder zum Tragen kommen. Eines der Hauptanliegen der Schwarzenbewegung ist die Mobilisierung zum Annehmen und Artikulieren der eigenen schwarzen Identität. „Não deixe sua Cor passar em Branco: Responda com Bom C/Senso“ „Lass Deine Farbe nicht unbemerkt durchgehen: Antworte mit Verstand“ lautete der Slogan anlässlich des Zensus von 1991. Anders als in den USA, wo die Trennlinien zwischen schwarz und weiß eindeutig sind, fehlt in Brasilien bisher also ein eindeutiges „schwarzes Bewusstsein“ – die Identität bleibt vage, unbestimmt, situationsabhängig, wie folgendes Zitat beschreibt: „So, a person that in an English-speaking country in the America’s is simply ‘black’, can be ´negro´ during carnival and when playing or dancing samba, ´escuro´[dunkel] for his workmates, ´moreno´ or ´negão´ (literally ´big black man´) with his drinking friends, ´neguinho´ (literally ´little black man´) for his girlfriend, ´preto´ for the oficial statistic and ´pardo´ in his birth certificate“(Sansone, 1994, S.11). Das Beispiel Sansones zeigt die jeweiligen Identitäten in den unterschiedlichen öffentlichen und privaten Räumen und Zusammenhängen: - die schwarze Identität (negro) im Karneval oder beim Samba, den traditionell den AfroBrasilianern zugeordneten Bereichen öffentlichen Lebens - die höfliche, eher neutrale Wertschätzung der Arbeitskollegen („escuro“), um möglicherweise beleidigende oder herabsetzende Bezeichnungen zu umgehen 82 Immanuel Wallerstein liefert in dem mit Balibar verfassten Buch „Rasse, Klasse, Nation“ ein Beispiel aus Südafrika, in dem es ebenfalls um die Problematik der Einteilung der südafrikanischen Bevölkerung geht. Die Diskussion betrifft insbesondere die Kategorie „Mischling“ (Balibar & Wallerstein, 1990). ein Vergleich mit der Situation in Brasilien drängt sich auf. 141 - die vorgegebenen Kategorien der offiziellen Statistik (preto) und der amtlichen Erfassung (pardo) - die joviale Bezeichnung unter den Kumpels (negão), die ebenso Zeichen der Nähe der Gesprächspartner als auch ihrer Wertschätzung ist - der familiär-zärtliche Diminutiv der Freundin (neguinho) - die Bezeichnung moreno, wie im Zitat beschrieben, ist m.E. nicht glücklich gewählt, eher wäre es die Beschreibung von Bekannten als von Trinkkumpanen zur Bezeichnung der Hautfarbe. Eine der Thesen, die in meiner Arbeit verfolgt werden und die hier ebenfalls anklingt, ist, dass die identidade negra im öffentlichen Raum besonders dort zutage tritt, wo sie mit der vorherrschenden Zuordnung konform geht. Im Fußball, im Karneval, in der Musikszene, im Candomblé treffen wir auf „schwarze“ Brasilianer, während in den Anwaltskanzleien, Arztpraxen oder Banken die hellhäutigen Brasilianer dominieren. Solange die Eigen- und Fremddefinition als negro gemäß der jeweiligen gesellschaftlichen Situation variieren und nicht übereinstimmen, solange sind rassisch bedingte Ungleichheiten vorhanden. 8.2 Die soziale und wirtschaftliche Situation der Afro-Brasilianer Um die folgenden Daten zur sozio-ökonomischen Situation der Afro-Brasilianer in einen größeren Zusammenhang zu stellen, sei ein kurzer Überblick über die wirtschaftlichen und sozialen Daten Brasiliens gegeben. 8.2.1 Brasilien – die zwei Welten Mit über 8,5 Millionen Quadratkilometern ist Brasilien das flächenmäßig fünftgrößte Land der Erde, 24mal größer als die Bundesrepublik. Über drei Viertel der rund 176 Millionen Brasilianer leben in Städten. Brasilien ist reich an Bodenschätzen und teilweise stark industrialisiert. Brasilien zählt je nach Stärke seiner Währung zu den zwölf größten Volkswirtschaften weltweit mit einem Brutto-Inlandsprodukt von rund 44 Mrd US$. Seit 1995 wächst seine Wirtschaft jährlich um rund 2,4% (Dresdner Bank Lateinamerika, Monatsbericht April 2003, Hamburg). Brasilien ist ein Land mit eklatanten sozialen Kontrasten.„Belindia“ ist ein geflügeltes Wort mit dem der Entwicklungsstand des Landes in Brasilien gern beschrieben wird: eine 142 Mischung aus „Belgien“ und „Indien“, einem kleinen industrialisierten Teil mit an mitteleuropäische Werte reichenden sozialen und ökonomischen Indikatoren und ein großes, wirtschaftlich unterentwickeltes Gebiet mit den typischen Problemen eines „Entwicklungslandes“. Diese Spaltung lässt sich auch räumlich beobachten: dem industriell entwickeltem Südosten (62,6% Anteil am Brutto-Inlandsprodukt) mit dem Ballungsgebiet São Paulo (die Stadt allein hat rund 16 Millionen Einwohner) steht der wirtschaftlich unterentwickelte Nordosten mit Salvador da Bahia, der drittgrößten Stadt des Landes (rund 2,3 Millionen), und der Norden (Amazonasgebiet) gegenüber. Brasilien hat eine der höchsten Einkommenskonzentrationen der Welt: Das reichste Fünftel der Bevölkerung verfügt über rund zwei Drittel des Einkommens der Gesellschaft. Die ärmsten 20% der Bevölkerung dagegen teilen sich nur2,5%. Das bedeutet, dass das obere Fünftel 26 mal mehr Einkommen erhält, als das ärmste Fünftel (Almanaque Abril, 2001, S.112) . Auch die Konzentration des Landbesitzes ist im weltweiten Vergleich beeindruckend: Großgrundbesitzer mit Ländereien über 1000 Hektar – das sind 1% der Bauern – gehören 45% der registrierten Fläche (IBGE 1996). Die Umsetzung einer Agrarreform gehört zu einer der größten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen Brasiliens. 54 Millionen Brasilianer, fast ein Drittel der Bevölkerung (32,1%), leben unterhalb der Armutsgrenze von einem durchschnittlichen Familien-pro-Kopf-Einkommen von einem halben Mindestlohn (100 R$). Davon leben 22 Millionen mit einem durchschnittlichen Familien-pro-Kopf-Einkommen von einem Drittel des Mindestlohns (66,66R$) (Folha de São Paulo, 19.10.2002). Die Wirtschaftsreform des „Plano Real“ verschaffte Brasilien zwar erstmals seit Jahrzehnten eine stabile Währung, den Real. Gleichzeitig wurde das Land unter der Regierung Fernando Henrique Cardoso (FHC) für ausländische Investoren und Importe geöffnet. Dabei stieg die in- und Auslandsverschuldung rasant an, weshalb Brasilien heute hochgradig abhängig vom Zufluss weiteren Auslandkapitals ist. Auch der 2003 angetretenen Regierung von Luíz Inácio Lula da Silva, kurz Lula genannt, dem Vertreter der Arbeiter-Partei (PT), bleibt wenig Raum für eine andere Wirtschaftspolitik. Die brasilianische Wirtschaft bleibt in einen kleinen formellen und einen wachsenden informellen Sektor gespalten. Offiziell liegt die Arbeitslosenquote bei 12% (www.ibge.gov.br 25.04.2003) Der Mindestlohn, den mehr als die Hälfte der Bevölkerung verdient, beträgt je nach Wechselkurs zwischen 60 und 80 Euro. 143 Nach dem Index der Menschlichen Entwicklung, der die Länder der Welt in einem Ranking auflistet, liegt Brasilien auf Platz 74. Der Ökonom Marcelo Paixão der Föderalen Universität Rio (UFRJ) hat die Daten des Jahres 1999 nach diesen Kriterien für das weiße und das schwarze Brasilien aufgeschlüsselt. Unterscheide man die Daten nach schwarzen und weißen Brasilianern, so liegen 55 Länder zwischen den beiden Universen. Das weiße Brasilien liegt auf Platz 46, das schwarze auf Platz 101. Das weiße Brasilien liegt damit bei Kroatien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, das schwarze Brasilien liegt bei Vietnam und Algerien. Das weiße Brasilien ist ungefähr zweieinhalb mal so reich wie das schwarze Brasilien. Die reichsten 10% sind zu 85% weiße Brasilianer, die einen Anteil von 41% am nationalen Einkommen haben. Die Ärmsten sind zu 60% schwarze Brasilianer, die nur 7% des nationalen Einkommens verdienen (Folha de São Paulo, 06.01.2002, Gazeta Mercantil, 11.01.2002). Obwohl sich die Lebensbedingungen in Brasilien während der 90er Jahre verbessert haben, verringerten sich die Unterschiede zwischen schwarzen und weißen Brasilianern jedoch nicht. „Fast alles hat sich mit der Währungsstabilität verbessert, nur die Ungleichheit hat sich gehalten.“ Zu diesem Schluss kommt Ricardo Henriques, Autor der IPEA-Studie von 2001. Von Armut (weniger als 120 R$ = 40 Euro pro Kopf) waren Anfang der 90er Jahre 40% der brasilianischen Bevölkerung betroffen, gegen Ende nur noch 34%. Der Anteil der Armen unter den Afro-Brasilianern lag 1999 bei 64%, gegen 36% der weißen Brasilianer. Fast zwei Drittel (65%) der afro-brasilianischen Kinder bis 6 Jahre sind arm, gegenüber 38% der weißen Kinder bis 6 Jahre. Auch in den weiteren Lebensphasen bleibt die Distanz erhalten: Bei den 714-jährigen sind fast doppelt so viele Afro-Brasilianer von Armut betroffen (61%), während es nur ein Drittel der gleichen Gruppe unter weißen Kindern und Jugendlichen ist (33%). Und in der Altersgruppe zwischen 15 und 25 leben 47% der schwarzen Brasilianer in Armut gegenüber 22% der weißen Brasilianer (www.ipea.gov.br 25.04.2002 und A Tarde, 30.01.02) 8.2.2 Arbeitsmarkt und Einkommen Der durchschnittliche weiße Brasilianer wohnt in einem Haushalt mit einem monatlichen ProKopf-Einkommen von 482 Reais (ca. 160 Euro), mehr als doppelt so viel wie sein afrobrasilianischer Nachbar, der sich mit einem durchschnittlichen Einkommen von 205 Reais (ca. 68 Euro) begnügen muss (www.ipea.gov.br 25.04.2003). 144 Wenn wir die Einkommenspyramide betrachten, fällt als erstes eine farbliche Staffelung auf: 81% der Familien mit einem negro Familienoberhaupt und 88,5% mit einem pardo Familienoberhaupt verdienen maximal bis zu einem Mindestlohn, während es bei den Familien mit weißem Familienoberhaupt nur 45,4% sind. Einem Viertel der Familien (25,2%) mit einem weißen Familienoberhaupt stehen über drei Mindestlöhne zur Verfügung, während nur 7,7% und 7,6% der Familien mit einem negro oder pardo Familienoberhaupt über drei Mindestlöhne zur Verfügung haben (PNAD 1999 und DIEESE 2000 in: Folha de São Paulo, 22.10.2001, Especial1). In den letzten zehn Jahren hat es in der Einkommensentwicklung keine Verbesserung gegeben, die Distanz ist gleich geblieben (Jornal do Brasil, 27.08.2001). Nach der IPEA Studie war 1998 das durchschnittliche Einkommen weißer Brasilianer mit 726,89 R$ (ca. 242 €) fast doppelt so hoch wie das der Afro-Brasilianer mit 337,13R$ (ca. 112 €). Die schwarzen Frauen erhielten noch weniger: 289,22 R$ (ca. 96 €). Zwei Faktoren (Qualifikation und Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Arbeitsmärkten) wurden als mögliche Ursachen für diese Unterschiede hinzugezogen, dennoch blieb das Vorurteil ein entscheidender Faktor für die Unterschiede. „Die schwarzen Frauen tragen die ganze Last der Rassen- Diskriminierung. Sie leben mit der Diskriminierung als Frauen und leiden außerdem noch an der sektorial-regionalbeschäftigungsmässigen Diskriminierung“ so der Forscher Sergei Suarez Dillon Soares des IPEA. Die Studie des Instituts für Angewandte Ökonomie (IPEA) kommt zum Ergebnis, dass der afro-brasilianische Mann vor allem unter der geringen Qualifizierung leidet, die für 73,5% der Gehaltsunterschiede verantwortlich ist. Das reine Vorurteil wird durch 17,9% repräsentiert, vergrößert sich aber mit dem Anstieg des Gehaltes. Ohne rassische Vorurteile würden die mit den niedrigsten Einkommen, 5-7% mehr Geld in der Tasche haben. Am oberen Ende der Einkommensskala würde der Unterschied dann schon ein Fünftel betragen. Bei den schwarzen Frauen akkumulieren sich die beiden Faktoren (45% weniger) (Valor, 03.09.2001, D1, D4). In allen Regionen liegt die Arbeitslosenquote der schwarzen Brasilianer über jener der weißen (21,6% gegenüber 15,3%). In Salvador liegt sie für die Schwarzen bei 28,4% gegenüber 18,9%, was um so mehr heraussticht, als hier die Mehrheit der Bevölkerung Afro-Brasilianer ist (Valor, 20.11.2001).Unter den Frauen sind 23,9% arbeitslos, gegenüber 18,1% der Männer. Bei den schwarzen Frauen steigt die Zahl sogar auf 25,1%, gegenüber 18 % der hellen Brasilianerinnen. Bei den schwarzen Männern sind es 19%, gegenüber 13,2% der 145 weißen Männer. Die Arbeitslosenquote unter den schwarzen Frauen ist also fast doppelt so hoch wie die der weißen Männer (Folha de São Paulo 24.01.2002, B10). In Salvador ist sogar jede dritte schwarze Frau arbeitslos (31,2%). Die Beschäftigungsstruktur schwarzer und weißer Brasilianer ähnelt sich. Die meisten Beschäftigten entfallen auf die Sektoren Dienstleistungen und Industrie, mit einer Ausnahme: „serviços domésticos“, Hausangestellte. Über die Hälfte der weißen Brasilianer (54%) ist im öffentlichen oder privaten Sektor angestellt, 22,4% arbeiten auf eigene Rechnung. Ähnlich sieht es aus bei negros (Angestellte: 53,2%, Autonome: 21,0%) und etwas weniger bei pardos (Angestellte: 47,4%, Autonome: 24,6%). Nur 6,1% der weißen Brasilianer arbeiten als Hausangestellte, gegenüber 14,6% der negros und 8,4% der pardos (PNAD, 1999 und DIEESE, 2000 in: Folha de São Paulo, 22.10.2001, Especial1). Nur 6% der Afro-Brasilianer nehmen Führungspositionen mit höheren Löhnen ein. Das Institut Ethos hatte Fragebögen an die 500 größten Unternehmen geschickt. Die Wahrscheinlichkeit eines Weißen einen Chefsessel zu erobern ist 12% größer, als die eines negros mit gleichem Ausbildungsstand (Folha de São Paulo, 24.01.2002, B10). Auch eine Untersuchung des Sistema Estadual de Análise e Dados (SEADE) kommt zu dem Ergebnis, dass nur 4,5% der schwarzen beschäftigten Männer in São Paulo Entscheidungspositionen in Unternehmen inne haben. Und nur 9,6 % aller leitenden Positionen werden von afrobrasilianischen Männern eingenommen. Die Situation der schwarzen Frauen ist noch schwieriger, nur 4,3% nehmen leitende Positionen ein. Die Schwierigkeit beruflichen Aufstiegs hat nicht nur mit Vorurteilen zu tun, sondern auch sozialen Hindernissen. Nur 2,4% der schwarzen männlichen Beschäftigten und 4,7% der schwarzen weiblichen Beschäftigten haben einen Universitätsabschluss (Valor,03.09.2001,D01, D02). In der Generationenperspektive gelingt der soziale Aufstieg eher den weißen, als den AfroBrasilianern. Über die Hälfte (53%) der weißen Brasilianer überwindet die Situation ihrer Eltern gegenüber 44% und 46% der negros und pardos. Zu diesem Schluß kommt die Studie Nelson do Valle e Silvas, Professor des IUPERJ, der Daten von 1970 und 1996 vergleicht. Während des Lebens akkumulieren sich die Verluste der Afro-Brasilianer aufgrund ihrer schlechteren sozialen Herkunft, geringeren Schulbesuchs, häufigeren Schulverlassens und größerer Schwierigkeiten die Bildung in Einkommen umzusetzen. Unter Berufstätigen mit 146 Universitätsabschluß und Unternehmern (37% der Weißen und 17% der negros und pardos) konnten die Kindern die Position der Väter erhalten. Selbst bei gleichen Chancen, würde sich am Ende noch ein Unterschied im Einkommen von rund 13% manifestieren, der den rassischen Vorurteilen zugeschrieben werden müsste (Quelle PNAD, 1999 und DIEESE, 2000 in: Folha de São Paulo, 22.10.2001, Especial1). Exkurs: Integration der Afro-Brasilianer ins Wirtschaftsleben Die Integration der Afro-Brasilianer in das Wirtschaftsleben ist auffällig: Zum Beispiel morgens früh in der Hauptstraße des Mittelklasseviertels Vila Mariana in São Paulo zwischen Ibirapuera-Park und U-Bahn Station Ana Rosa. Die Straße hinauf eilen viele frisch parfümierte, blasse Männer mit Anzügen und Frauen in Kostüm und Schuhen mit hohen Absätzen. Sie sind auf dem Weg ins Geschäfts-Zentrum zwischen Avenida Paulista und Praça da Sé, wo sie als Angestellte in Banken, Unternehmen oder Agenturen tätig sind. Ihnen entgegen kommen, ebenfalls in Eile, Frauen und Männer, für die die U-Bahn-Station Ana Rosa die letzte Etappe der zweistündigen täglichen Anfahrt zu ihrem Arbeitsplatz war. Viele, meist dunkelhäutige, Frauen sind dabei, die schwer an Plastiktüten tragen und deren billige Kleider frisch gebügelt sind. Die meisten arbeiten in einem Haushalt als Putzfrau, Köchin, Wäscherin oder Büglerin. Während die „patroa“, die Chefin, im Büro ist, sorgt die empregada, die Hausangestellte, dafür, dass die Wohnung aufgeräumt und geputzt ist, etwas zu essen auf den Tisch kommt und die schmutzige Wäsche abends gewaschen und gebügelt im Schrank hängt. Zum Beispiel in der Avenida Sete de Setembro in Salvador, quirlige Geschäftsstraße der Oberstadt in Salvador, deren Bürgersteige fast gänzlich von den fliegenden Händlern, „camelôs“ okkupiert wurden. Männer und Frauen bauen auf wenigen Quadratmetern ihre Stände auf, um Unterwäsche und Kinderspielzeug, elektronische Geräte und Modeschmuck zu präsentieren oder bieten verschiedene Dienstleistungen vom Schlüssel nachmachen bis zum Blutdruckmessen an. Frauen in traditionellen weißen Kleidern, Baianas genannt, verkaufen afro-brasilianische Imbisse und Süßigkeiten. Auf dem kleinen Platz, wo die Nebenstraße Rua do Cabeça abzweigt, sitzen die Obsthändler und Blumenverkäufer, weiter unten werden lebende Hühner, Enten und Truthähne verkauft. Die einfachen Geschäfte auf der Avenida Sete, vor allem Haushaltsartikel und Textilien, sind im allgemeinen preislich günstiger als die Konkurrenz in den großen Shopping-Centers. Fast alle, die sich hier zu Fuß bewegen oder versuchen irgendeine Ware oder Dienstleistung an den Mann oder die Frau zu 147 bringen, haben eine dunkle Haut. Am Nachmittag ist das bunte Durcheinander besonders groß, dann beanspruchen die Fußgänger die beiden seitlichen Fahrbahnen für sich, so dass sich der Autoverkehr auf der mittleren Spur zusammenstaut. Nur zwei Beispiele aus einer langen Liste möglicher Beschreibungen. Die meisten AfroBrasilianer sind in Tätigkeiten beschäftigt, die am unteren Ende der Einkommensskala liegen, eher manuell sind und für die wenig Ausbildung nötig ist - in der Industrie ebenso wie im öffentlichen Dienst. Ein großer Teil verdient das Geld im informellen Sektor durch das Anbieten von Dienstleistungen oder als fliegende Händler. Eines der typischsten Arbeitsfelder ist die Hausarbeit in den Apartments und Häusern der brasilianischen Mittel- und Oberschicht, auf die hier kurz ausführlicher eingegangen werden soll, weil es so charakteristisch für die brasilianische Realität ist. „empregada doméstica“- die Hausangestellte Die kurz „empregada“ genannte Hausangestellte ist aus dem Alltag brasilianischer Mittelund Oberschichtsfamilien nicht wegzudenken. Außer den ganz armen Familien gibt es keinen Haushalt, der ohne empregada funktioniert, die mindestens einmal pro Woche Ordnung schafft. Früher war es üblich, dass die empregada an ihrem Arbeitsplatz auch schlief und bei Bedarf rund um die Uhr einsetzbar war. Das ist in der Stadt heute weniger geworden, auf dem Land aber immer noch die Regel. Die Apartments in der Stadt haben im allgemeinen ein Dienstmädchen-Zimmer (quarto de empregada), zum Beispiel auch die für die untere Mittelschicht finanzierten Einheiten des sozialen Wohnungsbaus. Das Dienstmädchenzimmer liegt im allgemeinen hinter der Küche in der Nähe der Waschküche. Fast alle Apartment-Häuser werden bis heute mit zwei Fahrstühlen gebaut: dem elevador social83, und einen für´s Personal, den sogen. elevador de serviço. Kommt man in so ein Hochhaus, wird man vom Hausmeister an den entsprechenden Aufzug verwiesen. Die Benutzung oder das Verweigern dieser Benutzung sind immer wiederkehrende Anlässe, an denen sich der brasilianische Rassismus zeigt. Bei wohlhabenden Brasilianern sind sieben bis acht Hausangestellte nichts Ungewöhnliches: Putzfrau (faxineira), Köchin (cozinheira), Wäscherin (lavadeira), Büglerin (passadeira), Kindermädchen (babá), Gärtner (jardineiro), Fahrer (chofer), Hausmeister (caseiro im Haus, porteiro im Hochhaus) sind die unterschiedlichen Aufgabenbereiche. Die Häuser haben einen abgeteilten Bereich dependência genannt, in dem die Hausarbeiten erledigt werden (in 83 Das Attribut social bei elevador social oder roupa social (auf deutsch: ordentliche Kleidung) bedeutet nicht sozial im Sinne von „gerecht“, sondern im Sinne von „gesellschaftlich anerkannt“. 148 Deutschland wäre das die Waschküche, der Keller) und wo die Angestellten untergebracht sind. Das erinnert noch heute an die Zeit der Sklaverei mit Herrenhaus und Sklavenhütte. Die wenigsten Hausangestellten sind entsprechend der herrschenden Arbeitsgesetzgebung angestellt und haben eine sogen. carteira assinada, ein unterschriebenes Arbeitsbuch. Damit haben sie Anspruch auf die gesetzlich vorgesehenen Leistungen des Arbeitgebers, wie zum Beispiel ein 13. Monatsgehalt und soziale Abgaben in den INSS. Dafür gibt es zwei Erklärungen: Einerseits weigern sich die Arbeitgeber die carteira zu unterschreiben und damit Lohnnebenkosten und mehr Verantwortung zu übernehmen, andererseits lehnen es viele ab, ihr Arbeitsbuch als Hausangestellte unterschreiben zu lassen. „Sujou a carteira“ heißt es in der Umgangssprache, „das Arbeitsbuch schmutzig machen“, womit gemeint ist, dass eine derart unterbewertete Tätigkeit wie Hausangestellte dort gar nicht erscheinen sollte. Viele fürchten, in Zukunft bei einem anderen Job mit einer solchen Eintragung Nachteile zu haben. Aus dem bereits Beschriebenen erklärt sich auch, warum der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Hausangestellten so gering ist. Zwar gibt es eine Gewerkschaft, aber nur ein verschwindend geringer Prozentsatz ist in ihr organisiert - und das auch nur in den Großstädten. Im allgemeinen verdienen die Hausangestellten in etwa einen Mindestlohn (rund 80 Euro), auf dem Land meistens weniger. Den Arbeitgebern ist es gestattet für „Kost und Logis“ einen Anteil vom Lohn abzuziehen. Arbeitet eine empregada auf freier Basis und bietet ihre Dienste in verschiedenen Häusern an (vergleichbar zu Deutschland), dann kann sie wesentlich mehr Geld verdienen, bis zu 15 Euro pro Tag. Sie ist dann wie jeder andere, der Dienstleistungen im informellen Sektor anbietet, komplett auf sich gestellt. 8.2.3 Bildung – ein zentrales Problem der Afro-Brasilianer Mangelnde Schul- und Ausbildung ist eines der grundlegenden Probleme für AfroBrasilianer. Das zeigt sich auf mehreren Ebenen des Bildungssystems, wie Analphabetenquote, Länge des Schulbesuchs, Schulform und –Niveau. Die Analphabetenquote in Brasilien liegt 2001 bei durchschnittlich 12%. Sie ist damit in den 90er Jahren von 17% auf 12% gefallen. Die Differenz zwischen weißen und Afro-Brasilianern jedoch blieb erhalten: 18% der Afro-Brasilianer sind Analphabeten, während dieses Schicksal nur 8% der weißen Brasilianer trifft. 149 Die Dauer des Schulbesuchs ist in den letzten drei Generationen länger geworden, die Unterschiede in der Länge des Schulbesuchs zwischen weißen und Afro-Brasilianer haben sich jedoch fast nicht verändert. Durchschnittlich besuchen weiße Brasilianer 6,9 Jahre die Schule, während Afro-Brasilianer nur durchschnittlich 4,7 Jahre die Schule besuchen. Die Unterschiede zwischen weißen und Afro-Brasilianern in der schulischen Grundausbildung, dem sogen. Ensino Fundamental, von der ersten bis zur achten Klasse haben sich in den 90er Jahren reduziert. Im Bereich der weiterführenden Schulen, dem sogen. Ensino Médio, hat sich die Distanz dagegen vergrößert: Während 51% der weißen Brasilianer weiterführende Schulen besuchen, sind es nur 25% der Afro-Brasilianer. Vergleicht man nun, ob das altersgemäß gewünschte Schulniveau erreicht wird, lassen sich große Unterschiede feststellen: Im Bereich des Ensino Fundamental sind 45% aller afrobrasilianischen Kinder und Jugendlichen nicht auf dem ihrem Alter entsprechendem Niveau gegenüber 25% der weißen Brasilianer. Im Bereich des Ensino Médio sind es dann schon 60% der Afro-Brasilianer gegenüber 41% der weißen Kinder und Jugendlichen. Die statistischen Daten wurden nun dahingehend untersucht, inwieweit sich die Diskrepanzen zwischen weißen und Afro-Brasilianern auf andere Ursachen als durch rassische Diskriminierung zurückführen lassen. Ihr Schluss: Rassische Diskriminierung und nicht etwa ungünstigere familiäre Verhältnisse sei für 63% der Unterschiede im Bildungsbereich verantwortlich. (www.ipea.gov.br, 25.04.2003). Nur vier Prozent aller Schwarzen erreichen das Universitätsniveau, unter den Weißen sind es immerhin 16% (Folha de São Paulo, 24.01.2002, B10). An der renommierten staatlichen Universität von São Paulo (USP) sind 1995 rund 50.000 Studenten eingeschrieben, der Anteil schwarzer Studenten liegt bei knapp 2% (Datafolha, 1995, S.47). Nach einer der letzten Untersuchungen sind die Medizin-Absolventen der Universidade de Sao Paulo zu 81,6% weiße Brasilianer, 2,3% pardos und 1% negros. Immerhin 4,1% sind asiatischen und 0,7% indianischen Ursprungs (Gazeta Mercantil, 09.01.2002 und 11.01.2002). In diesen Tagen werden in Brasilien an einigen staatlichen Universitäten erstmals Quotenregelungen eingeführt, so zum Beispiel an der Universidade Estadual da Bahia (UNEB) (Folha de São Paulo, 28.07.2002). Diese Quoten-regelungen sind heftig umstritten (s. dazu im Schlusskapitel). 150 Das vorgestellte Datenmaterial belegt im wesentlichen die auf eine knappe Formel gebrachten Erwartungen: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Hautfarbe, Einkommen und Schulbildung: Je dunkler die Hautfarbe, umso geringer Einkommen und Schulbildung (do Valle Silva, 1996). Die Daten aus dem Bildungsbereich zeigen, dass trotz 46 Jahren Apartheid in Südafrika, Brasiliens Schwarze im Bildungsbereich noch hinter dem Land am Kap liegen (Veja, 21.03.2001, S. 104) . Dazu noch einige grundsätzliche Erläuterungen: Brasiliens Bildungssystem ist gespalten in einen öffentlichen, staatlich finanzierten und einen privaten Zweig. Das öffentliche Schulwesen, die sogen. Escolas Públicas, sind bis auf wenige Ausnahmen in einem desolaten Zustand. Die privaten Schulen haben im allgemeinen einen besseren Standard, sind aber von der Teuerung der Lebenshaltungskosten besonders betroffen84. Diese Trennung gilt für das Ensino Fundamental (1°-8° série) ebenso wie für das Ensino Médio. Das vorzeitige Verlassen der Schule (evasão escolar) ist ein chronisches Problem des öffentlichen Schulsystems und steht in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation des Landes: einerseits sind die öffentlichen Schulen in einem desolaten Zustand und die Qualität des Unterrichts schlecht, andererseits sind die Kinder gezwungen, schon frühzeitig zum Familienunterhalt beizutragen. Den größten Anteil der staatlichen Bildungsausgaben nehmen jedoch die Ausgaben für das sogen. Ensino Superior ein, das Hochschulwesen. Im Hochschulbereich ist es dann genau umgekehrt: Als die besseren Unis gelten fast immer die öffentlichen Universitäten, die kostenlos sind. Wer hat also die Voraussetzungen zum Universitätsbesuch und schafft die Vestibular genannten Aufnahmeprüfungen? Diejenigen, die besser vorbereitet sind, in der Regel also die Schüler, die von den privaten Schulen kommen. Hinzu kommt noch, dass die meisten der zukünftigen Studenten teure (!) Vorbereitungskurse (bekannt als „cursinhos“) für das Vestibular machen. De facto investiert Brasilien also einen großen Teil der Bildungsausgaben in die eigene reiche Elite und nicht in eine breite Volksbildung. Eine Weltbank-Studie hat gezeigt, dass nur 46% der armen Brasilianer die fünfte Klasse schaffen. Im internationalen Vergleich liegt Brasilien also noch hinter vielen afrikanischen und einigen Nachbarländern wie Ghana oder Sambia, Peru oder Bolivien, die über ein viel geringeres Wirtschaftsvolumen verfügen. Gleichzeitig gibt Brasilien jedoch einen größeren Anteil des Brutto-Inlands-Produkts für Bildung aus, wie diese Länder (Weltbank-Daten zitiert nach H. Santos, 2001, S.220). Aus der Studie geht auch hervor, dass die reichsten 10% der 84 So liegt zum Beispiel allein das Schulgeld an der amerikanischen Privatschule Salvadors (die als die beste der Stadt gilt) bei monatlich rund 1000 US$ pro Kind - ohne Lehrmittel, Schuluniform, Transport etc. 151 brasilianischen Bevölkerung im Durchschnitt mehr als zehn Jahre die Schule besuchen (H. Santos, 2001, S.222). Die schlechte Qualität des Unterrichts steht in direktem Zusammenhang mit dem Lehrpersonal: Die Lehrer sind zum großen Teil nur ungenügend ausgebildet und werden schlecht bezahlt. Laut Bildungsministerium haben nur 37% aller Lehrer eine Universitätsausbildung. 46,4% haben einen weiterführenden Abschluß (segundo grau completo) und 14,3% aller Lehrer sogar nur den Hauptschulabschluss (Dimenstein, 1993, S. 145). Im Nordosten haben 12,4% der Lehrer selbst nicht einmal eine komplette Grundschulausbildung oder gerade nur diese (6,3%) (Almanaque Abril, 1997, S. 201). Zu diesen grundsätzlichen Problemen des Bildungssektors kommen die besonderen Schwierigkeiten für Afro-Brasilianer aufgrund rassischer Vorurteile und Diskriminierung. Die Weichen für die Unterschiede im Bildungsniveau wurden schon während der Sklaverei gestellt: Während der Sklaverei blieb der Schulbesuch und das Erlernen des Lesens und Schreibens den Kindern der weißen Kolonialherren vorbehalten. Zwar hatten sich die Jesuiten in Brasilien um die Erziehung und Bildung der Indianer bemüht, von ihrem humanitären Engagement blieben die afrikanischen Sklaven jedoch ausgeschlossen. Die Sklaverei ist seit dem letzten Jahrhundert verboten und getrennten Schulbesuch wie in den USA für Kinder unterschiedlicher Hautfarbe und Herkunft hat es in Brasilien nicht gegeben. Dennoch läßt sich eine de facto Segregation in den Schulen und Universitäten konstatieren, deren Ausnahmen nur die Regel bestätigen zu scheinen. Die Diskriminierung im Erziehungsbereich spielt sich auf verschiedenen Ebenen ab, vom Unterrichtsmaterial, über die Ausstattung der Schulen bis zu den viel subtileren Formen rassistischer Verhaltenweisen in den Klassenzimmern, wie Erwartungshaltungen der Lehrer und Eltern, Stimulans zum Eintritt in anspruchsvollere Bildungsprogramme, Bestrafungen u.a.m. Große Unterschiede in der Behandlung weißer und afro-brasilianischer Kindern in den Schulen hat zum Beispiel die Pädagogin Eliane Cavalleiro festgestellt. Nach achtmonatiger Analyse in einer öffentlichen Vorschule in São Paulos kommt sie zu dem Schluss, dass die Konstruktion einer positiven Identifikation während des Sozialisationsprozesses fast nicht möglich sei. Sie schildert Situationen, bei denen es normal sei, dass die Kinder unkommentiert abwertende Begriffe wie „negrinho feio“ („hässliches Negerchen“) oder „pretinha suja“ („dreckige kleine Schwarze“) zu dunkleren Kindern sagen. Auch komme es vor, dass afro-brasilianische Kinder 152 abgelehnt würden als Partner, wenn z.B. Paare geformt werden. Die Kinder würden, nach Meinung der Lehrerinnen, die rassischen Unterschiede noch nicht bemerken oder es wäre ihnen egal. Die afro-brasilianische Pädagogin diagnostiziert auch die Haltung der Lehrerinnen, die den Rassismus als normal betrachteten und/oder abschwächten. Als einer der Hauptgründe des Rassismus werde von den Lehrerinnen der angeblich schlechte Geruch farbiger Menschen genannt. Die Lehrer seien ungeduldiger und weniger liebevoll mit den afro-brasilianischen Kindern und in extremen Fällen erniedrigend. Die unterschiedliche Behandlung der Kinder durch die Lehrerinnen zeige sich in mehreren Aspekten: Sie werde sichtbar beim Abschied, wenn weiße Kinder dreimal so viel von den Lehrerinnen geküsst würden wie afro-brasilianische Kinder. Sie zeige sich in der unterschiedlichen Art des Lobens „Deine Aufgaben sind gut“, „gut gemacht“ für die dunkelhäutigen Kinder oder „Du bist wunderbar“ „Du bist intelligent“ für die weißen Kinder. Die unterschiedliche Behandlung werde nach Meinung der Forscherin von den Kindern wahrgenommen. Die weißen Kindern bekämen mehr Möglichkeiten positiver Identifikation mit den Lehrerinnen, als die afrobrasilianischen Kinder (Cavalleiro, 2000). Die Studie sorgte in Brasilien vor kurzem auch deshalb für Aufsehen, weil sie den spürbaren, aber teils schwer diagnostizierbaren Rassismus auf einer Stufe entlarvt, wo er nicht aus sozialen Motiven erklärt werden kann, der frühkindlichen Erziehung (Educação Infantil). Auch die Forscherin, die selbst AfroBrasilianerin ist, entging dem subtilen Rassismus nicht (Veja Nr. 33, 1999). Die Untersuchung Cavalleiros ist eine Einzelfall-Untersuchung. Die geschilderten Situationen stimmen jedoch tendenziell mit den persönlichen Eindrücken in einem privaten brasilianischen Kindergarten überein. Eine andere Studie in der Vorschule kommt zu dem Ergebnis, dass die afro-brasilianischen Kinder, besonders die Mädchen, sich nicht als negras, sondern als weiß identifizierten. Die Forscherin hatte ihnen einen Auswahl Fotos von Menschen verschiedener Hautfarbe vorgelegt. (Dias, Lucimar Rosa 1997: Diversidade étnica na educação infantil. Campo Grande, Universidade Federal Mato Grosso do Sul, zitiert nach H. Santos, 2001:128) und so sucht die Schwarzenbewegung Brasiliens nach neuen Formen der Erziehung afro-brasilianischer Kinder. Der Bedeutung der Schulbildung als Grundvoraussetzung zum Zugang zu besseren Lebensbedingungen ist man sich seit langem bewusst, inzwischen setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass noch frühzeitiger mit einer Anti-Rassismus-Erziehung begonnen werden muss. “Die rassischen Vorurteile werden in die geistige Struktur des Kindes eingepflanzt“, sagt Cruz (Cruz, 1989: S. 57). 153 Viele der Schulbücher des Ensino Fundamental (1° bis 8° série) sind bis heute voller Stereotypen wie schusselige schwarze Hausangestellte, freche schwarze Jungen etc.Die Studie von Ana Célia da Silva über die Schulbücher in Salvador in den 80er Jahren zeigte, wie das didaktische Material dazu beiträgt die Afro-Brasilianer als Menschen zweiter Klasse einzustufen: Während die weiße Familie mehrmals beschrieben wurde, kommt eine schwarze Familie nur einmal vor und dann auch nur unglücklich. Die weißen Personen wurden assoziiert mit etwas Schönem, Intelligentem, Gutem. Die schwarzen Familien stellen den Stereotyp des Hässlichen, Unfähigen (Silva, 1988). In den USA, wo das Ende der Segregation in den Bildungsinstitutionen vor 30 Jahren mit Programmen und Quotenregelungen zur rassischen Integration der Afro-Amerikaner begleitet wurde, sind es heute ähnliche Formen subtilen Rassismus, die als Erklärung der ungleichen Bildungssituation zwischen hellen und dunkelhäutigen Amerikanern herangezogen werden (Gazeta Mercantil, 03.08.1999). Die Entwicklung der neuen Kommunikationstechnologien scheinen zur weiteren Polarisierung beizutragen. Als „gap digital“ wird in den USA die Tatsache bezeichnet, daß der Anteil der Haushalte mit Internet-Zugang unter den weißen Amerikanern größer als bei den schwarzen und Hispano-Amerikanern ist und zwar unabhängig von der Höhe der Einkommen wie Studien des Department of Commerce zeigen. Verschärft werde die Situation zusätzlich dadurch, dass sich der Abstand vergrößere, statt zu verkleinern (Gazeta Mercantil, 09.08.1999). 8.2.4 Gewalt Afro-Brasilianer sterben früher als weiße Brasilianer. Die Lebenserwartung der schwarzen Brasilianer liegt bei durchschnittlich 65 Jahren gegenüber 71 Jahren der weißen Brasilianer (Gazeta Mercantil, 11.01.2002). Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Tatsache ist aber auch, dass insbesondere Afro-Brasilianer von der Gewalt betroffen sind. Vor allem die Großstädte Brasiliens leben mit einer hohen Kriminalitäts- und Gewaltrate. Eine Untersuchung der Universidade de São Paulo zeigt: Tod durch Feuerwaffen ist die wichtigste Todesursache unter den negros, vor Herzinfarkt, Aids und Lungenentzündung. 1995 starben 7,5% der negros auf diese Art und Weise, gegenüber 2,8% der weißen Brasilianer . Die meisten weißen Brasilianer (66,3%) sterben mit über 50 Jahren, bei den 154 negros sind es weniger als die Hälfte (43,8%). 41,7% aller negros starben zwischen 20 und 49, gegenüber 22,8% der weißen (Folha de São Paulo, 17.05.1998). Die zunehmende Gewalt ist ein großes Problem in Brasilien. Die Polizei, die Militärpolizei (PM) ebenso wie die Polícia Civil nehmen dabei eine oft sehr ambivalente Position ein: einerseits sind sie zur Verbrechensbekämpfung verpflichtet, andererseits werden sie wegen ihrer gewalttätigen Handlungen insbesondere von den Afro-Brasilianern gefürchtet. Die Polizei ist meist ungenügend ausgebildet, schlecht bezahlt und verfügt über eine katastrophale technische Ausstattung. Dazu kommt das Problem der Korruption und der Todesschwadrone. Zwischen 1987 und 1992 verfünffacht sich die Zahl der von der PM erschossenen Menschen auf 1470 Opfer, die meisten von ihnen Afro-Brasilianer (H. Santos, 2001, S.135). In Rio de Janeiro sterben mehr negros und pardos (70,2%) in Konfrontationen mit der Polizei als weiße Cariocas (29,8%). Zu diesem Ergebnis kommt die Studie des Soziologen Ignácio Cano des ISER (Folha de São Paulo, 15.05.2000). In der Öffentlichkeit führen die Übergriffe der Polizei jedoch allenfalls zum Protest von Menschenrechtsorganisationen. Rund jeder vierte Paulistano (23%) fürchtet die Polizei mehr als die Banditen. Unter den negros sind es sogar 35%, bei den weißen Paulistanos nur 19%. Dies hat eine Untersuchung der Datafolha ergeben. Fast die Hälfte (48%) aller negros wurde schon einmal von der Polizei untersucht, gegenüber 34% der weißen Paulistanos (Folha de São Paulo, 06.04.1997). Zusammenfassend: Die Afro-Brasilianer gehören in ihrer überwiegenden Mehrheit zur armen und ärmsten Bevölkerungsgruppe, verdienen weniger und sterben früher als ihre weißen Landsleute, sind nur begrenzt in die formale Wirtschaft integriert, häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen, stellen einen Großteil der Analphabeten und die wenigen schwarzen Universitätsstudenten sind die Ausnahme und nicht die Regel. Die oben genannte Studie des Instituts für Angewandte Ökonomie (IPEA) zeigte darüber hinaus aber noch etwas: Die geringe Qualifikation und die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Arbeitsmärkten ist eine der Ursachen der sozialen Unterschiede. Es gibt aber sowohl auf dem Arbeitsmarkt als auch im Bildungsbereich einen unterschiedlich großen Restfaktor, rassische Diskriminierung, der für die Diskrepanzen verantwortlich ist (www.ipea.gov.br ). Mit steigendem Einkommen wird der Faktor rassischer Diskriminierung immer wichtiger. 155 8.3 „mit gutem Auftreten85“ – verdeckter Rassismus Rassismus in Brasilien zeigt sich bei einer vergleichenden quantitativen und qualitativen Analyse der sozialen Ungleichheiten und deren Folgen für das Leben weißer und schwarzer Brasilianer. Im folgenden Text sollen die vielfältigen Formen des Rassismus, rassischer Vorurteile und Diskriminierung dargestellt werden. 8.3.1 Das europäische Ideal Wer in Brasilien den Fernseher anschaltet, wird überrascht sein. Das Kinderprogramm am Morgen moderieren die blonde Angélica oder Eliana, am Samstag Veteranin Xuxa, die Hausfrauenunterhaltung am frühen Nachmittag die blonde Seniorin Ana Maria Braga, durch die zahlreichen Talk- und Unterhaltungsshows führen die ebenso europäisch aussehenden Moderator(inn)en wie die Ansager der Nachrichtenprogramme aus Mitteleuropa kommen könnten. Und selbst in den beliebten Telenovelas des Vorabend- und Abendprogramms, die in fast jedem der brasilianische Haushalte verfolgt werden, spielen Afro-Brasilianer meist nur kleine Rollen. Allein in einzelnen Werbespots für Bier und Erfrischungsgetränke zum Beispiel oder Elektrogeräte und der staatlichen Werbung für die inzwischen der Einschluss von Afro-Brasilianer gesetzlich vorgesehen ist, erscheinen Afro-Brasilianer auf dem Bildschirm. Eine Woche lang hat die Folha de São Paulo 115 Stunden Programme verfolgt und bestätigt die rassische Trennung. Die Afro-Brasilianer sind zahlenmäßig und in kürzerer Zeit zu sehen. Darüber hinaus erscheinen sie in überwiegend in einer stereotypen Darstellung, vor allem als Musiker, Sportler oder Hausangestellte (Folha de São Paulo 6.1.1996) Das europäische Ideal dominiert nicht nur das Fernsehen, sondern auch die Zeitschriften, Modenschauen, Kinderspielzeug und im privaten Bereich. Bei Kindern gemischt-rassiger Paare gilt es als großes Glück, wenn das Kind mit blonden Haaren und heller Haut zur Welt kommt. Das lässt sich im Freundes- und Bekanntenkreis ebenso beobachten, wie in der Zeitung lesen (Revista da Folha, Folha de São Paulo, 23.3.1997). Auch in vielen afrobrasilianischen Familien ist man stolz darauf, wenn das Baby nicht das Kraushaar („cabelo duro“) des Vaters geerbt und die um Nuancen hellere Haut der Mutter hat, besonders wenn es ein Mädchen ist. Logische Folge, dass es vor allem die europäisch hellhäutigen Babys und Kinder sind, die in Brasilien zur Adoption gesucht werden. „Anders als in den USA, wo alle die als Schwarze angesehen gelten, die irgendwelche afro-amerikanischen Vorfahren haben, 85 „de boa aparência“ – ein gutes Erscheinungsbild wird in den Stellenanzeigen oft gewünscht. Damit ist in der Regel ein europäisch anmutendes Äußeres gemeint. 156 reicht in Brasilien ein Tropfen weißes Blut, um weiß zu sein“ schreibt der brasilianische Wirtschafts-Professor und Militante Hélio Santos (Santos, 2001, S.154). Was für den privaten Bereich gilt, trifft umso mehr im öffentlichen Leben zu. Dies lässt sich selbst in typisch afrobrasilianischen Bereichen wie dem Musikmarkt verfolgen. Mitte der 90er Jahre wurde die „Morena“, also eigentlich ein eher afro-brasilianischer Typ, als Partnerin der blonden Haupttänzerin der bahianischen Musikgruppe „É o Tchan“ gesucht. In einer sich wochenlang hinziehenden Publikumsentscheidung des mächtigen Fernsehsenders Globo (vergleichbar mit „Deutschland sucht den Superstar“), gewann schließlich eine Frau mit heller Haut und glatten, braunen Haaren. Die erfolgreiche Musikgruppe nahmen die zahlreichen anderen lokalen Pagodegruppen zum Vorbild und holten meist blond-gefärbte Tänzerinnen auf die Bühnen (Revista da Folha, Folha de São Paulo, 7.3.1999). Auch wer die besseren Restaurants, die eleganten Shopping-Center und chicen Bars und Diskotheken Brasiliens besucht, wird nicht nur in Südbrasilien in der überwiegenden Mehrheit auf europäisch aussehende Brasilianer treffen. Der brasilianische Autor Hélio Santos verweist in seinem Buch auf eine Reportage der Zeitung O Dia vom 11.8.1996: Von den 318 Angestellten der 33 besuchten Etablissements entlang der 16 Kilometer langen Strandpromenade trafen die Reporter nur auf einen negro als Kellner. Dies veranlasste die Schwarzenbewegung zu Protesten und zur Untersuchung der rassistischen Praktiken bei der Auswahl der Kandidaten (in Santos, 2001, S.88) . Nach einer älteren Untersuchung handelt es sich bei der Mehrzahl der Fälle von Rassismus, die 1986 in der Presse erschienen, um Diskriminierungen in Geschäften, Restaurants, Hotels oder Diskotheken (ca. 35%), am Arbeitsplatz (27%) oder in Apartmenthäusern (20%) (IBASE, 1989, S32). Das lässt sich sicherlich auch für die darauffolgende Dekade bestätigen. Insbesondere die Diskriminierung in den Apartment-Häusern, die bis heute in Brasilien mit zwei getrennten Aufzügen für Personal (elevador de serviço) und Wohnungseigentümer bzw. Gäste (elevador social) gebaut werden, wird immer wieder von Afro-Brasilianern im Gespräch erwähnt. 157 8.3.2 Die Scham des Vorurteils „Der Brasilianer vermeidet es nicht, schämt sich aber, Vorurteile zu haben“ Florestan Fernandes „Die Brasilianer wissen, dass es sie gibt, verneinen, welche zu haben, aber zeigen in ihrer überwiegenden Mehrheit Vorurteile gegenüber Schwarzen“, lautet die knappe Zusammenfassung einer Untersuchung der Datafolha über Rassenvorurteile in Brasilien (Datafolha, 1995, S.11). In Ziffern: 89% der über 5000 befragten Brasilianer waren der Meinung, dass es Rassismus in Brasilien gibt, aber nur 10% halten sich selbst für rassistisch. Ein zunächst unüberbrückbar erscheinender Widerspruch. In der Untersuchung wurde dann so vorgegangen, dass den Interviewten Fragen und Sätze mit unterschiedlichem Grad rassischer Diskriminierung vorgelegt wurden, denen sie zustimmen oder die sie ablehnen konnten. Nur die Antworten von 13% der Befragten waren frei von rassischen Vorurteilen, während 87% in unterschiedlicher Stärke Schwarze diskriminierten (Datafolha, 1995, S.11ff.). Zu den in der Untersuchung vorgelegten Aussagen gehörten zum Beispiel: „ein guter Schwarzer ist ein Schwarzer mit weißer Seele“ ; „die einzigen Dinge, die die Schwarzen gut können, sind Musik und Sport“; „ein Schwarzer, wenn er keine Dummheiten beim Reinkommen macht, dann beim Rausgehen“ - Redensweisen, denen ich im Gespräch mit Brasilianern unterschiedlichster Hautfarbe und sozialer Zugehörigkeit, immer wieder begegnet bin. Kurioserweise waren es nicht nur die weißen Brasilianer, die diskriminierend antworteten. Fast die Hälfte der interviewten Schwarzen (48%) stimmen dem Satz zu „ein guter Schwarzer, ist ein Schwarzer mit weißer Seele“ und ein Drittel (32%) hält die Aussage für richtig „die einzigen Dinge, die die Schwarzen gut können sind Musik und Sport“ und selbst die Redensart „ein Schwarzer, wenn er keine Dummheiten beim Reinkommen macht, dann beim Rausgehen“ wird von mehr als einem Fünftel (22%) der Schwarzen als zumindest teilweise zutreffend angesehen (Datafolha, 1995, S.26). Die als pardo, dunkel, klassifizierten Brasilianer zeigten sich ebenso vorurteilsbeladen wie die weißen Brasilianer. Ein Viertel (24%) der dunkelhäutigen Brasilianer hält die Aussage für zumindest teilweise zutreffend „wenn Gott unterschiedliche Rassen geschaffen hat, so sollen sie sich auch nicht vermischen“ (Datafolha, 1995, S.27). Ein Viertel der untersuchten Personen in der bereits erwähnten älteren Untersuchung fand nicht normal, wenn der Sohn oder die Tochter eine Schwarze(n) heiraten würde (IBASE, 1989, S.33ff). 158 Es sind also insbesondere diese Stereotypen, die den Rassismus einerseits zeigen, andererseits reproduzieren. Sie sind es auch, die von der Schwarzenbewegung bekämpft werden. So beschreibt Santos, der zwischen 1984 und 1987 Vorsitzender des Conselho do Negro de São Paulo war die verschiedenen Beschwerden des Organs beim Nationalen Rat für die SelbstRegulierung der Werbung (Conselho Nacional de Auto-Regulamentação Publicitária (Conarp): Ein bekannter Komiker, Chico Anysio, der in einer Cachaça-Werbung mit einem schwarz angemalten Gesicht, auf der Plakatwand zu sehen war Stereotyp schwarzer Säufer; eine Kampagne gegen Steuerhinterziehung der Präfektur São Paulo, in deren Text Steuerhinterziehung als Raub bezeichnet wird, und die von einem Photo begleitet wird auf dem ein jugendlicher Schwarzer mit einem Revolver in der Hand abgebildet ist; eine Regierungskampagne für die Rechte der Rentner, wo von den acht Personen auf dem Foto zwei japanischer Herkunft sechs europäischer, aber kein Afro-Brasilianer zu sehen ist (Santos, 2001, S.118ff). 8.3.3 Die wichtigen Zwischentöne Wie subtil sich die rassische Diskriminierung auch präsentiert, zeigen die folgenden Beispiele aus dem brasilianischen Alltag: „Ist der Richter schon gekommen?“ wird der einzige schwarze Richter am Gericht von São Paulo immer wieder gefragt. Regelmäßig wird er auch von der Straßenpolizei zur Überprüfung der Dokumente angehalten, wenn er mit dem eigenen Auto, einem neuen Modell der gehobenen Mittelklasse einer amerikanischen Firma unterwegs ist. Ein Unternehmer aus Recife mit einem Jahresumsatz 1995 von 100 Millionen wurde beim Besuch eines Autohauses vom Verkäufer angesprochen, ob er nicht eher einen Lastwagen suche. Im Parkhaus des Sheraton-Hotels in São Paulo wurde er angesprochen, ob Chauffeure so viel verdienen, dass er sich so ein Auto leisten könne (Datafolha, 1995). Als „glass-ceiling“ wird in den USA das Scheitern an einer durchsichtigen Barriere bezeichnet von denen, die ein mittleres Karriereniveau erreicht haben. Sie können weiterhin den Gipfel sehen, wo sie hinmöchten, aber schaffen es nicht, auf der sozialen Leiter weiter aufzusteigen. Erfahrungen erfolgreicher afro-brasilianischer Geschäftsleute illustrieren diese Aussage. Zum Beispiel André Oliveira, Besitzer einer kulturellen Produktionsfirma: Obwohl er einer der besten bei Abschluss des Studiums an der UFRJ war, fand er als einer der 159 letzten Arbeit. „Meine Kompetenz und mein Prestige wurden von den anderen ständig in Frage gestellt und beneidet. Eines Tages wurde eine Versammlung unterbrochen und ich gefragt, ob ich von Engländern adoptiert worden sei. Die anderen wunderten sich, warum ich „negro“, Brasilianer sein und fließend Englisch sprechen konnte“ (Valor, 03.09.2001, D1, D4). Oder José Marcos Oliveira, Verkaufsdirektor Nortel: „Am Anfang gibt es eine Phase, wo alle hoffen, dass du versagst. Je mehr du sichtbar wirst, um so mehr zweifeln die anderen an deinen Fähigkeiten, weil du negro bist.“ Seiner Erfahrung nach kann es vor allem in einer leitenden Position passieren, dass das Team den schwarzen Chef zu sabotieren versucht. „Das sind die subtilen Barrieren, die du überwinden musst“ sagt Oliveira. „Dass du negro bist, das lernst du von klein auf. Die Vorurteile sind immer verdeckt. Wer sagt, er habe damit noch nichts zu tun gehabt, der lügt“ (Valor, 03.09.2001, D1, D4). Die bereits angeführte Untersuchung der Datafolha zeigte auch, dass die Fähigkeit Vorurteile zu erkennen, in direktem Zusammenhang mit dem Bildungsniveau steht. Je höher das Bildungsniveau, umso größer die Fähigkeit Rassismus zu erkennen. Aber auch eine Beziehung zwischen Einkommen und rassischer Diskriminierung stellte die Untersuchung fest. Je höher das Einkommen, umso seltener werden Vorurteile offenbart. Je geringer die Einkommen, umso eher drückt jemand seine Vorurteile aus (Datafolha,1995, S.28) 8.3.4 Zwischen Recht und Ordnung Zu den alltäglichen Übergriffen der Polizei gehört die rassistische Behandlung von AfroBrasilianern insbesondere im Straßenverkehr. Davon sind vor allem erfolgreiche AfroBrasilianer betroffen, die in teuren Importwagen durch die Strassen fahren - neben Unternehmern und Politikern auch Sportler oder Musiker (z.B. Fußballer in São Paulo, Folha de São Paulo, 14.1.1996 und Volleyball-Spielerin in Rio FSP 10.12.1994). Die dahinter stehende Überlegung der Polizei ist die, dass es sich bei Schwarzen am Steuer eines teuren Autos vermutlich um Kriminelle handelt, die kontrolliert werden müssen. Fast immer werden die Kontrollen mit Pistole im Anschlag und unter großer Anspannung gemacht. Als Entschuldigung wird oft angeführt, dass unter den betroffenen Polizisten ja auch negros seien und deshalb nicht von rassistischem Vorgehen gesprochen werden könne (H. Santos, 2001, S.140). Was für das häufig diskriminierende Vorgehen der Polizei gilt, trifft auch für die privaten Sicherheits-Unternehmen zu, wie sie bei Banken oder Shopping-Centers üblich sind. So ist es 160 schon passiert, das Menschen unschuldig festgenommen oder sogar erschossen wurden, „weil er schwarz war und eine große Plastiktasche dabei hatte“ (Folha de São Paulo, 10.2.1995). Fast immer, wenn das Gespräch auf Rassismus in Brasilien kommt, wird innerhalb kürzester Zeit darauf verwiesen, dass in den USA Rassismus herrsche, in Brasilien aber allenfalls soziale Diskriminierung. Oder es wird gesagt, dass die schwarzen Brasilianer ja selber die schlimmsten Vorurteile hätten: gegenüber ihresgleichen bzw. gegenüber den weißen Brasilianern. Als der umgekehrte Rassismus („racismo ás avessas“), der Schwarzen gegenüber den Weißen wird dies bezeichnet. So empfanden viele eher helle Brasilianer die vor wenigen Jahren in Mode gekommenen schwarzen T-Shirts mit dem weißen Aufdruck „100% negro“ als rassistisch. Viele europäische Brasilianer fühlen sich auch in einem sehr schwarzen Ambiente, wie zum Beispiel bei den Proben Olodums auf dem Pelourinho, unwohl. Meinem Eindruck nach sind außer bei einigen politischen Veranstaltungen der Schwarzenbewegung Weiße fast immer willkommen, in den Sambaschulen und blocos afros ebenso wie in den religiösen Ambientes. Immer wieder wird als Argument, dass jemand nicht rassistisch sein könne angeführt, weil er einen Afro-Brasilianer in der Verwandtschaft, als Freund oder Kollegen habe. Eines der extremsten Beispiel Mitte der 90er Jahre war der Fall des Sängers Tiririca. In seiner Musik „Veja os cabelos dela“ (wörtlich: „Schau Dir mal ihre Haare an“) heißt es u.a. „..essa nega fede. Fede de lascar/ bicha fedorenta fede mais que gambá“ (wörtlich: “diese nega stinkt. Stinkt, dass es nicht zum aushalten ist/ stinkende bicha stinkt mehr als ein gambá“). Es kam zu einem Prozess gegen den Kompositor und die Plattenfirma Sony, bei dem das Recht auf freie Meinungsäußerung gegen den Vorwurf des Rassismus stand. Der Richter, der den Fall entschied, argumentierte in seinem Urteil, dass es sich bei dem Text um einen Spaß handele. Tiririca als Sohn einer „Negra“, verheiratet mit einer „Mestiça“ könne wegen seiner persönlichen Herkunft wohl kaum Rassismus praktizieren und habe einen Spaß gemacht mit der eigenen Frau (Zitiert nach H.Santos, 2001:132). Hélio Santos erinnert in seinem Buch auch an zwei andere Musiken, die in die brasilianische Musikgeschichte eingegangen sind und erst in den letzten Jahren durch ihren rassistischen Gehalt aufgefallen sind. Lamartine Bobo, bekannter Kompositor von fröhlicher Karnevals Marchinhas aus der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, bestätigt in einem Refrain “que a cor não pega”, „dass die Farbe der Mulatta nicht abfärbe“, man(n) sich also mit ihr einlassen könne. „Nega do cabelo duro, qual é o pente que te penteia” (Nega mit dem Kraushaar, welches ist der Kamm, der Dich kämmen kann“) fragen sich die Komponisten eines anderen früheren Karnevalshits. 161 Seit in der Neuen Verfassung von 1988 Rassismus als Verbrechen eingestuft wurde, kam die Frage in den 90er Jahren auch zunehmend vor Gericht. Dabei überwiegen bisher die Anzeigen, Urteile zugunsten der Opfer des Rassismus sind erst wenige ergangen. Die 66jährige Künstlerin Dilce Pires da Silva zeigte den Wachmann eines Supermarktes in São Paulo an, der sie und ihre Tochter verfolgte und gesagt haben soll „wenn Schwarze hier reinkommen, dann um zu klauen“. Den Prozess gegen die Supermarktkette gewann sie (Veja, 14.9.1994). Und in Salvador bekam ein junges Mädchen Recht, dass im Supermarkt von einem Wachmann verfolgt, des Diebstahls verdächtigt und festgehalten wurde. Die Supermarktkette wurde zur Zahlung von zweitausend Mindestlöhnen verurteilt 86. 8.3.5 In nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen Bisher haben erst wenige Afro-Brasilianer den Sprung in die Politik geschafft. Die wenigen Ausnahmen bestätigen dabei nur die Regel. Im Jahr 2001 fand erstmals ein Treffen der afrobrasilianischen Politiker (Encontro Nacional de Parlamentares Negros) in Salvador statt. Zu diesem Zeitpunkt gab es einen farbigen Senator und acht farbige Bundesabgeordnete. Auf Landesebene Bahias gab es vier Abgeordnete und neun Stadtverordnete. Salvador hat bisher ebenso wenig einen schwarzen Bürgermeister gehabt, wie Bahia von einem afrobrasilianischen Gouverneur regiert wurde. Im April 2002 ist Benedita da Silva in den Gouverneurs-Palast in Rio de Janeiro eingezogen, als sich der amtierende Gouverneur zur Präsidentschaftswahl stellte. In den Medien wurde dies behandelt, wie die Geschichte Cinderellas, die in den Palast einzieht, dabei kann Benedita da Silva auf eine solide politische Karriere zurück blicken. Sie war bereits Stadtverordnete, Bundestagsabgeordnete und erste schwarze Senatorin in Brasília. Aber ihre Vergangenheit ist typisch für die Mehrheit der schwarzen Brasilianerinnen. Als junge Frau verdiente sie ihr Geld als Hausangestellte, als Kind putzte sie Schuhe. Benedita da Silva, heute Anfang 60, hat noch bis vor kurzem in der Favela gelebt, in der sie auch groß geworden ist. Sie ist Mitglied der brasilianischen Arbeiterpartei PT. 86 An diesem Beispiel erläutert Santos die einzelnen Aspekte des brasilianischen Rassismus: Hier zeigten sich rassische Vorurteile, weil die junge Frau nicht wie eine normale Kundin eingeschätzt wurde, individueller Rassismus, weil der Wachmann sie für nicht ehrlich einschätzte, rassische Diskriminierung, weil der Wachmann seine vorurteilsgeladene Haltung in Aktion umsetzte (H.Santos, 2001, S.110) 162 1988 anlässlich der 100 Jahrfeier der Abschaffung der Sklaverei wurde von der Bischofskonferenz die Schrift „Ouvi o clamor desse povo“ („Ich hörte die Klagen diese Volkes“) herausgebracht. Heute gibt es in der katholischen Kirche einige wenige Gruppen, die sich mit Rassenfragen auseinandersetzen (Pastoral dos Negros etc.) und den Aufbau einer christlichen, schwarzen Identität anstreben. Einige wenige, meist dunkelhäutige Priester machen ökumenische Experimente mit der Integration afro-brasilianischer Elemente. Dabei finden sie wenig Unterstützung von Papst und Kirchenkonservativen wie dem ehemaligen Kardinal-Erz-Bischof von Salvador Moreira Neves oder dem Erzbischof von Rio de Janeiro D. Eugênio Sales. Selbst eine der brasilianischen Leidenschaften, der Fußball, ist ein Bereich, der nicht frei von rassischer Diskriminierung war und ist. Als der Fußball 1894 nach Brasilien kam, war er ein Sport der Eliten. Afro-Brasilianer wurden nicht akzeptiert. Noch 1915 hellte der AfroBrasilianer Carlos Alberto des Fluminense Fußball Clubs sein Gesicht mit Reismehl auf. Erst 1918 wurden schwarze Spieler von den Clubs akzeptiert. Seit der Professionalisierung des Sportes 1933 wurde der Fußball dann zu einem Bereich, in dem viele Afro-Brasilianer sich profilieren konnten. Zwischen den 50er und 70er Jahren waren die afro-brasilianischen Spieler (u.a. Pelé und Garrincha) stark in der Nationalmannschaft repräsentiert, Brasilien wurde dreimal Weltmeister und einmal Vize. Danach folgte eine Phase der „Aufhellung“ der brasilianischen Nationalmannschaft. Erst in der Nationalmannschaft, die 1994 den vierten Weltmeistertitel holen konnte, waren wieder überwiegend Afro-Brasilianer vertreten. Als „anmalen“ des Teams wird dies im Fußball-Jargon bezeichnet87. Während es in den nationalen Fußball-Ligen afro-brasilianische Spieler gibt, sind jedoch afro-brasilianische Schiedsrichter und Trainer auf Landesniveau eine Rarität. Auch eine andere sportliche Leidenschaft der Brasilianer, die Formel 1, in der im Vergleich zu anderen Nationalitäten besonders viele Brasilianer vertreten sind, wird von Brasilianern europäischen Erscheinungsbildes geprägt, genau wie das unvergessene Idol Ayrton Senna. Auch im Springreiten und Tennis haben die international erfolgreichen Brasilianer eine helle Hautfarbe. 87 „Die Abwesenheit der negros in der Mannschaft war die Abwesenheit der Brasilianität ... Die schwarze Schule des Fußballs in Brasilien zeigt einer eher künstlerischen, als sportlichen Körper. Es gibt das Spiel des Körpers, Ginga, Kreativität“ (Maurício Murad in FSP 15.1.1995, zitiert nach Santos, 2001, S.287). 163 8.4. Auf der Suche nach einem Weg für Brasilien In diesem Kapitel wurde anhand vieler Bereiche gezeigt, wie sich der brasilianische Rassismus präsentiert. Abschließend soll einer der Militanten selbst zu Wort kommen. In seinem Buch „A Busca de um Caminho para o Brasil“ beschreibt der bereits mehrfach zitierte Wirtschaftswissenschaftler Hélio Santos den Teufelskreis der brasilianischen Gesellschaft anhand von sechs Schritten/Faktoren: 1. Durch die Art der Abschaffung der Sklaverei wurde die soziale Immobilität vorbestimmt. „Der 14. Mai ist heute“ sagt Hélio Santos (Interview, 10.12.2002). 2. Das Dilemma zwischen niedrigem Einkommen und geringerer Schulbildung begründe die Diskrepanz 3. Für die herrschende Schicht der Gesellschaft seien die Afro-Brasilianer unfähig 4. Der Rassismus werde verinnerlicht. Die Gesellschaft, welche die Afro-Brasilianer diskriminiert, halte sich für europäisch, sei es aber nicht. Diese Gesellschaft sei in kultureller Hinsicht schwarz. Sie habe die schwarzen Werte in ihrer Kultur internalisiert. „Die vermeintlichen Weißen, wenn sie die Schwarzen angreifen, beleidigen sie sich selbst“ (H.Santos, 2001, S.148) . 5. Die fehlende ethnische und rassische Identität der brasilianischen Schwarzen sei das Ergebnis der dominierenden Sichtweise der Gesellschaft. Die Instrumente diese Sichtweise zu konsolidieren, seiendie Kommunikationsmittel. Die Folge für die AfroBrasilianer ist ein negatives Selbstbild, das Santos mit einer Frucht vergleicht: „brasileiro jabuticaba“ - schwarz von außen, weiß von innen, wie die Frucht Jabuticaba (H.Santos, 2001, S.150) 6. Die Situation sei nicht durch einen militanten Diskurs zu verkehren. Wenn es also nicht der militante Diskurs ist, was ist es dann, was zu einer Veränderung der Situation beitragen kann? Für Hélio Santos ist es insbesondere die Stärkung der schwarzen kulturellen Werte. Nicht die Schwarzen Brasiliens sind ein Problem, sondern sie können zur Lösung der brasilianischen Probleme beitragen. Eine Sonderrolle nimmt dabei Bahia ein. 164 9. „Bahia ist zu Jamaika geworden“ – die kulturelle Bewegung der Blocos Afros „Bahia ist zu Jamaika geworden“ betitelte die angesehene Zeitung Folha de São Paulo Ende der 80er Jahre die Ereignisse im 2000 Kilometer entfernten Salvador (Folha de São Paulo, 31.01.1988). 1988 das Jahr, in dem der 100. Geburtstag des Verbots der Sklaverei gefeiert wurde, richtete sich das Augenmerk der brasilianischen Presse auf Bahia. Hier hatten die Blocos Afros den Samba-Reggae erfunden, eine Mischung aus Samba und Reggae. Die Blocos Afros hatten darüber hinaus eine politische Bedeutung, denunzierten die rassischen Ungleichheiten und wurden zum Aushängeschild der schwarzen Kultur in Bahia. In diesem Kapitel wird gezeigt, mit welchen Bezugspunkten und Instrumenten die Bewegung der Blocos Afros neue Identifikationsmuster für Afro-Brasilianer anbietet. Zuvor aber werden der Ort des Geschehens, Salvador da Bahia, sowie die historischen, wirtschaftlichen und politischen Begleitumstände beschrieben. 9.1 Bahia - schwarzes Herz Brasiliens „Bahia hat seine eigene Geschichte, seine eigene Kultur, seine eigene Lebensform. Von allen Städten Brasiliens hat es am treuesten die Zivilisation bewahrt. Nur in ihren Steinen und Straßen versteht man Brasiliens Geschichte, nur hier begreift man, wie aus Portugal Brasilien geworden ist“ (Zweig, 1984, S. 261f) Der Bundesstaat Bahia hat in etwa die Größe Frankreichs. Rund 13 Millionen Menschen leben hier. Bahia ist Teil des brasilianischen Nordostens. Nach São Paulo und Rio de Janeiro ist Bahias Hauptstadt Salvador mit rund 2,5 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt Brasiliens. 80% der Einwohner Salvadors sind Afro-Brasilianer (www.ibge.gov.br ) . Die Stadt Salvador liegt an der Bahia de Todos Os Santos, der Allerheiligenbucht, der zweitgrößten Bucht Brasiliens. Oft spricht man deshalb auch von Salvador da Bahia. Salvador war die erste Hauptstadt der portugiesischen Kolonie Brasilien und über drei Jahrhunderte Zentrum des transatlantischen Sklavenhandels. Ausmaß, Dauer und Organisationsform des Sklavenhandels und der auf Sklaverei basierenden Kolonialwirtschaft waren einzigartig in der Neuen Welt . In Salvador zeugen die vielen Barockkirchen und – 165 bauten vom Reichtum vergangener Epochen. Die Güter aus dem fruchtbaren Hinterland Salvadors, dem Recôncavo, der sich wie der Name verrät, um die Bucht schmiegt, wurden aus der Bahia direkt nach Europa bzw. Afrika verschifft. Nachdem sich das wirtschaftliche und politische Geschehen ab Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Nordosten in den Südosten, nach Rio de Janeiro und später São Paulo, verlagert hatte, verfiel Salvador in einem fast hundertjährigen Dornröschenschlaf. Erst mit Ansiedlung der Industriekomplexe in Aratu und besonders Camaçari begann ab Ende der 60er Jahre eine neue Entwicklungsphase. Zum ersten Mal wurden Afro-Brasilianer in Bahia in größerem Maßstab zu Industriearbeitern, die über stabile, höhere Einkommen verfügten und sich sogar gewerkschaftlich organisierten (s. dazu Agier, 1992). Ihrem gesellschaftlichen Aufstieg standen jedoch die Vorurteile bezüglich ihrer Hautfarbe entgegen. Auf politischer Ebene begünstigte die Auflockerung der autoritären politischen Verhältnisse der seit 1964 herrschenden Militärdiktatur den langsamen graduellen Übergang zu demokratischen Verhältnissen. Die politischen Repressionen nahmen ab Mitte/Ende der 70er Jahre ab, meinungsbildende Künstler kehrten Anfang der 80er Jahre aus dem europäischen Exil zurück, die öffentliche Diskussion bislang tabuisierter Fragestellungen wurde erstmals wieder möglich. Das verbesserte politische Klima bot auch Raum für das von der Militärregierung per Dekret verbotene Thema Rassismus. Die Industrialisierung der Wirtschaft wirkte sich auch auf die anderen gesellschaftlichen Bereiche aus. Über die Medien gelangten zunehmend Informationen der internationalen politischen und kulturellen Schwarzen-Bewegungen nach Salvador. Nachrichten von den Befreiungskämpfen der Länder in Afrika ebenso wie neue Musikmoden, insbesondere Soul und Reggae, erreichten Salvador. Dieses neu erwachende Selbstbewusstsein fand seinen ersten organisatorischen Ausdruck in der Gründung des Karnevalsvereins Ilê Aiyê. Dem Beispiel folgte eine Gründungswelle der unterschiedlichsten Blocos Afros. Bahia ist ein Ort Brasiliens, der in besonderer Weise mystifiziert wird. Salvador ist die Stadt Brasiliens, die am stärksten von den afrobrasilianischen Kulturen geprägt ist: Der Kampftanz Capoeira, die Candomblé-Religion, die Straßenfeste zu Ehren der afrikanischen Götter, Orixás genannt, bzw. der katholischen Heiligen, an deren Prozessionen die Baianas, dem Candomblé zugehörige Frauen in traditioneller Festkleidung teilnehmen, Moqueca und 166 Acarajé, Gerichte, die ursprünglich nur aus Bahia kommen und deren Zutaten, wie Palmöl, Trockenkrabben oder Okraschoten, afrikanischen Ursprungs sind. „Die Kultur in Bahia kommt vom Volk bevor sie zum Schmuckstück der Eliten wird. Die Kraft dieser Kultur hat mit der intensiven schwarzen Beteiligung zu tun“ (H.Santos, 2001, S. 257) Baianidade („Bahianität“) ist ein Begriff, zu dessen Facetten diese kulturellen Äußerungen gehören, der letztlich aber nicht eindeutig zu definieren ist. Baianidade ist Ausdruck einer bestimmten Identität, vergleichbar mit der bereits zuvor erwähnten brasildade, der Brasilianität, über die sich Anthropologen und Soziologen, Politologen und Philosophen immer wieder Gedanken gemacht haben. Gleichzeitig werden dabei aber auch bestimmte Stereotypen produziert, die positiv und negativ bewertet werden können. Für die meisten Afro-Brasilianer ist Bahia so etwas wie eine spirituelle Heimat, steht für die Sehnsucht nach authentischen Werten, nach den eigenen Wurzeln, nach einer eigenen Identität. „In Bahia, das ist sicher, wer schon keinen Schwarzen im Blut hat, kann es nicht verhindern, ihn im Kopf zu haben“ schreibt Hélio Santos (H.Santos, 2001, S.256). Diese Assoziationen begründen sich auf der Stärke der religiösen Wurzeln und der Kraft der neuen kulturellen Bewegung. In den letzten Jahren kommen zunehmend auch us-amerikanische Schwarze auf der Suche nach einer authentischen, schwarzen Kultur hierher. Die ebenso farbenprächtige wie geschichtsreiche Kulisse dieser Volkskultur ist das historische Zentrum Salvadors. Das centro histórico ist der größte zusammenhängende Barockkomplex in der Neuen Welt und von der UNESCO 1985 als Kulturdenkmal der Menschheit anerkannt. Kern des alten Zentrums ist der Pelourinho-Platz, der wie kein anderer Ort Salvadors eine symbolische Konstruktion schwarzer Identität ist.88 Früher war das Pelourinhoviertel das Nobelviertel der Stadt. Seit Mitte letzten Jahrhunderts begann sich die Bewohnerstruktur des Pelourinho zu verändern. Die reicheren Klassen zogen aus den Sobrados, den zweistöckigen Kolonialbauten in die Villen der Stadtviertel Graça, Vitória und Barra. Ärmere Menschen zogen nach, der Abstieg des Viertels begann. Anfang der 90er Jahre (1992) wurde das Gebiet durch eine großangelegte Renovierungsaktion der bahianischen Landesregierung restauriert und für den Tourismus hergerichtet. Die ursprünglichen Bewohner, die in den heruntergekommenen Kolonialbauten gewohnt hatten, in ihrer erdrückenden Mehrheit arm, schwarz und von der Gesellschaft marginalisiert, wurden aus dem neuen Touristengebiet verdrängt. Der Pelourinho aber bleibt auch weiterhin das Herz der 88 s. auch Sansone, 1995. 167 schwarzen Volkskultur und wird im ganzen Land mit den neuen kulturellen Ereignissen assoziiert. Die schwarze Alltagskultur Bahias mit ihren religiösen, musikalischen, tänzerischen, ästhetischen oder kulinarischen Elementen bildet den Nährboden für eine bunte Folklorisierung und Kommerzialisierung Bahias. Ab Ende der 80er Jahre wird Bahia als Ziel des nationalen und internationalen Tourismus immer wichtiger. „Wir haben Interesse das Leben der Bahianer zu verbreiten, weil das Essen, die verschiedenen kulturellen Manifestationen, die Freizeit, der Strand Teil unseres Produktes sind“ (Gaudenzi in Revista Bahia Análise & Dados No.4 1996) Der Ausbau der touristischen Infrastruktur, die Restaurierung der Altstadt zusammen mit einem geschickten Tourismus-Marketing sind aber auch für die Entwicklung der neuen kulturellen Schwarzen-Bewegung von grundlegender Bedeutung. „Baiano não nasce, estréia” heißt es in Brasilien, „der Bahianer wird nicht geboren, sondern hat Premiere” auf der Weltenbühne. Dafür wird er ebenso bewundert wie er mit einem gewissen Stigma leben muss. In São Paulo und vielen anderen Regionen des Südens und Südostens weckt das Wort Baiano negative Assoziationen. Der Baiano gilt als arbeitsscheu, rückständig, langsam, gleichzeitig jedoch lebensfroh und immer bereit, ein Fest zu feiern. Der Mythos der bahianischen Faulheit hält einer wissenschaftlichen Analyse jedoch nicht stand. Die Anthropologin Elisete Zanlorenzi zeigte in ihrer Doktorarbeit89, dass Ende der 80er Jahre 50,4% der im Großraum Salvador Beschäftigen mehr als 48 Stunden arbeiteten und 35,78% zwischen 38 und 47 Wochen (A Tarde, 31.07.2002). Auch eine Studie unter ausländischen Firmen spanischer und nordamerikanischer Herkunft in Bahia zeigte, dass die Ausländer übereinstimmend den Bahianern bestätigten, viel zu arbeiten. Darüber hinaus beschrieben sie die bahianische Unternehmenskultur als kreativ und innovativ, affektiv und Konflikt vermeidend, aber auch als hierarchisch und kurzfristig Gewinn anstrebend. Sie erwähnten die große Bedeutung der Religion, die unterschiedlichen Zeitvorstellungen, die Bedeutung des Arbeitsplatzes als Ort sozialen Miteinanders u.a.m (Gazeta Mercantil, 14.08.2002). Nach einer Untersuchung des staatlichen Statistikinstituts IBGE liegt das durchschnittliche Familieneinkommen in Salvador bei 894 R$ (ca. 298 €). Die Analphabetenquote bei rund 89 O Mito da Preguiça Baiana, Diss., Universidade de São Paulo, 2001 168 6,25%. (A Tarde, 06.12.2002). Diese Werte sind Durchschnittswerte hinter denen sich extrem große Unterschiede im sozio-ökonomischen Niveau der Einwohner Salvadors, Soterapolitianos genannt, verbergen. Im Staat Bahia leben nach der gleichen Untersuchung 440.000 Familien ohne reguläre monatliche Einkünfte. In Salvador haben die schwarzen Arbeitnehmer nach der neuesten Untersuchung des gewerkschaftsnahen Departamento Intersindical de Estatística e Estudos Sócio-Econômicos (DIEESE) einen Anteil von vier Fünfteln (79,9%) am Arbeitsmarkt und verdienen im Durchschnitt nur wenig mehr als zwei Mindestlöhne (etwa 160 Euro). Die weißen Arbeitnehmer (20,1%) verfügen dagegen über mehr als dreimal so viel Einkommen. Rund die Hälfte der afro-brasilianischen Bevölkerung Salvadors befindet sich in einer prekären Arbeitssituation, während weniger als ein Drittel der weißen Soterapolitanos davon betroffen ist. 43,5% der Schwarzen verdienen im Großraum Salvador (Região Metropolitana Salvador, RMS) als Autonome ihr Geld gegenüber 30,2% der weißen Soterapolitanos. Bei vielen dieser Tätigkeiten geht es um einfache Handels- oder Dienstleistungen, wie zum Beispiel Verkauf von Waren oder Arbeiten als Hausangestellte, die ohne gesetzlich-geregelte Arbeitsvereinbarungen gemacht werden. Die Arbeitslosenquote der Afro-Brasilianer liegt bei 28,4% , gegenüber 18,9% der weißen Arbeitnehmer. Noch schlechter schneiden die schwarzen Frauen ab: 31,2% gegenüber 24,3% der weißen Frauen. Die schwarzen Soterapolitanos beginnen früher zu arbeiten und müssen länger aktiv bleiben als die weißen. Immerhin 17,1% der 15-18jährigen jugendlichen Schwarzen arbeiten, während es bei den weißen Jugendlichen so wenig sind, dass sie nicht erfasst werden konnten. Über drei Viertel (76,2%) der 18-bis 24jährigen Afro-Brasilianer üben eine Erwerbstätigkeit aus, gegenüber 66,2% ihrer gleichaltrigen weißen. In der Altersgruppe über 40 gehen nur noch 52,1% der weißen Soteropolitanos einer Beschäftigung nach gegenüber 57% der schwarzen Soterapolitanos (A Tarde, 21.11.2001). Über ein Fünftel (21,6%) der Einwohner Bahias sind Analphabeten. Damit liegt Bahia weit über dem brasilianischen Durchschnitt. In Salvador liegt die Analphabetenquote allerdings nur bei 6,2 %. Die höchsten Analphabetenquoten gibt es in den Gemeinden des Inlands. Als eine der wichtigsten Ursachen für die hohen Quoten gilt das vorzeitige Verlassen der Schule (A Tarde, 05.08.2002). 79% der Schüler sind in den staatlichen Schulen immatrikuliert (A 169 Tarde, 09.05.2002). In Salvador erreichten laut amtlicher Statistik über 75% der Schwarzen 1989 nicht einmal den Hauptschulabschluss, gegenüber knapp 16% der weißen Bevölkerung (Pimenta, 1995, S. 65). In Bahia geben rund 86% der Bevölkerung ihre Religion mit katholisch an und nur 0,1% als afro-brasilianisch, 11,6% gehören zu den evangelistischen Pfingstkirchen. (IBGE nach A Tarde, 09.05.2002) Dies zeigt, dass bis heute die meisten Anhänger des Candomblé auch in Bahia nicht eindeutig zu ihren religiösen Präferenzen stehen, bzw. dass der Synkretismus weit verbreitet ist. Der schwarze Hilfs-Bischof der Erzdiözese Salvadors Dom Gílio Felício bekennt im Interview „dass es eine tiefgreifende Identität zwischen katholischem Glauben und dem Candomblé gibt“ (Veja, 1.01.1998). Einige Priester in Salvador halten Messen mit afro-brasilianischen Elementen und tragen Kutten, deren Muster afrikanisch inspiriert sind. Frisch Eingeweihte aus dem Candomblé sitzen unter Tüchern verhüllt am ersten Freitag des neuen Jahres in der Bonfim-Kirche. Für Außenstehende sind die Trennlinien nur schwer zu entschlüsseln90. Die ethnische Frage verwischt sich in einer sozialen Realität, die gekennzeichnet ist, durch die Mischung der Rassen, den religiösen Synkretismus und wo der Ausschluss der Schwarzen oftmals verwechselt wird mit der typischen Marginalität, in der die armen Teile der Bevölkerung leben (Bacelar,1989). Es sind nicht die sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, durch die sich die Afro-Brasilianer identifizieren, sondern ihre Fähigkeit in einem bestimmten Ambiente und bei den gegebenen historischen Bedingungen zu erkennen, was zu tun ist, um ethnisch und kulturell „negro“ zu sein. Diese kulturelle Identität wurde ausgehend von der Bewegung der Blocos Afros neu kreiert. 9.2 Die Reafrikanisierung des Karneval Kultur wird gebraucht, manipuliert, eingesetzt. Baumann spricht in seinen Arbeiten zur Kultur von einem inhärenten Dualismus der menschlichen Erfahrungen, bei dem Menschen als Objekte Abhängigkeit und Zwang erleben, als Subjekte jedoch Kreativität und Handlungswillen spüren (Baumann, 1973). Die Afro-Brasilianer der Blocos Afros machten sich zu Produzenten und Produkten in der Welt der Kunst und Kultur. Sie besetzten physisch 90 Ausführlicher zu Candomblé siehe Kapitel 6. 170 und kulturell Orte, die zuvor stigmatisiert wurden. Sie übernahmen und erklärten die Wurzeln bahianischer Kultur in einem vorher nicht gekannten Ausmaß mit der historischen Beziehung zu Afrika, den afrikanischen Traditionen. Tradition ist dabei im Sinne Hobsbawm´s zu verstehen, als eine ebenso reale wie auch erfundene oder herangezogene Tradition, die sich auf eine historische Vergangenheit bezieht (Hobsbawm & Ranger,1994). Jetzt wurde die historische Beziehung zu Afrika zur Referenz bei der Konstruktion einer schwarzen Identität. Trotz schwierigster wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse hatten sich die AfroBrasilianer immer bemüht ihre Kultur und ihr Erbe zu erhalten. Das afro-brasilianische Denken, ist ein Denken der Annäherung, zu dem die Schwarzen in Brasilien gezwungen wurden, um eine eigene Kultur, unabhängig von einem Territorium zu kreieren „Die Musik ist die Waffe, mit der er [der negro] ein ihm nicht zugängliches Territorium erobert und dieses mit den Besonderheiten seiner Mentalität neu konstituiert“ sagt der Anthropologe Muniz Sodré im Interview (die tageszeitung 27.12.1994). 9.2.1 Der Bezug zu Afrika und die Konstruktion einer Identität Innerhalb der Gesellschaft orientierten die Blocos Afros ihre Handlungen und gaben ihnen Bedeutungen über die Manipulation der Symbole (Morales, 1990, S.19). „Der Bloco Afro anders als der Bloco de Trio... er hat eine Informationsfunktion. Er agiert als GeografieLehrer, als Geschichts-Lehrer, als Politik-Lehrer, weil er den Menschen beibringt, in Anführungsstrichen, wo Jamaika liegt, wer die Regierung von Jamaika ist, wer die Pharaonen waren, wie die politische Struktur Ägyptens ist, Ilê zeigte dieses Jahr Tansania, Nelson Mandela...“ So beschreibt Xaréu, einer der Komponisten des Bloco Afro Muzenza diese Aufgabe (Xaréu, 1992). Die Blocos Afros waren ausdrücklich afrikanisch inspiriert und Ausdruck ethnischer Bestätigung in Einklang mit dem Bewusstseins-Prozess der „Blackitude baiana“. Ihre Wurzeln liegen in den kulturellen (Gegen-) Revolutionen der 60er Jahre, in den Werten der schwarzen Kultur: der Bewegung der Black Panthers, der Musik Jimmy Hendrix´ und James Brown´s, der Haltung schwarzer Sportler wie Cassius Clay, der sich später Muhammad Ali nannte, Persönlichkeiten wie Martin Luther Kind, Malcolm X und Angela Davis (Morales, 1991, S.78). Antônio Risério war einer der ersten, der die Bedeutung des Einflusses der Symbole der Massen-Kultur für die neuen afro-karnevalesken Formen hervorhob – ebenso für die Blocos 171 de Indios (Western) wie für die Blocos Afros, in die Teile neuer kultureller Verhaltensweisen auf der Basis schwarzer amerikanischer Musik, insbesondere Funk und Soul eingingen (Risério, 1981, S.67;27-33). Die jungen schwarzen Soterapolitanos identifizierten sich als „brows“, nach dem Funk-Idol James Brown. Die Blocos Afros stellen eine Beziehung zu Afrika her, sei es eine mythische oder eine konkrete. In ihren Liedern thematisieren sie afrikanische Kulturen, die afro-brasilianische Geschichte, sowie die Helden der nationalen und internationalen Schwarzen-Bewegung. „Das war sehr wichtig für uns den afrikanischen Kontinent zu entdecken. Was wir in der Schule lernten war doch, dass wir Sklaven waren, dass wir dafür gemacht seien, Schläge zu bekommen, zu arbeiten, bestraft zu werden. Aber ab dem Moment entdeckten wir, dass wir Nachfahren von Afrikanern sind, von Königen und Königinnen, dass wir unsere eigene Kultur haben“ (Washington, 1993). 9.2.2 Das Karnevalsthema Anders als beim Karneval der Samba-Schulen in Rio de Janeiro wird im bahianischen Strassenkarneval keine bestimmte Thematik vorgegeben. Zwar gibt es ein Motto, das die Karnevalskommission der Stadtregierung festlegt, aber dieses Motto beeinflußt mehr die offizielle Dekoration der Strassen, als die einzelnen Gruppen. Jede Gruppe präsentiert sich im Karneval, wie es ihr gefällt. Anders als bei den Blocos de Trio, für die die Kleidung der Karnevalisten nur eine untergeordnete Rolle spielt und auch die Musik allein kommerziellen Aspekten folgt, sind die oft farbenprächtigen, afrikanisch anmutenden Kostüme und die Musiken der Blocos Afros und Afoxés thematisch eingebunden. Jeder Bloco Afro und Afoxé verfolgt eine bestimmte Linie und bearbeitet ein Thema. So sind zum Beispiel die Stoffe der Kostüme des Bloco Afro Ilê Aiyê immer in den Farben Rot, Schwarz, Weiß und Gelb, tragen die Männer des Afoxé Filhos de Gandhi immer die gleichen weißen Gewänder und Turbane, hat der Bloco Afro Muzenza jedesmal eine Gruppe mit Rasta-Männern – gleichzeitig jedoch werden die jeweiligen Thematiken vorgestellt: in den Musiken, den Tanz-Choreografien, den Drucken der Stoffe. Jedes Jahr, kurz nach Karneval, wird vom Direktorium der Karnevalsgruppe das Thema für den nächsten Karneval festgelegt. Bei den Blocos Afros und Afoxés sind es in der Regel Themen, die Bezug zur afrikanischen Herrkunft, zur afro-brasilianischen Geschichte, zur internationalen Schwarzenbewegung und schwarzen Kultur haben. Vom Direktorium wird 172 eine Postille verfaßt, die Informationen zum Thema liefert. Jeder, der Interesse hat, kann sich die beim Vereinssitz abholen. Danach lassen die Komponisten und Liedschreiber ihre Phantasie spielen und schreiben Texte. „Ich machte Forschungen und eine Ausstellung darüber, machte die Postille und verteilte sie und organisierte Veranstaltungen zum Thema... Das Thema ist die Basis für die Stimmung im Karneval. Wenn es nicht gut bearbeitet wurde, sind die Musiken furchtbar. Wenn es gut gemacht ist, dann sind die Texte der Lieder gut, erzählen interessante Dinge, bringen unbekannte Begriffe“ (Rodrigues, 1992). Darauf basierend schreiben Dichter und Komponisten während des ganzen Jahres neue Texte und Melodien und konkurrieren um die Gunst des Publikums auf den öffentlichen Proben. Die Designer entwerfen die Stoffe und Kleider, die während des Umzugs von den Musikern, Tänzern, Direktoren und Mitgliedern der Gruppe getragen werden. Das jeweilige Thema hat also starken Einfluss auf die Darbietung des Bloco Afro im Karneval. Mehr noch: Der Karneval ist auch eine Gelegenheit eine bestimmte Thematik auf die Strasse zu bringen. 9.2.3 Die Musik- und Schönheits-Festivals Jeder Bloco veranstaltet eigene Musik- und Schönheits-Festivals, während der die Lieder und Repräsentantinnen für den kommenden Karneval gewählt werden. Bei den Musikfestivals werden von einer Jury die besten Musiken ausgesucht. Im Verlauf der davor liegenden Monate haben die Lieder, die ins Finale kommen, einen Aufführungsmarathon hinter sich. Zunächst wurden die neuen Kompositionen in kleinem Kreis vorgestellt, bei den Musikdirektoren oder anderen Freunden und Bekannten im Bloco. Dann werden sie vor Publikum lanciert. Jede Woche proben die Blocos Afros. Die Trommler müssen die Rhythmen lernen, die Sänger ihre Texte. Das sind Veranstaltungen, zu denen je nach Beliebtheit der Gruppe die Nachbarschaft, Freunde, Freunde von Freunden, die Fans, kommen. Bei den Proben zeigt sich, welche Lieder auf das Publikum wirken. Meist tritt auch hier schon eine Jury an, um aus der Vielzahl der Kompositionen, die besten heraus zu filtern, die am Finale teilnehmen dürfen. Die Proben, die Musik- und vor allem die Schönheitsfestivals heizen den bahianischen Sommer über das Klima in der Stadt an. Die Wahl der „Beleza Negra“ des ersten Bloco Afro Ilê Aiyê ist bis heute jedes Jahr eines der wichtigsten Ereignisse der schwarzen Gemeinschaft. Eine schwarze Gala-Veranstaltung, die normalerweise in einem Festsaal, einem Club oder Veranstaltungsraum stattfindet, der im 173 Verlauf des Jahres eher von der hellhäutigen Mittel- und Oberschicht frequentiert wird. Die Wahl des Veranstaltungsortes ist ebenso eine Demonstration, wie die Eleganz der Menschen, die zu dem Ereignis kommen. Es ist die Nacht der schwarzen Schönheit. Die handverlesene Jury besteht aus Persönlichkeiten der Schwarzenbewegung wie Schauspielern, Wissenschaftlern oder Politikern und manchmal auch hellhäutigen Brasilianern, in der Regel die Sponsoren (Direktor Supermarktkette, Vorsitzender Stromkonzern) des entsprechenden Jahres. Im Verlauf des Abends spielt die Musikgruppe Ilê Aiyês, zeigt die Tanzgruppe eine neue Choreographie. Jedes Jahr treten auch bekannte brasilianische Musikstars auf, die einen Bezug zur afro-brasilianischen Kultur haben. Die Kandidatinnen präsentieren sich in aufwendigen afrikanisch-inspirierten Kostümen. Kunstvolle Flechtfrisuren, mit Muscheln geschmückt, zu Kronen gebogen, leuchtende Tücher, zu imposanten Turbanen gewickelt, Stoffe mit ethnischen Motiven, stilisierte Insignien der Orixás – die Kandidatinnen bereiten sich monatelang auf ihren Auftritt vor. „Schwarze Schönheit ist für den Schwarzen etwas anderes. Es ist keine Frau voller Make-up und Lippenstift. Schwarze Schönheit ist etwas natürliches. Je natürlicher, umso besser“ (Mestre Gari, 1992). Neben der Schönheit von Körper und Gesicht, spielt die tänzerische Darbietung und die gesamte Präsentation eine wichtige Rolle. Die Kandidatinnen werden nicht nur mit Namen und Alter vorgestellt, sondern auch mit den Orixás, die ihren Kopf regieren, und den jeweiligen Berufs- und Ausbildungsplänen. Jede Kandidatin hat ihre Fans dabei, die mit Klatschen und Rufen oder sogar großen Spruchbändern auf sich aufmerksam machen. Die Wahl der Beleza Negra ist nicht einfach die Wahl einer Schönheitskönigin, sie repräsentiert mit einem Höchstmaß an Ästhetik all das, wovon viele der schwarzen Gemeinschaft träumen, wofür sie sich engagieren. „Die schwarze Schönheit, die zum Schauspiel wird, ist ein typisches Phänomen der Modernität. Dabei handelt es sich um ein Element, das Identifizierungen hervorbringt und Wege zur Transformation und einem anderen Verständnis von Realität aufzeigt“ (Silva, 1996, S.42). 9.2.4 Die Rhythmen Der musikalische Erfolg Olodums Ende der 80er, Anfang der 90 Jahre ist vor allem in seiner starken Perkussion und den mitreißenden Rhythmen begründet. Der „rollende, von tiefen Frequenzen getragene und von scharfen Akzenten vorwärts getriebene groove91 der blocos 91 Der aus dem Englischen kommende Begriff groove beschreibt das Erleben von Musik, bei der eine spürbare rhythmische Spannung entsteht, die Musiker und Zuhörer in ihren Bann zieht und zum Tanzen animiert. Zu den musikalischen Elementen des groove s. Keil/Feld, 1994. 174 afro animiert unwillkürlich zum Tanzen“ schreibt die deutsche Musik-Forscherin Christiane Gerischer (Gerischer, 1996, S.54). Sie hat in ihrer Magister-Arbeit die Rhythmen der bekanntesten Blocos Afros analysiert92. Wodurch entsteht der Groove, diese spürbare rhythmische Spannung, die wie ein Sog auf Musiker und Zuhörer wirken kann? Dabei gehen afro-brasilianische Rhythmen eine Fusion ein mit zunächst karibischen Einflüssen, insbesondere Reggae und Merengue, später us-amerikanischen, Rock und Rap. Sie verweist auch auf die afrikanischen Wurzeln brasilianischer Musik, die sich in der polyrhythmischen Struktur des Samba, der Dominanz der Perkussionsinstrumente und der „Tanzbarkeit“ brasilianischer Musik zeigen. „Was beim ersten Hörereindruck als relativ gleichförmige Perkussion erscheint, stellt sich in der detaillierten Analyse der einzelnen Blocos als eine differenzierte und vielfältige Rhythmik dar“ (Gerischer, 1996, S.125). Ein Wendepunkt der Entwicklung des bahianischen Karnevals ist das Jahr 1987. Zwei Musiken sind damit verbunden: Die Lieder „Faraó“ von Luciano Gomes dos Santos, Kompositeur des Bloco Afro Olodum und „Eu sou negão“ („Ich bin ein Schwarzer“) des Musikers Gerônimo. Das Lied Faraó, auf das in Kapitel 12 noch eingegangen wird, stellt eine Beziehung her zwischen den ägyptischen Hochkulturen und den schwarzen Bahianern. Ägypten wird zu einem schwarzen Symbol der jungen Afro-Brasilianer, welche die Proben der Blocos Afros frequentieren. Das zunächst nur bei den Proben Olodums am Pelourinho gesungene Lied eroberte die Strassen und wurde auf allen Festen des bahianischen Sommers gespielt, die mit der Lavagem der Kirche Conceição da Praia im Dezember beginnen und sich über die ganze Stadt verteilt bis zum Karneval hinziehen. Im Karneval spielten dann bereits einige Musikgruppen der Blocos de Trio das Lied auf dem Castro Alves Platz. Zum ersten Mal wurde ein Titel der Blocos Afros auch von anderen Gruppen wie Djalma Oliveira, Margareth Menezes, Banda Mel und Banda Reflexus erfolgreich aufgenommen. Die Banda Reflexus, eine Bloco de TrioGruppe, verfügt über ein Repertoire mit großem Anteil der Rhythmen der Blocos Afros. Von ihrer ersten Platte verkauften sie fast eine Million Exemplare – ein spektakulärer Erfolg für eine bis dahin auf dem nationalen brasilianischen Musikmarkt unbekannte regionale Musikform. 92 Während Ilê Aiyê seit seiner Gründung 1974 einen an Samba und ijexá orientierten groove spiele („Afro-Samba“), betone Olodum die karibischen und Reggae-Elemente und habe viele neue Rhythmen entwickelt („Samba-Reggae“). Die Gruppe Ara Ketu nehme stilistisch eine Sonderrolle ein (Gerischer, 1996, S.62). 175 Das Lied „Eu sou negão“ veränderte den Sinngehalt des Begriffs negão, wörtlich: großer Schwarzer. Zunächst waren es die Fans der afro-bahianischen Musikszene, die sich so bezeichneten. Heute findet man in Bahia und ganz Brasilien viele junge Schwarze, die sich selbstbewusst als negões und negonas titulieren. Es „sind wache Personen, die sich ihrer Negritude bewusst sind und mit den kulturellen Bewegungen auf lokaler, afrikanischer, jamaikanischer und nordamerikanischer Ebene verbunden sind. Sie tragen bunte Kleider und extravagante Frisuren mit der Haltung derer, die sich selbst mögen“ beschreibt die bahianische Anthropologin Goli Guerreiro (Guerreiro, 2000, S.24). „ ...e aí chegaram os negros „.. und da kamen die Schwarzen com toda sua beleza, mit all ihrer Schönheit, sua cultura, sua tradição, ihrer Kultur, ihrer Tradition, com toda sua religião all ihrer Religion, tentada, motivada a ser mutilada herausgefordert von den weißen pelos heróis brancos da história, Helden der Geschichte verstümmelt zu werden, e estamos aqui, und wir sind hier, eles sobreviveram no bum bum bum, no seu und sie haben überlebt tambor...., im Bum Bum Bum, in ihren Trommeln e o negão vai cantanda assim ... und der Negão singt so.. Eu sou negão, Ich bin ein negão, eu sou negão ich bin ein negão, meu coração é a liberdade, mein Herz ist die Liberdade, sou do curuzu, Ilê, igualdade nagô ich bin aus Curuzu, Ilê, Gleichheit der Nagô, essa é a minha verdade das ist meine Wahrheit. E de repente aparece ao longe Und plötzlich erscheint weit weg um carro todo iluminado ein großer beleuchteter Wagen, é um trio eléctrico ´ ein Trio Eléctrico. ` Que é isso, meu irmão? Was ist los, mein Freund? Venha de vagar, calma, segura essa aí . Komm langsam, immer mit der Ruhe.... pegue seu caminhão e siga seu caminho nimm deinen Lastwagen und setz deinen Weg fort que a gente vai seguir o nosso“ und wir setzen unseren fort“ 176 Im dem Lied denunziert der Sänger Gerônimo auch einen Konflikt zwischen den Blocos de Trio und den Blocos Afros im Karneval. „Was in diesem Moment auf dem Spiel stand, war der Respekt für die schwarzen Manifestationen ... und das nicht nur im Karneval“ (Guerreiro, 2000, S. 22). Auf das Spannungsverhältnis im Karneval zwischen den schwarzen Blocos Afros und den Blocos de Trio, das in diesem Lied artikuliert wird, wird später in einem Kapitel über die Entwicklung des Karnevals eingegangen. Die Ereignisse des Jahres 1988, des 100jährigen Geburtstags des Verbots der Sklaverei, verstärken die musikalischen und kulturellen Entwicklungen. In diesem Jahr besuchte der internationale Popstar Paul Simon Bahia und fand hier rhythmische Formen, die er musikalisch verwerten konnte. Er öffnete der bahianischen Musik zusammen mit David Byrne, der sich als Förderer von Margareth Menezes betätigte, den Zugang zum internationalen Markt. So wie zuvor der Reggae Bob Marleys und Peter Tosh´s durch internationale Stars des PopRock u.a. den Rolling Stones und Eric Clapton,gefördert wurde, öffnete sich der bahianischen Musik mit Paul Simon das Tor zur Welt. 9.3 Die verschiedenen Stämme Im folgenden sollen die fünf wichtigsten heute noch existierenden Blocos Afro vorgestellt werden. „Jeder Block in Salvador hat eine eigene Art zu spielen, seine Musik zu machen – das ist so eine Art Stammesmentalität, denn die einzelnen Stadtviertel haben eine sehr stark eigene kulturelle Persönlichkeit, und sie verhalten sich wie richtige Nationen, wie Stämme: Liberdae, Itapuã, Períperí, Pelourinho“ beschreibt João Jorge Präsident Olodums und eine der führenden Persönlichkeiten der brasilianischen Schwarzenbewegung (João Jorge, 1992). Während Ilê bis heute das Bild des Rustikalen, Afrikanischen kultiviert, entwickelte sich Ara Ketu in Richtung Pop. Muzenza eröffnete einen Raum für den Reggae und Olodum behielt den zunächst einen stärker politischen Ton als Stimme der Schwarzen, hat aber zunehmend erotisierende Musik aufgenommen. Die Formation der Blocos ist nach Meinung des bahianischen Soziologen Marcelo Dantas Ausdruck unterschiedlicher historischer Prozesse. Während bei der Gründung Ilês die Träume sozialen Aufstiegs an den Hindernissen eines stark einkommenszentrierenden Wirtschaftsmodells unter einer Militärdiktatur zerschlagen 177 waren, sei Olodum zu einem Zeitpunkt gewachsen, als die ethnische Identität bereits von Teilen der schwarzen Bevölkerung zurückgewonnen und das wachsende Selbstbewusstsein die Kraft zum Versuch der Überwindung der rassischen Grenzen gegeben habe (Dantas, 1996, S.73)93. 9.3.1 „Der Schönste der Schönen“94 – Ilê Aiyê Der Stolz auf die eigene Rasse und Herkunft ist die Triebfeder der Arbeit Ilês. „Weißer wenn du wüsstest, welchen Wert der Schwarze hat, du würdest dich in Teer baden, um auch schwarz zu werden“ („Branco se você soubesse, o valor que preto tem, tu tomava banho de piche, ficava preto também“) lautete der Refrain der Musik, die eine Gruppe junger Schwarzer im Karneval 1975 auf der Strasse sang. Auf die Musik und das afrikanisch anmutende Auftreten der Gruppe, reagierte die Öffentlichkeit schockiert: „Rassistischer Block, Missklang“ überschrieb die Lokalzeitung einen Artikel über die Neuigkeit. Kritisiert wurde in dem Artikel die „unpassende Nutzung des Themas“, die „mangelnde Fantasie“ und die „Imitation Nordamerikas“ durch die neue Karnevalsgruppe. „Wir haben glücklicherweise kein Rassenproblem. Das ist ein großes Glück Brasiliens“ war in der Lokalzeitung zu lesen (A Tarde, 12.11.1975). Die Bezeichnung Bloco Afro und der aus dem Yorubá kommende Name, den die Karnevalsgruppe wählte, gab Hinweise auf Identität und Ziele. Der Name Ilê Aiyê kommt aus dem Yorubá und bedeutet „Haus der Schwarzen“. Ilê Aiyê wollte ein AfroBlock der „schwarzen Welt“ sein. Hier wollten junge schwarze Männer und Frauen am Karneval teilnehmen und dabei nicht ihre afrikanischen Wurzeln negieren. „Als wir zum ersten Mal im Karneval waren, bekamen die Leute Angst, liefen davon, brachten ihre Kinder nachhause, weil wir eine Gruppe Schwarzer waren und auch weil wir aus Liberdade kommen.... dieses Viertel wurde immer gefürchtet als Viertel von aufmüpfigen, kämpferischen Menschen .. das verschaffte Respekt“, erinnert sich Antonio Carlos dos Santos, genannt Vovô (Opa), einer der Gründer und bis heute Präsident der Gruppe (Vovô, 1992). Die Geschichte Ilês ist untrennbar mit dem Viertel Liberdade verbunden. Liberdade hat ca. 400.000 Einwohner und ist eines der größten schwarzen Stadtviertel Lateinamerikas. Immer wieder wird es als eine Art „Harlem soterapolitano“ bezeichnet. Für den Besucher stellt sich 93 Die Hochphase des Bloco de Indio „Apaches“ in den 70er Jahren sei mit der Entstehung einer neuen, aus dem städtischen Proletariat hervorgehenden Mittelklasse einhergegangen. 94 « O mais belo dos belos » ist der Teil einer Musik von Daniela Mercury. 178 das Viertel als ein ziemlich unüberschaubares, sich an die Oberstadt anschließendes, Richtung Bucht ausbreitendes Wohngebiet dar. Über die belebte Hauptstrasse schieben sich unzählige Busse, die die Menschen aus ihren Häusern ins Stadtzentrum transportieren. Ein Aufzug (Plano Inclinado da Liberdade) verbindet das hochgelegene Viertel mit der Unterstadt. Der Platz am oberen Ende des Aufzugs heißt inzwischen Nelson Mandela-Platz. Kurz danach biegt man aus dem Zentrum kommend oben am Supermarkt nach rechts nach Curuzu ab. Hier entstand die Idee das schwarze Universum zu zeigen. „Eigentlich sollte die Gruppe „Poder Negro“ (Black Power) heißen, aber da hat es Probleme mit der Polizei gegeben, die das nicht registrieren wollten“ erzählt Vovô (Vovô, 1992). Das Orakel der Kauri-Muscheln habe dann diesen Namen ergeben. Ilê Aiyê ist eng mit den Riten und Gebräuchen des Candomblé verbunden. Das „Herz“ des Bloco ist das Haus von Mãe Hilda, Mutter des Präsidenten Vovô. Mãe Hilda ist Priesterin des Candomblé und an das Wohnhaus in der steilen Curuzu-Gasse im Stadtteil Liberdade schließen sich die Räumlichkeiten für die Candomblé-Feiern an. Fast alle der zur Führungsgruppe des Bloco gehörenden Personen erfüllen Ehrenaufgaben im Terreiro. Die enge Beziehung des Präsidenten zum Candomblé als Sohn Mãe Hildas, sowie seine Position als „Sohn Oxalás“ eines der meist verehrten Orixás und sein offenes Bekenntnis zur afrobrasilianischen Religion, legitimieren seine hierarchische Position im Bloco, dessen Präsident er seit 1981 ist. Musikalisch hat Ilê die rituellen Instrumente des Candomblé integriert. Der Samba nach Art der Sambaschulen Rio´s wurde abgelöst von einer Mischung aus bahianischen Samba- und Ijexá- Rhythmen95. Auch in den Liedern Ilês ist immer wieder die Candomblé-Religion präsent, werden Mythen und Legenden der Orixás angesprochen. Dabei wird darauf geachtet, was in der Öffentlichkeit gesungen werden darf und was nicht. „Hier singen wir nicht, was wir nicht dürfen auf der Strasse. ... Im Zweifel fragen wir meine Mutter oder die Älteren. Wenn sie sagen, dass wir etwas nicht singen dürfen, singen wir es auch nicht“ (Vovô, 1992). Zu den wichtigsten Elementen Ilês gehört die Stärkung des schwarzen Selbstbewusstseins. Der zunächst wichtigste Aspekt ist die Akzeptanz des eigenen Körpers mit seinen Charakteristiken. „Die Leute sagen, dass unser Haar schlecht ist, wir sagen, unser Haar ist nicht schlecht, unser Haar ist kraus. Wir sagen, dass Schwarze nicht stinken, dass Schwarze 95 Als Ijexá werden bestimmte Rhythmen im Candomblé bezeichnet, insbesondere ein für die Oxum gespielter, stark kadenzierter Rhythmus (Cacciatore 1977:143) 179 gut riechen, dass die schwarze Frau schön ist, sinnlich, dass Schwarze nicht dumm sind... Wir konnten das tatsächlich verändern, dass du kein Rot anziehen kannst, keine bunten Kleider“ listet Vovô auf (Vovô, 1992). Diese einfach wirkende Aussage, beinhaltet einen Kernpunkt des brasilianischen Rassismus: durch die Jahrhunderte lange Vermischung der Rassen, sind die äußeren Trennlinien aufgeweicht. Umso wichtiger wurden die Einzelheiten, die zur Abgrenzung herangezogen werden: Von der Breite der Nase bis zum Zustand des Haares. Den krausen oder glatten Haaren kommt vielleicht dabei die größte Bedeutung zu, da diese am leichtesten veränderbar sind. Wie die Haare getragen werden, ist bis heute fast immer auch Ausdruck einer bestimmten Haltung.„Ich war einer der ersten, die sich die Haare wachsen ließen, vorher hatte ich Black-Power-Haare, seit 1981 habe ich die Haare nicht mehr geschnitten“ erzählt Vovô und verdeutlicht: „Ich bin kein Rasta, ich habe nur RastaHaare. Meine Religion ist der Candomblé“ (Vovô, 1992). Dreadlocks und Flechtfrisuren wie sie zunächst von den Afro-Brasilianern aus der Szene der Blocos Afros getragen wurden, sind ein gutes Beispiel für materielles und symbolisches Engagement, bei dem die Konstruktion einer kulturellen Identität als gelebte Realität ein Weg ist, in der Welt zu sein. Bis heute sind Rasta-Haare Ausdruck schwarzen Selbstbewusstsein. In breiten Kreisen rufen sie immer noch Unwillen hervor. „Das ist das zweite Mal, dass ich mir Rasta-Haare wachsen lasse. Das erste Mal musste ich sie abschneiden wegen der Arbeit. Als Chauffeur.... Denn, wer Rasta-Haare hatte, bekam keine Arbeit. Bis heute gibt es dieses Vorurteil in Brasilien.. Die Eltern erzählen den Kindern ja sogar, dass die mit Rasta-Haaren Tiere sind, die kommen, um sie zu holen, wenn sie nicht brav sind.... Seit 1987 lasse ich meine Haare wieder wachsen... Hier am Pelourinho habe ich immer Probleme. Ich war einer der ersten, die Ohrringe benutzten. Ich war der erste, der geflochtene Haare hatte. Die ersten hier mit Rasta-Haaren waren ich und João Jorge...“ (Lazinho, 1994). Die Philosophie aller Blocos Afros ging von Ilê Aiyê aus. Die Aufgabe der Blocos Afros sieht Vovô in der Bewusstseinsbildung. „Hier in Bahia ist es schwer die Massen anzusprechen. Zu den Seminaren und Debatten gehen doch immer wieder dieselben Personen. Mit der Musik aber kannst du Botschaften vermitteln“ (Vovô, 1992). Das Selbstbild der Schwarzen veränderte sich dank Ilês. „Die bahianischen Schwarzen sind kulturell sehr entwickelt, aber politisch, sieht es so aus, als seien wir wenig gewachsen....Unser schwarzes Bewusstsein ist ähnlich wie das von Steve Biko.. Stolz darauf Schwarzer zu sein, sich selbst zu mögen, sich 180 nicht zu schämen, sich selbst anzunehmen, zu zeigen, dass die Geschichte der Schwarzen nicht schlecht ist... Das haben wir ein bisschen geschafft“ (Vovô, 1992). Ilê nimmt bis heute eine Sonderrolle unter den Blocos Afros ein. Ilê ist der Ausgangspunkt aller Blocos Afros und in ganz besonderer Weise religiös eingebunden. Ilê erhält die Geheimnisse der Vorfahren, eine zentrale Rolle nimmt dabei Mãe Hilda ein. Bis heute dürfen bei Ilê nur Schwarze am Karnevalsumzug teilnehmen. Eine Praxis, die als Strategie zum Erhalt der schwarzen kulturellen Manifestationen gerechtfertigt wird. „Als wir Ilê gründeten, war die Teilnahme der Schwarzen am Karneval ganz gering. Damals gab es keine Blocos mit einer auf die Schwarzen ausgerichteten Philosophie, wohl gab es Karnevalsgruppen in denen viele Schwarze waren. Gerade deshalb gründeten wir Ilê. Weil wir beobachteten, dass die Schwarzen nur als Musiker oder Träger der Allegorien am Karneval teilnahmen. Mit den Blocos Afros hat sich dies geändert (Vovô 1996:21). „Was hier mit den gemischten Gruppen passiert ist, dass die Schwarzen ihre Referenz als Menschen anderer ethnischer Herkunft verlieren. Und wir von Ilê versuchen den Schwarzen zu zeigen, dass der Schwarze schön ist, wenn er sich selbst annimmt und unter sich bleibt. Unsere Haltung ist Teil einer Umerziehungspädagogik des schwarzen Volkes sich selbst zu akzeptieren. Und weil die Leute unsere Haltung nicht verstehen oder aus bösem Willen, verbreiten sie, dass wir Rassisten sind“ (Vovô 1991 in A Tarde zitiert nach Guerreiro 2000:29) Das Verhältnis aller Blocos Afros zur Politik ist schwierig – bewegt sich zwischen Widerstand und Anpassung. Grundsätzlich unterstützt die Ilê Aiyê schwarze Kandidaten unabhängig von der Partei. Vovô kritisiert: „Die Schwarzen akzeptieren es bis heute nicht sehr, von Schwarzen Anordnungen zu befolgen... die in einer ähnlichen Situation sind, stehen immer in Konkurrenz zueinander“ (Vovô, 1992). Andererseits aber hat Ilê 1992 WahlKampagne für den mächtigen konservativen Politiker ACM gemacht. „Nicht für Geld“ wie der Präsident betont, aber für das Versprechen, das dem Haus Mãe Hildas gegenüber liegende Grundstück zu bekommen. Hier soll eine Art Kulturzentrum Ilês gebaut werden, in dem für die gesamten sozialen und kulturellen Aktivitäten Platz sein soll. Seit einigen Jahren unterhält der Bloco eine Schule im Festsaal der Candomblé- Stätte. In zwei Gruppen morgens und zwei Gruppen nachmittags werden dort Kinder aus dem Viertel unterrichtet. Daneben gibt es die kulturelle Arbeit wie Trommel- und Tanzunterricht. In die 181 Jugendgruppe, die Banda Erê, wird nur aufgenommen, wer an einer Schule immatrikuliert ist. „Der Candomblé war immer Haus der Lehre und diese Funktion wird in unseren verschiedenen Schulen fortgeführt” Mãe Hilda. Seit 1995 gibt die Gruppe in unregelmäßigen Abständen Hefte mit Themen der afrobrasilianischen Kultur heraus. Im Bau befindet sich derzeit ein staatlich finanziertes Kulturzentrum Centro Cultural Senzala do Barro Preto. Abschließend soll einer der magischsten Momente des bahianischen Karnevals beschrieben werden: der Auszug Ilê Aiyês aus Curuzu. Vor dem Karnevalsauftritt kommt der politische und ästhetische Diskurs und ein Ritual für die Orixás. Der Auszug aus Curuzu am Samstag-Abend „Wer kommt die schmale Strasse aus Curuzu herauf? Es ist eine der schönsten Sachen, die man sehen kann, es ist Ilê Aiyê Der Schönste der Schönen, bin ich, bin ich Schlag dir fest auf die Brust und sage: Ich bin Ilê Halt mich nicht fest, lass mich in Ruhe Ich möchte Ilê genießen, den Charme der Liberdade Der Swing dieser Band ist so hypnotisierend Meine schwarze Schönheit Hier bist du es die zählt“ Quem é que sobe a ladeira do Curuzu? É a coisa mais linda de se ver, é o Ilê Aiyê O mais belo dos belos, sou eu, sou eu Bata no peito mais forte e diga: eu sou Ilê Não me pegue não, me deixe a vontade Deixe eu curtir o Ilê, o charme da Liberdade É tão hipnotizante o suingue desta banda A minha beleza negra Aqui é você que manda...“ (Guiguio, Valter Farias, Adailton Poesia) 182 Wenn Ilê Aiyê am Karnevals-Samstag nach einem Candomblé Ritual vom Haus Mãe Hildas aus die schmale Curuzu-Strasse auszieht, so ist das mit einer der magischsten Momente des bahianischen Karneval. So gegen neun Uhr abends ist die steile Gasse schon ziemlich voll mit Menschen, die in kleinen Gruppen zusammenstehen, Bier trinken und freudig Bekannten zuwinken. Aus dem gegenüberliegenden Proberaum tragen Jungen Trommeln herüber, die sie vor dem Haus von Mãe Hilda auf dem Boden anordnen. Die jungen Trommler tragen stolz die rot-weiß-gelb-schwarzen Gewänder des Bloco. Rot für das während der Sklaverei vergossene Blut, gelb für die Macht, das Schwarz wie die eigene Hautfarbe und das Weiß des Friedens. Sie wissen, wie schön sie sind. Einige haben die dunklen Kraushaare scheren und Muster hineinschneiden lassen, die sie durch Blondierungen hervorheben. Ein anderer trägt Zöpfchen, in die Hunderte von Perlen geflochten sind. Jemand hat ein Tuch, wie eine Krone um den Kopf geschlungen. Viele haben, obwohl es dunkel ist, Sonnenbrillen auf der Nase. Noch cooler ist es, die Brille falsch herum auf die Ohren zu klemmen. Auf den teilweise unbedeckten Oberkörpern, sind Ketten in den Farben der Orixás zu sehen, vor allem im kräftigen Blau Ogums, der als mutiger Krieger der Straße gilt. Der Eingang zum Haus Mãe Hildas wird von kräftigen Wachen geschützt. Zugang haben nur die engsten Mitglieder des Bloco und Prominenz, die zur festlichen Karnevalseröffnung des Bloco erwartet wird. Von der Veranda aus beobachten auch international bekannte Musiker, Film- und FernsehSchauspieler und die lokalen Politiker die Zeremonie. Vor dem Eingang gehen bereits Fotound Fernsehjournalisten in Stellung, um die besten Szenen dokumentieren zu können. Währenddessen ist Mãe Hilda im Barracão im Hinterhaus des Gebäudes mit den rituellen Handlungen beschäftigt, die dem Bloco einen ungestörten und erfolgreichen Karnevalsumzug sichern. Es dauert eine Weile bis alle Trommeln aufgebaut und vor allem alle Trommler auf ihren Plätzen stehen. Die Spannung steigt. Die Veranda des Hauses wird immer voller. Neben den an eine afrikanische Königsfamilie erinnernde Führungsgruppe des Bloco, die mit prächtigen Turbanen auf den Beginn der Zeremonie auf der Strasse warten, wirken die Musikund Filmstars blaß und unscheinbar. Ein Trommelwirbel leitet die Zeremonie ein. Mãe Hilda in ihren blütenweißen weiten Spitzenröcken drängt sich zusammen mit zwei Helferinnen durch den Eingang auf die Strasse. Aus großen Schüsseln verteilt sie Popcorn und weißes Maniokmehl auf dem Boden und über die Menschen. Sicherheitskräfte schützen sie vor dem Andrang der Menge und formieren einen Korridor bis zum wenige Meter weiter oben wartenden Karnevalswagen. Mit dem Ritual werden die Wege für den diesjährigen Umzug geöffnet und insbesondere Exu, der Herr der Straßenkreuzungen geehrt. Einer der schönsten 183 Momente steht noch bevor. Zurück im Haus übergibt sie jedem der Mitglieder auf der Veranda eine weiße Taube. Auf ein Zeichen hin lassen die Menschen die Tauben, die Botschafter des Friedens, fliegen. Sie sollen sich nicht setzten sondern die Botschaft in die Welt tragen. Mit einem ohrenbetäubenden Feuerwerk, das vom Dach des schräg gegenüberliegenden Hauses ab gefeuert wurde, endet die Einweihungszeremonie. Noch eine kurze Minute des Schweigens – dann übernehmen die Trommeln das Kommando des Festgeschehens. Langsam schieben und drängen sich die Menschen in Richtung Karnevalswagen. Die diesjährige Beleza Negra, schön wie man sich eine schwarze Prinzessin vorstellt, mit prächtigem Kopfputz, strahlendem Lächeln und anmutigen Bewegungen wird von ihrem nicht weniger schönen Begleiter zum Wagen gebracht. Es dauert eine Weile bis sich ein Zug formiert. Es liegt eine freudvolle Stimmung in der Luft. Die Frauen Ilê Aiyês scheinen sich mit ihren kunstvoll gewickelten, riesigen Turbanen, den langen Ketten und bunten Armreifen an würdevoller Schönheit zu überbieten. Einige tragen auch kunstvolle mit Muscheln geschmückte Flechtfrisuren, deren Herstellung viele Stunden in Anspruch nimmt. Auf den Stoffen ihrer Gewänder sind Namen und Symbole afrikanischer Länder oder Persönlichkeiten aufgedruckt. In jedem Jahr wird sorgfältig für das Thema recherchiert und die Ergebnisse in Postillen verfasst. Mehrere Stunden dauert es bis der Menschenzug die schmale Rua do Curuzu durchquert hat und die Hauptstrasse des Liberdade-Viertels erreicht. Ohne Pause spielen die Trommler, singen die Menschen die Lieder des Bloco. An den Fenstern, auf den Balkonen, auf den Dächern stehen Menschen, singen und tanzen und winken den Vorbeiziehenden zu. Auch wenn es immer mal wieder erdrückend eng wird, gewalttätige Rangeleien oder gar Schlägerein gibt es nicht. Die Stimmung bei Ilê ist gelöst, friedlich. Der Auszug aus Curuzu ist sicherlich einer der würdevollsten und schönsten Momente des bahianischen Karnevals. Wenn der Auszug aus Liberdade weit nach Mitternacht zu ende geht, stärken sich viele der Teilnehmer noch schnell, bevor sie sich in einen knallvollen Bus quetschen, der Richtung Zentrum fährt. Erst spät in der Nacht beginnt der Karneval für Ilê Aiyê am Campo Grande. 184 9.3.2 Die Fischer von der Lagune - Malê Debalê Die islamisierten Afrikaner und ihr denkwürdiger Aufstand 1835 (A Revolta dos Malês) gaben die Inspiration zum Namen des zweiten (nach Gründungsalter) großen, heute noch existierenden Bloco Afro Malê Debalê. Jocélio de Araújo, Elektriker und bis heute Präsident erklärt den Namen: „Die Malê sind ein afrikanischer Stamm, Muselmanen. ... Debalê ist ein Wort, das es eigentlich nicht gibt, eine Idee von uns. ... Malê Debalê sind glückliche Schwarze, Stamm der Glückseligkeit“ (Jocélio, 1992) . Zum ersten Mal nahm Malê Debalê 1980 am Karneval teil. Schon bald wurde die Gruppe für ihre Afro-Tanz-Darbietungen berühmt. Neben der Musik und den Texten sind die tänzerischen Einlagen eines der wichtigsten Elemente bei der Konstruktion der Identität. Mit immer wieder neuen Choreographien, der Einbeziehung von Capoeira und in Anlehnung an die Tänze in den Candomblé-Häusern präsentieren sich die Afro-Blocos im Karneval. Malê Debalê hat seinen Sitz an einem der touristisch markantesten und bekanntesten Orte Salvadors: an der Lagoa do Abaeté im Stadtteil Itapuã. Das frühere Fischerdorf, 25 Kilometer vom Zentrum entfernt gelegen, gehört inzwischen zum Stadtgebiet. Dennoch inspiriert der Ort bis heute viele bahianische Musiker und Künstler, von Dorival Caymmi bis Caetano Veloso. Die unberührte Dünenlandschaft, in der die Lagune versteckt lag, ist inzwischen weitestgehend zersiedelt. Dennoch haftet dem Ort ein gewisser Zauber an, werden in den dunklen Wassern der Lagune Geschenke für die Göttin des Süßwassers Oxum gemacht. „Malê ist der Bloco der Fischer, der Baianas, der Arbeiter und der Wäscherinnen der Abaeté-Lagune“ beschreibt Jocélio das Profil der Mitglieder. Diese arme, bedürftige Bevölkerung sei es, die den Bloco ausmache. Die permanenten finanziellen Schwierigkeiten des Bloco erklärten sich auch daher: „Wenn das Meer keinen Fisch hergibt, oder es regnet, dass die Wäscherinnen nicht waschen können, dann ist kein Geld da um den Bloco zu bezahlen“ erläutert Jocélio (Jocélio, 1992). Religiös seien die Mitglieder Malês mit dem Candomblé verbunden „Unser Volk ist vom Candomblé, natürlicherweise, durch die Herkunft, die Erziehung...die Tradition. Auch alle, die katholisch sind, sind vom Candomblé.“ Dennoch sei der Bloco offen für alle Konfessionen, nur Evangelisten gebe es nicht. Früher war der Bloco wesentlich größer als heute. „Da ging man Samstag zu Ilê, Sonntag nach dem Strand kamen die Leute zu uns“ erinnert sich Jocélio (Jocélio, 1992). Viele Mitglieder des sich gerade formierenden politischen Schwarzen Bewegung des MNU kamen 185 zu Malê. Der Prozess der Bewusstwerdung der jungen Schwarzen wurde von den Regierenden nicht gern gesehen. „Malê war so etwas wie ein Druck-Ventil, die demokratischen Verhältnisse damals waren nicht so wie heute, es war die Zeit der Diktatur“ (Jocélio, 1992) Wie Ilê orientiert sich Malê musikalisch an den Afro-Rhythmen. Dennoch spielt kein Bloco Afro wie der andere. Die Trommelmeister versuchen immer wieder neue Variationen zu erfinden, auch wenn sie die erfolgreichen Rhythmen anderer Gruppen imitieren . Die Liedtexte basieren auf den Postillen, welche die jeweiligen Themen erläutern und an die Komponisten verteilt werden. „Die Blocos Afros machen Bewusstseinsbildung. Die Trios machen nur ihre Feste, weiter nichts“ differenziert Jocélio (Jocélio, 1992). Als wir Malê zum ersten Mal besuchten, trafen sich eine Handvoll Trommler und nur wenige Zuschauer auf einem schlecht beleuchteten holperigen Fußballfeld oberhalb der Lagoa do Abaeté. Die Männer um den Präsidenten nahmen sich sofort unserer an: Wir sollten uns im Dunklen nicht weiter weg bewegen von der Gruppe, hier gebe es eine Menge Diebe und Gauner. Nach Ende der Probe wurden wir aus Sicherheitsgründen bis zur Bushaltestelle unten an der Straße gebracht. Die Dünen um die Lagune sind durch wilden Hausbau inzwischen zu einem eigenen Stadtviertel „Nova Brasília“ mit mehreren Tausend Menschen gewachsen und nicht weit entfernt liegt die größte Favela Salvadors, das „Bairro da Paz“ (Viertel des Friedens) mit rund 40.000 Menschen. Beide Viertel sind für die prekären sozialen Verhältnisse und die hohe Kriminalität bekannt. Ein Jahr später trafen wir die Malês an der Kooperative der Fischer am Strand von Itapuã. Wegen der ständigen Belästigungen und Übergriffe krimineller Jugendlicher hatten sie vorübergehend ihre Proben hierher verlegt. Inzwischen, nach der Einrichtung des „Parque da Laoga do Abaeté“, die aus der verträumten Lagune ein Ausflugsziel mit vielen Bars und Restaurant gemacht hat, hat der Bloco Afro endlich Ende der 90er Jahre seinen eigenen Sitz einweihen können. Hier haben auch die über den Karneval hinausgehenden Projekte wie Afro-Tanz- und Capoeira-Unterricht, sowie berufsbildende Maßnahmen und ökologische Erziehung für die Jugendlichen aus den umliegenden Vierteln einen Platz gefunden. 186 9.3.3 Olodum do Pelô Olodum wurde am 25.April 1979 im Maciel/Pelourinho gegründet. Das Pelourinho-Viertel, so benannt nach seinem wichtigsten Platz, ist ein Labyrinth von steilen Gassen, Ecken, versteckten Plätzen und Winkeln, Barock-Kirchen und ehemaligen Bürgerhäusern. In dem heruntergekommenen Altstadtviertel lebten Anfang der 80er Jahre fast nur von der Gesellschaft an den Rand gedrängte: Tagediebe und Prostituierte, Zocker und Drogenhändler, einige wenige arme Künstler und Musiker. In den verfallenden Häusern lebten die Menschen ohne minimale sanitäre Einrichtungen, fließend Wasser oder Privatsphäre. Auch tagsüber wagten sich Menschen, die nicht aus dem Viertel stammten, nur selten in die engen Gassen und nachts lag auch der große Platz Terreiro de Jesus fast immer wie ausgestorben da. Nur in den Bars sammelten sich die Menschen. In einigen wenigen begannen die Besitzer einen neuen Rhythmus aufzulegen, an dem die negrada Gefallen fand: Reggae aus Jamaika. Die Bar do Reggae in der Gregório de Mattos Gasse, die Cantina da Lua am Terreiro de Jesus und das Banzo am Pelourinho bildeten schon bald das sogen. Bermuda-Dreieck des Viertels, das zunehmend auch Musiker und andere unkonventionelle junge Schwarze anzog. Der Besuch der Gegend blieb jedoch auch weiterhin mit einem gewissen Risiko verbunden. Nur die Cantina da Lua war vom Praça da Sé–Platz relativ unproblematisch zu erreichen und erfüllte eine Brückenkopf-Funktion zu den anderen Bars. Hellhäutige Mittel- oder OberschichtsBrasilianer kamen erst nach der Restaurierung und angezogen vom Erfolg Olodums Mitte der 90er Jahre in das Altstadtviertel. Der Name Olodum wird hergeleitet von Olodumaré und bedeutet im Yoruba „Gott der Götter“. Die Aktivitäten des Karnevalsbloco Olodums zogen zunächst nur wenig Aufmerksamkeit auf sich. Zwei Jahre nach der Gründung trennte sich ein Teil der Mitglieder und gründete den Bloco Afro Muzenza. Olodum wird immer schwächer, am Karneval 1983 nimmt die Gruppe nicht einmal mehr teil. Die grundlegende Veränderung Olodums beginnt im selben Jahr mit der Wiederbelebung als Grupo Cultural Olodum und personellen Veränderungen: vom Bloco Afro Ilê Aiyê kommen João Jorge Rodrigues dos Santos und seine Schwester Cristina und Antônio Luís Alves de Souza, genannt Neguinho do Samba. Cristina wird die erste Präsidentin des Bloco, gefolgt vom wortgewandten João Jorge, der mit Unterbrechungen die meiste Zeit seit 1989 Präsident ist. „Wir entschieden uns dazu eine kulturelle Gruppe zu gründen, weil wir so das ganze Jahr über Aktivitäten würden entfalten können, politische Aktivitäten ebenso wie gleichzeitig den Karneval der Negritude neu zu 187 überdenken. ... Der Weg der Aktion, der innerhalb der schwarzen Gemeinschaft fehlte, war der der politisch-kulturellen Aktion.“ (João Jorge, 1992). Der charismatische Neguinho do Samba übernimmt die Leitung der Musikgruppe und beginnt eine Art Musik zu spielen, die später als Samba-Reggae bekannt werden sollte. „Ich habe trommeln gelernt mit den Waschschüsseln meiner Mutter“, erzählt Neguinho do Samba (Neguinho do Samba, 1992). „Meine Mutter war Waschfrau, wir waren 11 Geschwister. Meine Schule war der Candomblé...meine Brüder haben im Candomblé gespielt, mein Vater ...“ Fast noch ein Kind begann der Junge gegen den Willen der Mutter bei einer Karnevalsgruppe zu spielen, die „Os Lordes“ hieß. Die Gruppe spielte Samba und Frevo und probte am Pelourinho. „Ich danke den Orixás, daß ich mich schon als kleiner Junge auf diese ganze Geschichte mit dem Samba eingelassen habe... Alle meine Rhythmen haben mit dem Candomblé und der Ordnung der Trommeln zu tun: Rum, Rumpi und Le“ (Interview Neguinho do Samba, 1992). Neguinho spielte bei den verschiedensten Karnevalsgruppen: zunächst den Sambaschulen, später den Blocos de Índio, aber auch den ältesten Blocos de Trio. Mitte der 70er Jahre gehört er zu den Gründern des ersten Bloco Afro Ilê Aiyê, wo er bis 1983 Musikmeister bleibt. Als sich Ilê Aiyê wenig offen zeigt für rhythmische Veränderungen des traditionellen Samba, akzeptiert Neguinho die Einladung der neuen Führungsriege Olodums. Als Samba-Reggae werden eine Vielfalt von Rhythmen bezeichnet, an deren Kreation Neguinho do Samba maßgeblich beteiligt war. Er wechselte Instrumente der traditionellen Samba-Gruppen aus, nahm Inspirationen aus dem Reggae auf, der in den Bars des Pelourinho gespielt wurde – inwieweit er als Erfinder des Samba-Reggae zu bezeichnen ist, ist schwer abschätzbar. Zweifellos aber hat er den Klang Olodums in einer bestimmten Epoche geschaffen. Den sonoren Klang der Musik Olodums prägen die surdos, große, zweifellige Basstrommeln, welche die Spieler mit breiten Gurten umgehängt haben. Zum Spielen benutzen sie dicke Holzschläge mit rundem Kopf. Es gibt hohe, mittlere und tiefe Stimmen. Neben den Surdos ist eine repique genannte kleine Trommel mit ihrem hohen, durchdringenden Ton, die die Trommler Olodums mit dünnen, selbstgeschnitzten Holzstöcken spielen, das auffälligste Instrument. Der Bandleader spielt auf sogen. timbales, zwei unterschiedlich großen Rahmentrommeln, die auf einem Metallständer installiert sind. Daneben gibt es noch andere Arten von Trommeln, wie die schnarrende Caixa, oder die mit den Händen gespielten timbaus. 188 Die Trommeln Olodums sind in den Farben Rot, Gelb, Grün und Schwarz angemalt, den Farben des Pan-Afrikanismus, der Rastafari-Bewegung und des Reggae, den Farben der schwarzen Diaspora. Das Grün repräsentiert die Urwälder Afrikas, das Gelb das Gold des afrikanischen Kontinents, das Rot das Blut der schwarzen Rasse und das Schwarz den Stolz der Afrikaner. Die Wahl dieser Farben zeigt das Universum mit dem sich die Gruppe identifiziert. Deutlich wird dabei auch das Ausmaß der Globalisierung schwarzer Identität. Die Proben Olodums, dienstags im Hinterhof des Teatro Miguel Santana und sonntags auf dem Pelourinho, waren eines der wenigen Freizeitangebote für die dort ansässige Bevölkerung und die Gruppe eine der wenigen Möglichkeit in einem Bloco am Karneval teilzunehmen. Schon bald wurden die Proben zu einem Treffpunkt schwarzer Jugendlicher mit wilden Ideen und ein Ort, an dem ständig neue Rhythmen erfunden, Liedtexte gedichtet und Tanzchoreografien erarbeitet wurden. João Jorge erzählt: „Seit 1983 hat die Musik im Karneval starke politische und ideologische Inhalte bekommen, weil die neue Ideen schwarzen und sozialen Bewusstsein ausgehend vom Verständnis der Apartheid und der Geschichte der Schwarzen... schon bald die Liedtexte, die Vibrationen der Rhythmen Olodums, die Farben der Instrumente, das uns umgebende Schönheitsideal färbte....Die Musik wurde gewürzt durch das Klima in einem Topf, dessen Zutaten dazu führten, dass eine neue Etappe schwarzen Bewusstseins geschaffen wurde“ (João Jorge, 1992). Olodum beginnt ein Projekt, das sich „Rufar dos Tambores“ (ungefähr: Raunen der Trommeln) nennt und dessen Ziel es ist, die Kinder von der Strasse des Altstadtviertels zu holen und ihnen nicht nur trommeln beizubringen, sondern auch Grundkenntnisse afrobrasilianischer Geschichte und Gegenwart. Die „Banda Mirim“, die Kindergruppe Olodums, zu der zeitweise über 200 Kinder gehören, war geboren. Dies sind auch die Anfänge der bis heute existierenden Kreativschule Olodums. „Zu Beginn der 80er Jahre bekam die Vorliebe für Musik Züge einer sozialen Bewegung“ schreibt die Anthropologin Goli Guerreiro. „Je mehr sich ein akademischer anti-rassistischer Diskurs durchsetzte, umso mehr konstituierte sich eine organische Intelektualität, die innerhalb der bahianischen Schwarzenbewegung Gewicht bekam. Sie widmeten sich einer historisch-antropologischen Forschung, deren Ziel die Rettung der schwarzen, kulturellen Wurzeln war“ (Guerreiro, 2000, S. 43). Das Bestreben Olodums einer wissenschaftlichen Herangehensweise an die eigene Vergangenheit war zunächst umstritten. 189 Das Jahr 1987 bringt den musikalischen Durchbruch Olodums. Das bereits erwähnte Lied Faraó wird zum Karnevalshit, Olodum nimmt die erste Platte „Olodum, Egito, Madagascar“ auf, die über 50.000 mal verkauft wird. „Zunächst wurde die Musik nur hier in den Häusern und auf den Strassen gesungen... um dann die Musik der Stadt zu werden, ohne zu irgendeinem Moment ihre Herkunft zu verstecken... Viertel nach Viertel zu erobern, neue Ideen und Inhalte aussäend... Nachdem die Musik Salvador erobert hatte, breitete sich diese Musik aus in Rio und São Paulo, Brasília und Pernambuco“ (João Jorge, 1992). Von nun an bringt die Gruppe jedes Jahr eine neue Platte auf den Markt. Eine aus in der Regel 10 Trommlern plus Sängern bestehende Banda Show beginnt in ganz Brasilien und im Ausland aufzutreten. In den besten Zeiten treten gleichzeitig mehrere Showgruppen an verschiedenen Orten gleichzeitig auf. Nach seinem Erfolg mit der Platte Graceland, die er zusammen mit südafrikanischen Musikern aufgenommen hatte, kommt Paul Simon 1988 auf der Suche nach neuen, unverbrauchten Rhythmen nach Bahia. Zu diesem Zeitpunkt ist er der erste, der Popmusik mit dem Label WorldMusic verkauft, wie die neuen Musikstile - Kombination von westlicher populärer Musik mit Rhythmen, Instrumenten und Musiken aus den übrigen Kulturkreisen genannt werden. In Brasilien macht er Aufnahmen mit Olodum, Nana Vasconcelos, Uakti, Milton Nascimento. Auf dem 24. Festival de Jazz in Montreux, Schweiz stellt er 1990 „The Rythm of the Saints“ vor. Die Trommler vom Pelourinho bilden den perkussiven Hintergrund eines Musikstücks „The Obvious Child“, das zum Leitmotiv der Platte wird. Es ist die erste Europa-Tournee Olodums. Im selben Jahr wird der Videoclipe im Pelourinho aufgenommen, der in 140 Ländern ausgestrahlt wird. Neben der Perkussion hatte besonders die Ästhetik Olodums Paul Simon beeindruckt. „Olodum war das Interessanteste, das ich gefunden habe, um es im Fernsehen zu zeigen“. Quasi über Nacht ist Olodum durch die Aufnahme mit Paul Simon zu einer der erfolgreichsten bahianischen Musikgruppen geworden - im In- und Ausland. Von nun an ist Olodum in jedem europäischem Sommer auf Konzert reise. Die Originalität und Ausdruckskraft der bahianischen Trommler trifft besonders in Europa auf einen Markt, der auf der Suche nach neuen authentischen Rhythmen, nach World Music ist. In verschiedenen Städten gibt es entsprechende Musikveranstaltungen: In Berlin jeden Sommer die Wochen der Weltmusik, die brasilianische Nacht in Montreux, der Karneval in London etc. Olodum ist überall gleichzeitig: die Banda Show, jeweils 12 Musiker, tritt am selben Tag in Tokyo, São Paulo und Berlin auf. 190 Den vorläufigen Höhepunkt der „internationalen Beziehungen“ Olodums stellt der Besuch Michael Jacksons 1996 am Pelourinho dar. Unter der Regie des schwarzen us-amerikanischen Filmemachers Spike Lee nimmt Michael Jackson ein Video-Clip mit den Trommlern von Olodum auf. „They don´t care about us“ ist der aussagekräftige Titel der Musik, die weltweit ausgestrahlt wird. Michael Jackson verschwitzt im Olodum-T-Shirt inmitten der Trommler. Olodum T-Shirts, Baseball-Mützen und andere Acessoires werden in der Boutique Olodum verkauft. Um in Zukunft die Karnevalskostüme selbst zu produzieren und die Nachfrage nach Artikeln mit dem Label Olodum zu erfüllen, wird die Fábrica do Carnaval gegründet. Hier sollen die ansässigen Bewohner des Pelourinho in einem schwarzen Unternehmen Arbeit finden. Leider wird die Kulturgruppe von den Ereignissen durch die Restaurierung des Pelourinho-Viertels und der Umsiedlung der einheimischen Bevölkerung überrollt. Neben der Musik ist Olodum auf vielen Gebieten aktiv. Olodum veranstaltet Diskussionsrunden und Tagungen zu Themen, welche die schwarze Gemeinschaft beschäftigen. Olodum gibt regelmäßig Zeitungen heraus und gründet einen eigenen Verlag, die Editora Olodum, in der Bücher über die Gruppe erscheinen. Zu einer der erfolgreichsten Unternehmungen wird 1990 die Gründung der Theatergruppe „Bando de Teatro Olodum“. In der Gruppe versammelt der bekannte brasilianische Theatermacher Márcio Meirelles, zusammen mit der Schauspielerin Chica Carelli schwarze Schauspieler, die bereit sind, sich mit der eigenen afro-brasilianischen Realität auseinander zu setzen. Bis heute ist die Gruppe mit einem eigenen schwarzen Theater-Stil erfolgreich und beispielhaft in Brasilien. Die Grupo Cultural Olodum ist zum Zeitpunkt der Forschung eine sehr große, komplexe Gruppe, mit der sich die kommenden Kapitel ausführlich beschäftigen werden. 9.3.4 Ara Ketu – „Mehr als gut“96 Die Gruppe Ara Ketu zu beschreiben ist nicht ganz einfach, schieben sich doch zwei Bilder übereinander: Das eines stark mit Afrika und den afrikanischen Göttern verbundenen Bloco Afro aus dem armen, abgelegenen Stadtviertel Periperí und das einer erfolgreichen Pop96 „Bom de Mais“ ist der Titel einer Musik Ara Ketus. 191 Musik-Gruppe um den Sänger Tatau, deren Proben in den letzten Jahren zum Point der oberen Mittelschichts-Jugendlichen wurde und deren Verwaltung im noblen Stadtviertel Barra sitzt. Zunächst zu den Ursprüngen. 1980 gründete die Geschichts-Lehrerin Vera Lacerda zusammen mit einigen Verwandten und Freunden den Bloco Afro Ara Ketu. „Der Bloco sollte ein wenig von unserer Kultur zeigen ... nicht nur in der Musik, sondern auch im Aussehen auf der Avenida“, erzählt Vera Lacerda (Lacerda, 1992). Ara Ketu, der Name der Karnevalsgruppe stammt aus dem Yoruba und bedeutet: das Volk des Königreichs von Ketu, der Region in West-Afrika, in der die Yoruba-Völker zuhause sind. Der Name deutet auf die enge Verbindung seiner Begründer mit dem Candomblé hin. Bis heute ist der Kultur-Direktor Augusto Cézar (ein Cousin Vera Lacerdas) nicht nur plastischer Künstler, sondern auch Priester, Pai de Santo, der Candomblé-Religion. Jedes Jahr im Karneval zeigt der Bloco eine Geschichte der schwarzen Völker und macht dabei Referenzen an die afrikanischen Götter. Im ersten Jahr war es Oxossi, der König der Jagd, dem der Bloco in der Avenida seine Referenz erwies. Das Orakel der Kauri-Muscheln hatte gezeigt, daß Oxossi den Schutz des Bloco übernommen hatte. So wurde auch der ofá, sein Pfeil und Bogen zum untrennbaren Symbol Ara Ketus sowie seine Farben weiß und blau. „Candomblé und Wissenschaft vermischen sich, um dem Projekt der sozialen Emanzipation einer urban-periferen überwiegend schwarzen Bevölkerung Konsistenz zu geben“ schreibt Goli Guerreio (Guerreiro 2000). Der Rhythmus Ara Ketus wurde nicht als Samba-Reggae bezeichnet, sondern als Samba im Ijexá, einem Candomblé-Rhythmus Das Stadtviertel Periperi ist weit vom Zentrum entfernt. Um dorthin zukommen fährt man entweder die gesamte Suburbana entlang, die Strasse, die an den Pfahlbauten der Alagados vorbei stadtauswärts an der Innenseite der Allerheiligenbucht entlang führt. Rechts und links der Strasse reihen sich Autowerkstätten, Altteillager und ein paar armselige Bars aneinander, stehen die einfachen, meist unverputzten Häuschen eng gedrängt nebeneinander. Rund 400.000 Menschensollen in diesem Gebiet an der Suburbana leben. Fast ein Sechstel der gesamten Bevölkerung der drittgrößten Stadt Brasiliens. Oder man steigt in der Unterstadt in den alten wackligen Zug, den einzigen Salvadors und vergisst bei dem Blick aufs Meer die Armut um einen herum. Der Sitz Ara Ketus liegt in der Nähe des Esporte Club Periperi und des Sao Bartolomeu Parks. Der São Bartolomeu-Park ist einer der letzten Reste des ursprünglichen Urwalds, der die brasilianische Küste bei Ankunft der Portugiesen bedeckte 192 und ein geheiligter Ort für die Anhänger des Candomblé, die hier seltene Pflanzen finden. Auf dem Gelände sollen es nach einem Indianerdorf auch eine Zucker-Destille und einem Quilombo gegeben haben. Die Existenz des Parks ist durch die zunehmende Urbanisierung und Verschmutzung, sowie den Vandalismus gewalttätiger Jugendlicher bedroht. Hier in diesem Viertel hat der Bloco Afro Ara Ketu besonders während der 80er Jahre und noch bis Mitte der 90er Jahre eine Vielzahl von Aktivitäten gemacht. Perkussions-Schulen und öffentliche Proben, Tanz- und Theaterworkshops, Capoeira-Unterricht, Feste „Wir haben uns immer bemüht, die Vorstadt zu valorisieren, weil wir von dort kommen, unsere Wurzel ist da“ erzählt Lacerda (Lacerda, 1992). Auch politische Bewusstseinsbildung gehörte dazu. Als Beispiel nennt Vera Lacerda die Bürgermeisterwahlen: Während der sonntäglichen Proben in Periperi, hatten die Kandidaten die Möglichkeit sich vorzustellen. Dazu wurde die Musik wurde gestoppt und sie hatten 20 Minuten zum Sprechen über ihre Ziele. „Wenn es den Leuten gefallen hat, gab es Beifall, wenn nicht, wurden sie ausgepfiffen,“ erinnert sich Vera. Heute werden die Proben Ara Ketus eher von Politikern des Establishments besucht, die sich gern dort zeigen und im Gegenzug mit Ehren empfangen werden. Das ist auch bei den anderen Blocos Afros nicht viel anders. Was Ara Ketu unterscheidet, ist jedoch schon die „Klasse“ der Politiker: der frühere Finanzchef des Bundesstaates und heutige Energieminister Brasiliens ebenso wie der Kultursekretär des Bundesstaates oder der Chef der Exportförderung des Staates. Ara Ketu bemühte sich in den ersten Jahren besonders die Bedeutung der afrikanischen Religionen hervorzuheben, ohne sie zu folklorisieren. Ab Anfang der 90er Jahre werden Musikstil und Auftreten Ara Ketus zunehmend moderner, poppiger. 1990 hieß das Thema Ara Ketus „Modernidade negra“, wobei die zeitgenössischen Entwicklungen schwarzer Kultur dargestellt wurden. „Eine weitere Reise nach Afrika hatte mir gezeigt, dass es dort neben der Perkussion auch viel moderne Musik gab, die Musiker modernste Technologie benutzten.. Die Afrikaner waren nicht nur an den Trommeln, sie hatten sich weiter entwickelt und auch wir mussten das tun“ (Lacerda, 1992). Die Einführung elektronischer Instrumente während des Karnevalsumzugs 1991 und die Reduzierung der Trommler wurde kontrovers diskutiert. Auf dem Karnevalswagen sind jetzt die elf Musiker der Banda und noch weitere zehn Perkussionisten und der Sänger Tatau. Die 1992 aufgenommene CD Seven Gates wurde in Brasilien aufgenommen und in London gemischt. Erstmalig wurden darauf die traditionellen Trommelrhythmen mit elektronischer Musik vermischt. In Brasilien war diese Platte fast nicht 193 zu bekommen. Erst die nächste Platte Ara Ketu aus Períperi ist 1993 die erste in Brasilien gemachte CD mit elektronischer Musik. Den Vorwurf mit dem Erfolg ab Mitte der 90er Jahre die Wurzeln verloren zu haben, will Vera Lacerda nicht gelten lassen. Ara Ketu sei durch die Verhältnisse gezwungen gewesen sich zu modernisieren und professionalisieren erklärt sie während eines Karneval-Seminars der föderalen Universität Bahia 1995. 1993 passierte Ara Ketu einen der schwierigsten Momente seiner Geschichte: dem Bloco fehlten die Mittel für eine Teilnahme am Karneval. Dies sei der Einschnitt für ein Umdenken bei der Führung des Bloco gewesen. Das Jahr darauf, 1994, inzwischen mit einer aktiven Plattenfirma im Rücken (Sony) bringt den Durchbruch der bereits 1989 überwiegend aus Musikern des Bloco gegründeten Banda. Die12 Musiker mit dem Sänger Tatau sind das ganze Jahr über ausgebucht und gehen in Brasilien und im Ausland auf Tournee. Die CD Ara Ketu Bom de Mais wird über 210.000 mal verkauft und bringt eine Goldene CD. Jedes Jahr erscheint eine neue CD, die sich ähnlich gut verkauft. Der absoluten Höhepunkt ist jedoch die Live CD mit den größten Hits von 1998, die über 2.000.000 über den Verkaufstisch ging und der Gruppe Goldene, Platin und Diamantene Platten einbringt. Auf ihrer Homepage wirbt die Band für sich als Afro-PopGruppe, deren Charakteristika unterhaltsame, tanzbare, farbige und perkussive Shows seien. Alegria, Freude, sei das Stichwort die Auftritte zu charakterisieren und ebenso einziges Kriterium bei der Aufnahme in den Bloco. Ara Ketu wirbt damit der erste Bloco Afro gewesen zu sein, der durch sein anti-rassistisches Haltung auszeichnet und Menschen jeder Hautfarbe und sozialer Herkunft aufnimmt. Anders als bei Ilê Aiyê durften Weiße von Anfang am Bloco teilnehmen. Vera Lacerda, selbst hellhäutig, erzählt: „Ich hatte immer einen Spleen was Blocos Afros angeht, weil ich mehrmals versucht habe bei Ilê mitzumachen und durfte es nicht“ (Interview Lacerda 1992). Vera Lacerda ist auch die einzige der interviewten Leader der Blocos Afro, die von „afrobrasileiros“ spricht, einem eher wissenschaftlichem Terminus, im Vergleich zu den verschiedenen umgangssprachlichen Bezeichnungen wie negões, negrada, comunidade (negra) etc. Seit kurzem ist die soziale Arbeit des Bloco wieder neu belebt worden. In den seit 1997 funktionierenden Oficinas werden rund 600 Kinder betreut. Zu den Aktivitäten die dort angeboten werden gehören neben Perkussion, Tanz, Theater und Capoeira, auch Serigrafia, 194 Schneiderei und die Herstellung von Zubehör. Diese sozialen Aktivitäten werden durch Abkommen mit einer Reihe staatlicher Institutionen auf Munizipal- und Landesebene aber auch nicht-staatlicher Gruppen getragen. 9.3.5 Bahia-Jamaika: „Muzenza - der Rastafari-Kämpfer“97 Vom Bloco Afro Olodum spaltete sich 1981 eine Gruppe ab und gründete den Bloco Muzenza, damals noch mit Sitz im Maciel/Pelourinho. Mit dem Tod Bob Marleys im Mai 1981 wurde dieser zum mythischen Idol der Gruppe. „Wir hörten nur Reggae. Reggae hörten die, die eine Beziehung zur schwarzen Gemeinschaft hatten“ erinnert sich Geraldão, einer der Gründer Muzenzas. „Der Reggae von Jimmy Cliff war nicht unsere Sache, der Reggae von dem die Idee kam, war der politische Reggae, der Reggae der Befreiung, von Bob Marley. Und nicht jeder hörte den... das war wirklich ein Reggae des Widerstands“ (Geraldão, 1992). Reggae und Rastafari-Glauben wurden zu identitätsstiftenden Elementen eines Teils der Anhänger Muzenzas. Viele Mitglieder des Bloco haben Rasta-Haare, tragen Hemden mit Fotos von Bob Marley. Einige folgen auch der Philosophie der Rastafari, sind Vegetarier und rauchen Marihuana. Das Symbol des Bloco ist der Löwe von Judas, Titel der dem Kaiser Äthiopiens oder Ras Tafari Hailé Selassie98 zusteht. Muzenza benutzt die Farben der Flagge Jamaicas, grün, gelb, rot und schwarz. Seit 1983 hat Muzenza seinen Sitz im Stadtviertel Liberdade. Die Straße Alvarengo Peixoto ist heute bekannt unter dem Namen Av. Kingston, benannt nach der Hauptstadt Jamaikas. Die Macher des Bloco fühlen sich als Vertretung Jamaikas in Bahia. „Muzenza, distrito cultural, embaixador da Jamaica“ intoniert Xaréu eines seiner Lieder (Xareu, 1992). Anders als die aus dem Yoruba stammenden Namen der anderen Blocos Afros, kommt das Wort Muzenza aus dem Bantu und bedeutet Tanz der Iaô, genauer der erste Tanz der Heiligentochter nach der Zeit der Initation. „Das Wort Muzenza kommt aus dem Fundament des Candomblé, der Initiation eines Menschen in der Religion oder der die Gabe hat zu empfangen“ erläutert Geraldão (Interview 1992). Die Inspiration zu dem Namen kommt aus 97 „Muzenza, o guerreiro rastafari“ heißt ein Lied der Gruppe. Marcus Mosiah Garvey Existenz eines schwarzen Gottes und Notwendigkeit der rpückkehr nach Afrika. Garvey identifizierte sich mit der Geschichte der azus Israel vertreibenen Stämme, die als sklaven nach Babilonien verkauft wurden. Daher stammt die Identifiaktion mit Äthiopien und Haile Selassie (1975 gestorben). Äthiopien ist für die Rastafari so etwas wie das gelobte Land und Haile Selassie der Retter der schwarzen Rasse. 98 195 dem Candomblé de Angola, den die Bantu-Völker mit nach Brasilien brachten. Bei Muzenza vermischen sich Reggae, Rastafarie-Glauben und Candomblé. Die ersten Proben Muzenzas fanden am Strand von Ribeira an der Heiligenbucht satt. Der Stadtteil Ribeira, zusammen mit Bonfim auf der Itapagipe-Halbinsel gelegen, ist ein traditionelles Wohngebiete der (unteren) Mittelschicht. Wie an anderen Stränden auch, gibt es in Ribeira Strandabschnitte, die von einem bestimmten Publikum besucht werden: die alteingesessenen Bewohner des Viertels treffen sich an einer anderen Bar zu Bier und Krebsen oder Muscheln, als die Jugendlichen, die aus den armseligen Siedlungen entlang der „Suburbana“ genannten Strasse kommen, die hier beginnt und vorbei an den Alagados, den Pfahlbautensiedlungen, stadtauswärts führt. Schon bald stand Muzenza in dem Ruf, Treffpunkt von Marihuana-Rauchern, Gaunern und Kriminellen zu sein. Andererseits machte dieses Image zusammen mit den mitreißenden musikalischen Proben Muzenza besonders anziehend. Geraldão erklärt die anfängliche Ablehnung: „Das Problem von Muzenza war der Ort...ein Ort der Mittelklasse und die Leute haben das nicht akzeptiert. Dort wohnte ein Polizeichef, ein Militär, ein Politiker ... und die Musiken waren so, daß sie bekämpften, was sie machten... Die Musiken störten sie, weil zum Beispiel eine Musik, die damals davon sprach Schwarze zu versammeln, von Befreiung, von Afrika, von Schwarzen störte“ (Geraldão, 1992). Bereits im ersten Jahre brachte Muzenza rund zweitausendfünfhundert Menschen auf die Strasse. „Der Reggae ist eine Musik der Ghettos. Es ist eine Musik, um von der Armut zu sprechen, eine Musik, von all den Dingen zu sprechen, mit denen sich die schwarzen Bahianer identifizieren, welche die schwarzen Bahianer mit den jamaikanischen Schwarzen gemeinsam haben: in den Ghettos zu wohnen, ohne Bildung, in Armut, ohne eine Arbeit zu finden. ... Reggae ist die Musik des Volkes“ (Xareu, 1992). Über die Identifikation mit dem Reggae kommt es auch zu Bewusstseinprozessen wie Geraldão beschreibt: „Was uns klar werden muss ist, dass Jamaika und andere Länder der Neuen Welt sehr ähnliche Probleme haben. Haiti hat eine ähnliche Struktur wie Jamaika. In was? Ghettos, Armut und vor allem die schwarze Bevölkerung“ (Geraldão, 1992). Inwieweit seine Aussage zutrifft oder nicht, soll hier nicht thematisiert werden. Entscheidend ist, dass diese Vergleiche gezogen werden und dass er überhaupt Kenntnis dieser Länder hat und weiß, wo ungefähr sie einzuordnen sind. Die Identifikation geht sogar noch weiter, als er über die Cimarrones spricht, die aufständischen Sklaven der Karibikinsel, die ebenfalls Quilombos 196 bauten und deren Gedankengut Muzenza verbreitet: „Bahia-Jamaika: Muzenza, der RastafariKrieger“ heißt eines ihrer Lieder. Ganz deutlich sieht man auch hier, wie eine schwarze Identität aus angenommenen Gemeinsamkeiten aufgebaut wird und dass die Musik dabei eine zentrale Rolle spielt. Die Beziehung zum Rastafarianismus ist schwieriger, weil „die Publikationen fast alle in Englisch sind ... und wir bereits unsere Religion haben, den Candomblé. Wir übernehmen den Begriff Rastafarianismus, weil er von Schwarzen gemacht wurde und ein Element des Widerstands ist... weil der Rastafarianismus den schwarzen Stolz propagiert“ (Gari oder Xareu, 1992). Hier wird noch einmal deutlich, dass Rasta-Haare und die Auseinandersetzung mit dem Rastafari-Glauben in erster Linie auf einer ästhetischen, symbolhaften Ebene verlaufen. Es gibt heute immer mehr Menschen in Salvador die Dreadlocks tragen, aber nur ganz wenige Rasta, die auch zum Rastafari-Glauben gehören. Häufiger werden tatsächliche oder angenommene Elemente übernommen, um eine Identität als Rasta aufzubauen, wie zum Beispiel auch Marihuana zu rauchen. Es zeigt sich, dass die afro-brasilianische Religion des Candomblé auch für die Rasta vom Bloco Muzenza die Wurzel ihres Seins ist. „Es ist notwendig, diese Glaubensbeziehung zum Candomblé zu haben, damit man überhaupt die Kraft hat, eine solche Arbeit zu machen... ohne die Bedingungen dafür zu haben... ohne Geld ... ohne politische Kenntnis...Deshalb war es etwas, was direkt auf dem Candomblé basierte, mandinga (Zauberei), weißt du?“ (Xareu oder Mestre Gari, 1992) Die Mitglieder Muzenzas sind zum Großteil (83%) zwischen 18 und 25 Jahren alt, haben keine abgeschlossene Grundschulausbildung (76%) und verdienen zwischen einem halben und zwei Mindestlöhne (73%) (Veiga 1991:107f.). Muzenza gilt als der Bloco der Müllmänner, der Männer, die hart arbeiten. Es gibt auch Frauen im Bloco, aber die Männer sind in der Mehrheit. Warum man zu Muzenza geht? „Einige um sich zu befreien, das ganze Jahr am Schuften und dann im Karneval den Schrei nach Freiheit ausstoßen“ sagt Gari (Gari, 1992). Muzenza ist Garant für viel Tanzen und kräftige Rhythmen. In diesem Kapitel wurden die wichtigsten Blocos Afros vorgestellt. Deutlich geworden ist, dass sie über ein gemeinsames Repertoire verfügen aus dem sie die Elemente zum Aufbau ihrer kulturellen Identitäten schöpfen. Sie sind jedoch auch einzelne kleine Gemeinschaften, die durch familiäre und affektive Beziehungen zusammengehalten werden. Jede Gruppe verfügt über spezifische Charakteristika, die sei von den anderen unterscheidet. Ihren 197 Mitgliedern sind diese Besonderheiten wichtig. Viele von ihnen empfinden sich nicht nur im Karneval als Krieger Jamaikas, Malês oder dem Volk Ketus zugehörig. Insofern passt auf sie auch die von Maffesoli geprägte Bezeichnung der „modernden städtischen Stämme“ (Maffesoli 1987). Die folgenden Kapitel befassen sich ausführlich mit einem dieser Stämme: der Grupo Cultural Olodum. 198 10. Olodum und der Pelourinho Wie kaum ein anderer Ort Salvadors steht der Pelourinho-Platz für das afro-brasilianische Erbe und die Rassenbeziehungen in Brasilien. Der pelourinho war der Schandpfahl, an dem die afrikanischen Sklaven von ihren portugiesischen Kolonialherren öffentlich gezüchtigt wurden, während die Damen von den Balkonen und aus den Fensterecken ihrer Stadtresidenzen dem Schauspiel zuschauen konnten. Der Schandpfahl, der dem Platz seinen Namen gab, ist nicht mehr da, aber bis heute liegt über dem Ort eine bestimmte Aura, die ihn von anderen unterscheidet. Jeden Sonntag kamen, bis vor kurzem, Tausende schwarzer Jugendlicher zu den Sonntags-Proben Olodums auf den Pelourinho. Jeden Dienstag kommen, vor allem Afro-Brasilianer, in das Altstadtviertel um Musik zu hören und sich zu unterhalten. Das Pelourinho-Viertel mit seinen vielen Kirchen und kolonialen Bauten ist einer der größten, noch erhaltenen Barockkomplexe der Welt, mit dessen Restaurierung in den 90er Jahren begonnen wurde. Die Geschichte Olodums ist mit dem Pelourinho verbunden, dem Herzen der Altstadt Salvadors, und die Veränderungen des Viertels stehen in engem Zusammenhang zur Entwicklung Olodums. 10.1 Der Pelourinho, wie er früher war – persönliche Geschichten Bis zur Restaurierung in den 90er Jahren war das Pelourinho-Viertel ein typisches innenstädtisches Ghetto mit all den dazu gehörenden Problemen. In den zerfallenden, feuchten Altbauten wohnten die Menschen in prekärsten Verhältnissen. Prostituierte und Drogensüchtige suchten hier Unterschlupf, Diebe und Betrüger machten die Strassen unsicher. Aus dem ehemaligen Bohème-Viertel, wie es Jorge Amado in seinen Romanen beschrieben hatte, zogen die Reicheren weg, aber viele arme Familien konnten oder wollten nicht wegziehen, wegen der Nähe zu Arbeitsmöglichkeiten in der Innenstadt oder einfach, weil sie sich hier zuhause fühlten (Espinheira 1971). Das Pelourinho-Viertel ist für viele der Mitglieder Olodums einer der wichtigsten Bezugspunkte. Viele kannten die Altstadt seit ihrer Kindheit. In ihren Erzählungen wird der Pelourinho als ein aufregender, gefährlicher, aber auch anziehender Ort geschildert, ein Ort, in dem es Arbeit gab und in dem auch viel gefeiert wurde. 199 “Seit ich neun bin, komme ich an den Pelourinho. Weil ich in einer Schuhfabrik angefangen habe zu arbeiten. Die Schuhfabrik war dort, wo heute die Casa do Benin ist. Ich war ein Hilfsjunge des Schusters. Ich kam von Liberdade hierher, ich und drei meiner Brüder. Dann ist die Fabrik in den Maciel umgezogen, der das brega war, das Hurenviertel. Dann habe ich inmitten der Prostitution gearbeitet. Ich habe da gearbeitet, dann kamen diese Frauen rein. Dann ging die Anmache so hin und her“ (Washington, 1993). „Ich kam zum Pelourinho als ich neun war, arbeitete hier ein Jahr. Meine Mutter arbeitete hier als Frau, die Matratzen machte,und Wäscherin. Mein Vater hatte eine schlechte Beziehung zum Pelourinho99. Ich kam immer mal wieder hierher, später bei meiner sexuellen Initiation. Der Pelourinho war das brega, ein Rotlichtviertel. Das erste Mal, das ich eine sexuelle Beziehung hatte, war im brega, wie die meisten meiner Bekannten. Wir kamen her, um zu trinken, zu erzählen, zu vögeln, Quatsch zu machen. ... Ich bin hier zuhause. Ich bin nie beklaut, überfallen, angegriffen worden“ erinnert sich Zulu (Zulu, 1993). „Ich kam hierher mit sieben Jahren. Ich kam nur morgens. Mittags musste ich nach Hause, weil es hier barra pesada war, weil es hier eine dunkle Gegend war. Hierher kamen die Soldaten, die Matrosen, hier gab es viel Streitereien, viel Durcheinander, also ging ich dann mittags nach Haus. ... Was mich hier anzog waren die Karnevalsblocos. Ich machte bei den Mercadores de Bagda mit, war Cavaleiro, Filho do Mar, Vai Levando .. Ich habe hier Fußball gespielt. Mir gefielen die Frauen von hier...“ erinnert sich Petu (Petu, 1994). „Mein Leben war der Pelourinho. Seit ich Kind war, bin ich hierher gekommen. Später gab es hier viele Bars und Restaurants, als ich so 17, 18 war in den 70er Jahren. Nicht hier in der Gregório de Mattos, die zu gefährlich war, aber in der Rua Alfredo Brito, wo die alte medizinische Fakultät lag. ... Das war eine wilde Zeit, nur Partys. Ich ging ins Novo Tempo, eine Bar mit vielen Prostituierten, viel Gewalt“ erzählt Bira (Bira, 1994). „Ich bin hier vor dreizehn Jahren hergekommen. Da gab es immer ein Fest auf dem Terreiro und einen Haufen Musikboxen, die in den Bars spielten. Und viel Prostitution. Mir gefiel das. Ich fing an, Autos auf dem Terreiro zu waschen, hab mit den Jungs rumgehangen, schlief in den Autos und bin gar nicht mehr nach Hause“ erinnert sich Neguinho do Samba ( Neguinho do Samba, 1994). Das Pelourinho-Viertel ist die Heimat Olodums. In diesem Umfeld des Rotlicht-Milieus, der Prostitution, der Musik, der Kriminalität, aber auch der einfachen Handwerker, die in den feuchten und dunklen Altstadthäusern kleine Werkstätten hatten, ist die Karnevalsgruppe 99 Der Vater hatte jemanden aus dem Pelourinho-Viertel im Affekt getötet. 200 gegründet worden. Mit ihr nahmen hauptsächlich die Bewohner des Viertels am Karneval teil. Jahrelang veränderte sich wenig im Pelourinho-Viertel. Die weiße Mittelschicht traute sich selten in die schmalen Gassen der Altstadt, nicht einmal bei Tageslicht, aber auch viele AfroBrasilianer kamen nicht hierher. „Die Negros schämten sich bei Olodum mitzumachen, weil Olodum aus dem Rotlichtviertel (brega) kam. Olodum war viele Jahre als Karnevalsgruppe der Huren und Schwuchteln bekannt, der Diebe, das war das Etikett. Das war die große Aufgabe der Direktoren die Gruppe in einen sozialen, kulturellen und politischen Bloco umzuwandeln“ (Billy, 1994). Für den Karneval probten die Trommler Olodums im staubigen Hinterhof eines heruntergekommenen Theaters, des Teatro Miguel Santana. Die Proben waren lockere Zusammenkünfte am Sonntag-Nachmittag in einem Viertel, in dem den Jugendlichen nichts geboten wurde. „Dieser Hof, gehörte zum Institut, wo wir Holzarbeiten machten und die stellten ihn Olodum zur Verfügung. Das war reiner Lehm. Das war als Neguinho do Samba zu Olodum kam und diese Musik machte „Olodum está de volta“ („Olodum ist zurück“). Das war das Thema Ujamaa100. Das war 1982. Das war als wir alle zu Olodum kamen. Wir hatten Sonntags nichts zu tun. Vor den Proben gingen wir in die Quadra, den Innenhof, um Fußball zu spielen. Da standen dann schon die Instrumente und wir spielten darauf ein bisschen rum, so im Rhythmus von Ilê. Dann kam Neguinho do Samba und hat uns was gezeigt. Spielt so, spielt hier. Und so waren unsere Sonntage, morgens gingen wir an den Strand und von dort zur Probe von Olodum und wenn wir da raus kamen, waren wir alle braun vom Staub, der aufgewirbelt wurde. Das war für mich eine schöne Zeit, auch wenn wir nichts verdient haben. Wir wurden nie müde, wir spielten und spielten“ erinnert sich einer der ersten Trommler Olodums (Carranca, 1994). Die Sonntags-Proben waren für die Kinder und Jugendlichen aus dem Viertel ein willkommener Zeitvertreib. Als die Proben nach einiger Zeit bekannter wurden und mehr Leute kamen, begannen die Musiker auf dem Pelourinho-Platz zu proben. „Später legten wir die Probe ... auf den Pelourinho. Das hat direkt und indirekt die Einwohner begünstigt, die hier anfingen sonntags ihre Stände aufzubauen, als ambulante Verkäufer unterwegs zu sein. Die hatten eine neue Einkommensquelle. Das war eine wichtige soziale Veränderung...“ (Billy, 1994). In der zweiten Hälfte der 80er Jahre, insbesondere nach dem Erfolg des Liedes Faraó, werden die Proben auf dem Pelourinho-Platz immer bekannter in der Stadt. Mit zunehmender Beliebtheit kamen jetzt auch Besucher aus anderen Teilen der Stadt Die Bewohner des 100 Der Trommler, der hier erzählt ist Analphabet. Dennoch identifiziert er den Zeitpunkt durch das Karnevalsthema Ujamaa, die sozialistischen Dörfer des tansanischen Präsidenten Julius Nyere 201 Pelourinho-Viertels begannen eisgekühlte Getränke aus Styroporboxen zu verkaufen, aber auch mit Honig und Nelken angesetzten Zuckerrohrschnaps, cravinho genannt. Das brachte ihnen zusätzliche Einnahmen. Zumindest am Sonntag bei Tageslicht war der Besuch des Pelourinho-Platzes relativ sicher. 10.2 Die Benção am Dienstag Das Pelourinho blieb auch in den 80er Jahren ein heruntergekommenes Altstadtviertel mit einer marginalisierten Bevölkerung. So langsam breitete sich aber auch der Ruf aus, dass dort Musik zu hören war, die sonst nirgends gespielt wurde. Die Bars im Pelourinho-Viertel waren die ersten Orte in Salvador, die jamaikanische Reggae-Platten in ihren Musikanlagen abspielten. Der Reggae kam quasi über die Hintertür nach Bahia, über den noch weiter nordöstlich gelegenen Bundesstaat Maranhão, dessen Hauptstadt São Luis bis heute als Zentrum der Reggae-Musik gilt. „Das erste Mal hörte ich Reggae als ein Typ aus Maranhão im selben Haus wie ich wohnte... Wir haben uns immer mit der Musik aus dem Ghetto identifiziert, mit Samba, Pagode, Reggae. ... Reggae hörst du nicht oft im Radio, weil der Reggae diskriminiert wird. Hier in Bahia gibt es gute Reggae-Sänger, aber die haben einfach keinen Durchbruch. Wegen der Diskriminierung (Lazinho, Interview). In den 80er Jahren wurde das Pelourinho-Viertel zu einem Treffpunkt von Studenten, die wilde Ideen im Kopf hatten. Sie fühlten sich angezogen von der Mischung aus Musik und Unterwelt, waren auf der Suche nach neuen Lebenskonzepten. „Während meiner Studienzeit kam ich zum Pelourinho in die Bars zum Mittagessen, das Tempo, das Banzo, beides hier unten am Pelourinho-Platz. Wir gingen nicht in die anderen Straßen die zum Maciel gehörten, nur hier auf den Pelourinho-Platz. Hier war es, wo die Sachen passierten. Das Banzo war eine Bar so richtig für Studenten, das war ein Erbe der siebziger Jahre, des Tropicalismo...“ erinnert sich Dora (Dias, 1994) Das Pelourinho-Viertel blieb weiterhin gefährlich. Hier bewegten sich nur die, die dazu gehörten oder jemanden kannten. Tabu blieben weiterhin die vielen kleinen Nebenstraßen und –gassen. „Vor zwei Jahren, wenn Du hier nachts rumgelaufen wärst, dann wärst Du nicht in Salvador geblieben. Viele unserer Freunde von außerhalb, die zu den Proben kamen, wurden überfallen. Das war extrem schwierig für uns“ erzählt Nêgo (Nêgo, 1994). 202 Ein besonderer Abend im Pelourinho-Viertel ist der Dienstag, besonders der erste und der letzte im Monat, wenn die Leute zur Benção (wörtlich: Segnung) kommen. Die Benção ist entstanden aus dem Brauch der Soterapolitanos am Dienstagabend um 18 Uhr die Messe in der São Francisco-Kirche zu besuchen. Nach der Messe verweilte man noch zum Gespräch auf dem Terreiro de Jesus. Über die Jahre wurde der Dienstag so zu einem typischen Ausgehabend im Pelourinho-Viertel mit viel Live-Musik auf den Plätzen und vollen Bars. „Die Benção hatte drei Phasen: früher gab es nur den religiösen Teil. Meine Oma wohnte am Terreiro de Jesus und ich blieb am Fenster und schaute den Leuten zu, wie sie zur Messe gingen. Seit ungefähr 15 Jahren hat sich das so entwickelt, dass die Leute nach der Messe in den Bars etwas trinken gehen. Und dann kam Olodum und die anderen Gruppen und machten die Benção zu dem, was es heute ist, wo nur noch die wenigsten wegen des Religösen kommen“ beschreibt Petu die Entwicklung der Dienstage im Pelourinho-Viertel (Petuz, 1993). Zur Benção am Dienstag kamen in den 80er Jahren immer mehr junge Schwarze, die sich auch mit ihrer Situation als Afro-Brasilianer auseinander setzten. „Die Benção war ein Raum, wo sich die negrada traf und über alle Fragen diskutierte. Dort trafen sich die Leute der einzelnen Gruppen, von Malê, von Olodum, von Ilê, von den Negões, vom MNU, von allen Gruppen trafen wir uns dort, haben Versammlungen gemacht und diskutiert“, erinnert sich Jorge Washington (Washington, 1994). Die Benção wurde zum Anlass intensiver Diskussionen über afro-brasilianische Kultur und politische Militanz und einem Ort der Versammlung. Das wirkte beunruhigend für die konservativen Kräfte. „Alle großen Manifestationen gingen von hier aus, oder endeten hier. Die gegen den 13. Mai begann am Campo Grande und endete hier, und das mit 15.000, 30.000 Teilnehmer. Dieser Raum wurde gefährlich fürs System. Und das System hat das klugerweise zerstört - wie? Sie haben dort Lautsprecherwagen aufgestellt, an den Dienstagen, mit Reggae-Musik, die dem negão gefällt. Erst an einer Seite des Platzes, dann auch an der anderen. So konnte man sich nicht mehr unterhalten, weil es so laut war. Und wer schickte diese Wagen? Marcos Medrado, Pedro Irujo, Itapuã FM101.. einen Tag haben sie hier sogar ein Trio Eléctrico hingestellt, aber das haben die alten Gebäude nicht ausgehalten.. Die Presse begann das Fest an der Benção zu verbreiten, so wurde der Raum miniert“ (Washington, 1994). 101 Marcos Medrado und Pedro Irujo sind konservative Lokalpolitiker, Itapuã FM ist ein Radiosender. 203 Ob die konservativen Kräfte tatsächlich bewusst die Benção entpolitisiert haben, wie in dem Gesagten unterstellt, entzieht sich der Beurteilung. Vorstellbar ist, dass die Politiker die Ansammlung vieler Menschen zur politischen Propaganda ausnutzen wollten (Mitte der 80er Jahre geht Brasilien wieder zu demokratischen Verhältnissen über). Ein solches Verhalten ( im Sinne von: „ihr dürft laut eure Musik hören, aber nicht diskutieren“) knüpft darüber hinaus an, an eine lange Tradition der Aushandlung gesellschaftlicher Freiräume für die schwarze Kultur. Tatsache ist, dass der politische Aspekt in den Hintergrund gerückt ist, heute ist die Benção in erster Linie ein Anlass zum Ausgehen und sich Vergnügen. Sowohl der religiöse als auch der politische Moment sind nur noch für eine Minderheit der Besucher von Bedeutung. 10.3 Der Pelourinho – ein schwarzer Platz Anfang der 90er Jahre ist der Pelourinho verschmolzen mit dem Namen Olodum. Zu den Sonntags-Proben kommen jeden Sonntag Tausende. „Das Ensaio ist ein Raum zu dem die negrada kommt. Das ist auf der Strasse, kostet nichts, Kunst mit Qualität. Die Leute, die zum Ensaio von Olodum am Sonntag kommen, haben oft nur das Fahrgeld, vielleicht noch für ein, zwei cravinhos [der gesüßte Zuckerrohrschnaps mit Nelkengeschmack] und mehr nicht“ (Interview Washington, 1993). Im folgenden soll eine solche Probe beschrieben werden. Das Sonntags-Ensaio auf dem Pelourinho Die untergehende Sonne färbt den Himmel rosa-violett und setzt die blaue Fassade der Barockkirche Nossa Senhora do Rosário dos Pretos in einen reizvollen Kontrast dazu. Das bucklige Kopfsteinpflaster des abschüssigen Pelourinho-Platzes schimmert glänzend im Abendlicht und das Pastell der Hauswände der sobrados, der mehrstöckigen Kolonialhäuser, bekommt einen warmen Ton. Cabeça de negro, wörtlich übersetzt Negerkopf, werden die Pflastersteine auch heute noch manchmal genannt. Die Kirche, die den Namen Unsere Frau des Rosenkranzes der Schwarzen trägt, bauten die Sklaven in ihrer Freizeit, weil ihnen der Zugang zu den Kirchen der Portugiesen verboten war. Bis heute werden die Messen hier überwiegend von Afro-Brasilianern besucht. Sonntagnachmittag dringt über den Platz das Klopfen und Hämmern von Männern die aus Holz provisorische Stände aufbauen, Rufe schallen dazwischen, ein Hund kläfft. Eine 204 Touristengruppe versucht noch schnell die Abenddämmerung mit ihren Fotoapparaten und Filmkameras auf Zelluloid festzuhalten - belagert von Souvenirverkäufern, die sich durch die gelben Westen der Stadtverwaltung legitimieren, Kindern mit bunten Bonfim-Bändchen, die ihren Trägern Glück bringen sollen, und zwei Baianas, dunkelhäutigen Frauen in der typischen weißen Kleiderpracht Bahias, die von den Edelsteinläden zum Kundenfang eingesetzt werden - bevor sie eilig im Dämmerlicht den Platz verlassen. Wenn es dunkel wird am Sonntagabend, dann gehört der Pelourinho, das touristische Aushängeschild Bahias, den Nachfahren der Sklaven, die zu Tausenden aus den armseligen, gewalttätigen Vorstädten ins historische Zentrum Salvadors kommen. Am Sonntagabend spielt hier Olodum, die Trommelgruppe von Pelourinho. Während entlang der Seiten des Platzes die Holzstände zum Verkauf von Getränken aufgebaut und große Styroporkisten, voll mit Eis und gekühltem Bier, auf dem Kopf herangeschleppt werden, treffen oben am Kopfende des Platzes vor der Casa Jorge Amado die ersten Trommler ein. Bei den meisten hängen noch Wassertröpfchen in den Krauslocken, die auf den frisch gebügelten T-Shirts feuchte Stellen hinterlassen. Auch die Bermudas- entweder knielang wie sie die Surfer oder bis zur Wade wie die schwarzen Jugendlichen sie in den Ghettos der USA tragen - haben Bügelfalten. Die Schienbeinschützer sind lässig bis an die Knöchel gerutscht und liegen auf dem Rand der hohen Basketball-Schuhe, am beliebtesten die Marken Nike, Reebok oder Asics. Die Mehrheit der Trommler ist zwischen 16 und 24 Jahre alt. Die, die schon länger in der Gruppe trommeln, die mit dem meisten Prestige, kommen immer erst ein bißchen später. Die Neuen grüßen sie mit einem Kopfnicken und der rechten Hand zur Faust geschlossen mit einem hochaufgerichteten Daumen „Diga-aí“ oder „Qual é“, was so viel bedeutet wie „Alles klar“, aber deutlich eine Distanz und coole Überlegenheit ausdrückt. Untereinander ist das Begrüßungsritual lauter und gestenreicher, die Fäuste werden zusammen gestoßen, der Handschlag einmal rechtsrum, einmal linksrum, dann die Finger ineinander verhakt und alles mit einem Schütteln und Schnippen aufgelöst. Inzwischen sind auch immer mehr Mädchen, meist in kleinen Gruppen zu dritt, viert oder fünft, auf dem Platz eingetroffen. Auch die meisten von ihnen haben noch feuchte Haare vom Duschen und riechen nach Seife und Deodorant. Fast alle Mädchen tragen knappe Tops zu engen Shorts und an den langen Beinen Turnschuhe. Die Mädchen, die mit einem der Trommler befreundet sind, zeigen dies, indem sie seinen Gürtel, an dem später die Trommel befestigt wird, lässig umgehängt oder ein frisches T-Shirt, das er beim ensaio, der Probe, tragen wird, ordentlich zusammengefaltet über die Schulter gelegt haben. Immer mehr Jugendliche treffen in Grüppchen auf dem Pelourinho ein, die kurze tropische 205 Abenddämmerung ermöglicht den Technikern auf den Stahlkonstruktionen, die provisorisch am Kopfende des Platzes zur Bühne aufgebaut wurden, einen letzten Check, die Toningenieure testen die Mikrofone und Verstärker - dann umhüllt das Dunkel der Nacht die Szenerie. Mit einem bombastischen Trommelwirbel, gepeitscht aus über zwanzig Trommeln, beginnt meist so gegen 19.00 Uhr die Probe. Bereits nach einigen wenigen Rhythmen beginnt es in der Masse aus menschlichen Körpern zu wogen. Zuerst sind es die Nachwuchs-Sängerinnen und -Sänger, die neue Kompositionen vorstellen, zur Auflockerung immer mal wieder ein alter Hit dazwischen. Um die Trommler, die vor der Bühne auf dem Platz stehen, scharen sich die Menschen - in den ersten Reihen stehen die Jugendlichen, die sich im Verlauf des Abends an den Trommeln abwechseln werden und die Freundinnen (namoradas). In der Menge gibt es viele Jugendliche, die kleine Aufnahmegeräte in die Höhe halten und mitschneiden, vor allem die neuen, noch unbekannten Musiken. Oft sind es Jungen, die in ihren Stadtvierteln selbst trommeln und in eigenen Blocos spielen - auch in der Hoffnung, einmal selbst zu Olodum zu gehören. Im Verlauf des Abends füllt sich der Pelourinho immer mehr. 2000, 3000 bis zu 5000 Menschen, vor allem Jugendliche aus den Vorstädten, kommen hierher. Um zu flirten, zu tanzen, sehen und gesehen zu werden, sich abzulenken vom wenig Perspektiven bietenden Alltag - aber auch um den Schutz der Menge für kleine Diebstähle und Gaunereien zu nutzen. Die wenigen Ausländer und hellhäutigen Touristen aus dem Süden und Südosten Brasiliens sind einfach in der Menge auszumachen - nicht nur, wegen ihres körperlichen Aussehens, auch an der Art sich zu bewegen, zu schauen, zu tanzen, der Kleidung. Unter den Tausenden von Menschen auf dem Pelourinho sind keine zwanzig mit heller Haut. Nur ganz wenige Jugendliche der hellhäutigen Mittel- und Oberklasse Salvadors besuchen das ensaio am Sonntag, das als chaotisch und gefährlich gilt. Immer wieder kommt es zu Rangeleien, oft auch zu Prügeleien. Die Militärpolizei versucht mit mehreren Mann starken Ketten die Masse unter Kontrolle zu halten - nicht ohne dabei selbst oft als Aggressor zu wirken mit ihren tief ins Gesicht gezogenen Helmen, den Knüppeln, die sie den im Weg stehenden auch mal in die Rippen stoßen. Zivilpolizisten haben sich unter die Menge gemischt. Es ist nur eine Minderheit der Jugendlichen, die auf briga, Streit, aus ist. Die Gangs der verschiedenen Stadtviertel haben jeweils ihren festen Aufenthaltsort, ebenso die Diebes-Grüppchen, die plötzlich in der Menschenmenge Gedränge provozieren, um blitzschnell die Taschen der anderen zu durchwühlen. Währenddessen singt und tanzt die Mehrheit der Jugendlichen zur 206 Musik der Trommeln, applaudiert den Sängern, die oben auf der Bühne für ein friedliches Miteinander werben und bei jeder Gewaltaktion die Musik unterbrechen. Die Probe von Olodum am Sonntag ist nicht nur eines der wenigen kostenlosen Vergnügen, sondern auch ein großes schwarzes Fest an einem der bedeutungsvollsten Orte der Schwarzen Salvadors. Olodum spielt ohne Pause, drei, vier Stunden lang. Die meisten Besucher des Platzes können fast alle Lieder auswendig und singen die Texte mit. Weiter unten auf dem Platz vor der von Sklaven gebauten Kirche lassen die peitschenden Schläge auf die Trommeln die Kanaldeckel vibrieren. Nach 22 Uhr nimmt die Menschenmenge so langsam ab, denn die meisten müssen noch den letzten Bus von Lapa, Barroquinha oder Aquidabã in die Vorstädte bekommen. Mit einem dumpfen Marsch geschlagen auf den tiefen Surdos verlassen die Trommler einer nach dem anderen den Platz. Die Sonntags-Probe hat eine eigene Dynamik. Sie ist eine gewaltige Demonstration afrobrasilianischer Energien. Von mindestens 5000, oft bis zu 8000 Besuchern gehen die Veranstalter aus. Sie verfügt über ein großes Potential an identitätsstiftenden Momenten. Hier trifft zu, was Augé als „lugar antropológico“ bezeichnet, ein identitätsstiftender Raum, ein Ort, an dem die Identität aufgebaut oder wiederbelebt wird (Augé, 1994, S.74). Das ist den Verantwortlichen Olodums bewusst. Für sie ist die Sonntags-Probe auch ein Ort der Mobilisierung. Fast jeden Sonntag wurde hier „Freiheit für Mandela“ gefordert und die südafrikanische Nationalhymne gesungen. „Der Pelourinho heute ist nicht nur ein physischer Raum. Der Pelourinho heute ist auch ein Raum für Ideen, ein Raum der Utopien“ sagt einer der Kulturdirektoren Olodums (Zulu, Interview, 1993). Ein großes Problem der Sonntagsproben ist die Gewalt. Zu der aufputschenden Musik der Trommeln singen und tanzen die meisten, aber der Pelourinho wird auch Schauplatz gewalttätiger Auseinandersetzungen. Wo viele Menschen zusammen kommen, ist die Gelegenheit zu kleinen Diebstählen und Überfällen günstig, aber auch offene Rechnungen werden beglichen. Die schwarzen Jugendlichen kommen aus den unterschiedlichsten Stadtvierteln, einige von ihnen gehören zu Gangs. Jede Gang hat einen Bereich bei den Sonntags-Proben, in dem sie sich überwiegend aufhalten: die Jugendlichen aus Amaralina am oberen Ende des Platzes vor der Casa de Jorge Amado, die Jugendlichen von der Suburbana am unteren Teil zwischen Taboão und Baixa dos Sapateiros. Sie sind in der Minderheit, aber 207 sie schaffen ein Klima, das zu Rangeleien und Schlägereien, aber auch dazu führen kann, dass Messer oder gar ein Revolver gezogen werden. Um die Ausbrüche von Gewalt zu beschränken, patrouillieren Gruppen von Militärpolizisten durch die Menge. Die Polizisten sehen martialisch aus, wie sie in ihren Kampfanzügen, mit Helmen auf dem Kopf, den Schlagstock in der Hand, sich in einer dichten Reihe den Weg durch die Menge bahnen. Kommt es an einem Punkt zu einem Handgemenge, greifen die Polizisten hart durch. Immer wieder kommt es vor, dass Jugendliche abgeführt werden, die Arme umgedreht auf dem Rücken. Sind sie unter 16, dürfen sie nicht länger von der Polizei festgehalten werden. Um die Gewaltausbrüche ganz zu verhindern, wurden in den letzten Jahren die Zugänge zum Pelourinho-Platz von der Militärpolizei ab dem späten Sonntagnachmittag abgesperrt und alle Besucher der Proben auf Waffen abgetastet. Inzwischen patrouilliert an Spitzentagen nicht mehr nur Militärpolizei, sondern auch eine Sondereinheit, das Batalhão de Choque. Kurz vor und bis nach Ende der Auftritte wird auch die Polizeipräsenz in den Busbahnhöfen Barroquinha, Lapa und Aquidabã verstärkt. Immer wieder werden von den Busgesellschaften die Schäden an den Bussen nach den Sonntags-Proben beklagt (A Tarde, 23.11.1993) Die Sonntags-Probe ist für die Gruppe Olodum der, neben dem Karneval, wichtigste Moment zum Aufbau einer afro-brasilianischen Identität und Ort der Demonstration schwarzer Kraft, der konservativen Landesregierung und Stadtverwaltung ist sie jedoch ein Dorn im Auge, insbesondere als sie die Sanierung des Viertels in Angriff nimmt. „Das war doch klar, dass die [Regierung] uns nicht hier haben wollten, so viele negões auf einem Platz, mitten im renovierten Gebiet. Da konnten die madames dann nicht so entspannt rumlaufen“ sagt einer der Direktoren (Zulu, 1994). 10.4 Die Afrikan Bar- der Auftritt am Dienstag Aus den losen Freundestreffen der Mitglieder Olodums anlässlich der Benção im Hinterhof des Miguel Santana Theaters entstand Anfang der 90er Jahre eine Veranstaltung, die Afrikan Bar getauft wurde. „Die Quadra nutzten wir Dienstag, um unsere Freunde zu treffen, miteinander zu sprechen. Wir richteten dort eine Bar ein und zunächst war es nur für uns gedacht. Das war 1988/89. Hier wurden auch die Instrumente aufbewahrt. Das wurde immer bekannter und mehr Leute kamen. Dann haben Nêgo und Neguinho do Samba beschlossen, 208 dass die Gruppe spielen sollte und damit kam der Erfolg. Das Fernsehen filmte, es kamen auch andere Leute hierher. Es kam die Gruppe, die hier Aerobic zur Musik tanzt“ (Billy, 1994). Die Afrikan Bar wird mit der Restaurierung des historischen Zentrums zu der zweiten, wöchentlichen Veranstaltung Olodums. Die Zuschauer am Dienstag müssen Eintritt bezahlen. Anfangs sind die Preise niedrig, aber mit dem beginnenden Boom Olodums und Bahia steigen sie steil an. Inzwischen schwanken die Preise mit der Saison und liegen zwischen umgerechnet 5 und 10 Euro102 - für die ehemaligen Bewohner des Pelourinho-Viertels unbezahlbar. Dennoch sind in der Hochsaison die Karten für die Afrikan Bar schon nachmittags ausverkauft. Die Afrikan-Bar ist die Veranstaltung Olodums, die von der Restaurierung des Pelourinho-Viertels am meisten profitiert hat. In der Afrikan-Bar Ab 19 Uhr bilden sich lange Schlangen vor dem Einlass. Wer nicht rechtzeitig da ist, kommt später nicht mehr hinein. Kräftige Männer organisieren den Einlass. Der Besuch bei Olodum ist beliebt und quasi Pflichtprogramm der Ferien in Bahia. In dem engen Innenhof wird es in der Hauptsaison so eng, dass man sich nur mit Mühe durch die Menschenmenge drängen kann. Viele Touristen - in- und ausländische - sind es, die in dieser Zeit zur Afrikan Bar kommen. Das ist einfach zu erkennen, an der von der Tropensonne oft geröteten hellen Haut, den Kleidern. Viele tragen ein T-Shirt mit einem Aufdruck von Olodum oder Bahia. Von 19.00 bis 21.00 Uhr spielt die Banda Juvenil, die Nachwuchs-Gruppe. Sie heizen die Stimmung an. Häufig werden auch andere Musikgruppen eingeladen, die die neuesten Hits des bahianischen Sommers spielen. Jeden Sommer gibt es neue Hits und Tanzstile. Wenn die Musik losgeht, formiert sich bereits nach kurzer Zeit eine größere Gruppe, die gemeinsam spontane Choreografien tanzt. Die Vortänzer, fast alles junge Männer, mit kräftigen, gestählten Körpern, sind zwar nicht von Olodum unter Vertrag genommen, aber durchaus gern gesehen, weil sie die Stimmung anheizen. Nichts, was da passiert ist abgesprochen. Die Tänzer konkurrieren mit gewagten ebenso athletischen wie sinnlichen Darbietungen um die Aufmerksamkeit des Publikums. Wer Lust hat, versucht den Schritten zu folgen und Teil der Choreographie zu werden. 102 Die Eintrittspreise sind für die meisten Touristen aus dem Südosten Brasiliens und dem Ausland kein Problem, für das einheimische Publikum aber schon. Die zur comunidade gehörenden Menschen werden von der Organisation meist kostenlos eingelassen. Am Eingang stehen meist einige der Direktoren, die mit einem Kopfnicken über den Zutritt entscheiden. Darüber hinaus gibt es die Gästelisten auf denen die Mitglieder Olodums ihre Gäste eintragen. 209 Der Auftritt der Banda Show ist der Höhepunkt des Abends. Für ihren Auftritt bereiten sich die Trommler gut vor. Sie versuchen immer wieder neue Kleider in den Farben und mit dem Design Olodums vorzuführen. Teilweise lassen sie diese speziell dafür in der Fábrica entwerfen und drucken. Unverzichtbar sind die importierten Turnschuhe und Strümpfe wie sie auch von den nordamerikanischen Schwarzen getragen werden. Ebenso wichtig wie die Kleider ist das Styling der Haare. Es gibt unterschiedliche Typen, die zur Mode wurden: der kahl geschorene Kopf im Stile eines Michael Jordan, die mit eingeflochtenen Plastikperlen hoch auf den Kopf gebundenen Haarzöpfe, der gepflegte Rasta-Look, das Malcolm XBärtchen. Wichtige Accessoires sind auch Baseball-Kappen und Sonnenbrillen – auch dabei werden die Marken und Modelle bevorzugt, die von den nordamerikanischen Sport- und Musikidolen benutzt werden. Einige kreieren auch eigene, unverkennbare Moden. So hat einer der Trommler immer eine CD umgehängt. Während jedes Auftritts zeigen die Trommler eine spezielle Choreographie. Jedes Mal gibt es den Moment, wo sich die Roda formiert und einzelne Musiker akrobatische und erotische Tanz- und Trommeleinlagen vorführen. Dabei versuchen sie sich gegenseitig zu übertreffen mit immer neuen Einfällen: Handstand auf dem Trommelrand, plötzliches auf die Knie fallen, Trommeln hoch in die Luft schleudern – alles ohne den Rhythmus zu verlieren. Nicht nur Styling und Outfit gerade auch diese teils akrobatischen Einlagen sind für die Präsenz auf der Bühne wichtig und entscheidend für die Auswahl eines Trommlers zur Banda Show.103 Die Stimmung bei dieser Veranstaltung ist gänzlich anders, als bei der Sonntags-Probe. Der Auftritt am Dienstag ist spektakulärer, inszenierter. Die Trommler möchten sich dem Publikum zeigen, ihre exotische schwarze Schönheit und Virilität präsentieren. Das Publikum ist ein anderes: weißer, reicher, viele Touristen, denn der Besuch der Afrikan Bar ist sicherer, als die Sonntags-Probe mit ihren Rangeleien. Am Sonntag sind es hauptsächlich schwarze Jugendliche ähnlicher sozialer Herkunft wie die Trommler, die zum Pelourinho kommen. Hier spürt man die Kraft der Trommeln, die geradezu hypnotische Wirkung auf die Körper. Auf dem Pelourinho identifiziert sich Olodum mit dem Publikum, das Publikum mit der Gruppe. Etwas verkürzt könnte man sagen, am Sonntag wird die afro-brasilianische Identität unter Seinesgleichen konstruiert, am Dienstag ausprobiert. 103 Diese performatischen Elemente sind auch in anderen schwarzen urbanen Gruppen üblich: bei den Funkern des Black Rio (Vianna, 1988) ebenso wie bei den Rappern in São Paulo oder den USA. 210 Gemeinsam ist beiden Veranstaltungen die repräsentative Bedeutung der auf Jugendliche orientierten Musik schwarzer Künstler, die untrennbar mit der körperlichen Erfahrung verbunden ist. Sansone betont den spektakulären Charakter der neuen schwarzen Identität. „Diese neue schwarze Identität definiert die negritude, in dem sie sie zum Schauspiel in der Freizeit macht und neue schwarze Stile kreiert, die mit den Symbolen der modernen Kulturindustrie kommunizieren und dadurch symbolischerweise die Hautfarbe kapitalisieren und das Stigma der Hautfarbe umwandeln. Die positive Einschätzung der negritude hängt zusammen mit einer Jugendkultur, die die Mode- und Freizeitindustrie bewegt. Schwarz sein wird assoziiert mit jung sein, mit modern sein“ (Sansone, 1993, S.91). Und das passt gut in die sommerliche Ferienstimmung, die das Leben in Salvador zwischen Dezember und März erfasst. Olodum bietet einerseits sommerliche, authentische Unterhaltungsmusik schwarzer Jugendlicher für die hellhäutige Mittelschicht, andererseits identitätsstiftende schwarze Musik für die schwarzen Jugendlichen der Vorstädte. Olodum ist zu einem Produzenten der „black cultural imagery“ geworden (Rose, 1994, S.12). Darin sind sie mit anderen schwarzen Musikgruppen vergleichbar, einzelnen Reggae-Gruppen Jamaikas oder Rap-Gruppen Nordamerikas, die sich in ihrer Musik mit der Ghetto-Kultur identifizieren, deren Hörer aber oft auch aus der weißen Mittelschicht kommen. Das Interesse der Weißen für schwarze Musik ist nichts Neues. Das gab es beim Blues, beim Jazz, beim Rock´n Roll. Die weiße Begeisterung transformierte diese Rhythmen in „american popular music“ schreibt Tricia Rose in ihrem Buch über die Entwicklung des Rap in den USA (Rose, 1994, S.45). Die weißen Jugendlichen in den USA begeisterten sich für die schwarze Kultur des HipHop und imitierten ihn. Ähnliches geschieht mit der Axé Music, die in den 90er Jahren nicht nur in Bahia, sondern in ganz Brasilien bei Festen gespielt wurde. Junge Frauen und Männer in São Paulo oder Belo Horizonte lernen die immer neuen Choreographien der bahianischen Musik in den Tanzkursen ihrer Body-Studios.Genannt wurde dies Axé Dance. Viele der Trommler Olodums bemerken, dass die positive Akzeptanz, die ihnen bei den Auftritten in der Afrikan-Bar oder Shows entgegen schlägt, nicht in allen Lebensbereichen spürbar ist. Sie fühlen sich als Musikstars akzeptiert, aber nicht als Menschen. „Ich will jetzt nach São Paulo, aber ohne Olodum. Ich will meine Freunde da besuchen, die, die sagen, sie seien meine Freunde, aber ich bin gespannt, wie das wird, ob die mich auch so akzeptieren“ erzählt Negão, einer der Trommler (Negão, 1994). Die positive Bewertung schwarzer Ästhetik ist einfacher dort, wo sie erwartet wird, zum Beispiel im künstlerisch-musikalischen 211 Umfeld. Sie ist individuell sehr unterschiedlich und bestimmte Elemente schwarzer Ästhetik, wie zum Beispiel Rasta-Haare, werden auch weiterhin von vielen Brasilianern als hässlich empfunden. Häufig erwähnen die Trommler auch, dass insbesondere in ihrer Heimat das Stigma erhalten bleibt. „Ich fühle mich, wie soll ich sagen, wichtig, nicht so sehr hier in Bahia, aber wenn ich reise. Die Leute haben mehr Respekt, sind netter, sind begeisterter für die Sachen, als hier in Bahia“ (Tóti, zitiert nach Fagundes, 1997, S. 117). 10.5 Die Restaurierung des Pelourinho-Viertels „Vom Zentrum der weißen Macht, wo die Sklaven ausgepeitscht wurden, zum Zentrum der Prostitution, zum Zentrum der schwarzen Jugend-Kultur und zum Zentrum eines Bahia, das die Bahiatursa verkauft“ (Sansone, 1995, S.59). Der Anthropologe Sansone unterscheidet vier Phasen des Pelourinho, die zeigen, wie sich der Sinn eines Viertels und seine Symbole im Verlauf der Zeit ändern können. 1992 wurde von der bahianischen Landesregierung in einer groß angelegten Aktion die Restaurierung des Pelourinho-Viertels in Angriff genommen. In einer ersten Phase wurden die Straßenzüge zwischen Pelourinho-Platz und Terreiro de Jesus entkernt, saniert und restauriert. Die ansässigen Bewohner mussten wegziehen und bekamen eine Entschädigung. Anders als ihnen zunächst versprochen worden war, durften sie nicht im Viertel bleiben (Craanen, 1998). Die Art des Umgangs mit der Bevölkerung im Zuge der Restaurierung wurde häufig kritisiert. In die renovierten Altbauten zogen Restaurants und Geschäfte, Cafés und Andenkenläden. Wegen des Umfangs der nötigen Renovierungsarbeiten und der Größe des renovierungsbedürftigen Gebiets, wurde die Sanierung der Altstadt in Etappen aufgeteilt. Bis heute ist die sich über mehrere Phasen hinstreckende Sanierung jedoch nicht zum Abschluss gekommen. Innerhalb von wenigen Monaten hatte sich jedoch 1992/3 die gesamte Struktur des Viertels verändert. Es gibt das Pelourinho-Viertel vor der Reform und das Pelourinho-Viertel nach der Reform dasselbe Viertel, aber belebt von unterschiedlichen Elementen der Gesellschaft und mit völlig unterschiedlichen Bedeutungen. Im restaurierten Pelourinho konkurrieren die neu eröffneten Bars und Restaurants, um die das historische Zentrum entdeckende hellhäutige Mittelschicht. Schicke Boutiquen und Kunstgalerien rivalisieren mit Juwelieren und Andenkenläden - die wenigen alteingesessenen Geschäfte und Bars sehen sich einer immensen Konkurrenz 212 gegenüber. Die hellhäutige Mittelklasse eroberte das Viertel innerhalb eines Sommers. Es war „in“ am Pelourinho auszugehen: „Mauricinhos no Pelô – Die Jugendlichen der Mittelklasse entdecken das schwarze Viertel“ schrieb die anerkannte Zeitschrift Veja (Veja, 11.03.1992). Neben der einheimischen Mittelschicht kommen die Touristen aus dem In- und Ausland. Die Rolle Olodums bei und nach der Restaurierung ist voller Widersprüche. Olodum hatte sich jahrelang für die Verbesserung der Lebensbedingungen im historischen Zentrum eingesetzt, war aber auf eine derartige Reform nicht vorbereitet. „Als Salvador noch nichts vom Pelourinho wissen wollte und die schwarze Elite nicht hierher kam, nur der eine oder andere schüchterne Ausländer, war Olodum hier, machte Sachen auf den Strassen, bekannte sich zum Pelourinho/Maciel, denunzierte die Polizeigewalt und kämpfte für die Restaurierung des historischen Zentrums, brachte Persönlichkeiten aus aller Welt hierher (Rodrigues, Interview, 1994). Viele der Trommler mit ihren Familien lebten in den heruntergekommenen Altstadtbauten. Auch für sie stellte sich die Frage: Was tun? Eine Entschädigung akzeptieren oder die Umsiedlung im Gebiet beantragen? Viele von wollten in der Nähe bleiben. „Meine Mutter wohnt weiterhin im Centro Historico, aber wir wollen ihr ein größeres Haus kaufen, eines, wo wir alle Platz haben. Und das gibt es hier nicht. Aber ich möchte gern hier bleiben.... Wir haben die Umsiedlung beantragt“ erzählt Negão (Santos Filho, Interview, 1994). Der restaurierte Pelourinho brachte Olodum viele Vorteile. Die Veranstaltungen Olodums boomten: die Sonntags-Probe ebenso wie die finanziell bedeutendere Afrikan Bar. Kaum ein Werbe-Prospekt oder eine Reportage über den restaurierten Pelourinho, in der Olodum nicht auftauchte. Die Farben Olodums, die Trommeln, einzelne Mitglieder der Show- oder Tanzgruppe wurden zu den Vorzeige-Models des neuen Pelourinho, der von einem marginalisierten Ghetto zu einem weltoffenen Kultur- und Kommerzpoint gemacht wurde, zur Ansichtskarte (cartão postal) von Salvador. Die Sonntags-Probe Olodums allerdings wurde immer mehr zum Stein des Anstoßes. „Es gibt viel Druck von den neuen Geschäftsleuten, dass wir mit den Ensaios am Sonntag aufhören. Da müssen sie die Bars früher schließen, weil es hier so voll wird... erzählt eine Direktorin (Dora, 1994). Die Gruppe hält jedoch weiterhin an der Veranstaltung am Sonntag fest. „Das ist auch eine politische Frage: Wir wollen nicht mit den Sonntags-Ensaios aufhören, weil wir wollen, dass diese Leute hierher kommen, weiterhin kommen. Die sind schon immer hergekommen, das sind die, die auch im Alltag zum Pelourinho kommen. ... Das Publikum, das am Dienstag kommt, die Mehrzahl kommt nur, weil es Mode ist“ (Dora, 1994). 213 Von vielen Mitgliedern Olodums wird die Art der Restaurierung ebenso kritisiert, wie das Verhalten der Bewohner. „Ich bin traurig, wenn ich heute durch die Baixa dos Sapateiros gehe und dort eine Menge Menschen sehe, die früher hier am Pelourinho gewohnt haben, die jetzt auf der Strasse sind. ... Die Regierung hat zwar eine Entschädigung gezahlt, aber die Leute mussten raus“ sagt ein Mitarbeiter Olodums (Bira, 1994). „Die Menschen, die hier im Viertel wohnten, haben gar nicht gemerkt, dass sie rausgeworfen wurden. Die haben das Geld genommen und sich entfernt“ meint ein anderer (Petu, 1994). „Dann kam der Gouverneur, der erkannt hatte, dass diese Armen hier wie eine Milchkuh sind. Er bat um immer mehr und mehr Geld im Ausland, aber hier ist nichts angekommen. Er hat die Leute hier rausgeworfen, aber er hat sie auch entschädigt. Das tut jetzt allen leid...“ kritisiert der Musik-Meister (Neguinho do Samba, 1994). Mit der Restaurierung und dem Verschwinden der alten Bewohner ist Olodum immer stärkerer Kritik aus Kreisen der Schwarzenbewegung ausgesetzt. Olodum wird vorgeworfen, die Bewohner im Stich gelassen zu haben und sich nur noch kommerziell zu verhalten. Die Mitglieder Olodums sehen die Verantwortung bei der Regierung und den Anwohnern „Die Regierung ... hat noch etwas gemacht: sie hat die Armen hier rausgeholt, enteignet.... wir hatten sogar eine Unterschriftenaktion für das Verbleiben der Bewohner hier gemacht“, erinnert sich einer der Direktoren (Billy, 1994). „Wir hatten eine juristische Abteilung zusammen mit der UFBA eingerichtet, hier in der Casa do Olodum. Es ist nur ein Anwohner gekommen ... Alle scheuten sich zu kommen, weil sie das Geld haben wollten“ erzählt ein anderer (Zulu, 1993). Der damalige Präsident sieht ein gesellschaftliches Phänomen „Die Restaurierung war notwendig. Auf der anderen Seite zeigt das Verschwinden der ehemaligen Bewohner, wie die Gesellschaft mit dem Gebiet umgegangen ist, denn das Vorurteil gegenüber dem Maciel/Pelourinho war in den Köpfen drin und wer konnte, wollte hier weg. Und alle hatten Angst dagegen zu protestieren, wegen des Ex-Gouverneurs. ... Die meisten Leute wollten doch das Geld und wollten nicht, dass wir uns einmischen. Und jetzt wird uns die Verantwortung für die Restaurierung zugeschoben....“ (João Jorge, 1994). Den Mitgliedern Olodums ist der Stolz über den Erfolg ebenso anzumerken, wie einige von ihnen die Veränderungen des Pelourinho bedauern. „Ich habe Sehnsucht nach den alten Zeiten. Heute siehst du hier keine Prostituierten mehr, nicht mehr die Armut, nicht mehr die Kleidung, nicht mehr Menschen, die betteln, keine Diebe mehr, die sterben. Heute ist hier 214 alles chic ...“ sagt ein Mitarbeiter (Bira, 1994). Die drastischen Veränderungen wurden auch zum Thema eines erfolgreichen Musikstücks mit dem Titel „Cartão Postal“ („Postkarte) Pelourinho não é mais ê Der Pelourinho ist nicht mehr eh Pelourinho não é mais não Der Pelourinho ist nicht mehr nein Pelourinho não é mais sim Der Pelourinho ist nicht mehr ja Pelourinho não é mais não Der Pelourinho ist nicht mehr nein Olha a cara dele Schau Dir sein Gesicht an Você não fica à toa Du kannst nicht ungezwungen bleiben Tem muita gente boa Es gibt so viele gute Leute Aqui tudo mudou Hier ist alles anders São quinze anos que brilhou Das sind 15 Jahre die Olodum, Olodum filhos do sol die Söhne der Sonne leuchteten Reluz e seduz o meu amo meine Liebe erhellen und verführen Negros conscientizados Selbstbewusste Schwarze Cantam e tocam no Pelô singen und spielen auf dem Pelô Pelourinho primeiro mundo Pelourinho der Ersten Welt Cartão postal de Salvado Ansichtskarte von Salvador Passa lá passa lá Komm vorbei Passa lá que eu vou komm vorbei, ich geh auch Passa lá passa lá Komm vorbei Passa lá no Pelô Komm vorbei am Pelô Itamar Tropicalia, Mestre Jackson, Sérgio Participaçao Die Veränderungen des Viertels bedeuten auch für Olodum Veränderungen auf den verschiedensten Ebenen. Kurzfristig begünstigten sie Olodums Erfolg, langfristig haben sie jedoch gravierende Auswirkungen auf die Arbeit der Gruppe. Die Restaurierung wirkte sich auf die Umsetzung des politisch-sozialen Projekts Olodums nachteilig aus: Viele Bewohner zogen weg, die Basis war nicht mehr vorhanden. Zunächst versuchte Olodum noch die ehemaligen Bewohner mit Transportgutscheinen anzulocken, beispielsweise in der Escola Criativa, aber das überstieg schon bald ihre finanziellen Möglichkeiten. Von vielen politisierten Afro-Brasilianern wurde Olodum kritisiert: Die Gruppe habe sich nicht genügend für die ansässige Bevölkerung eingesetzt, sich von ihrem Erfolg korrumpieren lassen. Inwieweit diese Kritik zutreffend ist, lässt sich nur schwer einschätzen. Olodum hat sich nicht 215 vehement gegen die Restaurierung ausgesprochen oder agitiert, hatte sogar Vorteile davon. Andererseits bleibt zu bezweifeln, dass ein Bloco Afro dazu überhaupt die gesellschaftliche Macht gehabt hätte. Die konservative Landesregierung unter Antônio Carlos Magalhães, der in ganz Brasilien als skrupelloser, unnachgiebiger Politiker bekannt ist, hätte sich wohl kaum von ihren Plänen abhalten lassen. Olodum versuchte die sich bietenden Chancen für ihre Arbeit zu nutzen, genoss den Erfolg. Das Ausmaß der Konsequenzen der Restaurierung ist sicherlich auch den Machern Olodums nicht bewusst gewesen. 216 11. Die Musik der Blocos Afros - schwarze transatlantische Musik Die Blocos Afros haben sich zum Aufbau einer neuen schwarzen Identität in Bahia an den Musikstilen, Symbolen und der populären schwarzen Kultur anderer Schwarzenbewegungen in der Diaspora orientiert und sind so ein gutes Beispiel der Globalisierung schwarzer Kultur. Sie haben eine schwarze transatlantische Musik geschaffen. In diesem Kapitel soll die musikalische Entwicklung Olodums anhand der Platten zwischen 1987 und 1996 analysiert werden 11.1 Brasilien – Land der Musik Nur wenige Länder verfügen über eine so reichhaltige und vielfältige Musiktradition wie Brasilien, wobei Musik und Tanz eng miteinander verbunden sind. Bahia ist eine der musikalisch bedeutendsten Regionen des Landes. Zahlreiche brasilianische Musikstars kamen und kommen aus Bahia, von Carmen Miranda, die Brasilien in den 40/50 er Jahren in den USA berühmt machte, über den poetischen Samba-Sänger Dorival Caymmi zum Bossa Nova Gitarristen João Gilberto und den aus der Tropicalismo-Bewegung hervorgegangenen Superstars Caetano Veloso, Gilberto Gil und Maria Bethânia. Seit dem Erscheinen der Blocos Afros ab Ende der 70er Jahre haben sich die von ihnen gespielten Rhythmen von einer lokalen Musikform zum festen Bestandteil brasilianischer Popmusik entwickelt. Basis dieser Musik sind die oft als Samba-Reggae bezeichneten Rhythmusvariationen. Der Samba-Reggae ist eine Mischung aus Brasilien und Jamaika, mit einer Wurzel im national-populärem und einer Wurzel im jamaikanischen Ambiente der schwarzen Diaspora. Der Samba ist die bekannteste im ganzen Land gespielte, gesungene und getanzte Musikform. Der Samba ist mehr als ein Rhythmus oder eine Melodie - Samba ist auch Ausdruck nationaler Identität, ein Lebensgefühl, eben „typisch brasilianisch“ (Vianna, 1995). Es gibt die unterschiedlichsten Formen des Sambas, wie Samba Poesia, Samba duro, Samba de Roda (vor allem in Bahia) oder den Samba Enredo der Sambaschulen des Karnevals von Rio. Der Samba-Reggae ist eine Art verlangsamter Samba-Rhythmus104 mit tieferen Trommeln und den typischen rhythmischen Verzögerungen des jamaikanischen Reggaes. Der SambaReggae, dessen Name zum Oberbegriff für die neuen rhythmischen Stile der bahianischen 104 (genauer den sogen. Samba duro, eine rhythmische Variation des Samba) 217 Musik geworden ist, und Reggae charakterisieren sich durch die off-beat-Akzente, also die rhythmische Betonung vor den Grundschlägen (Gerischer, 1996) Der Samba-Reggae ist die Musik der jugendlichen Schwarzen in den Blocos Afros. Doch schon bald übernahmen auch andere Musikgruppen die Rhythmen. Der Samba-Reggae ist der Kelch aus dem die Axé-Music schöpft, die ab Ende der 80er Jahre den Musikmarkt erobert hat. Die Diskrepanz zwischen Samba-Reggae und Axé-Music ist mehr als ein semantischer Unterschied. Sie ist auch Ausdruck eines (Rassen-) Konfliktes. Die von der Presse als „Königin der Axé-Music“ titulierte Sängerin Daniela Mercury hat ebenso eine helle Haut, wie die meisten SängerInnen der anderen Afro-Pop-Gruppen wie Chiclete com Banana u.a. Über Axé-Music bemerkt der brasilianische Soziologe Moura: „Der literarische Hybridismus eines YorubaWortes und eines anderen griechisch-englischer Herkunft scheint den merkantilen Charakter des neuen Stiles in großem Maße auszudrücken“ (Moura, 1996a, S.6). Analysiert man die Entwicklung der Musik der Blocos Afros, lassen sich zwei Elemente feststellen: einerseits der Bezug zu Afrika in der Musik, insbesondere in den Liedtexten, aber auch bei der rein perkussiven Instrumentierung der ersten Jahre, andererseits die Aufnahme von Einflüssen aus der schwarzen Diaspora, wie insbesondere des jamaikanischen Reggaes. Der Bezug zu Afrika war gerade in der Anfangszeit voller romantischer Vorstellungen über afrikanische Musik. Als die Macher von Ara Ketu von einer Reise aus West-Afrika zurückkamen und nach dem Kontakt mit der aktuellen afrikanischen Musik, die eben nicht mehr rein perkussiv, sondern auch mit elektrisch verstärkten Instrumenten, Bläsern etc. gemacht wurde, begannen ihren Musikumzug im Karneval 1991 um eben jene Instrumente zu erweitern, stieß dies bei der Mehrzahl der Schwarzenbewegung auf teilweise heftige Kritik: Schwarze, afrikanische Musik, das war in ihrer Vorstellung, Trommelmusik, wie sie in einem imaginären Afrika gespielt wurde. Während einige Blocos Afros bis heute an den traditionellen Rhythmen festhalten, wie Ilê Aiyê oder Malê Debalê, sind Gruppen wie Olodum oder Ara Ketu offen für viele Rhythmen und Musikstile. Ara Ketu bezeichnet seine Musik heute auch als Afro-Pop. Die Musik der Blocos Afros mit einem oder zwei Sängern und einer Vielzahl von Trommlern ist technisch schwierig aufzunehmen. Die Patenschaft für die erste Plattenaufnahme eines Bloco Afro, Ilê Aiyê, übernahm Gilberto Gil. Erst als Wesley Rangel in den WR-Studios in Salvador die Musiken der Blocos Afros aufnahm, wurde diese neue bahianische Musik für einen grösseren Personenkreis hör- und sichtbar. Zunächst waren es auch nur wenige 218 Radiostationen, die den Mut aufbrachten die neue Musik zu spielen. Zu dieser Zeit war Cristovão Rodrigues Programmmacher bei Radio FM Itapuã, einer der populärsten Radiostationen der Stadt. Er gehörte zu den ersten, die die rauhe Musik im Radio spielten. Zu diesem Zeitpunkt war die bahianische Musik geprägt durch die Musikgruppen der Trios wie Chiclete com Banana und romantische populäre brasilianische Musik. Die eigentliche schwarze Musik, wie sie auf den populären Festen in Bahia gespielt wurde, war auf dem Musikmarkt fast nicht vertreten. 11.2 Analyse der musikalischen Entwicklung Olodums Die Musik der Blocos Afros ist zunächst eine Karnevalsmusik gewesen. Die Liedtexte orientierten sich, wie bereits beschreiben, an den von den Gruppen ausgesuchten Karnevalsthemen. Die ersten Plattenaufnahmen stehen in einem engen Zusammenhang zu den jeweiligen Karnevalsthemen. Während der Rhythmus zum Tanzen animiert und die Körperlichkeit anspricht, gehen die Liedtexte durch die Köpfe der Menschen. Die Worte beschwören Gedanken herauf, sprechen Gefühle an. Hat eine Musik besonderen Erfolg, können viele sie mitsingen, selbst kompliziertere Texte. In den Liedtexten kommt die ideologische Bedeutung, die Zielsetzung dieser Gruppen zum Ausdruck. In den Liedern geht es um den Stolz auf die eigene Rasse, die schwarze Schönheit, die afro-brasilianische Religion und Kultur oder die bewegte schwarze Geschichte Brasiliens mit ihren Aufständen und Helden. Darüberhinaus werden die Kultur und Geschichte afrikanischer Länder und der Länder der Diaspora thematisiert. Viele Texte haben informativen Charakter, auch wenn die Einzelheiten nicht immer korrekt widergegeben werden. Bis 1988 hat Olodum jedes Jahr ein anderes Land Afrikas im Karneval vorgestellt: Länder, die kulturell nahe sind, entweder aufgrund der gemeinsamen portugiesischen Kolonisation wie Guinea Bissau (1981) oder bzw. und als Heimat der afrikanischen Sklaven, die nach Brasilien verschleppt wurden wie Mozambique (1985) und Nigeria (1982). 1983 gelingt es den Mitgliedern Olodums nicht, den Bloco auf die Strasse zu bringen. Im selben Jahr erfolgt die Restrukturierung und Neugründung als Grupo Cultural Olodum mit João Jorge als Präsidenten und Neguinho do Samba als musikalischem Leiter. Die Wahl des sozialistisch orientierten Tansanias unter Julius Nyerere zum Karnevalsthema (1984) dokumentiert die neue politische und kulturelle Denkrichtung. Wie in den Ujamaa-Dörfern, sieht sich auch Olodum gemeinsamen Zielen und kollektivem Handeln verpflichtet. 219 Estilo de vida em comun Ein gemeinsamer Lebensstil Olodum está de volta Olodum ist zurück Esta é a volta triunfal Dies ist die triumphale Rückkehr Com seu canto de comunidade Mit seinem Gesang der Vereinigung Pra mostrar seu ideal Um seine Ideale zu zeigen („Ujamaa“- Musik von Luciano Gomes dos Santos) Im darauffolgenden Jahr,1985, wird die marxistisch orientierte Volksrepublik Moçambique zusammen mit der Revolta dos Búzios, dem wohl wichtigsten Sklavenaufstand Brasiliens Karnevalsthema. Olodum stellt den Bezug her vom Bürgerkrieg gebeutelten Moçambique, das seine sozialistischen Ideale gegen die von Südafrika unterstützten antimarxistischen Gruppen verteidigte und dem 150 Jahre zuvor blutig niedergeschlagenen Aufstand überwiegend muslimischer Sklaven gegen die weiße Vorherrschaft. Schwarze Völker beiderseits des Atlantiks im Kampf gegen die weiße Vorherrschaft lautete die Botschaft. Im Jahr darauf, 1986, wählt Olodum erstmals kein afrikanisches Land, sondern Cuba als Thema, genauer die Geschichte der Schwarzen auf der Karibikinsel. Brasilien hat sich im Verlauf des vorangegangenen Jahres nach zwanzigjähriger Militärherrschaft wieder demokratischen Verhältnissen geöffnet. Die Wahl Cubas ist Ausdruck der Kontinuität der politisch, sozial-revolutionären Denkweise. Jetzt sind es nicht mehr nur die Wurzeln in Afrika die Referenz der afro-bahianischen Jugendlichen sind, sondern auch die anderen Völker der schwarzen Diaspora mit vergleichbarer Geschichte und Gegenwart. 11.2.1 Starke schwarze Musik - die ersten vier Platten Die ersten vier Platten Olodums („Egito, Madagascar“; „Núbia, Axum Etiópia“; „Do Deserto do Saara ao Nordeste Brasileiro“ ; „Da Atlântida a Bahia“) unterscheiden sich von den später aufgenommenen CD´s durch das Fehlen elektronisch verstärkter Instrumente. Die ersten vier Platten sind noch Long-Play-Platten, keine CD´s. Die fünfte Platte, die erste CD Olodums (The Best of Olodum), ist bereits eine Mischung mit älteren Liedern, die neu aufgenommen wurden. Auf den ersten drei LP´s gibt es nur einige wenige Rhythmen, die sich bei den verschiedenen Liedern wiederholen. Bis 1991 sind es vor allem drei Rhythmen, „Merengue“, „Reggae“ und 220 „Samba-Reggae“ , die den musikalischen Stil Olodums kennzeichnen. Auf der ersten Plattenaufnahme Olodums überwiegt der Merengue-Rhythmus, während auf der dritten nur noch drei der Lieder („Revolta Olodum“, „Oasis Olodum“ und „Cabra de peste“) in diesem Rhythmus gespielt werden (Gerischer, 1996, S.71). Die ersten Platten-Aufnahmen waren den Live-Auftritten noch sehr ähnlich mit spontanen Einwürfen der Sänger zur Anfeuerung des Publikums, rhythmischen Spannungen, unterschiedlichen Tempi. Später wurde die Musik metronomisch gleichmäßiger, der Gesang genauer intoniert, das Instrumentarium um Harmonie- und Melodieinstrumente erweitert Voraussetzungen für den kommerziellen Markt. Die älteren Lieder haben noch den Charakter vertonter Texte. Später werden die Melodiestrophen gleichmäßiger, es wird zunehmend nach ihren Vorgaben getextet. Die Instrumentierung wurde vergrößert. Die Hochkultur des Alten Ägyptens mit ihren Pharaonen und Pyramiden geben dem Karneval 1987 seinen besonderen Glanz. Im Mittelpunkt der Lieder steht die Geschichte dieser Länder, ihre Könige, Helden und Götter. Wie kaum ein anderes Lied zeigt „Faraó, Divinidade do Égito“ wie komplex, kreativ und anspruchsvoll die Texte Olodums waren. Faraó, Divinidade do Egito (von Luciano Gomes dos Santos) Deuses, divinidade infinita do universo Götter, unendliche Gottheit des Universums A ênfase do espirito original „ CHU“ Die Kraft des ursprünglichen Geistes CHU Formará no Éden o ovo cósmico brachte in Enden das kosmische Ei hervor A emersão nem Osiris sabe como aconteceu Das Auftauchen - nicht einmal Osiris wußte wie es geschah A ordem ou submissão do olho seu Der Befehl oder die Unterordnung unter sein Auge Transformou-se na verdadeira humanidade verwandelte sich in die wahrhaftige Menschheit Epopéia do código de Gueb e Nut gerou as estrelasDer Epos des Kodes von Gueb und Nut hat die Sterne hervorgebracht Osíris proclamou matrimônio com Isis Osiris verkündete die Heirat mit Isis E o mal Seth, irado o assassinou em Per-A-Á Und der schlechte Seth, zornig Ermordetete er ihn in Per-A-A Horus levando avante avingança do pai Horus brachte die Rache des Vaters mit Derrotando o império do mal Seth Das Imperium des Schlechten Seth zu vernichten Ao grito da vitória que nos satisfaz Zum Ruf des Sieges, der uns befriedigt 221 Tutancâmon, iê iê Gizé Tutancâmon, iê iê Gizé Akahenaton, iê iê Gizé Akahenaton, iê, iê Gizé E Faraó E Faraó Clama Olodum-Pelourinho ruft Olodum-Pelourinho E Faraó E Faraó Pirâmide a base do Egito Pyramiden sind die Basis Ägyptens Que mara mara maravilha ê Egito, Wie wunderbar ist Ägypten Egito ê Faraó, ó ó Egito ê Faraó, ó ó Pelourinho uma pequena comunidade Pelourinho eine kleine Gemeinschaft Que porém, Olodum unira die Olodum zusammenbringt Despertai-vos para cultura egípcia no BrasilEuch aufweckt für die ägyptische Kultur in Brasilien Em vez de cabelos trançados Statt geflochtener Haare Veremos turbantes de Tutancamon sehen wir die Turbane Tut-Ench-Amuns E, nas cabeças enchem-se de liberdade Und die Köpfe füllen sich mit Freiheit O povo negro pede igualdade Das schwarze Volk verlangt Gleichheit Deixando de lado as separações Läßt die Trennungen beiseite In diesem Lied werden die ägyptischen Pharaonen Tut-ench-Amun (18. Dynastie, ca.13471339 v. Chr.) und Echnaton (25. Dynastie, 711-656 v. Chr.) und die durch ihre Pyramiden und die Sphinx berühmte Stadt Giseh besungen. Waren die Pharaonen wirklich schwarz fragten sich die Bahianer? Olodum greift mit der Wahl Ägyptens auf eine wissenschaftliche Debatte zurück, die den Ursprung der Menschheit im Nildelta ansiedelt und davon ausgeht, dass diese Menschen eine dunkle Haut hatten. Die Sichtweise, die hier zum Ausdruck kommt, unterscheidet sich von der gängigen Meinung, die die Pharaonen als Menschen heller Hautfarbe betrachtet. Olodum bezieht sich auf die aufsehenerregenden Thesen des afrikanischen Historikers Cheick Anta Diop und der amerikanischen Forscher Cf. Drake und St. Clair, dass die Pharaonen dieser Perioden negroiden Rassen angehört haben. Nach Cheik Anta Diop, dessen Überlegungen das wissenschaftliche Symposium der UNESCO zur Erarbeitung der Geschichte Afrikas 1974 in Kairo prägten, gehen die afrikanischen Kulturen auf die ägyptischen Hochkulturen zurück. Ihre Charakteristiken seien die dunkle Hautfarbe, negroide Züge (Schädel), linguistische Ähnlichkeiten, Riten, Totemismus, Architektur, Instrumente u.a.m. (Diop, 1980). Die ägyptischen Hochkulturen seien demnach Teil der 222 Geschichte der schwarzen Völker. Die Brücke von der Welt der Pharaonen zu den AfroBrasilianern am Pelourinho war geschlagen. Der Kompositor Luciano Gomes dos Santos arbeitete damals als Mechaniker in einer Autowerkstatt. Die Informationen über die ägyptischen Hochkulturen entnahm er der Postille Olodums.Die letzten Zeilen beschreiben Olodum im Karneval: Statt geflochtenen Zöpfen, Turbane, unter denen der Ruf nach Freiheit und Gleichheit wuchs. Der Soziologe Milton Moura interpretiert dies als Erweiterung der Vorbilder des Afro-Typs. (Moura, 1987). Auch in den darauffolgenden Jahren sind wieder afrikanische Länder Karnevalsthema wie Madagaskar (1988), Musik von Rey Zulu „Ranavalona“, und Núbia Axum Etiópia (1989). Mit zunehmender Beliebtheit und wachsendem Erfolg Olodums werden die Beziehungen der Afro-Bahianer und ihrer schwarzen Schwestern und Brüder jenseits des Atlantiks immer deutlicher. Eine der beliebtesten Karnevalsmusiken wird das Lied „Protesto Olodum“ von Tatau (heute Ara Ketu) Força e pudor Kraft und Durchsetzungsvermögen, liberdade ao povo do Pelô Freiheit für das Volk vom Pelo mãe que é mãe Mutter, die Mutter ist no parto sente dor spürt die Schmerzen der Geburt e la´vou eu, und da komm ich lá e cá Norestopia hier und da Nordostthopien para a Bahia o Nordeste vira as costas der Nordosten kehrt Bahia den Rücken zu Die Wahl Ägyptens zum Karnevalsthema und das Lied Faraó entfachten heftige Diskussionen in Salvador. Die weiße Mittelklasse macht sich darüber lächerlich. 105 Zu unverschämt schien der Anspruch Olodums, Ägyptens Hochkultur als eine schwarze und nicht wie bisher angenommen, weiße Hochkultur anzunehmen. Andererseits wurde kritisiert, dass Ägypten ja selbst eine Sklavenhalter-Gesellschaft gewesen sei und eine Idealisierung durch einen Bloco Afro deshalb grotesk sei (vgl. Moura, 1987). 105 Die erfolgreiche Theatergruppe Los Catedrásticos persiflierte in ihrem Stück „Novíssimo Recital da Poesia Baiana“ des Sommers 1988 die Musik Faraó und brüskierte damit die schwarze Bewegung. Die Mitglieder der Theatergruppe, wie auch die Mehrheit ihre Publikums, die begeistert applaudierte, setzt sich zum großen Teil aus der hellhäutigen intellektuellen Mittelschicht zusammen. (S. dazu Guerreiro, 2000, S.26). 223 Den Menschen auf der Straße im Karneval gefiel das Lied und für die Mehrheit der jugendlichen Schwarzen war es wichtig, die eigene Identität und Geschichte mit einer berühmten Hochkultur in Verbindung zu bringen. Von den neun Liedern auf der ersten Platte Olodums „Egito, Madagáscar“ von 1987 geht es in fünf Liedtexten um die Geschichte Afrikas neben „Faraó Divinidade do Egito“, der „Reggae dos Faraós“ und „Madagáscar Olodum“, sowie„Arco-Íris de Madagáscar“ und „Encantada Nação“. In drei anderen Liedern wird Olodum und der Pelourinho besungen „Ladeiro do Pelô“, „Olodum florente na Natureza“, „Raça Negra“. Der Text „Um Povo comun pensar“ ist dem Cuba Fidel Castros gewidmet. Die meisten Lieder (vier) werden von Lazinho gesungen, dem Sänger, der bis heute die Seele Olodums verkörpet, je zwei von Tonho Matéria (Text und Gesang) und Betão und ein Titel von Suka komponiert und gesungen. Von Anfang an hat es bei Olodum mehrere Sänger gegeben, die eigene oder nur für sie komponierte Musiken vorstellen. Neben Faraó wird Ladeira do Pelô, (beide von Lazinho gesungen) zu einem häufig im Radio gespielten Hit. In dem Lied geht es um das, was Olodum zu diesem Zeitpunkt ist: Eine Gruppe junger stolzer Schwarzer, die selbstbewußt ihren Platz beanspruchen. Ladeira do Pelô (von Betão) Olodum, negro elite Olodum, schwarze Elite Ê negritude es ist die Negritude Deslumbrante por ter magnitude Blendend durch die Grösse Integra no canto toda a massa Intergriert in den Gesang die Massen Que vem para a praça agitar die auf den Platz kommen um zu agitieren Salvador se mostrou mais alerta Salvador zeigt sich aufgerüttelt Com o bloco Olodum a cantar mit dem Bloco Olodum der singt Lê Lê Lê Lê Ô Lê Lê Lê Lê Ô Ê Aê A Ê Aê A Aganjou, Alujá, muito axê Aganjou, Alujá, viel Axé Canta o povo de origem nagô Singt das Volk der Herkunft nagô O seu corpo não fica mais inerte Sein Körper bleibt regungslos Que o bloco Olodum já pintou Weil der Bloco Olodum schon auftaucht Lê Lê Lê Lê Ô Lê Lê Lê Lê Ô Ê Aê A Ê Aê A 224 E eu vou e eu vou e eu vou e eu vou Und ich gehe und ich und ich gehe und ichgehe Vou subir a ladeira do Pelô Gehe die Gasse des Pelô hoch E eu vou e eu vou Und ich gehe und ich gehe E eu vou, na sexta-feira eu vou Und ich gehe am Freitag gehe ich Vou subir a ladeira do Pelô Gehe ich die Gasse des Pelô hoch Balançando a banda Wiegend die Banda Prá lá dort hin Balança a banda Wiegend die Banda Prá cá hier her Eu falei Olodum, Olodum Ich sagte Olodum, Olodum Me leva que eu vou, sou Nimm mich mit, ich gehe, ich bin Olodum Deus dos Deuses Olodum Götter der Götter Vulcão Aficano de Pelô der afrikanische Vulkan vom Pelô Auf dem Platten-Cover ist eine Häuserzeile des Pelourinho zu sehen, eingerahmt von Streifen in Regenbogen-Farben. Auf der Rückseite ist Olodum auf einer Bühne vor der Casa de Jorge Amado auf dem Pelourinho zu sehen. Eine riesige Fahne zeigt eine afrikanisch inspirierte Maske, auf deren linken Seite Afrika steht, auf ihrer rechten Seite Bahia. Darunter ist die Widmung zu lesen „ Diese Platte ist gewidmet der Gemeinschaft des Maciel/Pelourinho, allen Menschen, die gegen den Rassismus kämpfen, unseren Vorfahren der Quilombos und der Revolta dos Búzios und Dona Benedita Evangelista de Melo“. Bereits diese erste Platte wurde von der Continental der Warner Music Brasil produziert und über 50.000 mal verkauft. Auf der zweiten Platte „Núbia, Axum, Etiópia“ von 1988 wird der Stil der ersten Musiken beibehalten . Die Liedtexte der ersten Platten Olodums verbinden Anklagen gegen Rassismus oft mit Rufen nach sozialer Gerechtigkeit. Olodum erscheint dabei oft als der Hort dieses Widerstands, z.B. Revolta Olodum, Olodum Resistência, Protesto Olodum. Auf dem Titelbild ist die Banda Olodum auf einer Bühne zu sehen. Rings herum zeigen kleine Quadrate afrikanisch anmutende Symbole, wie sie für Westafrika typisch sind. Die Rückseite ist mit afrikanisch inspirierten Motiven in den Farben Rot, Gelb, Grün und Schwarz gehalten. „Diese Platte ist gewidmet Nelson Mandela, der brasilianischen Schwarzenbewegung, dem Volk des Maciel/Pelourinho, dem sozialistischen Äthiopien, der Kraft und dem Licht des Rastafarianismus, João Rodrigues da Silva, unserem Kampf gegen den Rassismus in der Welt, gegen die Apartheid, für den Frieden in der Welt und gegen alle Formen des Krieges“ 225 Auf der dritten Platte „Do Deserto do Saara ao Nordeste Brasileiro“ von 1989 spürt man den Einfluss der sich verändernden Verhältnisse. Zehn Jahre Olodum. Olodum ist auch über die Grenzen Bahias hinaus bekannt geworden, während gleichzeitig die Rassenproblematik erstmalig offener im Alltag diskutiert wird und die politische Öffnung spürbarer ist. Olodum positioniert sich in der schwarzen Diaspora und unterstützt die Anti-Apartheid-Bewegung ebenso wie linke Regierungsmodelle. Das erste Lied der Platte ist eine Referenz an Cuba „Vinheta Cuba-Brasil“. Eines der bewegensten Stücke ist die Nationalhymne des befreiten Südafrika, gesungen von Lazinho, „Nkosi Sikelelle I – Africa“, gefolgt von einem Gedicht „Poema da Liberdade“ zu Ehren Nelson Mandelas und eines befreiten Südafrika und „Aiyndeô“ einem nigerianischen Folklorestück. Die Hälfte der zwölf Lieder führen im Titel „Revolta Olodum“, „Envolvente Olodum“, „Olodum Resistência“, „Oásis, Olodum“, „Olodum o Alicerce Negro“, „Olodum Ologbom“ und zeigen damit auch die Bedeutung der Gruppe für die schwarzen Jugendlichen. Olodum repräsentiert den Widerstand, Olodum ist verführerisch, Olodum bietet Geborgenheit. Eines der beeindruckendsten Lieder der Platte ist die Musik „Revolta Olodum“, deren Text Olodum und die Bewegung der Blocos Afros in einen Kontext mit den wichtigsten Aufständen und Freiheitshelden des brasilianischen Nordostens stellt: Lampião, der brutale Robin Hood des Sertão, António Conselheiro, dessen urchristliche Gemeinde in Canudos (Bahia)1897 von den Militärs zerstört wurde, und Zumbi, der Anführer der Sklaven-Fluchtburg Palmares (Alagoas), sowie in Salvador die 1835 von den islamisch-gläubigen Sklaven angeführte Revolta dos Malês und die kurz darauf folgenden Balaiada-Aufstände im Maranhão. Das Bindeglied ist die gemeinsame Erfahrung des Lebens im armen, unterentwickelten Nordosten. Revolta Olodum (von José Olissan und Domingos Sergio) Retirante Ruralista Der vom Land Vertriebene Lavrador Arbeiter Nordestino Lampião Nordostler Lampião Salvador der Retter Pátria sertaneja independente Unabhängiges Vaterland des Sertao António Canselheiro em Canudos Antônio Conselheiros in Canudos Presidente Präsident 226 Zumbi em alagoas commandou Zumbi in Alagoas kommandierte Exército de idéias libertador Ein Heer befreiender Ideale Sou Mandinga, Balaiada Ich bin der Zauberer, Balaiada sou Malé Ich bin Malé Sou búzios, sou revolta Ich bin die Muscheln, ich bin die Revolte Are re Are re Ô Corrisco O Corrisco Maria Bonita mandou te chamar Maria Bonita hat dich gerufen E o vingador de Lampião Es ist der Rächer von Lampião Eta cabra da peste Eta cabra da peste Pelourinho Olodum Pelourinho Olodum somos do Nordeste Wir sind aus dem Nordosten Êta, êta, êta, ta-ra-ta-ta Êta, êta,êta,ta-ra-ta-ta Das Plattencover zeigt den Namen Olodums vor dem Hintergrund des vor Feuchtigkeit glänzenden Kopfsteinpflasters des Pelourinho. Auf der Rückseite ist der verlassene Pelourinho mit der Kirche N.S. de Rosário dos Pretos zusehen, im Vordergrund einsame Trommeln. „Diese Platte ist gewidmet der totalen Freiheit Nelson Mandelas, dem Volk des Nordostens Brasiliens, den Völkern der Tuaregs-Woobade der Sahara, Dona Alice dos Santos Silva, Ratgeberin, Ialorixá, Mutter und Martin Lopes Santos, Ratgeber, Babalorixá, allen Kindern der Welt Olodums, Kinder der Direktoren, Ratgebern, Mitgliedern, unserer wunderbaren Banda Mirim, der realen Zukunft der Hoffnung, die ein Phänomen ist, das von allen genannt wird das Volk Olodumarés. Aus der Sahara-Wüste bis zum Nordosten Brasiliens und von Atlantis bis nach Bahia, das Meer ist der Weg (1990) „Da Atlantida à Bahia, o mar é o caminho“ – Anfang der 90er Jahre spannt Olodum den Bogen über den Atlantik. Die meisten der zwölf Musiken der Platte beschäftigen sich mit dem Meer, wie „Atlântida“, „Canto à Iemanjá“, „Iemanjá, Amor do Mar“, „Olodum no Balanco das Águas“ und das erfolgreichste Lied der Platte „Canto ao Pescador“, das von Pierre Onassis gesungen wird. Einige Musiken sind stärker politischhistorisch geprägt und beschäftigen sich mit den Sklavenaufständen und der Gemeinschaft des Pelourinho wie das „Pout-Pourri“ aus „Revolta dos Búzios“ und „Pelourinho, Cultura 227 africanizada“, „Luz e Blues“ oder „Convite Olodum“ und „Cansei de Esperar“. In der Musik „As duas Histórias“ wird der Bogen gespannt vom moslemischen Westafrika, der Sahara zu der Wüste des Sertão im Nordosten Brasiliens. Die Musik „Reggae Odoyá“ hat der jamaikanische Reggae-Mann Jimmy Cliff aufgenommen. Hier zeigt sich die enge Verbindung zu der Musik und den Menschen aus Jamaika. Jimmy Cliff verbringt jedes Jahr eine längere Zeit in Bahia, hat hier inzwischen Familie. Auf dem Cover der vierten Platte sind vom Meer überspülte Felsen zu sehen, auf denen mit Algen Olodum geschrieben steht. Auf der Rückseite glänzen auf den Felsen SchmuckOrnamente, die Yemanjá gewidmet sind. Das Innenblatt mit den Liedtexten ist doppelt so groß wie bei den vorigen und zeigt zahlreiche Fotos von Olodum und zwei Texte über die Gruppe Olodum. Diese vier ersten Platten Olodums bilden – wie bereits vorher gesagt - eine Einheit: nicht nur musikalisch, technisch, sondern auch inhaltlich. Die fünfte Platte, die erste CD Olodums, von 1991 ist eine Neuaufnahme der älteren Musiken, eine typische „Best of“ der früheren Titel, die insbesondere mit Blick auf den internationalen Markt lanciert wird. Sie verkauft sich blendend und erstmalig erhält Olodum eine goldene Platte für über 100.000 verkaufte Exemplare. Aus der Sahara-Wüste bis zum Nordosten Brasiliens (1990) Do deserto do Saara ao Nordeste Brasileiro und von Atlantis bis nach Bahia, das Meer ist der Weg (1991). Da Atlantida a Bahia, o mar é o caminho – Anfang der 90er Jahre spannt Olodum den Bogen über den Atlantik. In diesen beiden Jahren werden Themen bearbeitet, die die Gemeinsamkeiten und Parallelen der afro-bahianisch/brasilianischen Realität und Afrikas betonen - die Bedeutung der Götter, die Kraft des Widerstands, die Besonderheiten des Nordostens. 11.2.2 Vom Kämpfer zum Romantiker Mit der Wahl Indiens zum Karnevalsthema 1992 überrascht Olodum. Erstmals wählt ein Bloco Afro ein Thema ausserhalb der schwarzen Diaspora: Indien, die Wege des Glaubens („India -Os caminhos da fé“). João Jorge erläutert: “Wir haben bei dem Thema an den passiven Widerstand der Inder gegen die übermächtige Kolonialmacht England gedacht, an den Frieden, an Mahatma Gandhi und den Afoxé Filhos de Gandhi. Auch wir sind friedlich, 228 auch wir befinden uns auf einem langen Weg des Widerstands” (João Jorge, 1992). Wie in den vorhergehenden Jahren auch tanzen Tausende auf den Strassen zur Musik Olodums. Mahatma Gandhi und die pazifistische Befreiungsbewegung hatten ja bereits 1949, fast 50 Jahre zuvor, die Hafenarbeiter zur Gründung des Afoxé Filhos de Gandhi inspiriert, bis heute eine der auffälligsten und in seiner Harmonie schönsten Erscheinungen des bahianischen Karnevals. Anfang der 90er Jahre in unserer zunehmend globalisiserten Gesellschaft ist Indien doch noch erheblich näher gerückt. Während Erfolg und Kommerzialisierung einerseits die Tendenz zu einer musikalischen Schematisierung haben, werden andererseits Innovationen und Kreativität gefördert. Auf der LP/CD „A Música do Olodum“, Platte Nummer Sechs von 1992 wurden zum ersten Mal Stücke mit elektronisch verstärkten Instrumenten (Gitarre, Bass, Keyboard und Bläser) aufgenommen. Zwar hat es bereits auf den vorhergehenden LP´s (Do Deserto.. und Da Atlântida..) Stücke mit Saxophon-Begleitung gegeben, aber die Aufnahmen waren äusserst bescheiden. Auf dieser LP/CD gibt es noch rein perkussive Stücke – anders als auf den darauf folgenden. 1992/1993 nutzt Olodum eine Welle des Erfolgs. Der Pelourinho wird restauriert, Salvador/Bahia das beliebteste Ferienziel Brasiliens, Olodum die Musikgruppe, die in den Medien den meisten Raum einnimmt und im Ausland ungemein erfolgreich ist. Bei den Auftritten stehen nach wie vor die Trommler im Mittelpunkt des Geschehens, während sie auf den Platten allmählich in den perkussiven Hintergrund übergehen. Im darauffolgenden Jahr 1993 sind es die Schätze Tut-Ench-Amuns, die die Phantasie der Karnevalisten beflügeln. Ein prächtiges Thema, für den zu diesem Zeitpunkt erfolgreichsten Bloco Afro, dessen Auszug in den Karneval anfänglich beschrieben wurde. Die sechste Platte „A Música do Olodum“ erscheint 1993, zu einem Zeitpunkt als Olodum bereits auf dem Höhepunkt des nationalen und internationalen Erfolgs ist. Die Hälfte der Lieder dieser Platte wird zu Hits, viel im Radio gespielt, nachgespielt von den anderen. Die erfolgreichste Musik der CD ist das Stück „Berimbau“, gesungen von Pierre Onassis. In der Musik wird nicht nur das bei der Capoeira eingesetzte Musikinstrument besungen, sondern auch das schwarze Selbstbewusstsein. 229 Berimbau (Pierre Onassis, Germano Meneghel und Marquinhos) Berimbau, Berimbau,, um pedaço de arame ein Stück Draht Um pedaço de pau ein Stück Holz Juntou com a cabaça virou berimbau. zusammen mit der Kalabasse wird daraus ein Berimbau ... Aguce a sua consciência Schärfe Dein Bewußtsein Negra cor, negra cor ô ô ô Schwarzer Farbe, schwarze Farbe ô Extirpar o mal Rotte das Böse aus Que nos rodeia, se defender Das uns umgibt, verteidige Dich A arma é musical mit der Waffe die die Musik ist Cantando reggae, cantando jazz Reggae singend, Jazz singend Cantando blues Blues singend eu louvo a jah Ich bete zu Jah Eu digo já chegou Olodum. Ich sage, dass Olodum schon gekommen ist Eu sou Olodum quem tu es? Ich bin Olodum, wer bist du ? Neben „Berimbau“ wird „Nossa gente“ ,wie es auf der Platte heisst, gesungen von Germano Meneghel zu einem der Sommerhits 1992/93. Der Refrain „Avisa lá, que eu vou chegar mais tarde ôyé!“ ist in den Sommermonaten überall zu hören. Diese Musik nehmen unabhängig von einander auch die brasilianischen Stars Caetano Veloso und Gal Costa auf ihren Platten auf. Der Text ist auch eine Homage an den internationalen Erfolg Olodums: die Auslandsreisen der Gruppe, der Einsatz neuer Technik, die ausländischen Touristen, die zum Pelourinho kommen. Nossa Gente (von Roque Carvalho) Vou me juntar ao bando Olodum que é da alegria Ich gehe auch zur Banda Olodum, die gut drauf ist É denomindao de vulcão Die wird auch Vulkan genannt O estampido ecoou os quatro cantos o mundo Das Dröhnen hallt aus allen vier Ecken wider Em menos de um minuto, em segundos. In weniger als einer Minute , in Sekunden 230 Nossa gente é quem bem diz é quem mais dança Unsere Leute sind die, von denen man sagt, die am meisten tanzen Os gringos se afinavam na folia Die Gringos haben sich eingepaßt in die Folie Os Deuses igualizando todo encanto, toda trança Die Götter gleichen sich dem Entzücken an, der Trance Os rataplans dos tambores gratificam... Das Raunen der Trommeln belohnt Während es auf den ersten Platten Olodums kaum romantische Liebeslieder gab, hat sich dies mit zunehmendem kommerziellem Erfolg grundlegend geändert. Die edukativen Texte weichen zunehmend Selbstdarstellungen oder romantischen Versen. Die Texte sind einfacher geworden, komplexe Zusammenhänge sind selten. Den Bezug zu den afrikanischen Ländern und Kulturen gibt es kaum noch. In den Erfolgsliedern der letzten Jahre wie „É lindo de se ver“, „Deusa do Amor“, „Vem meu Amor“ geht es um Romantik, Liebe, Olodum. Olodum macht glücklich. Alle sollen zum Pelourinho kommen, der gerade restauriert wird. É lindo de se ver (Cay) É lindo de se ver Es ist schön zu sehen É lindo, venha apreciar Es ist schon, komm es zu geniessen É lindo de se ver Es ist schön zu sehen A banda Olodum tocar Wie die Banda Olodum spielt É um toque bonito e tão infinito Es ist ein schöner Rhythmus und so unendlich Que faz a gente balançar Der uns zum Schwingen bringt Seu corpo não consegue Dein Körper schafft es nicht Ficar parado em só lugar An nur einer Stelle still zu stehen E a banda Olodum Und die Banda Olodum com seu toque maneiro Mit ihrem hippen Rhythmus zeigt vem mostrar Esqueça a tristeza Vergiss die Traurigkeit Deixe o tédio de lado Lass den Überdruss beiseite E venha reguear.... Und komm zum Reggae 231 Deusa de Amor (Valter Farias und Adailton Poesia) Tudo fica mais bonito Alles wird schöner Você estando perto Wenn Du in der Nähe bist Você me levou ao delírio Du bringst mich ins Delirium Por isso eu confesso Deswegen gebe ich zu Os teus beijos são ardentes Deine Küsse sind brennend Quando você se aproxima Wenn Du Dich näherst meu corpo sente.. Spürt es mein Körper ...Vejam o afro Olodum Kommt der Afro Olodum zu sehen Ao passar na avenida Wie er durch die Avenida kommt Todos cantando felizes Alle singen glücklich De bem com a vida zufrieden mit dem Leben Caminhando lado a lado Wir gehen Seite an Seite Formamos um belo casal Wir geben ein schönes Paar ab Somos dois namorados Wir sind zwei Verliebte No suingue dessa banda.. Im Swing dieser Banda Einige wenige Lieder mit politischen Texten kommen auf die Platte. Es ist Reni Veneno, einer der Sänger, der die beiden politischsten Lieder komponiert und interpretiert. In „Protesto Olodum II“ (zusammen mit Pierre Onassis und Antonio Copic) wird die soziale Ungerechtigkeit denunziert und die Politiker angeklagt. Dabei geht es nicht um rassische Diskriminierung, sondern um die Misere der Armen in Brasilien, für die die Politiker verantwortlich gemacht werden „Protesto Olodum II“ (Pierre Onassis, Reni Veneno und Antonio Copic) Nesse mundo imundo que estamos In dieser schmutzigen Welt in der wir sind Todas privações que passamos Alle die Entbehrungen, die wir erleben E por falta de amor... Sind wegen des Fehlens der Liebe ...A usura toma conta dos homens Die Gier hat die Menschen eingenommen E o povo morrendo de fome Und das Volk stirbt an Hunger É um atentado ao pudor. Das ist ein Attentat auf die Scham 232 Falta casa, falta pão, falta escola Es fehlen Häuser, es fehlt Brot, es fehlen Schulen Os políticos pisando na bola Die Politiker, die daneben liegen Eles querem nos manter Sie wollen uns uninformiert Desinformados halten Oh! meu Deus, que país desgovernado Oh , Mein Gott, was für ein schlecht regiertes Land „Desabafo Olodum“ ist ein Rap, in den Reni seine Erfahrungen und Gedanken während seiner letzten Europa-Reise eingearbeitet hat. Die Wahl des Rap als Darstellungsform zeigt die geistige und kulturelle Nähe, die die Musiker Olodums zunehmend zur Situation der African-Americans spüren. Im Vergleich zu nordamerikanischen Raptexten ist der Inhalt dieses Liedes harmlos, für brasilianische Verhältnisse jedoch schon so, dass die Plattenfirma der Aufnahme zunächst nicht zustimmen wollte. Desabafo Olodum (Reni Veneno) Está na hora de pensar Es ist an der Zeit darüber nachzudenken Numa forma de derrubar Über eine Art Umzuwerfen A discriminação que impera este lugar Die Diskriminierung, die an diesem Ort regiert A muralha desonesta não vai mais frutificar Die unehrliche Mauer wird nicht weiter Früchte tragen O povo não é burro já começa protestar... Das Volk ist nicht dumm, fängt schon an zu protestieren... Eu amo meu país, mas me vergonho do sistema Ich liebe mein Land, aber ich schäme mich des Systems Políticos retrógrados nosso grande problema Zurückgebliebene Politiker sind unser großes Problem Três vezes na Europa Dreimal in Europa Com meu canto ecoando mit meinem widerhallenden Gesang E decidamente eu vou seguindo protestando Und entschieden werde ich weiterhin protestieren Eu vou lutar e eu vou vencer Ich werde kämpfen und ich werde gewinnen 233 E vou provar Ich werde beweisen Que sou bocar defazer amor. Dass ich gut Liebe machen kann Die zwölf Lieder der Platte werden von sieben Sängern interpretiert (Germano Meneghel, Pierre Onassis, Lazinho, Reni Veneno und Tânia Santana je zwei, Marquinhos und Jauperi je ein Stück). Der Sänger Jauperi ist bei Erscheinen der LP bereits zugunsten einer Solo-Karriere ausgestiegen, die Sängerin Tânia erstmals bei einer Plattenaufnahme dabei. Tânia Santana ist insbesondere auf den Tourneen nach Europa erfolgreich. Das Publikum schätzt ihre kräftige Stimme und ihr an amerikanische Jazz-Sängerinnen erinnerndes Auftreten. Erstmals wird ein Lied („Samba Reggae“) auf Spanisch gesungen. Auf der Platte, die noch von der Banda Reggae Olodum aufgenommen wurde, sind alle Musiker mit Namen aufgeführt. Auf dem Plattencover ist der Löwe der Rastafari-bewegung zu sehen mit grün-gelb-rot-schwarzer Fahne, Grundfarbe weiß, Sterne und Monde. Mit dem Karneval 1994 wird eine neue Phase Olodums eingeleitet. Von nun an sind die Themen weiter gefasst, nicht mehr einzelne Länder oder Regionen der schwarzen Diaspora, sondern mehr oder weniger fiktive Bewegungen, Gruppierungen. Die von Bahia ausgehende Bewegung des Tropicalismo, eine kulturell-politische Widerstandsbewegung angeführt u.a. von Caetano Veloso, Gilberto Gil, Gal Costa und Maria Bethânia wird 30 Jahre nach Beginn der Militärdiktatur auf den Strassen Salvadors von Olodum gefeiert. Wenige Monate zuvor ist die erste CD Olodums erschienen, auf der die bis dahin rein perkussiven Aufnahmen von elektronischen und harmonischen Arrangements abgelöst werden. Für die CD/LP “O Movimento” bekommt Olodum erstmals eine Goldene Platte. Die Musik „Requebra“ von Pierre Onassis wird zur meistgespielten Musik des Karnevals. Im Liedtext geht es nicht um afrikanische Könige oder Widerstand, sondern um sinnliche Tanzbewegungen – eine der ersten Musiken Anfang der 90er Jahre, die mit ihren Anspielungen in dieser Art den Publikumsgeschmack erobern. Auf den CD´s „O Movimento“ und „Os Filhos do Sol“ sind alle Stücke mit elektronisch verstärkten Instrumenten arrangiert. Olodum versucht musikalisch neue Wege. Dabei rückt die Perkussion in den Hintergrund, um Platz (akustisch) für andere Instrumente zu machen. Erstmals sind auch andere brasilianische Rhythmen zu finden, wie zum Beispiel der baião, ein für den Nordosten typischer Rhythmus, bei dem eine Triangel und eine Art Ziehharmonika gespielt wird. 234 Es gibt kurze, sich wiederholende Bassmelodien und eine Fülle von breaks, die von allen Trommlern gemeinsam gespielt werden. Fast jedes Lied wird mit einem Perkussions-break eingeleitet, die elektrisch verstärkten Instrumente folgen der marcação. Parallel dazu sind ab 1993 die Karnevalsthemen nicht mehr an revolutionären afrikanischen bzw. brasilianischen Fragen orientiert, sondern viel weiter gespannt wie die Themen Indien oder Tropicalismo. Bei diesen beiden noch läßt sich ein intellektueller Bezug zur pazifistischen Befreiungsbewegung Mahatma Gandhis oder politisch-kulturellen Bewegung des Tropicalismo zu Zeiten der Militärdiktatur in Brasilien herstellen, aber eben nicht mehr der direkte Bezug zu schwarzer Kultur. In den folgenden Jahren sind es die „Söhne der Sonne“ und die „Söhne des Meeres“, die Karneval und die Musiken inspirieren. Die erste Musik Alegria Geral gesungen von Germano Meneghel der siebten CD „O Movimento“ dokumentiert das neue Olodum Alegria Geral (Ythamar Tropicália, Alberto Pita und Moço) Olodum tá Hippie, Olodum ist Hippie Olodum tá pop, Olodum ist Pop Olodum tá reggae, Olodum ist Reggae Olodum tá rock, Olodum ist Rock Olodum pirou de vez... Olodum ist auf einen Schlag ganz durchgedreht Auf dem Höhepunkt des Erfolgs scheint alles möglich. Olodum ist ein Weltenbürger, eine Weltmusikgruppe, Olodum kann alles sein. Anders als noch bei der vorhergehenden Platte ist es jetzt die Banda Olodum, nicht mehr die Banda Reggae Olodum, die die Platte aufgenommen hat. Die Tropicalismo-Bewegung wird zum Karnevalsthema. „Olodum pirou de vez“ wird das Motto für das Bonfim-Fest im Jahr 1994. In den meisten der 15 Liedtexte geht es um die Liebe, um Tanz und Flirt, wie beispielsweise in „Rosa“ oder „Amor de Eva“. Der Hit der 1993 aufgenommenen Platte wird „Requebra“ gesungen und komponiert (zusammen mit Nêgo) von Pierre Onassis. Requebra (Pierra Onassis und Nêgo) Requebra, requebra, requebra sim Tanz, tanz, tanz ja Pode falar, Pode rir de mim.... Du kannst reden, du kannst über mich lachen .... 235 ...Deusa de marrom Braune Göttin Jeito sensual Sinnliche Art Quando ela passa Wenn sie vorbeikommt Agita a cidade Setzt das die Stadt in Bewegung Pois é Carnaval... Weil es ist Karneval... ...Já falei que te quero Ich habe schon gesagt, dass ich Dich will Não tenho vergonha Ich schäme mich nicht de te assumir, zu Dir zu stehen Pois o homen não vive Weil der Mann lebt nicht Se seus sentimentos wenn seine Gefühle Não admitir es nicht erlauben Requebra bezeichnet die hin- und her- schwingende Bewegung der Hüften, ein sehr sinnliches Tanzen, wie es bei den Proben Olodums üblich ist. Inspiriert in den tanzenden Mädchen ist die Musik entstanden: Die „braune Göttin“, die die Stadt in Aufregung versetzt und die man nicht vergessen kann. Und fast ungewollt ist auch hier der subtile Rassismus spürbar: „Ich schäme mich nicht zu Dir zu halten, dich anzunehmen, zu akzeptieren“. Requebra wird zum Inbegriff des bahianischen Karnevals 1994 und der dazu gehörige Tanz von den Mädchen eingeübt. Die meisten Musikstücke beginnen perkussiv, dann kommen die Bläser dazu, dann beginnt der Gesang. Nur zwei („Mel Mulher, Ideologia) der 16 Musiken sind rein perkussiv, bei allen anderen treten immer mehr die Bläser und elektrischen Instrumente in den Vordergrund. Das Lied „Mel Mulher“ ist ein romantisches Liebeslied. Wegen seines Refrains wird es während der Sonntagsproben immer dann gespielt, wenn es im engen Gedränge zu Schlägereien kommt. Mel Mulher (Lula Novaes und Sandoval) Amar, amar, amar, eu amarei Lieben, lieben, lieben, ich werde lieben Com Olodum eu vou Mit Olodum gehe ich Aonde você for. Não, não brigue, Wohin du gehst. Nein, nicht streiten não mate, Nicht töten, não morra, não Nicht sterben, nein Porque a vida é preciosa, Weil das Leben wertvoll ist 236 não deixe passar em vão Lass es nicht umsonst verstreichen não deixe não Nein lass es nicht Lazinho besingt in Ideologia Olodum, eine über die Jahre gestärkte Gruppe, die ihren Kampf nicht aufgeben wird und noch viel zu erreichen hat. In dem ebenfalls von ihm interpretierten Lied Sueños Lejos geht es um die Einreiseschwierigkeiten für Brasilianer in Cuba. Von den 16 Musiken (ein Instrumental-Stück) interpretieren die Stammsänger Pierre Onasis, Lazinho, Marquinhos und Reni Veneno je drei, Germano Meneghel zwei Lieder und die Sängerin Tânia Santana ein Lied. Die Sänger, insbesondere Pierre Onassis, aber auch Germano Meneghel und Marquinhos sind Spezialisten für die Interpretation romantischer Texte. Pierre Onassis gilt eine Zeit lang als Sexsymbol, wenn er auf die Bühne kommt schreien und kreischen viele der Mädchen im Publikum. Er ist der beliebteste, begehrteste Sänger, der jetzt nur noch mit Sicherheitsleuten zu den Auftritten kommen kann, zu groß ist der Andrang der vor allem weiblichen Fans. Die Sänger Reny Veneno, der vor seiner Karriere als Sänger bei Olodum Radiosprecher und Ansager politischer Propaganda war und Lazinho interpretieren die politischeren Texte. Lazinho, einer der ersten Sänger Olodums, ist so etwas wie die Seele Olodums. Bei den Sonntagsproben ist er es, der die Massen bewegt, der den richtigen Ton für die Tausenden schwarzer Jugendlicher hat, wenn es zu Streitereien, Rangeleien und Schlägereien kommt. Seine rauhe, rauchige Stimme zieht die Zuhörer in den Bann. Wie kein anderer Sänger verkörpert Lazinho die Anfangszeit Olodums, ist er Repräsentant des alten Pelourinhos. Nur eine Musik Literatura Faraônica nimmt noch Bezug zu Afrika, zur schwarzen Identität, zum Pelourinho. Das Lied Jazz e Blues stellt den Bezug her zu anderen „schwarzen“ Musiken, stellt den Samba Reggae in eine Reihe mit Jazz, Blues und Rap. Die Liedtexte, die sich auf die Tropicalismus-Bewegung beziehen, O Falo da Fala, Tropicum, ehren die Musikstars Caetano Veloso, Maria Bethânia. Am stärksten der Refrain É proibido proibir was heisst „es ist verboten zu verbieten“. Das wohl engagierteste, politischste Lied ist der Rap Papo Furado, gesungen und komponiert (zusammen mit Marquinhos) von Reni Veneno, in dem es um die falschen politischen Versprechen geht. Papo Furado (Reni Veneno und Marquinhos) 237 Se você pensa que com Wenn Du denkst, dass mit as suas palavras Deinen Worten Você já ganhou meu voto Du schon meine Stimme gewonnen hast simplesmente se enganou Irrst Du Dich einfach Olha que eu não como nada disso, Schau, ich esse nichts davon você não tem compromisso, Du hälst dich an keine Verpflichtungen sai daqui seu traidor Geh hier weg Du Betrüger ... ... Eu não me iludo, Ich mache mir nichts vor Esse sistema é imundo Dieses System ist schmutzig Você me enganou Und willst mich reinlegen Se pisou na bola Wenn Du nicht Wort gehalten hast Não vai mais pisar Jetzt wirst Du es auch nicht mehr Rhythmisch fällt neben dem Rap nur ein Lied aus dem gewohnten Samba-Reggae-OlodumRhythmus heraus: „Te amo“ gesungen und komponiert von Marquinhos ist ein typischer Nordost-Rhythmus. Die Plattenhülle zeigt die schwarze Silhouette Brasiliens vor dem gestreiften Hintergrund in den Farben rot, grün, gelb. Erstmals steht auf dem Cover nur Banda Olodum, nicht mehr Banda Reggae Olodum. Darin zeigt sich der neue Anspruch Olodums eine Musikgruppe der Weltmusik zu sein, offen für jegliche musikalische Richtung. Die neue Platte wird dem bahianischen Publikum 1993 auf der Praça Castro Alves vorgestellt. Dort ist eine riesige Bühne aufgebaut, der Platz ist schwarz vor Menschen, geschätzt werden 8000 Menschen. Die Mitglieder Olodums treten in Kostümen in den Farben des Panafrikanismus auf, die in der Fábrica de Carnaval hergestellt wurden. Neben den Trommlern sind erstmals Musiker mit elektrischen Instrumenten und Bläser auf der Bühne. Auch die Tänzer gehören zum festen Show-Programm. Als Vorgruppe spielt eine Musikgruppe, die Pagode spielt, eine Samba-Richtung wie es sie in Rio und Bahia schon immer gab, die Anfang der 90er Jahre ein Revival erfährt und mit ihren sinnlichen Tänzen für Schlagzeilen sorgt. Das Publikum ist geteilter Meinung über den neuen Sound Olodums „Die Trommeln geraten in den Hintergrund“ „Wozu sind die Bläser und elektrischen Instrumente 238 da?“ wird von Zuschauern, die meisten von ihnen Besucher der sonntäglichen Proben, kommentiert. Für die Platte „O Movimento“ bekommt Olodum die erste goldene Platte für den Verkauf von 100.000 Exemplaren. Die folgende Platte „Filhos do Sol“ bringt für 250.000 verkaufte Exemplare sogar eine Ehrung in Platin. Die Eröffnungsmusik der achten Platte „Filhos do Sol“ von 1994 portraitiert die Veränderungen am Pelourinho. Die romantische Musik „Girassol“ komponiert und gesungen von Marquinhos wird neben „Cartão Postal“ zum meist gespielten Lied im Karneval 1995. Bei der Mehrzahl der aufgenommenen Titel handelt es sich um mehr oder weniger romantische Liebeslieder, die ausser einer kurzen Erwähnung des Namens Olodum nicht an die Poesie und Ausdruckskraft der früheren Musiken heranreichen wie „Furacão“, „Hora H“, „Estrada da Paixão“, „Trem da História“, „Gira“, „Desce e sobe“, „Parada obrigatória“, „Mordida de Vampiro“ etc.. Keines dieser Lieder wird im Radio gespielt. Der vielbesungene Zauber Bahias ist Thema eines Liedes „Encantada Magia“. Eins der wenigen romantischen Lieder mit einem anspruchsvolleren Text ist „Poético Olodum“ . Wieder einmal ist es Reni Veneno, der in „Samba Rap“ und „Careta Feia“ die sozialen Probleme der Mehrheit der Brasilianer, besonders der Alten und Schwarzen, und die leeren Politikerversprechen besingt. Samba Rap (Reni Veneno) ... Ser idoso no Brasil é motivo de castigo Alt sein in Brasilien ist ein Motiv der Strafe Sempre ganha como prêmio Immer gewinnst Du als Preis Uma vaga nos abrigos Einen Platz im Altersheim Trabalha a vida inteira pra se aposentar Du arbeitest Dein Leben lang um Rentner zu werden O salário que recebem mal da Das Geld was sie bekommen pra se alimentar... reicht kaum sich zu ernähren ... O negro nos programas de televisão Die Schwarzen in den Fernsehprogrammen Quando não é doméstico, Wenn es keine Hausangestellten sind, só pode ser vilão können es nur die Bösen sein Fala Negão, abre a boca negão Erzähl Negao, mach den Mund auf, negao Thup, thu, terêrê Thup thu terêrê Sem transporte, sem saúde Ohne Transport, ohne Gesundheit 239 e sem educação und ohne Bildung Como o povo vai fazer Wie soll das Volk es machen para ganhar o pão Um das Brot zu verdienen Enquanto filhos de políticos Während die Kinder der Politiker Estudam na Europa in Europa studieren Os iludidos ficam aqui Die Betrogenen bleiben hier comemorando a Copa... die Weltmeisterschaft zu feiern ... Ladrão no meu país, Die Räuber in meinem Land só anda bem vestido. Sind nur gut angezogen unterwegs. Die Musik „Valente Nordeste“ gesungen von Tânia Santana ist eine Ode an den Nordosten Brasiliens und eine Kritik an den Politkern, während der Tenor der Musik „Evangelização“ gesungen von Lazinho ohnmächtig und hilflos wirkt. Von 16 Liedern haben zwölf keinen Bezug mehr zu sozialen Fragen und schwarzer Kultur und Identität. Die beiden einzigen sozialkritischen Lieder sind von Reni Veneno komponiert und gesungen. Die Sänger Marquinhos (zwei), Germano Meneghel (vier) und Pierre Onassis (zwei) haben sich auf die leichten Liebeslieder spezialisiert. Vier Musiken interpretiert Lazinho, zwei Tânia Santana. Die CD wird dem bahianischen Publikum im Club Espanhol vorgestellt. Gast ist der ReggaeMan Billy Paul. Erstmals muss für das Lançamento einer CD Olodums Eintritt bezahlt werden. Die schlechte Qualität der Lautsprecher-Anlagen und die Unzufriedenheit der angestammten Olodum-Fans über die Wahl des Veranstaltungsorts machen das Event zu einem Flop. In den letzten Jahren sind die Karnevalsthemen so offen gehalten, dass sie vielfache Interpretationen erlauben. Der Zyklus “Die Söhne der Sonne” (1995), “Die Söhne des Meeres” (1996), “Die Söhne des Feuers” (1999) erinnert ebenso an afrikanische Gottheiten, die mit den jeweiligen Elementen verbunden sind, wie er einfache ästhethische Anspielungen macht. “Roma Negra” ist das Thema des Jahres 1997. Mit der neunten Platte „Sol e Mar“ folgt Olodum dem Beispiel berühmter Jazz-Musiker wie Miles Davis, die beim weltbekannten alljährlich in Montreux stattfindenden Jazz-Festival Live-Platten aufgenommen haben. Die von Olodum 1995 lancierte CD Sol e Mar wurde zum 240 größten Teil live (ao vivo) in der Schweiz aufgenommen und in den USA gemischt. Die sieben neuen der insgesamt 19 Musiken wurden dagegen hier in Brasilien produziert. Nur eines der neuen Lieder fällt aus dem Rahmen der sanft-romantischen Stücke. „Zumbi Rei“ komponiert und gesungen von Germano Meneghel, erzählt die Geschichte des vor 300 Jahren ermordeten Schwarzenführers. Keine der neuen Musiken reicht an den Erfolg der vorhergehenden CD´s heran. Bereits mit der Live Platte aber auch mit der zehnten CD „Roma Negra“ von 1996 versucht Olodum mit Aufnahme der alten Erfolgslieder musikalisch am Altbewährten anzuknüpfen. Doch die meisten neuen Musiken sind zwar technisch ausgefeilt, aber es gelingt der Gruppe nicht mehr einen Hit zu plazieren, eine Musik zu machen, die die breiten Massen begeistert. Fazit: Zwei Tendenzen lassen sich in der musikalischen Entwicklung Olodums feststellen: musikalisch werden die rauhen Trommelrhythmen von gefälligeren, elektronisch verstärkten Melodien abgelöst, in den Texten weichen afrikanisch inspirierte Lieder des Widerstands, zunehmend romantischen Liedern. Auch die Entwicklung der Karnevalsthemen geht in eine ähnliche Richtung: weg von den afrikanischen Ländern, hin zu breiteren Themen, die vielfältige Interpretaionen zulassen. Verantwortlich für diese Entwicklung ist einerseits der Einfluss der Plattenfirmen, die auf gefälligere Texte drängt und musikalisch höherwertige Studioaufnahmen machen möchte, andererseits scheint auch in der Gruppe der Wunsch nach Romantik und kommerziellem Erfolg über die politische Meinungsäusserung zu überwiegen. Einer der Gründe dafür scheinen auch die im folgenden beschriebenen Möglichkeiten zu sein, die diese neue Situation eröffnet. 11.3 Die Faszination des Ruhms In den letzten zwei Dekaden haben die aus Bahia kommende Musik und bahianische Musiker und die Gesamtheit der mit der Musik und afro-bahianischen Kultur assoziierten Bilder und Symbole eine zentrale Rolle in der musikalischen Produktion Brasiliens sowie im nationalen Selbstbild und dem Brasilienbild im Ausland gespielt. Diese neue bahianische Musikproduktion und die Verbreitung der damit assoziierten Bilder ist untrennbar mit zwei 241 Phänomenen verbunden: dem Karneval und der schwarzen Kultur und Identität. Mit dem musikalischen Erfolg Olodums begann die Nachfrage nach Auftritten der Gruppe in anderen Städten in Brasilien und im Ausland. Dafür wurde zunächst eine, später sogar zwei, „Banda Show“ mit den besten Stammmusikern gemacht, die zu den Konzerten reisten. Die Musikgruppe Olodum verließ den Pelourinho um andere Bühnen zu erobern. Dies hatte nicht nur eine kommerzielle Bedeutung, sondern auch ein symbolische. Die Reisen in Brasilien und ins Ausland üben auf die Trommler eine besondere Faszination aus. Reisen in Brasilien mit seinen kontinentalen Ausmassen ist weitestgehend der Mittelund Oberschicht vorbehalten. Flugreisen sind für die meisten Jugendlichen, die bei Olodum trommeln oder die Sonntagsproben besuchen unvorstellbar teuer. Ein Flug Salvador – São Paulo kostet hin und zurück umgerechnet um die 500 Euro. Das übliche Verkehrsmittel der unteren Mittelschicht und Unterschichts-Brasilianer ist der Bus. Der braucht für diese Strecke aber zum Beispiel nicht etwas mehr als zwei Stunden wie ein Flugzeug, sondern rund 30 Stunden. Es ist also leicht vorstellbar, dass Reisen für die große Mehrheit der Brasilianer, die einen oder vielleicht zwei Mindestlöhne verdienen, prohibitiv teuer ist. Mit der Banda Show zu reisen ist nicht nur eine Arbeit, sondern auch ein Ereignis und gibt Status. Es ist eine Möglichkeit gesellschaftliche Räume zu betreten, die den meisten Freunden, Nachbarn und Verwandten vorenthalten sind. „Das erste Mal, das wir reisten, war nach Alagoas, am 20. November, dem Tag des schwarzen Bewußtseins. Wir zogen los vom Pelourinho bis zum Campo Grande mit einem Sack auf dem Rücken. Da stand der Bus und Neguinho machte es ganz spannend, wer mit durfte. Und wir konnten mit, als letztes rief er uns auf. Ich konnte nicht einmal meiner Mutter Bescheid sagen. Das war einer der schönsten Momente in meinem Leben. Von da an lernte ich ganz Brasilien kennen“ erinnert sich einer der Trommler (Santana Filho, Interview, 1994). 1990 fahren 19 Mitglieder Olodums zum ersten Mal nach Europa. Sie treten u. a. in Glasgow, das in jenem Jahr Kultur-Hauptstadt Europas ist, und während des Nottinghill Karnevals in London auf. Der mit Paul Simon am Pelourinho aufgenommene Video-Clip wird in 140 Länder ausgestrahlt. Im darauffolgenden Jahr besuchen 750 000 Menschen die Show Paul Simons im Central Park in New York und sehen auch die Gruppe spielen. Noch nie hat Olodum vor einem so großen internationalen Publikum gespielt. „Als ich zu Olodum kam, konnte ich kein Instrument ... nach zwei Jahren machte ich die erste Tournee in die USA: 35 242 Tage, bei denen ich 20 Städte in den USA und vier in Kanada kennenlernte“ erzählt ein anderer Trommler (Grande, 1994). 1992 begibt sich die Gruppe auf die erste große mehrmonatige internationale Tournee nach Europa, u.a. auch nach Deutschland. In Berlin besuchen die jugendlichen Trommler das Ägyptische Museum, um die Nofretete zu sehen. Nachdem die Musik der Pharaonen der Gruppe 1987 den nationalen Durchbruch gebracht hatte, soll im darauffolgenden Jahr 1993 das Karnevalsthema wieder aufgenommen werden. In Köln besuchen sie den Kölner Dom, in Barcelona spielen sie bei der Eröffnung der Olympischen Spiele, wo sie die Idole des usamerikanischen Basketball-Teams aus der Nähe sehen, von deren Styling sie verschiedene Elemente übernehmen. „Als ich Michael Jordan so aus der Nähe sah, das war das Größte für mich. Ich fing dann an, mir auch die Haare abzurasieren. Viele meiner Freunde nannten mich dann nur noch Jordan“ erzählt einer der Trommler (Negão, 1994). Alle Trommler erwähnen in Interviews immer wieder die Bedeutung des Reisens für sich selbst. Dank ihrer Tätigkeit bei Olodum können sie Dinge erleben, von denen sie normalerweise ausgeschlossen wären. Wer häufiger mit dem Flugzeug in Brasilien unterwegs ist, wird bestätigen, dass der überwiegende Teil der Fluggäste weiße Brasilianer sind. Einige der internationalen Tourneen ziehen sich über drei bis vier Monate hin. Am meisten Prestige haben die Reisen in die USA und nach Europa. Deutschland, Frankreich, Dänemark, Schweden, Holland, England, Spanien, Italien, Portugal etc. Die Banda Show ist außer im nahe gelegenen Ausland wie Argentinien und Chile, auch in Japan, Israel oder Afrika aufgetreten. Unter den Trommlern entwickeln sich Gruppen, die für bestimmte Shows zuständig sind. Es gibt eine Gruppe, die am liebsten in die USA fliegt, andere machen lieber Shows in Europa. Durch die Reisen sind einige der Trommler motiviert, Sprachkenntnisse zu erwerben. Olodum bekommt Stipendien für Englisch-Unterricht, im Tausch für KarnevalsKostüme. „Auch wenn ich vielleicht nächstes Jahr kein Stipendium mehr habe, den EnglischUnterricht will ich weitermachen. Das kann ich später, wenn ich nicht mehr trommeln kann, auch gebrauchen“, sagt ein Trommler (Negão, 1994). Andere Trommler sehen in den Reisen eine weitere Möglichkeit ihr Leben zu verändern. Sie hoffen auf den Reisen ausländische Frauen kennenzulernen und durch diese Beziehungen ihr Leben zu verändern. Die blonden Europäerinnen gelten als attraktive Partnerinnen, die zudem 243 bereit seien, über die sozialen Gegensätze hinweg feste Beziehungen mit Afro-Brasilianern einzugehen und ihnen zur Seite zu stehen. Nicht immer komplikationslos verläuft so eine Beziehung für die Gruppe, wenn zum Beispiel ein Trommler während der Tournee abspringt und in einer deutschen Stadt bleibt. Aber selbst wenn es nicht so weit geht, spielen diese Begegnungen mit Ausländerinnen eine wichtige Rolle für die Trommler. Von anderen werden sie darum beneidet, für sie selbst ist es nicht immer einfach, damit umzugehen. Teilweise fühlen sie sich genötigt, ausländische Freundinnen zu haben, die als besser, interessanter, vielversprechender gelten, als ihre Freundin in Bahia. 244 12. Olodum und der Karneval Aus dem Karneval bzw. im Karneval sind die Blocos Afros entstanden. Der Karneval ist für sie der Höhepunkt der Aktivitäten des Jahres und der Gipfel der Emotionen. Nach einer Einführung in den Straßenkarneval Salvadors soll in diesem Kapitel der spezielle Moment Olodums im Karneval sowie Tendenzen über die Zusammensetzung der Karnevalsteilnehmer beschrieben werden. 12. 1 Karneval in Salvador – das Straßenfest der Superlative „Karneval ist eine Erfindung des Teufels, die Gott gesegnet hat“ sagt Caetano Veloso in einem Interview Das wichtigste gesellschaftliche und touristische Ereignis Bahias ist der Karneval. Karneval ist eine Explosion von Rhythmen, Tönen und Farben, vielen Menschen, die feiern und anderen, die arbeiten, ebenso Fest und Spektakel, wie Bühne und Plattform. Eine Woche lang wird in den Straßen Salvadors Karneval gefeiert. An den Spitzentagen des Karnevals sind rund 1,5 Millionen Menschen bis in die frühen Morgenstunden hinein unterwegs. Es ist Sommer in den Tropen und nur manchmal bringen kurze Regengüsse Abkühlung. Unter die Bahianer mischen sich mehrere Hunderttausend Touristen (rund 10% Ausländer), die für die fast komplette Ausbuchung der Hotelbetten der Stadt verantwortlich sind (Loiola & Miguez, 1996, S.46). Das Fest beginnt offiziell mit der Übergabe des Stadtschlüssels vom Bürgermeister an den Karnevalskönig den dicken Rei Momo am Donnerstagabend. In den letzten Jahren gab es jedoch auch schon Umzüge und Bälle am Tag davor, dem Mittwoch. Durch den Erfolg der Axé-Musik im ganzen Land hat der Karneval in Salvador seit 1993 gigantische Ausmaße angenommen. Über 200 verschiedene Karnevalsgruppen ziehen mit ihren Musikattraktionen sieben Tage lang mit fast durchgehendem Programm durch die rund 19 Kilometer für die Feierlichkeiten abgesperrten Strassen und Plätze der Innenstadt und entlang der Küstenstraße vom Leuchtturm in Barra bis zu den Fünf-Sterne-Hotels in Ondina. Parallel dazu wird in den einzelnen Stadtvierteln gefeiert und seit kurzem auch wieder im Altstadtviertel Pelourinho mit kleineren akustischen Karnevalsgruppen, Pierrots und Verkleidungen im Stil der guten alten 245 Zeiten. Vom Pelourinho hatte sich der Karneval Anfang des Jahrhunderts auf die Rua Chile über die Praça Castro Alves bis zur Piedade ausgedehnt. Seit Mitte der 60er Jahre eroberte der Karneval den Campo Grande. Heute sind hier die Tribünen und Logen, sogen. Camarotes, aufgebaut, von denen aus die Besucher den Karnevalsgruppen zuschauen können. Wie durch ein Stadion ziehen die Karnevalsgruppen durch den von den Tribünen geformten Korridor. Traditionell wohnen am Karnevalssonntag die politischen Autoritäten den Darbietungen bei. Vom Campo Grande aus verläuft der Zug über die Avenida Sete zur Praça Castro Alves und wieder zurück über die Rua Carlos Gomes - eine acht Kilometer lange Tour, für welche die großen Trios bis zu zehn Stunden brauchen. Der Einzug im Campo Grande ist ein wichtiges Element des Karnevals, das von den Karnevalsgruppen möglichst repräsentativ gestaltet wird. Eine Kommission beurteilt die Darbietungen in den verschiedenen Kategorien (Blocos de Trio, Blocos Afros, Afoxés etc.). Von einer Konkurrenz und Rivalität, wie sie das Desfile der Samba-Schulen von Rio charakterisiert ist jedoch nichts zu spüren. Camarotes, eigentlich Logen, die von Unternehmen, den großen Hotels oder Privatpersonen gemietet werden, gibt es inzwischen im gesamten Bereich des Campo Grande und im Bereich Barra/Ondina. In den luxuriös ausgestatteten Logen der Musikstars wie Daniela Mercury oder Gilberto Gil gibt es nicht nur eisgekühlte Getränke und warmes Essen, sondern auch klimatisierte Luft und Discos für die Zeit der Passage zwischen zwei Trios. Hier können die Reichen und Berühmten, Politiker und Filmstars, aber auch Mitglieder europäischer Königshäuser dem Karneval beiwohnen. Die Camarotes reduzieren den Platz, der auf der Strasse bleibt. Während die Camarotes einerseits sehr beliebt sind, weil man dort relativ abgeschirmt von der Menge die Musikattraktionen genießen kann, ist an ihnen die Diskussion über mögliche Veränderungen des Charakters des Straßenfests zu einem Zuschauer-Karneval entfacht. Schätzungsweise 50.000 Menschen sind direkt mit dem Karneval beschäftigt, noch einmal so viele indirekt. Musiker und Organisationen, Bier- und Wasserverkäufer, Hot-Dog-Stände und Grillspiess-Brater, Müllsammler und Straßenreinigung, Busfahrer und Journalisten. Mehrere Tausend lizensierte Barracas und ambulante Verkäufer gibt es entlang der Festmeilen. Dazu kommen noch alle diejenigen, die versuchen ihr Glück zu machen, indem sie Mineralwasser und Bier aus den umgehängten Styroporkästen verkaufen, im Hauseingang eine stärkende Feijoada servieren oder die Nutzung der Haustoilette gegen Gebühr erlauben. Die gesamte 246 Busflotte der zweieinhalb-Millionen-Stadt wird durchgehend während der tollen Tage eingesetzt. Während des Karnevals sind außerdem in 25 Stadtvierteln und auf zwei Inseln Bühnen aufgebaut, wo an die 3000 Musiker in über 600 Shows während der Karnevalstage spielen. Schätzungen gehen von 100 bis 150 Millionen Reais (33 –50 Mio. €) aus, die im Karneval umgesetzt werden (Loiola & Miguez, 1996). 12.2 “Bahia hat gewonnen” – der Karneval 1993 Der Karneval 1993 ist ein besonderer Karneval. Es ist das Jahr, in dem der Straßenkarneval Salvadors das Augenmerk ganz Brasiliens auf die kulturellen Ereignisse in Bahia lenkt. Die Stadt vibriert mit den musikalischen Neuheiten, hallt wider vom Klang der Trommeln, in jedem Viertel gibt es neue Treffs, wo sich Jugendliche zum Tanzen treffen. Die Musik aus Bahia erobert das ganze Land. Protagonisten dieser Welle sind allen voran die Afro-PopGruppe Timbalada und Olodum mit ihren Hit´s “Canto pro mar” (Timbalada) und “Berimbau” (Olodum). Offizielle Repräsentantin des bahianischen Karnevals ist Daniela Mercury, die bereits erwähnte “Königin der Axé-Music” wie sie oft genannt wird. Mit ihr etabliert sich das Strandviertel Barra/Ondina zur ersten Adresse des Karnevals. Auf politischer Ebene hat der Alt-Politiker Antonio Carlos Magalhães gerade sein Amt zum Gouverneur angetreten. Eines seiner wichtigsten Projekte ist die Restaurierung des heruntergekommenen Altstadtviertels Pelourinho, das in atemberaubender Manier angegangen wird. Dem Tenor der Reportagen in den Magazinen, die im 2000 Kilometer weit entfernten hochmodernen São Paulo herausgebracht werden, merkt man das Ungläubige und Befremden mit den bahianischen Neuheiten an. Der Musiker Carlinhos Brown und die Trommler mit den nackten bemalten Oberkörpern der Timbalada sind auf dem Cover der Zeitschrift Isto é abgebildet (Isto è, 17.02.93). “Bahia hat gewonnen” ist eine Woche später Titelgeschichte des konkurrierenden Magazins Veja mit Fotos von Ilê Aiyê. Dort steht zu lesen, dass Salvador Rio de Janeiro erstmals den Rang als Karnevalshochburg abgelaufen hat (Veja, 24.02.1993). Zwischen dem Bürgermeister Rio de Janeiros César Maia und der Bürgermeisterin Salvadors Lídice da Matta war es noch wenige Tage vor Karneval zum emotionalen Schlagabtausch gekommen. César Maia giftet: “Der Tourist, der dorthin zum Karneval fährt hat eine 100%ige Chance überfallen und eine hohe Wahrscheinlichkeit vergewaltigt zu werden” (Veja, 24.02.1993, S. 35). Auch in anderen Karnevalshochburgen werden die musikalischen 247 Entwicklungen in Bahia kritisch gesehen. In Olinda wird das Spielen bahianischer Musik im pernambucanischen Karneval verboten. Die Bierfirmen Brahma und Antarctica liefern sich einen heißen Krieg um Marktpositionen im ganzen Land. Die Brauerei Brahma, die zunächst hauptsächlich auf den Karneval in Rio de Janeiro gesetzt hatte ( 8 Millionen US $), nimmt noch wenige Tage vor Karneval einen Werbespot mit Olodum auf dem Pelourinho auf. Die Konkurrenz Antarctica warb bereits auf allen Kanälen mit Daniela Mercury und bahianischen Ferien/Karnevals-Ambiente für ihr kühles Blondes. Neben den Fernsehrechten und Werbeflächen der Präfektur, ist auch der Platz auf den Trio Electricos umkämpft. Brahma sponsort hauptsächlich zwei Blocos Afros: den tradtionellen Afoxé Filhos de Gandhi und den angesagten Olodum, während Antarctica in die Blocos Afros Ilê Aiyê und Muzenza, die Timbalada und die Blocos de Trio Mel, Camaleão und Os Internacionais investiert. Nicht alle Gruppen können jedoch von den Ereignissen profitieren. Dem Bloco Afro Ara Ketu gelingt es in diesem Jahr nicht, eine Karnevalsgruppe auf die Strassen zu bringen. Das Jahr 1993 markiert auch für Olodum einen Höhepunkt: 1987 kam der Durchbruch mit dem Lied Faraó und der ersten Plattenaufnahme des Bloco Afro, ein Jahr später “entdeckte” Paul Simon die Trommler und machte 1990 die Gruppe international bekannt durch die Aufnahmen auf seiner Platte “The Obvious Child”. Nach der Gouverneurs-Wahl 1992 beginnt die Restaurierung des Pelourinho-Viertels, in dem die Grupo Cultural Olodum zu Hause ist. Rechtzeitig zum Karneval sind in einem ersten Kraftakt einige Strassenzüge saniert und in leuchtenden Pastelltönen gestrichen worden. Wie keine andere Gruppe wird Olodum mit den jüngsten Entwicklungen in Bahia assoziiert und der Karneval 1993 wird zu einem der erfolgreichsten und markantesten der Gruppe. 12.3 Olodum im Karneval “Der Karneval ist, als wäre er das Blut im Körper Olodums. Er ist die Kraft, die durch die Beine, durch die Arme, durch den Magen, durch das Gehirn strömt. Er gibt der Gruppe ihre Stimme und ihren Sinn.” So bildreich beschreibt João Jorge, Präsident Olodums, die Bedeutung des Karnevals für den Bloco Afro (João Jorge, 1994). Der Karneval ist die Essenz der Gruppe. Das jeweilige Thema beeinflusst nicht nur die Musik, die Lieder, die Kostüme, sondern auch die Identitätsfindung und das Denken. Hier definiert sich Olodum jedes Jahr wieder neu. Der Karneval ist die Feier, die Verkörperung der Wünsche und Träume der 248 Mitglieder Olodums. Dafür haben die Trommler nun seit Monaten geprobt, die Sänger, die Tänzer, die Direktoren schlaflose Nächte verbracht, um ihren Bloco auf die straße zu bringen. Darum soll hier zunächst der erste Auszug Olodums am Freitagabend des Karnevals beschrieben werden. Insgesamt sind es drei Abende bzw. Nächte, die der Afro-Block durch die Straßen zieht, aber der Auszug aus dem Pelourinho am Freitagabend ist der bewegendste von allen. Die Schätze Tut-Ench-Amuns Die Wände, der den Pelourinho-Platz umgebenden farbigen Kolonialhäuser schwitzen vor Feuchtigkeit. Trotz der späten Stunde, steht die Luft. Die runden Steine des Kopfsteinpflasters schimmern im Lampenlicht. In kleinen Gruppen stehen Bahianer und Touristen zusammen, erzählen, lachen und warten. Die Verkäufer an den Bretterbuden werben mit der Kälte ihres Biers, das in großen Styroporkisten in Eiswasser liegt. Plotsch – der Kronkorken wird in hohem Bogen auf das Pflaster geschmissen, dass umgangssprachlich “Negerkopf” heißt. Die Stimmung ist gelöst und erwartungsvoll. Ein paar Fotografen und die Kamarateams der lokalen Sender testen die Lichtverhältnisse, machen erste Aufnahmen. In Kürze sollen sich hier die Trommler Olodums versammeln um in den Karneval zu ziehen. Für 21 Uhr ist die “Concentração” angesetzt, aber noch in keinem Jahr wurde der Zeitplan eingehalten. Einige Mitglieder der Gruppe sieht man über den Platz laufen, um dann in der João-de-Deus-Gasse am linken Kopfende des Pelourinho zu verschwinden. Blau und Gold – die leuchtenden Farben des Fantasia genannten Karnevalskostüms gefallen den meisten Zuschauern auf Anhieb. Auf dem Platz wird es voller. Der Auszug Olodums in den Karneval am Freitagabend ist ein festes Datum für die der Schwarzenbewegung und kulturellen Alternativszene nahestehenden Bahianer. Mit dem musikalischen Erfolg kommen jetzt auch immer mehr brasilianische und ausländische Touristen hierher. Zunächst hört man nur ein dunkles Grollen aus der Ferne, dann gelingt es dem Ohr über den ohnehin schon hohen Geräuschpegel auf dem Platz tiefe Bassschläge zu identifizieren. Dum bum bum, dum bum, bum, dum bum, bum. Die Trommeln werden lauter, kommen näher. Darüber zerreißen die metallischen Breaks der Repiques-Trommeln die Luft. Es ist ein bewegender Moment, als die Trommler aus der schmalen Gasse kommend, den Platz erreichen. Neguinho do Samba, der Musikmeister, führt sie an. Neguinho trägt ein weiß-silbernes Gewand, auf den dunklen Rastahaaren einen gleichfarbigen Kopfschmuck - eine königlich wirkende Erscheinung, die an den ägyptischen Pharao Tut-ench-Amun erinnern will. Auch die Trommler tragen einen 249 Kopfschmuck, der in Form und Farben, Blau mit Gold, an die Nofretete im Berliner Museum erinnert. Blaue Hosen mit goldenen Schärpen, einen blauen mit gelb-goldenen Mustern bedruckten Kurzumhang über Brust und Schultern, der genügend Bewegunsgfreiheit für die ausholenden Trommelschläge läßt. Die dunkle Haut der Trommler glänzt vom Schweiß. Sechzig, achtzig, hundert Trommler strömen auf den Platz, postieren sich vor der Casa de Jorge Amado. Neguinho do Samba dirigiert sie. Die Farben und Klänge verschmelzen zu einer einzigen prächtigen blau-golden-schokoladenfarbenen Symphonie. Hier, wo sonst die sonntägliche Probe stattfindet, beginnt heute der Karneval. Der so lang erwartete Moment ist gekommen. Die Jungs zeigen was sie können: die Trommeln werden geschlagen und gepeitscht, in die Luft geworfen und dienen als Stütze für ein Rad in der Luft. Jeder von ihnen führt vor, was er monatelang vor dem Spiegel, der Freundin oder den Kumpels geübt hat. Die Kameras der Filmteams laufen, die Fotografen versuchen die günstigste Einstellung zu finden. Der starke Rhythmus der Trommeln wirkt auch auf die Touristen ansteckend, die versuchen bei den Tanz-Choreografien der Einheimischen mitzumachen. Nach einer kurzen Unterbrechung während der die Kostüme zurecht gezupft und die Trommeln in Ordnung gebracht werden, erhebt sich ein neuer Trommelwirbel. Konzentriert hält Neguinho do Samba sein feines Holzstäbchen in die Luft, mustert die Trommler und gibt das Zeichen zum Aufbruch. Begleitet von der wogenden Menge bahnen sich die Trommler ihren Weg durch die schmal ansteigende Gasse, Ladeira do Pelo, vorbei am Jorge Amado-Haus und der alten medizinischen Fakultät. Auf dem Terreiro de Jesus, dem “Jesus-Platz” vor der Kathedrale Salvadors, Sitz des brasilianischen Kardinal-Erzbischofs wartet der große Karnevalswagen Olodums, ein Trio. Auf dem Trio ist auch Platz für die Sänger und die Ehrengäste der Gruppe – Musik- und Fernsehstars und Politiker. Caetano Veloso, einer der wichtigsten brasilianischen Sänger, verteilt Küsschen und lässt sich im Olodum-Kostüm mit Fans fotografieren, während die amtierende Bürgermeisterin Lídice da Matta etwas schüchtern vom Trio-Wagen herunterwinkt. Die Sänger und Direktoren tragen weite, buntbedruckte afrikanisch-inspirierte Umhänge und Hosen. Sie laufen geschäftig und aufgeregt hin und her, schon jetzt heiser vom Stress der letzten Wochen, den Block auf die Strasse zu bringen. Es dauert eine Weile bis sich der Zug wieder neu formiert hat. Vorneweg wird eine kleine Pyramide gezogen, auf der die diesjährige “Mulher Olodum” (Frau Olodum) mit einem unglaublich schönen Lächeln tanzt. Dann setzt sich mit einem Ruck auch der große Karnevalswagen in Gang und als er an der Kathedrale vorbei auf die längliche Praça da Sé einbiegt, beginnt Pierre Onassis zu singen: “O berimbau, pedaço de arame, pedaço de pau...”. Wie von einem Magnet angezogen, strömen jetzt die Menschen zusammen, um die 250 Gruppe zu begleiten. Die Trommler haben Schwierigkeiten ihre Reihenformation aufrecht zu erhalten, weil es so eng ist. Mit einem Seil versuchen Hilfskräfte den Musikern Raum zu schaffen. Die Menschen drücken und schieben, zwängen sich durch den Engpass an der Kirche, nehmen den Platz ein, der mit sogen. Barracas, ambulanten Bars, dicht bestellt ist. Die Menschen, die auf den bunten Holzhockern der vielen Bars sitzen, stehen auf, schieben Tischchen zusammen, versuchen Platz zu machen. Oder bezahlen und vereinen sich mit der tanzenden Menge, die vorbei wogt. Am unteren Ende des Sé-Platzes auf der Rua Chile wird angehalten. Hier ist jetzt die ganze Strassenbreite Platz, um aus den Tausenden von Menschen einen Zug zu formieren. Mit schweren Seilen, die von den cordeiros, Seilträgern, gehalten und gespannt werden, entsteht ein mehrere Hundert Quadratmeter großer Raum auf der Straße. Es dauert lange, bis es wieder losgeht und je mehr Menschen sich innerhalb der Seile aufhalten, umso enger wird es. Die Stimmung ist angespannt. Die Cordeiros, meist kräftige Männer, haben Mühe die Seile zu halten. Einige der Direktoren Olodums laufen mit Sprechgerät am Mund, um die Aufstellung zu koordinieren. Wer nicht zur Gruppe gehört, muss raus aus dem Zug. Mittlerweile kann man sich innerhalb der Seile kaum noch bewegen, so eng ist es. Als vorne der Karnevalswagen losfährt, die cordeiros das Seil langsam mit vorziehen, werden hinten alle zusammengequetscht. Bloß nicht stolpern! Als der gesamte Zug dann in Bewegung ist, läßt der Druck nach. Jetzt nur noch tanzen, singen, feiern. Am Straßenrand drängen sich die Zuschauer. “Vai passar o Olodum”. Mittlerweile ist es längst nach Mitternacht. Bevor die Gruppe die Praça Castro Alves erreicht, noch ein kurzer Stop, dann Trommelwirbel und wieder “Berimbau”, der diesjährige Sommerhit. Der Castro AlvesPlatz ist das Herzstück des Karnevals im Zentrum der Stadt. Hier, wo die Statue des Dichters Castro Alves mit dem Arm in die Ferne zeigt, treffen sich in der Nacht zum Aschermittwoch die großen Karnevalswagen und Tausende von Karnevalisten lassen beim Sonnenaufgang den Karneval ausklingen. “Acabou” “vorbei”. Heute am Freitag ist Olodum jedoch die größte Attraktion, die hier vorbeiziehen wird. Die ersten Trommelwirbel und die Musik bringen den Platz zum Brodeln. Die Menge umwogt den Karnevalswagen, drückt und schiebt sich vorbei, tanzt, singt mit. Ab und zu kommt es zu Rangeleien und handgreiflichen Auseinandersetzungen. Innerhalb der Menschenmenge gibt es immer wieder Gruppen, die das wilde Tanzen auch dazu nutzen, andere zu verprügeln. Im Rhythmus der Trommeln wiegen sie die Oberkörper, die Schultern hochgezogen, die Arme angewinkelt vor dem Körper, hüpfen wie Pogotänzer und schnellen die Fäuste vor wie Profi-Boxer. Im Karneval ist Polizei besonders gefordert, gewalttätige Auseinandersetzungen unter Kontrolle zu halten. Kommt es zu größeren Schlägereien, brechen die Sänger sofort die Musik ab, mahnen zu Ruhe und 251 Frieden. Es ist schwer im Nachhinein zu beurteilen, von wem die Aggressionen in der Menge ausgingen. Auch in dieser Hinsicht ist der Karneval ein Freiraum, ein anarchisches Chaos. Über eine Stunde hält sich Olodum auf der Castro Alves auf, um dann durch die Rua Carlos Gomes hinauf zum Campo Grande zu ziehen. Dort trifft die Gruppe gegen vier, fünf Uhr morgens ein. Nicht mehr alle Karnevalisten sind dann dabei, aber immer genug, die bis zum letzten Trommelschlag tanzen. Freitagnacht ist vorbei, zwei Umzüge stehen noch bevor. 12.4 “Eu sou Olodum – quem tu és” – Karnevalsteilnehmer Wer sind die Menschen, die in Olodum-Kostümen drei Tage lang durch Salvador tanzen. Welche Vorstellungen haben sie von der Gruppe? Warum ausgerechnet dieser Bloco? Quantitative Interviews, die Daten zur Personenerfassung und einige offene Frageblöcke enthielten, sollten Aufschluss über diese Frage geben. Die Zahl der Menschen, die mit Olodum am Karneval teilnehmen, lässt sich nur schätzen. Dies überrascht auf den ersten Blick, da ja die Kostüme verkauft werden. Eine große Zahl an Kostümen wird jedoch auch kostenlos verteilt: an die Ehren-Mitglieder, an Familienangehörige, an Freunde, an Bewohner des Pelourinho, an Persönlichkeiten aus der Schwarzenbewegung. Kostüme werden außerdem verliehen, verkauft, verschenkt. Nach Angaben der Gruppe sind rund 2500 Menschen an jedem der drei Tage mit Olodum auf der Strasse. Rund 600 Fragebögen wurden während der dreitägigen Ausgabe der Kostüme verteilt. Das Ausfüllen des Fragebogens war freiwillig und wurde selbstständig vorgenommen. Das hektische, teilweise chaotisch anmutende Klima kurz vor Karneval erschwerte die Arbeit. Insgesamt wurden 226 (n=226) Fragebögen ausgefüllt. Das war eigentlich eine gute Quote. Dennoch zeigte sich, dass die Repräsentativität stark eingeschränkt werden mußte, da ein grundsätzliches Problem der Fragebogen-Aktion der Bildungsstand der teilnehmenden Personen war. Diejenigen, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben hatten, haben den Fragebogen in der Regel nicht beantwortet. Wie groß der Anteil dieser Menschen war, ist nicht nachträglich ermittelbar, dürfte aber nicht unbedeutend sein. Die Ergebnisse weisen dadurch eine Verzerrung auf, insofern als Menschen mit höherem Bildungsniveau überdurchschnittlich vertreten sind. Da es in Brasilien jedoch eine enge Beziehung zwischen Bildungsniveau und Hautfarbe gibt, wie in Kapitel 8 gezeigt, dürfte dies auch zu einer relativ stärkeren Präsenz von weißen Brasilianern geführt haben. Insofern sind die Ergebnisse nur 252 stark eingeschränkt aussagekräftig, dennoch sollen einige Tendenzen vorgestellt werden. Die entscheidende Erkenntnis dieser am Anfang der Feldforschung gemachten Erfahrung war, dass für diese Arbeit qualitative Untersuchungsmethoden die angemessenere Herangehensweise darstellten. Für den Karneval 1994 waren deshalb Interviews mit den Teilnehmern eingeplant. Leider konnten diese aus persönlichen Gründen nicht durchgeführt werden106. Bildungsniveau Auffallend ist das hohe Bildungsniveau der Karnevalsteilnehmer Olodums: 78% der Teilnehmer haben ein höheres Bildungsniveau, 38% davon haben sogar Universitätsniveau. Damit liegt das Bildungsniveau der Teilnehmer nicht nur weit über dem bahianischen, sondern auch weit über dem brasilianischen Durchschnitt (s. Kapitel 8). Dieses Ergebnis deutet auf zweierlei hin: Erstens scheint Olodum auf dem Höhepunkt seiner Attraktivität im Karneval 1993 insbesondere Menschen mit höherem Bildungsniveau angezogen zu haben. Zweitens offenbart sich hier die bereits beschriebene Schwäche der Fragebogenerhebung Hautfarbe Im Fragebogen wurde die Frage nach der Hautfrage als offene Frage gestellt, die dem Befragten die Freiheit liess, sich selbst zu identifizieren. Zur Selbsteinschätzung wurden insgesamt zehn Farbkategorien verwendet. Über ein Viertel der Teilnehmer (28%) gaben ihre Hautfarbe als weiß oder hell(clara) an. In absoluten Zahlen war branca sogar die häufigste Nennung. 21% der Teilnehmer bezeichneten ihre Hautfarbe als parda, gefolgt von morena (16%), negra (16%) und preta (9%) und anderen Varianten für die Bezeichnung dunkler Haut. Insgesamt haben zwei Drittel der befragten Teilnehmer (67%) eine dunkle Hautfarbe. Im Vergleich zur Zusammensetzung der Bevölkerung Salvadors hat Olodum im Karneval einen relativ höheren Anteil weißer Mitglieder und einen relativ geringeren Anteil von AfroBrasilianern. Dafür kann es mehrere Ursachen geben: a) überdurchschnittlich viele weiße Soterapolitanos fühlen sich von Olodum angezogen b) viele weiße Touristen kommen zu der Gruppe c) hier spiegeln sich die Verzerrungen der Fragebogen-Aktion: die Korrelation zwischen Hautfarbe und Bildungsniveau erklärt auch den relativ höheren Anteil der weißen Brasilianer. Im Vergleich zu den in Kapitel 8 dargestellten Erfahrungen bei der Erfassung der Hautfarbe fällt auf, dass insbesondere die Bezeichnung negra, aber auch preta relativ häufig verwendet 106 Ich mußte meinen Aufenthalt in Brasilian unterbrechen, da meine Mutter verstarb und mein Vater schwer erkrankte. 253 wurden. Hierin scheint sich ein stärkeres schwarzes Selbstbewusstsein der Teilnehmer auszudrücken. Im speziellen Klima des Karnevals, im Umfeld Olodums scheint es leichter zu fallen, die eigene Hautfarbe so zu beschreiben. Mehr noch: die dunkle Hautfarbe gibt in diesem Umfeld Status: “Auch ich bin negro/a, ich gehöre zu den Schwarzen von Olodum”. Zu einer der polemischsten Fragen, die Olodum mit zunehmendem Erfolg betrafen, war die Frage nach der Hautfarbe der Mitglieder. “Olodum embranqueceu” hieß es immer wieder, Olodum sei weiss geworden. Dies wurde von vielen der Schwarzenbewegung mit Sorge betrachtet. Es hieß, Olodum könne die Wurzeln verlieren und habe Tür und Tor für die Okkupierung des Bloco durch die Weißen geöffnet. Der Eindruck Olodum sei weiß geworden, konnte empirisch nicht bestätigt werden. Die Afro-Brasilianer waren nach der Fragebogenerhebung im Karneval 1993 in der Mehrheit. Ihr tatsächlicher Anteil lag aus den eingangs erwähnten Ursachen, aber vermutlich noch weit höher. Auch die persönlichen Eindrücke während des Umzugs bestätigten dies Im Vergleich jedoch zu einem Bloco Afro wie Ilê Aiyê, bei dem weiße Brasilianer nicht akzeptiert werden, oder einen Bloco Afro wie Muzenza, der mit einem starken Stigma als Rasta-Bloco behaftet ist und musikalisch wenig Erfolg hatte, war der Anteil heller Brasilianer relativ groß. Wohnort Die Mehrheit der Teilnehmer Olodums kommen aus Salvador (84%), aber nur 8% der Teilnehmer Olodums kommen aus dem Pelourinho und den angrenzenden Stadtvierteln. Das ist ein sehr geringer Anteil von Mitgliedern der ursprünglichen Gemeinschaft Olodums. Dazu zwei Bemerkungen: a) Die Restaurierung des Centro Histórico ging mit der Vertreibung der Bewohner des Viertels einher. Es ist also möglich, dass ehemalige Bewohner jetzt aus anderen Stadtvierteln kommen. b) Mitglieder der comunidade, also die zum PelourinhoViertel gehörenden Einwohner, bekamen in der Regel ein Karnevalskostüm geschenkt. Die Ausgabe dieser Kostüme fand an einem anderen Ort und zu einem anderen Zeitpunkt statt. Das wurde leider erst im Nachhinein deutlich. Aus den Stadtteilen, die Heimat anderer Blocos Afros (Ilê Aiyê, Muzenza) sind, wie Liberdade und umliegendeViertel kamen nur 4% der Teilnehmer. Das unterstützt die bereits in Kapitel 9 gemachten Beobachtungen über die starke Verwurzelung der Blocos Afros in ihren Vierteln. Es sind unterschiedliche Stämme. Ein Fünftel der Teilnehmer Olodums am Karneval 1993 kam aus den typischen Vierteln der Mittelklasse, die entlang der Strandstraße liegen. 254 14% der Karnevalsteilnehmer Olodums waren brasilianische Touristen, vor allem aus Rio de Janeiro und São Paulo. Sogar ausländische Touristen gehörten zu den Kanrevalsteilnehmern (2%). Die relativ große Beteiligung der Touristen am Karneval kann als Zeichen des nationalen und internationalen Erfolgs Olodums bewertet werden. Darüberhinaus scheinen sich diese Teilnehmer intellektuell mit den Zielen der Gruppe verbunden zu fühlen (s. Antworten, warum Olodum). Vermutlich gehörte also über ein Drittel (34%) der Teilnehmer am Karneval (Touristen plus Mittelklasse-Viertel) nicht zum Stammpublikum Olodums und wurden vom momentanen Erfolg angezogen. Warum sie mit Olodum am Karneval teilnehmen wollen? Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer (69%) beantworteten diese Frage mit durchaus positiven, teils begeisterten, aber oberflächlichen Antworten („aus Liebe“, aus Sympathie“) die für den Popularitätsgrad der Gruppe sprechen, aber ansonsten wenig Aussagekraft haben. Nur 8% der Antworten stellten einen direkten Bezug zum ethno-politischen Diskurs der Gruppe her mit Anworten wie zum Beispiel “weil es ein Raum für Schwarze ist ” oder “ weil es eine schwarze Ausdrucksform ist”. Bei weiteren 11% der Teilnehmer kann von einem indirekten Bezug gesprochen werden. Sie nannten als Motive für die Teilnahme am Karneval mit Olodum zum Beispiel “Identifikation mit der Gruppe”, “wegen der Kultur oder Tradition”. 12% der Antworten stellen den Bezug zu Musik, Karneval und dem Aussehen des Bloco her mit Antworten wie „wegen des Rhythmus” bzw. “wegen der Musik“, oder „wegen des Visuals“. Für die Mehrheit der Teilnehmer der Fragebogen-Aktion war die Entscheidung für Olodum im Karneval 1993 nicht durch die soziale oder politische Arbeit der Gruppe begründet, sondern den momentanen Erfolg und die Popularität. Was sie über Olodum wissen? Nur rund ein Viertel (24%) der Befragten stellte bei der Antwort die ethno-politische Arbeit Olodums in den Vordergrund zum Beispiel: die „schwarze Kulturgruppe“, „die gegen Rassismus kämpft“ und „ die schwarze Rasse und schwarze Kunst repräsentiert“. Andere beschrieben Olodum zum Beispiel als „die Institution, die das Rassenbewusstsein der Bevölkerung fördert“, „ein Bloco ohne Vorurteile, der für bedürftige Kinder arbeitet“ oder „Organisation, die den Bewohnern des Pelourinho hilft“. 255 70% der Teilnehmer schienen entweder nicht besonders gut über Olodum informiert zu sein bzw. gaben sehr unspezifische Antworten wie beispielsweise „alles“, „vieles“, „das Nötige“, “wenig” . Ist es das erste Mal, dass sie mit Olodum am Karneval teilnehmen? Mehr als die Hälfte der befragten Teilnehmer (52%) nahmen zum ersten Mal mit Olodum am Karneval teil. Diejenigen, die schon häufiger mit der Gruppe unterwegs waren, spezifizierten zum größten Teil nicht (30,5%). Der ungewöhnlich große Anteil von Debütant(inn)en bei Olodum im Karneval 1993 zeigt, dass die Gruppe über große Anziehungskraft verfügte. Vermutlich spielte die enorme Medienpräsenz in Zusammenhang mit der Restaurierung des Pelourinho dabei die entscheidende Rolle, wie auch die Antworten der folgenden Frage nahelegen. Mit welchen anderen Gruppen haben sie bereits am Karneval teilgenommen? Über ein Drittel der Karnevalsteilnehmer (35,5%) hatte noch mit keiner anderen Gruppe am Karneval teilgenommen. Fast ein Viertel der Teilnehmer (23,5%) hatte vorher mit Blocos de Trio und Blocos Alternativos am Karneval teilgenommen. Sie wechselten also die Kategorie von einem traditionellen Bloco zu einem Bloco Afro, viele von ihnen sogar von den sogenannten EliteBlocos (Camaleão, Eva, Crocodilo etc.), denen immer wieder rassische Diskriminierung bei der Auswahl ihrer Teilnehmer vorgeworfen wird. Nur etwas mehr als ein Sechstel (17,5%) hat bereits mit anderen, ähnlichen Gruppen wie Blocos Afros, Afoxés oder Blocos de Indio am Karneval teilgenommen. Die meisten von ihnen bei dem Afoxé Filhos de Gandhi, gefolgt vom Bloco Afro Ilê Aiyê. Bezug zum Viertel Pelourinho Fast die Hälfte der Teilnehmer (47%) gehörten zu den langjährigen (seit mindestens vier Jahren) Pelourinho-Besuchern. Knapp ein Fünftel (19,5%) gab an „seit einem, zwei oder drei Jahren“ den Pelourinho zu besuchen. Das würde bedeuten, seit dem Beginn der 90er Jahre, Zeitpunkt der Ausstrahlung des Video-Clips Paul Simons mit Bildern aus dem Pelourinho. Weitere 16,5% der Teilnehmer besuchten den Pelourinho erst seit kurzem, oder erstmalig in der aktuellen Sommersaison. Diese Frage sollte indirekt Hinweise auf die Verbundenheit mit der Gruppe Olodum bzw. der Beziehung zum Pelourinho als Ort von besonderer Bedeutung für die schwarze Kultur in 256 Salvador liefern. Überraschend war der große Anteil derer, die behaupteten schon seit langem das Viertel zu besuchen. Das Ergebnis widerspricht den persönlichen Eindrücken und den immer wieder in den Gesprächen vermittelten Aussagen, dass erst nachdem Olodum in Mode gekommen und der Pelourinho durch die Sanierung sicher gemacht wurde, die Besucher kamen. Es scheint vielmehr so, dass inmitten der Erfolgswelle viele gern ihre Zugehörigkeit zum Viertel demonstrieren wollten. Meinung zur Reform Fast drei Viertel (74%) der Teilnehmer lobten die Reform. Nur 20,5% der Teilnehmer kritisierten die Reform zum Teil heftig: „stark elitisierend“, “politische Zielsetzung“, „gefährlich, kann das Ende der kulturellen Produktion bedeuten“, „radikal“, „soziale Probleme nicht berücksichtigt“, „oberflächlich“. Zwei Bemerkungen dazu: a) Die erste Phase der Restaurierung war gerade abgeschlosssen. Die ehemals verfallenen Bauten erstrahlten in leuchtenden Farben. Das zuvor unsichere, marginalisierte Gebiet war jetzt zugänglich. Noch war nicht klar, dass die einheimischen Bewohner nicht mehr zurück kommen dürften b) Dieses Bild des Pelourinho wurde in den Medien massiv verbreitet. Die überwiegend positive Bewertung scheint sich so zu erklären. Vermutlich gingen die Kenntnisse der Kritiker über das in den Medien verbreitete Bild hinaus, waren sie vertrauter mit den lokalen Gegebenheiten. Gibt es Rassismus in Brasilien? 88% der befragten Teilnehmer waren der Meinung, dass es Rassismus in Brasilien gibt. Nur 8% verneinten die Frage. Dieses Ergebnis deckt sich mit den während der Datafolha Untersuchung gemachten Ergebnissen (s. Kapitel 8). Es scheint ein Widerspruch zu herrschen mit einer Gruppe, die einen expliziten AntiRassismus-Diskurs führt am Karneval teilzunehmen und selbst Rassismus zu verneinen. Deshalb soll die Gruppe, die die Existenz von Rassismus verneinte, noch etwas näher untersucht werden. Fast die Hälfte von ihnen gab als Hautfarbe „moreno“ an, knapp ein Viertel bezeichnete sich als weiß. Überraschend ist, das höhere Bildungsniveau aller weißen Verneiner des Rassismus. In Kapitel 8 wurde gesagt, dass die Fähigkeit Vorurteile zu erkennen, mit dem Bildungsniveau steige. Das kann hier nicht bestätigt werden. Es scheint, dass sie Olodum in erster Linie als Karnevals- und Musikgruppe wahrnehmen. Fast alle, die die Existenz des Rassismus verneinen, sind begeisterte Befürworter der Restaurierung 257 „maravilha“, „excelente“ Möglicherweise sind sie nicht weiter an politischen oder sozialen Fragen in diesem Umfeld interessiert. Die Auswertung der Fragebögen zeigt (trotz der oben genannten Einschränkungen) deutlich eine Tendenz: Ein Großteil der Teilnehmer Olodums im Karneval 1993 fühlte sich vor allem angezogen von der Karnevalsgruppe Olodum. Der ethno-politische Diskurs stand für sie nicht im Vordergrund. Es scheint also eine Diskrepanz zu geben, zwischen dem, was von den Machern Olodums immer wieder als Anti-Rassismus-Diskurs und Praxis in den Vordergrund gestellt wird, und dem, was die meisten Karnevalsteilnehmer suchen. Die große Popularität Olodums zeigt sich in verschiedenen Antworten. Ein Aspekt soll hier noch erläutert werden: der große Anteil von Touristen im Karneval 1993 und deren Motivation. Die Gruppe der brasilianischen Touristen teilte sich je zur Hälfte in weiße (50%) und Afro-Brasilianer. 28% der Touristen bezeichneten sich als negro/a, die übrigen 22% hatten ebenfalls eine dunkle Hautfarbe (parda, morena, mulata). Auffallend sind zwei Aspekte: a) der hohe Anteil an afro-brasilianischen Touristen, die sich als negros bezeichnen und mit Olodum am Karneval teilnehmen wollen und b) der hohe Anteil an weißen Touristen, die den Wunsch verspüren mit der Erfolgsgruppe Olodum, einem AfroBlock, am Karneval teilzunehmen. Alle Touristen, die sich als negro/a bezeichneten, waren Akademiker. Zwei Drittel dieser Gruppe hatten bereits mit Olodum am Karneval teilgenommen, einige sogar mehrfach. Dies deutet daraufhin, dass der Teilnahme mit Olodum am Karneval eine besondere Bedeutung beigemessen wird, denn allein die Reise aus einer der Städte des Südostens ist eine vergleichsweise teure Angelegenheit. Diejenigen, die bereits mehrfach mit Olodum im Karneval waren, hatten auch schon bei anderen Gruppen mit ähnlichem schwarzen Hintergrund mitgemacht, wie Ilê Aiyê, Filhos de Gandhi und Os Negões. Als Motiv gaben sie an, sich mit Olodum zu identifizieren und betonten den Beitrag Olodums zur Valorisierung und Verbreitung schwarzer Kultur. Es zeigen sich Parallelen bei der Beantwortung der anderen Fragen: Die Personen, die sich auf das schwarze Selbstbewusstsein und Kultur bezogen, hatten in der Regel eine kritische Haltung zu den Reformen am Pelourinho.Alle schwarzen Touristen (mit einer Ausnahme) besuchten schon seit mehreren Jahren den Pelourinho. Alle weißen Touristen sind Akademiker und bestätigen, dass es Rassismus in Brasilien gibt. Drei Viertel von ihnen nehmen zum ersten Mal mit Olodum am Karneval teil. Neben sehr 258 allgemeinen Aussagen begründen 44% der weißen Touristen ihre Entscheidung für Olodum mit der Arbeit der Gruppe bzw. mit der Vorliebe für die schwarze Kultur oder beziehen sich auf die Musik, Swing, Rhythmus. Es scheint, dass neben der allgemeinen Popularität die afro-brasilianische Wurzel der Arbeit Olodums über die bahianischen Grenzen hinaus auf einer nationalen Ebene von besonderer Bedeutung ist. Insbesondere für Afro-Brasilianer, die sich ihrer Identität bewusst sind, scheint es ein Motiv für die Teilnahme am Karneval zu sein. 259 13. „Die Bildung, die von den Trommeln kommt“ – Escola Criativa Olodum “Erziehung kann niemals neutral sein. Entweder ist sie ein Instrument zur Befreiung des Menschen, oder sie ist ein Instrument seiner Domestizierung, seiner Abrichtung für die Unterdrückung” (Paulo Freire, 1991, S. 14) Neben der Konstruktion einer Identität über die Musik und im Karneval spielt die konkrete pädagogische Arbeit eine wichtige Rolle für die Blocos Afros. Im Bildungsbereich hat die Diskriminierung von Afro-Brasilianern besonders verheerende Auswirkungen. Es stellt sich die Frage: Inwieweit ist die Schule darauf vorbereitet, auf den Rassismus einzugehen? Bisher gibt es erst wenige Studien, die sich mit der rassischen Diskriminierung in den Schulen und den Unterrichtsmaterialien beschäftigen, z.B. Cavalleira, 2000, Oliveria 1994 und Silva, 1988. Diese Studien, wie beispielsweise die in Kapitel 8 erwähnte Studie Cavalleiros, dokumentieren, was für viele Afro-Brasilianer zum Alltag gehört: die Diskriminierung ihrer Kinder und die Nicht-Beachtung der kulturellen Wurzeln im Schulalltag. Sie zeigen die Notwendigkeit eines pädagogischen Handelns gegen Rassismus, rassische Vorurteile und rassische Diskriminierung. Deutlicher Ausdruck dessen ist das Bestreben Olodums, aber auch anderer Blocos Afros, nach einer anderen Form der Bildungsarbeit mit afro-brasilianischen Inhalten. 13.1“Das Raunen der Trommeln” Alles begann damit, dass Mestre Neguinho do Samba, der musikalische Leiter des Karnevalsvereins Olodum, ab 1983 anfing Kinder zum Trommelunterricht einzuladen, die auf den Straßen des historischen Zentrums herumlungerten, Klebstoff schnüffelten oder Touristen und Brasilianer beklauten. Wenigstens für ein paar Stunden am Tag sollten diese Kinder beschäftigt werden. Zunächst waren es Blechdosen und Plastikeimer, manchmal auch eine eiserne Waschschüssel, auf denen die Kinder die ersten Rhythmen übten. „Die Idee dazu kam von Kátia, weil die Kinder hier nur auf der Straße rumhingen und klauten. Ich dachte, dass ich mit diesen Kindern Musik machen müsste, denn Musik ist wie Therapie, entspannt, sorgt für einen guten astral“ erinnert sich Neguinho do Samba. „Hier, wo jetzt die Casa de Olodum steht, haben wir altes Holz rausgeholt, um es gegen Brot, Felle und Milch zu tauschen. Elf 260 Kinder... und als er dann unsere Arbeit gesehen hat, hat er die Zinkbleche zur Verfügung gestellt, aus denen wir die ersten 80 Instrumente gebaut haben.“ (Neguinho do Samba, 1992). 1984 wurde dann offiziell die Banda Mirim Olodum, die Kinder-Musikgruppe Olodums, mit einigen wenigen Kindern gegründet. Olodum nannte das Projekt „Rufar dos Tambores“ (ungefähr: Raunen der Trommeln). Ziel war es, die Kinder von der Strasse des Altstadtviertels zu holen und ihnen nicht nur trommeln, sondern auch Grundkenntnisse afro-brasilianischer Geschichte und Gegenwart beizubringen. Neben Gesangsunterricht und Dança Afro, gab es eine Spielzeugfabrik und Puppentheater, aber auch eine Art alternativer Geschichtsunterricht, in dem engagierte Schwarze den Kindern der Banda Mirim ihr Wissen über die bis dahin praktisch unbekannten schwarzen brasilianischen Helden weiter gaben, wie Zumbi dos Palmares, den Aufständigen João de Deus oder die Mitglieder des Malê-Aufstands. Aus dem provisorischen Unterricht entwickelte sich allmählich die Idee eine Alternativ-Schule zu gründen, welche die formale Erziehung ergänzen und die Kinder des PelourinhoViertels zur erfolgreichen Teilnahme an der Gesellschaft vorbereiten sollte. Es waren die Anfänge der bis heute existierenden „Escola Criativa Olodum“. (UNICEF, 1992). Aus den verschiedenen Segmenten der bahianischen Schwarzenbewegung bekam die Gruppe Unterstützung bei dieser Idee. Über die Notwendigkeit neue Wege zu gehen, war sich die Schwarzenbewegung schon längst im Klaren: Die Mehrheit der Lehrer an den öffentlichen Schulen Bahias sind Afro-Brasilianer. Sie unterrichten mit Schulbüchern, in denen AfroBrasilianer bisher allenfalls als Hausangestellte, Sportler und Musiker oder Kriminelle erscheinen, während die weißen Brasilianer Familien haben, in entscheidenden Positionen stehen und ein modernes, begehrenswertes Leben führen (A.C. Silva 1988).107 Dem vorzeitigen Verlassen der Schule - sei es durch die Notwendigkeit für den Lebensunterhalt sorgen zu müssen oder die mangelnde Attraktivität des Unterrichts - kommt im Verlauf des schwarzen Schullebens besondere Bedeutung zu. Seit Jahren hatte sich die Schwarzenbewegung in Bahia um die Aufnahme von Unterrichtsinhalten in den öffentlichen Schulen bemüht, welche die Geschichte und Kultur der Schwarzen berücksichtigen. Das erste Seminário Experimental de Educação Interétnica wurde noch während der harten Phase der Militärdiktatur vom Núcleo Cultural Afro107 Auch Alexander & Helbig beobachteten einen vergleichbaren Prozess in Südafrika, wo die schwarzen Kinder in den britischen Missionsschulen dazu erzogen wurden, ihre eigene traditionelle Kultur als minderwertig zu betrachten und ihnen abgefordert wurde, sie zu überwinden und sich europäischen Standards anzupassen" (Alexander, Neville & Helbig, Ludwig, 1988). 261 Brasileiro 1979 im Goethe-Institut (ICBA) in Salvador organisiert. Die ein Jahr später gebildete Kommission entwickelte Lehrpläne, die zum ersten Mal in einer Grundschule in Salvadors Stadtteil Vale das Pedrinhas, angewendet wurde. 1985 gelang es, das Fach “Introdução aos Estudos Africanos” (Einführung in die afrikanischen Studien) auf Vorschlag der Schwarzenbewegung in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Afro-Orientalische Studien (CEAO) vom Landesbildungsrat als Unterrichtsfach in die Lehrpläne der öffentlichen Schulen Bahias zu integrieren. Das Projekt der Escola Criativa hatte jedoch noch ehrgeizigere Züge: Eine komplett neue Pädagogik sollte dort angewendet werden. Pate dafür standen die pädagogischen Ideen Paulo Freires zur Befreiung der Unterdrückten. Der Pädagoge Manoel de Almeida Cruz entwickelte ein Konzept interethnischer Pädagogik, das in der ECO umgesetzt werden sollte. Nach vielen Mühen funktionierte die Escola Criativa Olodum ab 1991 zunächst provisorisch in einigen winzigen Räumen mit über 200 Kindern (Carvalho 1994). Finanziert wird die Schule von den Einnahmen Olodums aus Karneval, Musikaufnahmen, Shows etc. und Spenden. Das Schulgeld für die ECO reduzierte sich auf einen symbolischen Beitrag der Eltern. Parallel zur Schule existierte weiterhin die Banda Mirim, die Kindergruppe Olodums, die unabhängig von der Show-Gruppe Olodum auftritt. 1994 nahm Olodum Mirim sogar eine eigene Platte auf. Auch am Karneval nehmen mehrere hundert Kinder im Bloco Olodum Mirim jedes Jahr in einer eigenen Gruppe teil. Im Umfeld Olodums wurde viel über eine andere Erziehung für afro-brasilianische Kinder nachgedacht. Zu Tanz und Trommeln sollte noch mehr dazu kommen. „Wir waren auf der Suche nach neuen Wegen, unzufrieden damit, was unsere Kinder in der Schule lernten“ erinnert sich die Direktorin (Cristina, 1993). Von Manoel Almeida Cruz, einem engagierten afro-brasilianischen Pädagogen aus dem Umfeld Olodums werden die in der Diskussion stehenden Themen zu einem pädagogischen Konzept komprimiert, das im folgenden vorgestellt wird. 13.2 "Niemand wird als Rassist geboren" – interethnische Pädagogik Ziel der interethnischen Pädagogik, so Cruz, sei die Beschäftigung und Erforschung der rassischen Vorurteile und des Rassismus, die über den Sozialisations- und Erziehungsprozess 262 weitergegeben werden, sowie die Vermittlung der erzieherischen Maßnahmen, um diesen Prozessen entgegen zu wirken. “Die Vorurteile halten sich nur, wenn sie an die Kinder weitergegeben werden” (Cruz, 1989, S. 31). Besondere Bedeutung komme dabei den Lehrplänen und Unterrichtsinhalten zu. So solle das Curriculum auf der Geschichte und Kultur der Schwarzen und Indianer in der Gesellschaft basieren. Die interethnische Erziehung sei interdisziplinär angelegt und solle im Dialog zwischen Lehrer und Schüler angewendet werden. In seinem Buch “Alternativas ao Combate de Racismo” unterscheidet Cruz fünf Fragestellungen (er nennt es “strukturelle Aspekte”), die in Zusammenhang mit der interethnischen Erziehung thematisiert werden sollten: Der psychologische Aspekt beschäftige sich mit der Problematik des Selbstwertgefühls der Afro-Brasilianer. Dem Minderwertigkeitskomplex und der Ablehnung der eigenen Persönlichkeit der Afro-Brasilianer stehe der Überlegenheitskomplex der weißen Brasilianer gegenüber. Der europäisierte Schwarze hasse jegliche Referenz zu seiner sozialen und rassischen Herkunft. Er neige dazu, sich als Schwarzer zu verneinen. Der geschichtliche Aspekt berücksichtige die historischen Ursachen der rassischen Vorurteile und der unterschiedlichen Entwicklung der ethnischen Gruppen. Besondere Bedeutung habe dabei die herrschende Geschichtsschreibung und ihre Reproduktion in Lehrbüchern. Der soziologische Aspekt beschäftige sich mit der sozioökonomischen Stellung der Schwarzen in der Gesellschaft und den geschichtlich-soziologischen Ursachen der Marginalisierung. Noch immer funktioniere in Brasilien die Hautfarbe als Anzeichen "símbolo indicativo" (Cruz, 1989, S.61) der sozialen Stellung in der Gesellschaft, während gleichzeitig der theoretische Diskurs begründe, dass die Hautfarbe nicht den sozialen Aufstieg behindere. Die heutige Marginalisierung habe historische Ursachen: Die aus der Sklaverei entlassenen Schwarzen seien nicht in das neue Wirtschafts- und Gesellschaftssystem integriert worden , die offizielle Migrationspolitik, die Europäer begünstigte, habe die Integration der Schwarzen weiter erschwert. Beim axiomatische Aspekt gehe es um die Frage nach den Werten. Dazu gehöre zum Beispiel die kritische Auseinandersetzung mit der Dominanz des europäischen Schönheitsmodells. Der anthropobiologische Aspekt beschäftige sich mit den Rassentheorien, welche die Überlegenheit der weißen über die schwarze Rasse wissenschaftlich zu beweisen suchten. 263 Diese fünf Aspekte sollen durch die interethnische Erziehung thematisiert werden. Zunächst seien dabei die Lehrer angesprochen, die für die interethnische Pädagogik vorbereitet werden müssen. Sie sollten selbst Forschungen unternehmen, bei denen sie sich mit den Einstellungen von Individuen beschäftigen. Sie sollten für die Benutzung von Sprache geschult werden, so dass sie rassische Vorurteile in der Alltagssprache ("coisa preta, dia negro") lokalisieren lernten. Darüber hinaus sollten sie auch die verdeckte rassistische Ideologie, die in die Kultur und die Medien projeziert werde, enthüllen lernen. Jede Forschung solle partizipativen Charakter haben und die "Erforschten" einbeziehen, denn nur so könne die traditionelle Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt überwunden werden ("die teilnehmende Forschung ist dem Emanzipationsprozess der unterdrückten Völker verbunden " Cruz, 1989, S. 53). Vom Verhalten der Lehrer im Klassenzimmer hänge der Erfolg der anti-rassistischen Erziehung ab. In regelmäßigen Treffen solle zunächst das Bewusstsein der Lehrer geschärft werden. Zwar könne ihnen die interethnische Pädagogik das Handwerkzeug an die Hand geben, aber von ihrer eigenen Kreativität in der Schule hänge es ab, den Unterricht bei vorgegebenen Lehrplänen und traditionellem Unterrichtsmaterial alternativ zu gestalten. Neben der Schule seien, wie anfangs erwähnt, auch die Eltern ein wichtiger Faktor bei der Anti-Rassismus- Erziehung. Auch mit den Eltern sollen regelmäßig Treffen abgehalten werden. Die interethnische Erziehung sei kritisch und emanzipierend. Es werde eine kreative, demokratische Dialogform zwischen Lernendem und Lehrendem angestrebt, die das „Bankiers-Konzept“ (Freire, 1991, S. 57) überwindet. Unterricht und Forschung sollten partizipativen Charakter haben und auf soziale Veränderung ausgerichtet sein. Lehrer und Schüler sollten zu kritischem und kreativem Umgang mit dem Wissen stimuliert werden. Zur Umsetzung empfiehlt Cruz mit Bezug auf Bertold Brecht und Augusto Boal auch Theater als Lehr- und Lernmethode108, wobei der Dialog zwischen Schauspielern und Publikum wichtig sei. Zur Umsetzung der Interethnischen Pädagogik kommt dem Lehrplan, wie bereits gesagt, eine bedeutende Rolle zu. Als "curriculo oculto" bezeichnet Cruz den in den Lehrplänen enthaltenen Inhalt, der die in der Gesellschaft herrschenden Werte repräsentiert. Deshalb müsse ein Lehrplan erarbeitet werden, der die Werte der unterdrückten ethnischen Gruppen beinhaltet und die Menschenwürde respektiert. Zu den Themen, die in der Schule diskutiert werden sollten, gehöre der Rassismus und seine Ursachen, das Entstehen der Menschheit, der 108 Das Teatro Experimental do Negro von Abdias do Nascimento hat bereits in den 50er Jahren versucht Rassismus zu thematisieren. 264 Eurozentrismus und seine Ursachen, moderne Anthropologie zum Konzept Rasse, Kritik der Rassendoktrinen, Apartheid, sowie eine kritische Revision der Geschichte der AfroBrasilianer. Für die Alphabetisierung empfiehlt Cruz, die Inhalte aus der Realität und den kulturellen Werten der ethnischen Gruppe im Sinne Freires, nach der Schlüsselwort-Methode (palavras geradoras) abzuleiten, die in diesem Falle zum Beispiel Rassismus, Indio, Neger, Afrika, Armut, Diskriminierung sein könnten. Inhalte einer schwarzen Didaktik: Themen, die im Fach Geschichte oder Sozialwissenschaften diskutiert werden sollten: Gründe für die Unterentwicklung der unterdrückten ethnischen Gruppen bzw. für die Entwicklung der anderen, Faktoren für die Abschaffung der Sklaverei, politischer und kultureller Widerstand der Schwarzen, Betonung schwarzer Helden, Geschichte der großen Königreiche Afrikas, Afro-Brasilianer im Arbeitsmarkt und in der Politik, soziale und geschichtliche Faktoren der ästhetischen und ethischen Werte, Psychologie der dominierten ethnischen Gruppen. Im Erdkundeunterricht soll der afrikanische Kontinent mit seinen vielen Ländern, Völkern und Kulturen behandelt werden, aber auch die Lage von Palmares oder anderer Quilombos. Aufsätze zu folgenden Themen böten sich an für den Portugiesischunterricht: Vorurteile gegenüber Schwarzen, Schwarze und Bildung, Schwarze und Arbeitsmarkt, Beitrag der Schwarzen zur kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung Brasiliens, Schwarze in Sport und Kunst, Bedeutung der afrikanischen Sprachen für das Brasilianisch. Bei der Lektüre sollten Schwarze in der brasilianischen Literatur besonders berücksichtigt werden - schwarze Dichter, wie Machado de Asssis, Lima Barreto etc. aber auch zeitgenössische Poeten -, die Texte der Blocos Afros und die Dramen Abdias de Nascimentos, sowie afrikanische Literatur. Themenschwerpunkt des Religionsunterrichts sollten afrikanische Religionen in Brasilien sein: ihre soziale Realität, ihr Widerstandspotenzial, der Islam, der afro-katholische Synkretismus, die funktionelle Struktur der afro-brasilianischen Religion, die afrikanischen Religionen in der Stadt und auf dem Land, die Rolle der Afro-Brasilianer im Katholizismus und bei den Protestanten, Religion und Ethnozentrismus, Symbolik und Götter der afrikanischen Religionen in Brasilien In der politischen Erziehung solle die Bedeutung des Lei Afonso Arinos109 oder der UNO Menschenrechtserklärung diskutiert werden, sowie die juristischen Hintergründe des Rassismus und der gesetzliche Status der Schwarzen. 109 Das Lei Afonso Arinoso ist ein Gesetz, das Rassismus unter Strafe stellt. 265 In den Fächern Biologie und Chemie sollen die Rassentheorien, aber auch die Herkunft der Menschheit, oder die Bedeutung des Melanins besprochen werden. Im Sportunterricht sollten berühmte schwarze Sportler (Cassius Clay bis Mestre Bimba) sowie die Geschichte der Capoeira vorgestellt und Capoeiraunterricht angeboten werden. Mit den afrikanischen Wurzeln in der Musik (Congagda, Samba, Maracatu etc.) oder typischen schwarzen Musikinstrumenten, Tänzen, Volksmusiken, sowie den Lebensläufen schwarzer Musiker (Donga, Pixinguinha, Caymmi etc.) sollte sich die musikalische Erziehung befassen, während im Kunstunterricht der Beitrag der Schwarzen in der Bildenden Kunst (Mestre Didi, Carybé, Rubem Valentim etc.) diskutiert werden sollte. Im Englischunterricht sollte Literatur der African-Americans aus den USA, im Französischunterricht Texte schwarzer, französischsprachiger Autoren bevorzugt werden. In den Überlegungen Cruz´ zur interethnischen Erziehung, einer Erziehung zur Überwindung des Rassismus und persönlichen Befreiung spiegeln sich deutlich die Gedanken Freires. Bei Freire ist die Pädagogik der Unterdrückten immer eine Pädagogik von Menschen, die im Kampf um ihre Befreiung stehen. Auch sie haben „das Bild des Unterdrückers internalisiert und seine Richtlinien akzeptiert haben" (Freire, 1991, S. 34). Freire selbst hat sich nicht ausdrücklich mit der Problematik rassischer Diskriminierung in Brasilien beschäftigt. Für ihn stand die Frage der Marginalität im Mittelpunkt, die Frage von Unterdrückern und Unterdrückten110. Dies wurde auch von den Mitarbeitern des FreireInstituts in São Paulo bestätigt. Der große Verdienst der Arbeit Almeidas liegt darin, praktische Vorschläge für eine afro-brasilianische Bildung formuliert zu haben. 13.3 Die Escola Criativa Olodum 1994 erhielt die ECO rund 100.000 US$ von der Europäischen Union durch die Vermittlung des Habitat-Forum Berlin111. Damit wurde es möglich ein Gebäude als Sitz der Schule im Pelourinho-Viertel zu erwerben, das die staatliche Denkmalsschutzbehörde IPAC restaurierte. 110 In Südafrika hat Neville Alexander ein pädagogisches Konzept der Volkserziehung mit besonderer Berücksichtigung der schwarzen Kultur entwickelt. Auch das dortige Erziehungswesen charakterisierte sich durch die Vernachlässigung traditioneller und die Übernahme europäischer Werte. 111 Den gesamten Prozess von der Antragsstellung 1993 bis zur Rechnungslegung habe ich in Salvador begleitet. Die dabei gemachten praktischen Erfahrungen an der Schnittstelle zwischen zwei Kulturen könnten Thema eines eigenen Aufsatzes sein. Die Arbeit bei der Umsetzung verschaffte mir eine zuvor nicht in der Form gegebene Legitimierung gegenüber der Gruppe, stellte aber andererseits einen Balanceakt zwischen den verschiedenen Ansprüchen und Erwartungen dar. 266 Mit der neuen Struktur gelang der ECO auch die Anerkennung als formale Schule durch das Bildungsministerium. Das war ein großer Erfolg für Olodum und die Schwarzenbewegung. Das Konzept Interethnischer Pädagogik wurde erstmals in einem größeren Rahmen in die Praxis umgesetzt. Rund 400 Kinder wurden 1994 von 14 Lehrern in der Escola Criativa Olodum unterrichtet. Die Schule wurde von vier Personen unter Leitung von Manoel de Almeida Cruz koordiniert. Der Lehrplan wurde nach den Prinzipien der interethnischen Pädagogik gestaltet, mit einer deutlichen Betonung der künstlerischen und musikalischen Lehrfächer. Es gibt, wie in anderen brasilianischen Schulen auch, eine Gruppe, die vormittags und eine, die nachmittags Unterricht hat. In der Unterrichtspause bekommen die Kinder einen kleinen Imbiss. „Das ist für sie besonders wichtig, denn oft gibt es bei ihnen zuhause nur unregelmäßig etwas zu Essen“ erzählt eine der Koordinatorinnen (Dora, 1993) Besuch in der Schule November 1994. Es sieht aus wie in jeder Schule, Lehrer schreiben etwas an die Tafel, Kinder sitzen zusammen und diskutieren etwas. Dennoch ist es anders: Die Kinder tragen Schul-T-Shirts, die in den Farben Olodums, den Farben des Panafrikanismus, bedruckt sind. An den Wänden hängen Poster von den Idolen der politischen Schwarzenbewegung, Nelson Mandela und Malcolm X. Aus einem Raum tönt laute Musik, hier wird gerade Afro-Tanz geübt. Auf einer Tafel steht Zumbi und ein junger Mann erzählt den Kindern seine Geschichte. Es gibt sogar einen Raum, in dem Computer stehen und eine Lehrerin zeigt, wie man mit so einem Gerät umgehen kann. „Was unsere Schule unterscheidet, ist das Engagement der Lehrer. Wir alle sind hier, weil wir eine andere Erziehung wollen“, sagt der pädagogische Leiter (Cruz, Interview, 1994). An zwei Samstagen im Monat treffen sich die Lehrer der Schule zur Weiterbildung im Umgang mit der interethnischen Pädagogik. Zu diesen Lehrerfortbildungen kamen schon bald auch interessierte Lehrer aus anderen öffentlichen und privaten Schulen. „Das ist doch das Entscheidende, das wir bei uns anfangen“ sagt Gerusa, eine der Lehrerinnen im Gespräch 1994. „Wir sind doch alle damit groß geworden, dass der negro keinen Wert hat“ Im Versammlungszimmer sitzt eine Gruppe um einen weißhaarigen Mann, der über Candomblé erzählt. Er ist Ogã in einem der wichtigsten Candomblé-Häuser der Stadt und gehört zum Rat Olodums. Heute ist er gekommen, um mit einer Gruppe von Lehrerinnen zu diskutieren. „Es gibt noch immer viel Vorbehalte gegen den Candomblé und religiöse Intoleranz von Seiten 267 der Pfingstkirchen, die immer mehr werden. Einige der Lehrerinnen mussten sich hier zum ersten mal damit auseinandersetzen“, erzählt Jaime Sodré im Gespräch. Mindestens einmal im Monat werden die Eltern zu Treffen in der Schule eingeladen, deren Teilnahme Pflicht war. „Alle zwei Wochen haben wir anfangs Treffen mit den Eltern gemacht, um mehr über die Kinder zu wissen“, erinnert sich Cristina (Cristina, 1993). „Wir diskutieren hier über Erziehung und Bildung, Familienleben, Arten der Gewalt. Wir haben einen Kurs über Sexualität in der Pubertät gemacht, Treffen mit Müttern und Töchtern.“ Die Treffen mit den Eltern erwiesen sich als problematisch. Teilweise hatten sie wenig Verständnis für das, was die Schule wollte, wie Aufklärung über Aids oder Diskussion um Abtreibung. "Wir haben die richtige Sprache noch nicht gefunden", räumt Cruz ein basierend auf seinen Erfahrungen mit der Escola Criativa Olodum. Anfänglich planten die Schulmacher auch Erwachsenenbildung anzubieten, aber die Idee wurde bei den auftretenden Problemen aufgegeben. An dieser Stelle soll nicht die pädagogische Arbeit Olodums bewertet werden. Bemerkenswert erscheint, dass das Schulprojekt aus einer empfundenen Notwendigkeit heraus entstanden ist und eine Antwort auf ein grundsätzliches Problem gesucht wird. Der Rassismus stellt ein generatives Thema dar, ein Schlüsselproblem der Mitglieder Olodums. Ohne je vom Situationsansatz gehört zu haben, versuchen sie ein pädagogisches Konzept umzusetzen, das verschiedene Elemente davon beinhaltet, wie zum Beispiel die Orientierung an den alltäglichen Erfahrungen der Kinder, das Lernen aus der konkreten Lebenssituation, die pädagogische Mitwirkung von Eltern, das dialogische Verhältnis, die gemeinwesenorientierte Arbeit (Zimmer, 1985). Ihnen gelingt es, nicht nur ein eigenes pädagogisches Konzept zu entwickeln, sondern auch umzusetzen. Darin zeigt sich ihr großes Geschick und Wille, denn die finanziellen und organisatorischen Hürden sind gewaltig. 13.4Die Grenzen Der formale Grundschulunterricht in der ECO funktionierte von 1994 bis 1996. Mit dem Auslaufen der internationalen Zuschüsse kann die Eigenfinanzierung durch die Gruppe nicht aufrecht erhalten werden. Die Einnahmen aus dem Showgeschäft und Karneval reichen nicht aus, um in diesem Umfang mit der Bildungsarbeit fortzufahren. Darüber hinaus hat die 268 Restaurierung des historischen Zentrums ab 1992 die Aktivitäten der ECO besonders betroffen. Einerseits ermöglichen sie die Restaurierung auch des von der Grupo Cultural Olodum erworbenen Gebäudes, andererseits wohnt ein Großteil der vormals ansässigen Bevölkerung nicht mehr am Pelourinho. Oft müssen die Kinder jetzt aus den weit entfernt liegenden Stadtteilen an der Peripherie zum Unterricht kommen. Die Schule ist angesichts der prekären familiären Situation der Kinder gezwungen, für den Transport aufzukommen dennoch verkleinert sich die Schülerzahl. „Wir hatten 540 Kinder in der Schule letztes Jahr. Vor der Reform des Pelourinho. Jetzt sind es nur noch um die 300. Die kommen jetzt aus dem ganzen Stadtgebiet. Durch die Reform sind nur noch wenige Anwohner hier. Die, die noch hier sind, sind noch immer bei uns. Aber die, die weggezogen sind, für die ist es schwierig hierher zu kommen, die haben kein Geld für den Transport. .. Da gab es in den Familien Streit, die Kinder, die hier bleiben und die Eltern, die wegziehen wollten“ erzählt eine der Direktorinnen (Dora, 1994). Aufgrund der großen Schwierigkeiten bei der Umsetzung und den Veränderungen des historischen Zentrums werden ab 1997 wieder schulbegleitende Kurse angeboten wie Musiktheorie, Stimmbildung, Perkussion, Tanz, Englisch, Puppentheater, Fotografie, Informatik etc. Es gibt einen Kinderchor und einen Chor mit Jugendlichen. Die Kurse sind kostenlos. Für Olodum ist die Realisierung der Kurse mit immer größerem Aufwand verbunden, weil sowohl Einnahmen als auch Spendengelder abnehmen. Die Lehrer und die Angestellten werden komplett von der Grupo Cultural Olodum bezahlt. Die Idee war, dass die unternehmerische Seite (Boutique und Fabrik, vor allem aber die Banda Show), die sozialkulturelle Seite unterhält. Das wurde aber immer schwieriger. Durch die Abkommen mit anderen Organisationen können die Aktivitäten aufrecht erhalten werden, decken aber selten die Kosten. So werden alternative Wege der Unterstützung gesucht: Auftritte der Banda Mirim werden mit didaktischem Material bezahlt, Michael Jackson spendete anlässlich des Video-Clips mehrere Computer. Die Finanzierung stellte und stellt bis heute das große Dilemma der Kreativ-Schule dar. Allein kann Olodum den Betrieb der Schule nicht aufrecht erhalten, schon gar nicht, wenn der musikalische Erfolg und damit die Einnahmen aus dem Karnevals- und Showgeschäft zurückgehen. Andererseits ist jedoch die Escola Criativa zunehmend zum wichtigsten sozialpolitischen Element der Arbeit Olodums geworden. „Weil das eine Sache ist, ... die meinen Enkeln eine Zukunft gibt. Die Leute, die hier wohnten, gaben den Anstoß zur 269 Gründung. Die Kindergruppe hat schon mehrere Kinder von der Straße gelockt, die heute Verbrecher sein könnten. Jetzt gibt es sogar schon Straßenkinder, die nach Europa fahren“ sagt einer der Direktoren, der elf Kinder hat (Petu, 1993). Für die meisten Direktoren ist die Kreativschule wichtigste Referenz, wenn es um das soziale Engagement des Blocos geht und für einige Teil ihrer Identität und Träume. Aus den Kindern von einst, sind inzwischen Erwachsene geworden, von denen einige noch immer in die Aktivitäten Olodums eingebunden sind. „Es freut mich die Entwicklung der Jungen zu sehen wie Memeu, Zoião, Leo, Andréa, die erst Banda Mirim waren und heute schon Erwachsene sind, Familienväter, die Verantwortungen haben. Oder hier Paulinho, Roque, Lia, die von der Escola sind und heute in der Verwaltung arbeiten. Und die, die in der Fábrica sind. Paulinho kann singen, aber heute oder morgen kann er auch in einem Büro arbeiten (Cristina, 1993) Auch die Cia. de Dança Olodum ist nahezu komplett aus der Kreativschule hervorgegangen. Mit den zunehmenden Schwierigkeiten des brasilianischen Alltags aufgrund der wirtschaftlichen Situation und hausgemachten Problemen wie Unzulänglichkeiten im Gebäude, Versprechungen, die nicht gehalten werden und dem Auslaufen der formalen Grundschulbildung wird die Realisierung der pädagogischen Arbeit Olodums immer schwieriger. Dennoch gibt es die Escola Criativa bis heute und allein dies ist ein großer Erfolg und zeigt, dass es ein Bedürfnis nach einer spezifisch afrobrasilianischen Erziehung gibt. Der Versuch der Umsetzung einer afro-brasilianischen Pädagogik, die Cruz als interethnische Pädagogik bezeichnete, hat bis heute Modellcharakter in Brasilien und ist Anregung für andere afro-brasilianische Erziehungsmethoden. An der Escola Criativa zeigt sich auch deutlich, dass für eine langfristige Arbeit auch die strukturellen Voraussetzungen geändert werden müssen, denn finanziell übersteigt der Unterhalt einer solchen Einrichtung die Möglichkeiten einer Kulturgruppe. Der Staat muss seine Aufgabe und Verpflichtung einer angemessenen Bildung für Afro-Brasilianer erkennen. Dann kann er auch das fortschrittliche Gesetz zum Schutz der Kinder Jugendlichen von 1991 erfüllen, welches „das Recht auf Freiheit, auf Respekt und Würde als Menschen... und Träger ziviler, menschlicher und sozialer Rechte, wie sie in der Verfassung und den Gesetzen vorgesehen sind; ... das Recht auf Bildung...die Gleichheit der Bedingungen für den Zugang und den Aufenthalt in der Schule...“ garantiert (Estatuto da Criança e do Adolescente, Lei 8069/91). 270 14. Die kultur-politischen Aktivitäten Olodums „Was mich bei Olodum am meisten angezogen hat, war das Engagement der Leute. Vor sieben Jahren, Olodum war da noch am Anfang, wir hatten tausend Sachen im Kopf, tausend Projekte. Was mich angezogen hat, war die política cultural, etwas zu verändern durch die Kultur... Ich denke, dass die política cultural wichtig ist, erstens um das Selbstbewusstsein zu stimulieren und zu entwickeln, durch die verschiedenen Künste. .., denn seit der Kolonisation hatte der negro nie einen Wert, er war immer der Dumme, der Hässliche, der keine Begabung hatte“ sagte eine Direktorin (Dora, 1993). Anfang der 90er Jahre hatte Olodum erkannt, dass die kulturelle Arbeit einer der vielversprechendsten Wege zur Überwindung des Rassismus in Brasilien ist. Olodum machte Musik, wurde aber auch immer mehr zu einem Kulturproduzenten auf anderen Ebenen. Es schien, als seien der Kreativität kaum Grenzen gesetzt. Das vielfältige kulturpolitische Engagement Olodums zeigte sich in einer großen Anzahl von Aktivitäten, von der Veröffentlichung von Zeitungen und Zeitschriften, über Musikveranstaltungen und Bilderausstellungen, der Tanz-Gruppe die Companhia de Dança Olodum bis hin zu der Herausgabe von Publikationen und dem eigenen Verlag Editora Olodum, in dem drei Bücher veröffentlicht werden112. Jedes Jahr im Januar belebt das Festival de Música e Artes Olodum (FEMADUM) an drei Tagen den Pelourinho. Während des Festivals werden – eingebettet in ein umfangreiches Kulturprogramm - die besten Kompositionen für den Karneval prämiert und die Mulher Olodum gewählt. Parallel zum Femadum findet für die Kinder tagsüber während des Femadumzinho ein Kulturprogramm mit verschiedenen musikalischen und künstlerischen Aktivitäten statt. Olodum bemüht sich Persönlichkeiten aus der Politik und dem Film- und Fernsehbusiness zu diesem Ereignis einzuladen. Das garantiert Medienpräsenz. Auf kultureller Ebene stellten die Macher Olodums Beziehungen zu anderen schwarzen Kulturen her und bemerkten dabei, dass die von ihnen gemachte schwarze Kultur interessant war. „Das Femadum wurde mit dem Ziel organisiert, Olodum mit der Welt zu verbinden und den verschiedenen kulturellen und künstlerischen Aktivitäten einen Raum zu 112 1994 wird in der Editora Olodum das erste Buch veröffentlicht. „Olodum – de bloco afro a „holding“ cultural“ von Marcelo Dantas. Der Autor prägt für Olodum den Begriff der Kultur-Holding und zeichnet in dem Buch die Entwicklung Olodums vom Karnevalsverein zu einer komplexen Organisation nach. Das zweite Buch des Verlags „Trilogia do Pelô“ von Márcio Meirelles und dem Bando de Teatro erscheint ein Jahr später. 1996 erscheint das dritte Buch der „Olodum, Estrada da Paixão“ von João Jorge Rodrigues dos Santos. Hierin zeichnet der langjährige Präsident den Weg Olodums nach, stellt Interviews und Reden zusammen, sammelt Erinnerungen und Anekdoten. Die Veröffentlichungen werden von der Jorge-Amado-Stiftung und mehreren Sponsoren getragen - von staatlichen Chemieunternehmen, über die brasilianische Fluggesellschaft Varig zu Nicht-Regierungs-Organisationen wie zum Beispiel Christian Aid. 271 bieten“ sagt João Jorge (João Jorge, 1994). Bekannte Künstler wurden dazu eingeladen: Von Gilberto Gil und Caetano Veloso bis zu den internationalen Musikgruppen wie Jimmy Cliff113, Lynton Kwesi Johnson, Mutabaruka und Billy Paul. Die Stars des Reggae, deren Musik und Kultur zum Aufbau eines eigenen neuen schwarzen Selbstbewusstseins der schwarzen Jugendlichen in Bahia beigetragen haben, sind nach Bahia gekommen. Olodum ist Teil dieser internationalen Gemeinde geworden, zu der auch Gospel Chor Mount Moriah114 und Alpha Blondy gehören Das Interview Alpha Blondys wurde aus der Casa de Olodum, die jahrelang einer der wenigen Orte Salvadors war, wo Reggae gehört wurde, auf Großleinwänden in die engen Straßen des Pelourinho übertragen, in denen sich Tausende schwarzer Jugendlicher drängten.. Als eine besonders erfolgreiche und über den kleineren Kreis der Gemeinschaft am Pelourinho und afro-brasilianischer Militanz hinausreichender Aktivitäten, gehörte die Bildung der Theatergruppe Bando de Teatro Olodum. 14.1 Schwarzes Theater - Bando de Teatro Olodum Im Oktober 1990 wird die Theatergruppe Olodums gegründet. Die künstlerische Leitung übernimmt Márcio Meirelles, einer der anerkanntesten Theatermacher aus Bahia, der zuvor das größte und renommierteste Theater Salvadors geleitet hatte, das Teatro Castro Alves. Hintergrund der Gründung ist das Fehlen der afro-bahianischen Wurzeln in den lokalen Theaterproduktionen und das Fehlen des afro-bahianischen Publikums im Zuschauerraum. Die Idee ist es etwas ganz anderes zu machen: Es werden Schauspieler gesucht, die bereit sind, sich mit der eigenen schwarzen Identität im Theater auseinanderzusetzen. Der Ansatz von Meirelles und seinem Team, u.a. der Schauspielerin Chica Carelli, geht jedoch noch weiter. Sein Theater will einen Beitrag leisten bei der Entwicklung der marginalisierten Bevölkerung des Pelourinho zu Staatsbürgern. Hintergrund seiner Vorstellungen ist das Theater der Unterdrückten Augusto Boal´s (Boal, 1985). Gleichzeitig will sich die Gruppe auf die systematische Suche begeben, nach einer zeitgenössischen theatralen Sprache ausgehend von den afro-brasilianischen Wurzeln. Darüber hinaus soll die 113 Der Jamaikaner Jimmy Cliff singt mit bei einem Stück auf der 4. LP „Da Atlântida á Bahia“. In Paris spielt die Gruppe zusammen mit Maxi Priest. 114 Der Erzbischof von Brasília, Dom José Freire Falcão, verbot den Kindern und Jugendlichen der Banda Mirim Olodum Ende Juni 1995 die Kirche zu betreten und mit dem Gospel Chor Mount Moriah aufzutreten mit dem Argument, Olodum sei mit dem Candomblé verbunden. 272 Theaterarbeit eine Werkstatt zur Ausbildung von Arbeitskräften in den verschiedenen Bereichen des Theaters sein, wie beispielweise Dramaturgie, Interpretation, Bühnenbild, Beleuchtung oder Kostüme. Wie Paulo Freire gewissermaßen Pate der Escola Criativa ist, übernimmt Augusto Boal die Patenschaft für den Bando de Teatro Olodum. Beide, inzwischen in die Jahre gekommen, besuchten Olodum Anfang der 90er Jahre. Schwarzes Theater hatte es zuletzt in den 50er Jahren in Brasilien gegeben, gemacht von Abdias do Nascimento, der wie Freire und Boal während der Militärzeit Brasilien verlassen mußte. Das Vakuum war bis Anfang der 90er Jahre in Brasilien nicht gefüllt, engagiertes, politisches Theater gab es allenfalls im Südosten des Landes. Die afro-brasilianische Kreativität hatte noch keine Bühne zu ihrer Entfaltung bekommen. „In der Theaterschule in Bahia gibt es nicht einen Bezug zum schwarzen Theater. Und ich als militante negro, mich machte das nervös. Damals waren wir drei Schwarze. Nach zwei Semestern habe ich dort aufgehört... Ich möchte volksnahes Theater machen, das mit der populären Kultur arbeitet, mit unseren Sachen, unserer Sprache... Dann eines schönen Tages, schlage ich zu Hause die Zeitung auf und lese, dass Olodum eine Theatergruppe machen will, populäres Theater auf der Basis der afro-brasilianischen Kultur unter Leitung von Márcio Meirelles... Da habe ich mich eingeschrieben...“ erzählt einer der Schauspieler (Washington, 1993). Die Arbeit der Gruppe beginnt mit Improvisationen. Es geht darum, neue Rollen auszuprobieren, Erfahrungen aus der Realität auf die Bühne zu tragen. „Am Anfang hatte die Gruppe 30 Mitglieder. Wir haben im Oktober 1990 angefangen. Einen Monat lang haben wir einen Workshop gemacht, Szenen improvisiert. Alle, die mitmachten, waren Schwarze. Wir bereiteten ein Krippenspiel vor. Nur, dass die Maria und der Josef dunkle Haut hatten, drei schwarze Marias und drei schwarze Josefs. Die Szenen entstanden aus der Sichtweise, wie sie die Menschen vom Pelourinho hatten, das war da, wo wir arbeiteten, da wo die Gemeinschaft ist, mit der Olodum arbeitet. Da kam also der Marihuana-Dealer vor, der Bar-Besitzer, die Baiana de Acarajé, der Pastor, eine crente (Pfingstkirchlerin), eine Frau, die aus dem Inland kam, ihren Mann zu suchen, der Autowäscher, die Straßenjungs, der Müllmann, der die Strasse kehrt... so haben wir angefangen zu arbeiten. Und Márcio nahm diese Figuren und machte daraus ein Drehbuch, so ist das Stück „Essa é a Nossa Praia“ entstanden“ (Washington, 1993). Aus dem Krippenspiel entsteht ein Theaterstück mit komplett neuen 273 Identifikationsmustern, ein Stück, das in einem Ambiente angesiedelt ist, das seit Jahrzehnten marginalisiert wird. Die drei Stücke „Essa é a nossa praia“ (1991), „Ó paí, ó“ (1992) und „Bye, bye Pelô“ (1994) erzählen aus unterschiedlicher Perspektive die Geschichte des Pelourinho und seiner Bewohner in drei Phasen: Vor, während und nach seiner Renovierung. Diese Stücke prägen das Image der Gruppe. Die spontan wirkenden Inszenierungen, die flotten Sprüche, die frechen Charaktere sind Ergebnis einer auf Improvisationen basierenden Arbeit. Jeder Schauspieler arbeitet an seiner Figur, seinen Szenen. Einen festen Text gibt es zunächst nicht, ebensowenig einen eindeutigen Handlungsverlauf. Erst bei den Proben wird das gesamte Stück von Meirelles zusammengebaut. „Ich habe angefangen mit den Figuren aus dem städtischen Umfeld zu arbeiten, ausgehend vom Lebensbereich der Schauspieler, obwohl viele von ihnen nicht am Pelourinho wohnen...Zum ersten Mal arbeiten wir mit Personen, für die das Theater keine Schulung der Sprache ist, sondern lebenswichtig und essentiell, um sich in der Welt zu plazieren. Das ist eine langsame Annäherung“ erzählt Márcio Meirelles (A Tarde, Caderno 2, S.01, 24.01.1991). Ganz bewusst versteht Meirelles das Theater als Mittel der Identifikation der marginalisierten Personen. Essa é a nossa Praia wird zum ersten Mal beim FEMADUM, dem alljährlichen MusikFestival Olodums aufgeführt. Fünf Themen stehen im Mittelpunkt: Die Marginalität, die Prostitution, das Mann-Frau-Verhältnis, die Mutterschaft und die Künstler. Die ZuschauerMengen auf dem steilen Pelourinho-Platz reagierten begeistert. Mit diesen Themen konnten sie etwas anfangen. Nach Karneval wurde das Stück dann erstmals in einem Theater vorgestellt, die Presse eingeladen. „Der Unterschied dieser Aufführung zu anderen konventionellen zeigt sich sofort im Zuschauerraum des Espaço Xis. Bewohner des Pelourinho mischen sich mit Touristen, Künstlern, Journalisten und anderem Publikum“ schreibt die Tageszeitung O Correio da Bahia, 22.09.1991. Das Stück des Bando de Teatro Olodum wird ein Riesenerfolg. „Damit explodierte es. Über ein Jahr haben wir das Stück gespielt, ein Publikumserfolg, von der Kritik, den Finanzen. Wir haben angefangen, damit Geld zu verdienen. Wir sind an vielen Orten aufgetreten, haben angefangen durch die Städte im Inland zu reisen. Dann kam die Gelegenheit nach Rio zu reisen“ erinnert sich ein Schauspieler (Washington, 1993). Das neue schwarze Theater machte Furore. Nicht nur musikalisch hatte Olodum Erfolg. Jetzt machten sie auch noch engagiertes Theater. 274 Das zweite Stück der Theatergruppe „Onovomundo“ handelte von den verschiedenen Legenden über den Ursprung der Welt aus Sicht der vier schwarzen Nationen Keto, Jeje, Angola und Caboclo, die ihre Glaubensvorstellungen aus Afrika nach Brasilien brachten. „In der Zwischenzeit machten wir Onovomundo, das über den Candomblé geht. Wir sind in die Terreiros, haben mit den Mães de Santo geredet, mit Wissenschaftlern der afrobrasilianischen Religionen. Dabei entstand Onovomundo, das die Geschichte der Erschaffung der Welt erzählt“ (Washington, Interview, 1993). Bei Kritik und Publikum kam das Stück nicht an den Anfangserfolg heran. „Ó pai ó“ ist das dritte Stück innerhalb eines Jahres des Bando de Teatro de Olodum. „Danach kam O pai, ó, was umgangssprachlich so viel heißt, wie „schau mal da“. Anders als beim ersten Stück wird hier das Leben am Pelourinho nicht auf der Straße, sondern von innen gezeigt: in einem Cortiço, einem der typischen Wohnquartiere, einem Geschäft und einer Bar. „Am Pelourinho schließen die Besitzer ihre Häuser ab und geben sie auf und die, die nichts haben, wo sie wohnen können, besetzten sie und machen einen cortiço. Aber es sind diese Menschen, die bisher verhindert haben, dass der Pelourinho total zusammengebrochen ist“ erklärt Márcio Meirelles (A Tarde, 05.02.1999). Durch das gesamte Stück hindurch zieht sich die quirlige Atmosphäre der Benção, die jeden Dienstag die Straßen des Viertels mit Menschen füllt. Das Stück greift die Polemiken der Veränderungen auf: Einige profitieren davon, andere, zur Schwarzenbewegung gehörende Gruppen, kritisieren dies und bedauern den Verlust eines politischen Raums. Zunehmend kann das Theater dazu beitragen, über alltägliche Situationen zu reflektieren. Es gibt eine Interaktion zwischen den Schauspielern und den Zuschauern. Die Figuren auf der Bühne sind fiktiv, aber einige haben reale Vorbilder. Die Schauspieler kennen den Pelourinho gut, bewegen sich auch in ihrer Freizeit oft in dem Ambiente, das sie auf der Bühne darstellen. Aktuelle Ereignisse können in das Geschehen auf der Bühne integriert werden. Das dritte Stück der Trilogie über den Pelourinho ist „Bye Bye Pelô“. Für die Kritik ist es das Beste der drei Stücke, vor allem wegen der weiter gestiegenen Abstimmung und Interaktion der Schauspieler und des Leiters. (A Tarde, 24.11.1994) Als eine anthropologische Leistung wird die minutiöse Arbeit der Schauspieler bezeichnet, die Verhaltensweisen und Redewendungen der Menschen aus dem Pelourinho-Viertel aufzunehmen und die gekonnte Umsetzung der Typen auf der Bühne. Das Stück kritisiert den Ausschluss der lokalen 275 Bevölkerung bei der Restaurierung. Das tragische Ende mit der Erschießung eines Bettlers, das Ziel war eigentlich ein Musiker Olodums, basiert auf tatsächlichen Ereignissen. Damit schließt der Bando de Teatro Olodum den Zyklus der Stücke, die direkten Bezug zum Pelourinho haben. 1995 wurde ein Buch mit den Stücken vom Pelourinho „Trilogia do Pelô“ herausgegeben. Das Vorwort schrieb der brasilianische Musikstar Caetano Veloso. Erschienen ist es im Verlag Olodum, gesponsert von der staatlichen Chemiefirma Copene. Die Gruppe bearbeitete auch „klassische“ Theaterstücke, mit Vorliebe deutscher Autoren. Zunächst „Woyzeck“ von Georg Büchner (1992), anschließend „Medeiamaterial“ von Heiner Müller (1993) später die „Dreigroschen-Oper“ von Bertold Brecht (1996 und 1998). Dabei behält der Bando de Teatro Olodum die Charakteristik seiner Arbeit mit Improvisationen und Adaptionen an die bahianische Realität bei. „Woyzeck, das war so eine Geschichte. Bisher hatten wir ja unsere eigenen Texte gemacht. Dann kam Márcio mit der Idee Woyzeck zu machen, ein deutsches Stück von Georg Büchner. Wir haben damit angefangen Improvisationen über die Situationen im Text zu machen. ... Nach zwei Monaten, die wir so gearbeitet hatten, kam Márcio, der in Rio den Sommernachtstraum von Shakespeare mit Werner Herzog gemacht hatte. Er gab uns die Texte und dann ging es los. Aber das haute nicht hin. Márcio sagte: Wir müssen das aufgrund unserer Erfahrung machen, aufgrund des Pelourinho, diese Maria gehört dahin, dieser Woyzeck auch, der muss so handeln, als wäre er am Pelourinho...“ (Washington, 1993). So erkennt der Zuschauer im Woyzeck, der übrigens Zé heißt, den hilflosen und vom Schicksal gebeutelten Mann, für den das Verbrechen aus Leidenschaft nicht zu vermeiden ist im Kontext der bahianischen Realität der Straßenfeste, Trommeln und Rhythmen. Aus der Sicht des künstlerischen Leiters Márcio Meirelles stellte sich die Arbeit so dar: „Es gab ein Bedürfnis in der Gruppe mit einem fertigen Stück zu arbeiten, einem Klassiker. Dies ist die erste Tragödie, die die arme Klasse als Protagonisten einsetzt. Die Tragödie von Woyzeck ist es arm zu sein und das ist der Leitfaden des Stücks“ erklärt Márcio Meirelles (A Tarde, Caderno 2, S. 1, 03.02.1993). Die Theatergruppe behält die eigenen Charakteristika auch bei den folgenden Produktionen bei. Mit dem Medeamaterial kommen sie sogar auf die Bühne des wichtigsten städtischen Theaters. „Eine Tragödie mit deutschem Akzent und afro-bahianischer Seele. Das ist die mächtige Chemie der Super-Produktion „Medeamaterial“, die auf der großen Bühne des Teatro Castro Alves Premiere hat“ (A Tarde, Caderno2, S.10, 08.08.1993). Die griechische Mythologie liefert den Stoff für das Stück Medeamaterial von Heiner Müller. Die Hauptrollen 276 Jasons und Medeas spielen allerdings zwei bekannte Schauspieler des Fernsehsenders O Globo, während die 28 Schauspieler des Bando de Teatro Olodum das Volk darstellen. Das Bando de Teatro Olodum hat sich inzwischen als eigenständige Theatergruppe etabliert. „Ich ärgere mich oft über die Kritiken, die behaupten, die Schauspieler des Bando seien keine richtigen Schauspieler, weil sie in den Stücken von ihrem Leben erzählten, das sie immer wieder die gleichen Charaktere darstellen. Die Entwicklung einer Figur ist eine Praxis des populären Theater, wie sie es bereits in der Comédia Del´Arte war“ erklärt Márcio Meirelles (A Tarde , Caderno 2, S. 7, 04.10.1996). Die Vorwürfe und Vorurteile aus den ersten Jahren bei der Gruppe handele es sich nicht um Schauspieler, sondern Individuen, die sich selbst auf der Bühne darstellten, werden durch die Realität ad absurdum geführt. Der Erfolg einzelner Mitglieder, insbesondere Lázaro Ramos, der inzwischen in mehreren Spielfilmen und im Fernsehen zu sehen ist, aber auch Jorge Washington und Cristovão da Silva, die im Fernsehen Rollen übernahmen. „Der Bando hat mir erlaubt mit vielen verschiedenen Situationen zu arbeiten. Es war das Improvisieren, das ich dort gelernt habe, was mir heute hilft. ... Ich repräsentiere Salvador, den Nordosten, schwarze Schauspieler und ich weiß, wie wichtig es ist, eine starke Person zu sein. Als schwarzer Schauspieler aus dem Nordosten hoffe ich, das es so weitergeht, die Leute sind überrascht darüber, wie gut wir sind“ (A Tarde, Caderno 2, S. 1, 30.07.2001). In den Stücken „Zumbi“ (1995) „Erê pra toda vida“ (1996) und „Cabaré da Rrrraça“ (1997) geht es direkt um Fragen schwarzer Identität und Kultur. Die Lebensgeschichte Zumbis, des Anführers des Quilombo von Palmares und historischen Heldes der Schwarzenbewegung wird vom Bando de Teatro Olodum in „Zumbi“ auf der Bühne erzählt. Die Mythen des Candomblé fließen in das darauf folgende, stark vom Tanz geprägte Stück „Erê115 für´s ganze Leben“ ein. „Ich möchte volksnahes Theater machen, das mit der populären Kultur arbeitet, mit unseren Sachen, unserer Sprache. Ich mache Theater innerhalb der afro-brasilianischen Kultur. Das ist das Theater, welches mich interessiert, bei dem du mit den Charakteren des Volkes zu tun hast, mit der Musik, die auf der Strasse gemacht wird, dem jogo de cintura, das du hast... Die Negros haben sich mit unserer Sprache identifiziert“ (Washington, 1993). Mit diesen Stücken nahm der Bando de Teatro Olodum u.a. auch an einem Theaterfestival in London 1995 und am Carlton Dance Festival teil. 115 Als erê bezeichnet man die kindlichen Götter des Candomblé. 277 Das bis heute gespielte „Cabaré da Rrrraça“ nimmt in seine szenischen Darstellungen die aktuellen Polemiken zu Rassismus, schwarzer Identität und afro-brasilianischer Kultur auf. Das Klima ist locker, erinnert an eine Fernseh-Show, bei der das Publikum mit einbezogen wird. Die einzelnen Szenen leben vom Dialog mit dem Publikum und bekommen durch die Interaktion ihre besondere Note. „Wir zeigen die schwarze Kultur, wie sie in den Medien dargestellt wird, als zu konsumierendes Produkt“ erklärt Márcio Meirelles (A Tarde, 07.01.1998). Das Stück erzählt vom Alltag, den Problemen, der Schönheit und dem Reichtum der Afro-Brasilianer. Die einzelnen Sketche werden durch Musiken akzentuiert. So heißt es in einem Rap („Rap do Nego F.“) : „Oh Vagabundo/ Hände hoch/ was machst du denn hier um diese Zeit/Ruhe bewahren, mein Herr, ich kann es doch erklären/ Ich bin Künstler, arbeite an einem Stück/ Singe und tanze und spiele Perkussion/ Ich bin vom Bando de Teatro Olodum/ Ich stehe hier und warte auf den Nachtbus/ Nach Cajazeiras116 2001“. 1998 nimmt der Bando de Teatro Olodum die CD Cabaré da Rrrrraça auf. „Wer das Stück nicht gesehen hat, dem kann diese Platte segregationistisch erscheinen. Es handelt sich um eine Ode an die schwarze Rasse“ schreibt die lokale Tageszeitung (A Tarde, 29.09.1998). Den Schauspielern ist bewusst, welche Rolle die Theaterarbeit in ihrem Leben und für ihre Rolle als Afro-Brasilianer spielt. Viele von ihnen hatten einen Hintergrund in der Kirchen-, Gewerkschafts- oder politischen Arbeit oder in der Schwarzenbewegung. „Meine politische Militanz war immer im Movimento Negro. Wir können nur gewinnen, wenn wir die Kultur und die Bildung nutzen. Weil wenn du jemandem Bildung bringst, dann fängt er an Dinge zu sehen, sich nicht mehr einwickeln zu lassen, keiner spricht mehr für ihn. Wenn ich meinen Neffen mitbringe und der sieht die, Buiú, Mabaco [Namen von Kindern, die zur Theatergruppe gehören], dann will er da auch auf der Bühne stehen, weil er dort ein schwarzes Kind sieht wie er, ein Stern in der Nacht. Wenn ich meinen Bruder mitnehme, meinen Nachbarn, dann sehen die mich und das bin ich. Deswegen gibt das Fernsehen den Schwarzen keinen Raum, weil wenn das passiert, werden Millionen Zuschauer mehr Selbstbewusstsein bekommen. Nur über die Kultur können wir so etwas vermitteln. Francisco Santos, Maler, der in Portugal ausgestellt hat, Bauer Sá, Fotograf, der in Los Angeles eine Ausstellung hatte. Schwarze, die dabei sind, sich für ihre Dinge einsetzen“ (Washington, 1993). Auch für die Sängerin Virgínia Rodrigues wurde das Zusammentreffen mit der Theatergruppe Olodums zum Sprungbrett ihrer Karriere. Inzwischen hat die ehemalige 116 Cajazeiras ist ein Stadtviertel mit fast ausschließlich sozialem Wohnungsbau. 278 Waschfrau mit der voluminösen Stimme bereits drei CDs aufgenommen und Konzerte in Europa und den USA gegeben, wo Bill Clinton zu ihren Fans gehören soll. Für die meisten Mitglieder des Bando de Teatro Olodum war das Theater zunächst eine zwar wichtige, aber keinesfalls professionelle Beschäftigung. Die meisten Schauspieler kommen (wie auch die Musiker Olodums) aus einfachen Familien mit vielen Kindern, wohnen in bevölkerungsreichen Vierteln und arbeiten mit etwas ganz anderem, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. „Ich konnte die Geschichte unserer Familie überspringen, die typisch für eine arme schwarze Familie ist, entweder du arbeitest in einer Werkstatt, oder wirst Polizist, kaum jemand schafft es, bis an die Uni. Mein Vater war gegen das Theater, eine Sache von Schwulen ... Ich bin öffentlicher Angestellter. Ich arbeite beim ... Gesundheitsamt. Ich arbeite dort in der Verwaltung. Ich arbeite dort sechs Stunden am Tag ... Theater aber macht mir Freude, wird mir nie zu viel. ... Ich möchte vom Theater leben, nur Theater machen“ (Washington, 1993). Zu den Zielen bei Gründung des Bando de Teatro Olodum gehörte es auch, mehr AfroBrasilianer ins Theater zu locken. „Das Theater ist kein Raum in dem sich Schwarze normalerweise aufhalten. Das Theater, was ich hier in Salvador mache, verändert das allmählich ein bisschen. Zu unserem Publikum gehören auch die Bewohner des Maciel/Pelourinho, arme Leute, negros, die nicht die Angewohnheit haben, ins Theater zu gehen, aber gehen, weil wir ein Theater spielen, das sie verstehen, das sie motiviert. Auch wenn wir in Rio sind, treten wir an anderen Orten auf, in der Mangueira [einer Favela] oder laden Leute über das CEAP (Centro de Articulação das Populações Marginalizadas) ein. Wir wollen das Theater zu diesen Menschen bringen“ (Washington, 1993). In Zusammenhang mit der Aufführung des Cabaré da Rrrrraça, inzwischen in einem festen Theater des Regisseurs Márcio Meirelles wurden differenzierte Eintrittspreise für schwarze und weiße Zuschauer festgelegt. Die niedrigeren Preise sollten mehr Afro-Brasilianer ins Theater locken. In der Öffentlichkeit provozierte die Aktion heftige Polemiken – und erreichte so das Ziel: die Diskussion über die Präsenz von Afro-Brasilianern im Theater. Die Theatergruppe Olodum existiert bis heute unter der Regie von Márcio Meirelles und Chica Carelli. Inzwischen hat sie ein neues Kapitel schwarzen Theaters in Brasilien geschrieben. Afro-brasilianische Schauspieler spielen afro-brasilianisches Theater. Von ihrer Realität ausgehend zeigen sie einen Teil ihres Alltags auf der Bühne. Ihre Sicht der Dinge 279 unterscheidet sich von der herrschenden (eurozentrischen) Sichtweise, die lange Jahre das brasilianische Theater dominierte. Das Theater ist für die Schauspieler ein Stück Befreiung, ist politische Militanz. Sie sehen deutlich die Möglichkeit, die eigene Geschichte zu verändern. Sie erkennen auch, dass ihr Handeln, Beispiel für andere sein kann. Der Bezug zu ihrer Kultur, das Erkennen der spezifischen Fragestellungen, unterscheidet ihr Theater von anderen. Handelnd, Theater spielend leisten sie ihren Beitrag zu einer anderen Sichtweise der afro-brasilianischen Bevölkerung als Träger von Kultur. Die Blocos Afros hatten das kulturelle Umfeld zur Gründung einer schwarzen Theatergruppe geschaffen, von Olodum gingen die kraftvoll-kreativen Impulse dazu aus. Bisher gibt es keine vergleichbare schwarze Theatergruppe in Brasilien. 280 15. Olodum als Teil der internationalen Schwarzenbewegung Olodum versteht sich von Anfang an auch als eine politische Organisation der Schwarzenbewegung. Sie sind eine Karnevals- und Musikgruppe, aber der Kampf gegen den Rassismus und die Marginalisierung der afro-brasilianischen Bevölkerung gehört untrennbar dazu. Das unterscheidet die Gruppe von anderen Blocos Afros, die sich zunächst nur über die Ästhetik und den Karneval definieren. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie Olodum schon früh lokale politische Aktivitäten mit einer globalen Perspektive verbunden und schon bald einen Platz in der internationalen Schwarzenbewegung erobert hat. 15.1 Malcolm X und Nelson Mandela – die politischen Idole Wer in die Casa de Olodum kommt, ein restauriertes Kolonialhaus in der Rua Gregório de Mattos, der begegnet den Farben und Symbolen der internationalen Schwarzenbewegung. An den Wänden hängen Poster von Bob Marley und Malcolm X, von Nelson Mandela und die schwarz, rot, gelb und grüne Fahne der Rastafari-Bewegung mit dem Löwen. Dazwischen die goldenen und platinen Platten, welche der Gruppe verliehen wurden. Die Restauration des Gebäudes der heutigen Casa de Olodum begann 1987. Eingeweiht wurde der neue Sitz der Kulturgruppe zum 12. Geburtstag der Gruppe am 25.04.1991. Die Entwürfe des Baus stammen von der renommierten Architektin Lina Bobardi, die bereits andere Projekte für die Stadt Salvador gestaltet hat. Von außen ähnelt das Gebäude den anderen zweistöckigen Kolonialhäusern in der Strasse, von innen überwiegt eine moderne Betonarchitektur. Im unteren Bereich gab es lange Zeit eine Bar, inzwischen sind hier Vitrinen mit Stücken aus der Boutique Olodum aufgestellt. Auf halber Höhe gibt es zwei winzige Büroräume und Toiletten. Fast den gesamten ersten Stock nimmt ein großer Gemeinschaftsraum ein, das Auditório Nelson Mandela, an den sich zwei kleine Büroräume anschließen. Olodum war der erste Bloco Afro, dem es gelang ein richtiges Haus für seine Aktivitäten zu bekommen. Begünstigt wurden sie dabei von der Lage im Pelourinho-Gebiet, zu verdanken ist es aber vor allem ihrem geschickten Umgang mit der lokalen Verwaltung und der Beziehung zu Paul Simon, der sie finanziell dabei unterstützte. „1986 war ich hier vor der Casa de Olodum, zum Beispiel, um drei Uhr morgens, in einer Ruine. Ich war in der Ruine, es gab einige Stockwerke aus Holz und um drei haben wir uns hier getroffen, ich und Euzébio(...) und die Jungen der Banda, und haben hier Holz geholt um 281 den Allegoriewagen zu machen...Und dann plötzlich, ein Jahr später, zwei Jahre später, hatten wir ein Niveau erreicht, das war verrückt. Plötzlich sind wir international bekannt, ... die Presse aus der ganzen Welt kam wegen uns hierher, um zu sehen, was wir machen, was es für eine Arbeit ist, wie wir das machen, das ist Wahnsinn, die Musik, der Gesang ... Und heute siehst du hier unser eigenes Haus, unser Haus, unser Raum und dann kamen die anderen Dinge dazu und wir erreichten etwas. Dann siehst du, wie wir überall bekannt wurden, diese vielen Faxe, die Zeitung, die Presse, die Informationsmaterial von uns möchte. Wir hatten keine Druckerei, wir waren nicht darauf vorbereitet, verstehst du?“ (Peter Leão, 19.12.1995, zitiert nach Nunes, 1997, S. 17). Die Casa de Olodum ist das Hauptquartier, das die Ideen Olodums verbreitet, aber auch unermüdlich Kontakte knüpft. „Olodum wurde dann zu einer Kulturgruppe, die den Karneval als eine Kultur verstand, die wir das ganze Jahr über verbreiten wollten. Wir fingen an, die Postillen zu machen, nicht nur für die Komponisten, auch für die Direktoren, die Freunde. Wir haben dann nicht mehr nur Karneval gemacht, sondern auch begonnen uns mit der Musik zu beschäftigen... “ erzählt eine der Direktorinnen (Cristina, 1993). Seit 1983 hat Olodum immer wieder eigene Flugblätter, Mitteilungen, Zeitungen herausgebracht. Während es anfänglich nur beidseitig kopierte Din-A-4-Zettel waren, die mit Infos über die Proben oder Liedtexten erschienen, wurden mit den Jahren daraus mehrseitige kleine Hefte, in denen es neben den Aktivitäten der Gruppe, viele Informationen zur nationalen und internationalen Schwarzenbewegung gibt. Die erste Ausgabe des „Jornal do Olodum“, erscheint zum Geburtstag der Gruppe im April 1993. Auf dem Titel ist die Casa do Olodum und das Peace-Zeichen mit den Olodum-Farben zu sehen. Die monatlich erscheinende Zeitung in Din-A3-Format erscheint mit einer Auflage von 5000 Exemplaren, die in der Casa de Olodum und der Escola Criativa ausliegen. Zu den Themen dieser Ausgabe gehören zum Beispiel: Die Tanzgruppe (Companhia de Dança) hat am XXV Internationalen Festival in Londrina im Süden Brasiliens teilgenommen; die Theatergruppe (Bando de Teatro Olodum ) plant die Uraufführung des Stücks Medeamaterial von Heiner Müller in Belo Horizonte; der Prinz der Elfenbeinküste besucht Olodum; Auszug aus der Verfassung des Staates Bahia mit dem Kapitel Do Negro, Bericht über Malcom X; Start der Kampagne 300 Jahre Zumbi dos Palmares; Liedtexte; Programm des Monats; Portrait eines Mitglieds; Bericht über die Escola Criativa Olodum.. Diese Flugblätter und Zeitungen waren das wichtigste Medium zur Verbreitung der politischen Ideen. Auch wenn viele Bewohner des Pelourinho-Viertels nicht lesen und 282 schreiben konnten, so konnten sie doch die Symbole erkennen (den Löwen der RastafariBewegung, die Farben des Panafrikanismus) und die Fotos anschauen von Afro-Brasilianern, die an Diskussionsrunden teilnehmen, auf Reisen gingen und Kultur machten. Sie sahen ein anderes Bild, als das in Brasilien weit verbreitete des angeblich apathischen, passiven Schwarzen. Mit diesen Materialien verbreitete Olodum auch bewusst die von ihnen gemachte Arbeit, verschickte Flugblätter und Zeitungen an politische Vertreter und Meinungsträger aller Art. „Wir bemühten uns, Kontakte mit anderen Gruppen herzustellen, im Land und außerhalb, immer ausnutzend, was die einzelnen für Kenntnisse hatten, so wie JJ und ich, die schon vom MNU kamen. ...Wir zeigten Videos, machten ein Festival über Zumbi dos Palmares, über die Revolta dos Buzios, die Malês. Dann begannen die Reisen, erst von einzelnen Leuten, JJ fuhr nach Afrika, Neguinho fuhr nach Afrika, Katia nach Kuba, Tom nach Frankreich. Und wer fuhr, sprach von der Gruppe. Wir hatten immer viel Papier dabei, mit Texten, was wir machten“ erzählt eine der Direktorinnen (Cristina, 1993). Olodum betreibt aktives networking, sucht den Kontakt zu anderen Nicht-RegierungsOrganisationen, wie zum Beispiel auch Amnesty International oder SOS Racisme. Als Amnesty eine große Kampagne gegen die Todesstrafe startet, veranstaltet Olodum eine Diskussionsrunde zum Thema. Als einer der Direktoren 1990 angeschossen und 1995 ein Trommler erschossen wird, bekommt Olodum durch Amnesty internationale Unterstützung. Einer der Höhepunkte für die Mitglieder Olodums ist der Besuch Nelson Mandelas 1991 in Salvador. Mit einer großen Show auf der Praça Castro Alves wird der meist verehrte Held der internationalen Schwarzenbewegung gewürdigt. Olodum spielt die Hymne des Afrikanischen National Kongresses „Nkosi Sikelel I África“ und João Jorge rezitiert das von ihm geschriebene Gedicht zu Ehren Nelson Mandelas, das 1989 auf der dritten Platte aufgenommen wurde. „Er ist gefangen/aber er symbolisiert die Freiheit für sein Volk/er darf nicht sprechen/aber das gesamte Volk hört seine Stimme/er darf nicht fotografiert oder gefilmt werden/ aber das gesamte Volk spürt seine Gegenwart/er wird die Freiheit gewinnen/ durch den Kampf, die Organisation und die Kraft seines Volkes/ Sein Name, Nelson Mandela“. Die Sängerin Olodums, Tânia Santana, seit 1991 bei der Gruppe, erinnert sich: „Der wichtigste Moment meiner Karriere war es, zusammen mit Margareth Menezes vor mehr als 80.000 Menschen auf der Praça Castro Alves zu singen zu Ehren Nelson Mandelas“ (Santana, 1994). Zwei Jahre zuvor hatte Olodum zusammen mit anderen Gruppen der Schwarzenbewegung bereits Bischoff Desmond Tutu auf dem Pelourinho empfangen. 283 Wie kein anderer steht Nelson Mandela für den Kampf gegen Rassismus und Apartheid. Die Situation in Südafrika ist jahrelang eine Referenz für den Protest der Afro-Brasilianer. Die Identifikation mit einem afrikanischen Land liegt noch näher als mit den Schwarzen in den USA. Nelson Mandela ist schon zu Lebzeiten zu einem Mythos geworden. Sein Besuch ist auch für die Afro-Brasilianer ein Zeichen, dass sich die Verhältnisse ändern können. Neben den kulturellen Aktivitäten betreibt die Grupo Cultural Olodum das ganze Jahr über Bewusstseinsbildung. In der Casa de Olodum werden Diskussionen und Seminare zu aktuellen sozialen Fragen, historischen Gegebenheiten oder komplexen Themen wie Religion veranstaltet. Zum ersten Mal veranstaltete Olodum 1991 ein mehrtägiges Seminar, bei dem über die verschiedenen Religionen diskutiert wurde. Zu der Veranstaltung „Você sabe a cor de Deus?“ („Kennst Du die Farbe Gottes?“) wurden Intellektuelle ebenso wie Würdenträger des Candomblé oder andere Geistliche, als Sprecher eingeladen. Ein Teil der Direktoren Olodums haben einen Bezug zur Menschenrechts- und Gewerkschafts-, aber auch zur Frauenbewegung. Die Rolle der Frau ist ein Thema, das insbesondere die Frauen Olodums beschäftigt. Eine Zeit lang treffen sich die Frauen der Gruppe regelmäßig, um über ihre Situation als afro-brasilianische Frauen zu diskutieren. Zu den mehrtägigen Seminaren mit dem Titel „Mãe, Mulher, Maria“ („Mutter, Frau, Maria“) werden Vertreterinnen der Schwarzenbewegung aus ganz Brasilien eingeladen. Der internationale Frauentag am 8. März ist fast immer Anlass einer Veranstaltung. Der Anspruch ein anderes Frauenbild zu fördern, zeigt sich auch bei der Wahl der Repräsentantin des Bloco im Karneval. Während bei den anderen Blocos Afros die ästhetischen Aspekte im Vordergrund stehen, geht es bei der Wahl der Frau Olodums, um etwas anderes. Schon die Bezeichnung „Mulher Olodum“ soll dies zum Ausdruck bringen. „Wir wollen ein moderner Bloco Afro sein“ sagt der Präsident (JJ 1994 anlässlich der Wahl Mulher Olodum). „Wir wollen keine Schönheitskönigin. Wir wollen eine moderne Frau, die denken kann und für ihre Rechte eintritt, aber auch tanzen kann“. Die Kandidatinnen müssen nicht nur ihre Schönheit und tänzerischen Qualitäten auf der Bühne präsentieren, sondern im Vorfeld auch einen Fragebogen ausfüllen, in dem sie ihr Wissen über Olodum und die Schwarzenbewegung unter Beweis stellen müssen. Darin werden sie nach ihrem sozialen und politischen Engagement gefragt und ihren Ideen zur Rolle der Frau und Rassismus. Darüber hinaus müssen sie zu komplexeren Fragen Stellung nehmen, wie zum Beispiel der politischen Situation Brasiliens oder der Agrarreform, und sich zu Themen äußern, mit denen sich 284 Olodum beschäftigt, wie zum Beispiel Abtreibung oder der Todesstrafe. Die Fragebögen sind für die Vorauswahl der Kandidatinnen innerhalb Olodums von Bedeutung. Diese Vorgehensweise zeigt deutlich den Anspruch Olodums Bewusstseinsbildung zu machen. Das sich dieses Anliegen nicht unbedingt mit den Vorstellungen der Kandidatinnen deckt, zeigte sich in den Antworten. Fast zwei Drittel der 41 Kandidatinnen (64%) zur Mulher Olodum 1994 bewarben sich, weil ihnen die Gruppe wegen ihrer Musik und dem Tanz gefiel, nur 31% der Kandidatinnen erwähnten außerdem das Fehlen rassischer Diskriminierung bei Olodum bzw. das Engagement der Gruppe im Kampf gegen den Rassismus als Motiv der Teilnahme am Wettbewerb. Die sich hier andeutenden unterschiedlichen Sichtweisen Olodums sind vermutlich typisch für eine derart komplexe Gruppe, die kulturelles mit politischem Engagement verbindet. Weder werden im Umkreis Olodums alle Musiker, Tänzer etc. politisches Bewusstsein haben, noch alle politisch interessierten Mitglieder auch singen, trommeln oder tanzen. Den Anspruch politisches Bewusstsein zu vermitteln, haben bei Olodum vor allem ein Teil der Direktoren, insbesondere der langjährige Präsident und seine Schwester, aber auch die Leute in der Escola Criativa. Sie gehören zu einer anderen Generation (geboren Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre), wie zum Beispiel die Kandidatinnen und die meisten Trommler, die um die 20 Jahre alt sind. Die 41 Kandidatinnen wurden auch nach Persönlichkeiten der Schwarzenbewegung gefragt. Die Persönlichkeit, zu der die Kandidatinnen des Wettbewerbs den größten Bezug hatten, war Nelson Mandela. 73% der Kandidatinnen gaben eine zumindest ungefähr zutreffende Antwort, wie „politischer Aktivist“ oder „Schwarzenführer“. Die Mehrheit von ihnen aber beschrieb ihn als „Mann, der gegen die Apartheid kämpft“ oder „schwarzen Revolutionär aus Südafrika“. Immerhin fast ein Drittel der Kandidatinnen kannte auch Benedita da Silva (32%), Spike Lee (32%) und Desmond Tutu (27%). Der Bekanntheitsgrad Mandelas zeigt deutlich, die Bedeutung dieser Person für die Menschen im Umfeld Olodums und der brasilianischen Schwarzenbewegung. Olodum bemüht sich um Einflussnahme in der Politik, ohne dabei parteipolitisch festgelegt zu sein. Deutlich ist das Engagement zugunsten der linksorientierten Parteien, insbesondere der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) , die in der Person Luiz Alberto dos Santos einen der schwarzen Militanz verpflichteten Kandidaten haben. Olodum betont die Opposition zur mächtigen konservativen Partei PFL (Partido da Frente Liberal), die 1992 an 285 die Regierung des Bundesstaates kommt. Zwar macht die Gruppe als Aushängeschild des Pelourinho Werbung für die restaurierte Altstadt und Bahia als Tourismusziel, WerbeKampagnen für die konservative Partei machen sie jedoch nicht. Darin unterscheidet sich Olodum von anderen Blocos Afros wie Ilê Aiyê oder Malê Debalê, die im Wahlkampf direkt für die konservative Partei werben. Das Wohlverhalten wurde von der konservativen Regierung mit der Finanzierung der jeweiligen Vereinssitze in Curuzu und an der AbaetéLagune belohnt. Nicht immer wird diese politische Linie von allen Mitgliedern und Direktoren gleich befolgt. Ein Zwischenfall dokumentiert dies: Im September 1992 präsentierte sich die Banda Olodum bei einer Wahlkampf-Veranstaltung des konservativen Kandidaten Paulo Maluf (PDS) in São Paulo. Als der Präsident und andere Direktoren davon erfuhren, kam es zum Krach. Eine Woche später gab Olodum die Gage von 10.000 US$ zurück und entschuldigte sich öffentlich (Veja Bahia, 30.09.1992). In den Kreisen der Schwarzenbewegung hatte die Show Olodums für den konservativen Kandidaten Maluf zu starken Protesten geführt. Die Glaubwürdigkeit Olodums als politische Gruppe war durch die Show in Frage gestellt worden. Die Episode zeigt aber auch noch etwas anderes: Es handelt sich bei den damals 27 Direktoren Olodums nicht um eine homogene Gruppe, sondern um viele verschiedene Meinungen. Durch ihr politisches Engagement wird Olodum mehr und mehr zu einem ernst zu nehmenden Vertreter der Schwarzenbewegung. Mitglieder Olodums äußern sich auf Diskussionsveranstaltungen oder nehmen zusammen mit anderen Vertretern der Schwarzenbewegung an Anhörungen in den politischen Gremien teil, auf lokaler Ebene in der Abgeordneten-Versammlung Salvadors, aber auch auf nationaler Ebene in Brasília. Als Präsident Fernando Henrique Cardoso die Interministerielle Kommission für die Rechte von Schwarzen in Brasília einrichtet, ist eines der Mitglieder ein Vertreter Olodums. Das ist nicht nur ein Erfolg für Olodum, sondern auch für die kulturelle Bewegung aus Bahia, die im nationalen Kontext lange mit dem Stigma des Nordostens behaftet war. Ein früherer Direktor Olodums arbeitet in der Stiftung Palmares. Zusammen mit der UNEGRO (União de Negros pela Igualdade) und der Vereinigung der Lehrer gehörte Olodum zur Gruppe, die eine entscheidende Rolle bei der Verabschiedung der Aufnahme eines Kapitels über „O Negro“ 117 in die Verfassung des Bundesstaates Bahia 1989 spielt. 117 In den fünf Artikeln des Kapitel XXIII wird der Rassismus unter Strafe gestellt, die diplomatischen Beziehungen zu Ländern, in denen rassische Diskriminierung offiziell praktiziert wird, untersagt, die Aufnahme der Rolle der Afro-Brasilianer in der Gesellschaft in die Unterrichtsinhalte des öffentlichen Bildungswesen, 286 Mit dem zunehmenden Erfolg Olodums wird die Presse- und Öffentlichkeits-Arbeit der Gruppe immer wichtiger. In- und ausländische Journalisten gehen in der Casa de Olodum ein und aus, in den verschiedensten Medien erscheinen Interviews und Berichte über Olodum, über Ziele und Veranstaltungen der Gruppe. Zu den Höhepunkten in Brasilien zählt das Interview mit João Jorge Rodrigues auf den gelben Seiten der Zeitschrift Veja 09.06.1993 und das Gespräch mit Jô Soares in der abendlichen Talk-Show. Das fast eine gesamte Seite einnehmende Interview mit João Jorge in der New York Times vom 12.04.1993 hängt bis heute gerahmt im Büro des Präsidenten der Gruppe. Inzwischen ist Olodum so bekannt, dass sich der Gruppe neue Möglichkeiten der Verbreitung ihrer Arbeit bieten. Politische Vertreter werden in die Casa de Olodum eingeladen und möchten die Arbeit der Gruppe kennen lernen. Botschafter verschiedener Länder werden hier empfangen, vieler Länder Afrikas, aber auch Repräsentanten Kubas und Chinas. Auch Führungspersönlichkeiten der Industrienationen der westlichen Welt wie Hillary Clinton 1994 oder sogar der Königsfamilien wie Königin Sofia von Spanien besuchen die Grupo Cultural Olodum. Kaum ein Seminar zu Fragen der Rassenbeziehungen, findet ohne einen Repräsentanten Olodums statt. Auch auf internationalem Niveau wird die Kulturarbeit ausgeweitet. João Jorge, der zusammen mit anderen afro-brasilianischen Persönlichkeiten auf Einladung der Ford-Foundation118 die USA besucht, wird 1991 Ehrenbürger Atlantas, das von einem schwarzen Bürgermeister regiert wird. João Jorge hält Vorträge an amerikanischen Universitäten oder im Berliner Haus der Kulturen. Er nimmt 1993 am Seminar „Brasil, Culture and Race“ der Universität von Florida in Gainsville teil. Auch 1994 wird er wieder in die USA eingeladen, um Kontakte mit Universitäten, Menschenrechtsgruppen und Organisationen der African-Americans zu machen. In den USA treffen die Ereignisse in Bahia auf großes Interesse. Dort hat die Affirmative Action eine schwarze Mittelschicht hervorgebracht, die auch auf der Suche nach ihren Wurzeln und kulturellen Neuigkeiten ist. sowie die Aufnahme von Afro-Brasilianern in die staatliche Werbung verankert und der 20. November als Dia da Consciência Negra festgelegt. 118 Die Ford-Foundation fördert bis heute Personen und Institute, die sich mit den Rassenbeziehungen in Brasilien beschäftigen. 287 Abschließend soll ein Ereignis geschildert werden, das von ganz besonderer Bedeutung für die Beziehungen zwischen den schwarzen Kulturen Bahias und der USA ist. 15. 2 „They don´t care about us“ - Video Clip mit Michael Jackson Einer der Höhepunkte der Geschichte Olodums ist das Zusammentreffen mit Michael Jackson und Spike Lee auf dem Pelourinho. Michael Jackson hatte den schwarzen Filmemacher Spike Lee zur Produktion seines neuesten Video-Clips engagiert. Am Pelourinho war Spike Lee durch seine Filme, insbesondere Malcom X, zu einem Idol der jungen Afro-Brasilianer geworden. Der Vorschlag am Pelourinho zu filmen kam von Spike Lee, der über Paul Simon bereits sechs Jahre zuvor Kontakt zu Olodum hatte. „Es war schwierig für uns Spike Lee kennen zu lernen. Wir hatten immer nur von ihm gehört. João Jorge war ganz aufgeregt, erfreut, als er erzählte, dass er mit Spike Lee ein Treffen ausgemacht habe. Das war super“ (Neguinho do Samba, 1994). Aufnahmen für das Musikvideo „They don’t care about us“ werden auf dem Pelourinho in Salvador und der Favela Dona Marta in Rio de Janeiro gemacht - zwei symbolische Orte schwarzen Selbstbewusstseins in Brasilien. Ein bedeutsamer Moment für die brasilianische Schwarzenbewegung: „Für meine Generation in Salvador, die gelernt hatte in den Jackson Five eine Referenz zu sehen, schwarze Jungs mit Black-Power-Haarschnitt und feinen Gesten, ... wird es eine Überraschung sein ihn jetzt in der Hauptstadt der negritude brasileira zu treffen, embranquecido und jedes Mal mehr angebetet. Und wie durch eine Ironie des Schicksals kommt Michael Jackson begleitet von Spike Lee, dem erfolgreichsten und polemischsten schwarzen Filmdirektor des amerikanischen Kinos“ sagt João Jorge im Interview (JJ in FdSP, 9.2.1996). Salvador erliegt zwei Tage lang dem Michael Jackson Fieber. Die Casa de Olodum wird zum Hauptquartier des Filmteams. Hier gibt Spike Lee eine Pressekonferenz zu der mit Senatorin Benedita da Silva und dem Abgeordneten Antônio Pitanga aus Rio de Janeiro auch bekannte Vertreter der brasilianischen Schwarzenbewegung angereist sind. In Rio waren die Dreharbeiten von der Stadtverwaltung zunächst mit dem Argument verboten worden, dass das 288 Szenarium einer brasilianischen Favela als Hintergrund einer Musik, in der es um Polizeigewalt und Unterdrückten ginge, die Rechte der Favelabewohner verletze.119 Die Dreharbeiten auf dem Pelourinho mit Michael Jackson und 200 Trommlern Olodums verlaufen unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen und mit einem großen Polizeiaufgebot. Noch wochenlang werden in der Tagespresse die Dreharbeiten interpretiert. Selbst die Folha de São Paulo schickt eine Reporterin und lässt die Einzigartigkeit des Moments schildern – in der auch rassistische Untertöne nicht fehlen: „Salvador erlebt eine festa negra. Die offizielle Begrüßung ist der amerikanische ‘brother’ oder der bahianische ‘irmão’. Das Team von Lee erdrückend schwarz und männlich - trägt eine ostentative Präferenz für Mulattinnen und negras zur Schau. Die Weißen bleiben im zweiten Glied, aber das ist nichts Neues in Bahia, wo es negros gibt wie Kokospalmen, wie Palmöl, natürliche Gaben der Erde“(FdSP, 10.02.1996). Die delikate Frage nach der schwarzen Identität Michael Jacksons wird von Olodum ebenso wenig thematisiert, wie seine vermeintlich päderastischen Tendenzen. Es überwiegt der Glanz des Weltstars. Inzwischen ist der Video-Clip fertig. Das Kuriosum: Es gibt zwei Versionen beide gemacht von Spike Lee. In der einen Version Bilder aus US-Gefängnissen, Gewalt, Referenz an Führer der Schwarzenbewegung, ein gestylter Michael. In der ‘brasilianischen’ Version die Trommler von Olodum, Sobrados, ein verschwitzter Michael Jackson, der die Polizisten als Kulisse nutzt, begeisterte Fans auf Faveladächern. Der eine Clip ist dramatisch, in hartem schwarz-weiß-blauem Licht, aufwendig zusammengeschnitten aus einer Vielzahl verschiedensten Filmmaterials, der andere ist natürlich, leicht, tänzerisch, im hellen warmen Sonnenlicht gedreht und technisch relativ einfach, mit Olodum im Vordergrund. Einige Tage nach den Aufnahme wurde im Fantástico, dem wichtigsten Reportageplatz des mächtigen Fernsehsenders Globo die brasilianische Version des Clips gezeigt, angereichert mit Filmaufnahmen aus Salvador und Rio de Janeiro. Der Tanz Biras, des Trommlers aus der Banda Show und das Interview mit ihm, in dem er sagt „Ich danke Gott, ich danke Olodum für diesen Moment in meinem Leben.....“Dazu wird ein Interview mit Spike Lee ausgestrahlt. Wenige Tage später kommt Olodum in der Video Show wieder in die Primetime des Fernsehsenders Globo. In dem Beitrag wird nicht nur die Banda, sondern auch die Boutique, die Fábrica und die Escola Criativa gezeigt. Kurz darauf zeigt Xuxa die Banda Mirim den kleinen Brasilianern. 119 Auch der farbige Sport-Minister, Pelé, fürchtet negative Auswirkungen des Clips bei der Kandidatur Rio de Janeiros für die Ausrichtung der olympischen Spiele im Jahr 2004. 289 Für Olodum haben sich die Dreharbeiten mit Michael Jackson gelohnt. a) Finanziell: Olodum hat nach offiziellen Angaben rund 40.000 US-Dollar, sowie sechs Computer für ECO bekommen. Die Trommler erhielten für die Aufnahmen 175 Reais. Nach der Ausstrahlung der brasilianischen Variante des Videoclips im Fantástico explodieren die Verkaufszahlen der T-Shirts der Fábrica de Olodum, die Michael Jackson bei den Dreharbeiten in Salvador und Rio getragen hat (A Tarde, 31.3.1996).120 Innerhalb kürzester Zeit sind die drei verschiedenen Modelle und die Weste die Michael Jackson trug, ausverkauft. Auch Spike Lee hatte 100 T-Shirts gekauft. Die Fábrica de Carnaval konnten keine Hemden nachliefern, so gingen die Touristen gingen leer aus (Fagundes, 1997, S.116). b) Popularitätssteigernd: Olodum, nach den mageren musikalischen Erfolgen der letzten zwei Platten fast gänzlich aus den Medien verschwunden, wurde in den besten Sendezeiten und den wichtigsten Programmen (Fantástico) gesehen. Dazu João Jorge: „Es war nötig, dass Michael Jackson seine Anwesenheit während der Aufnahmen bestätig, damit die Leute unsere Arbeit kennen lernen“(FdSP, 08.02.1996). c) Der ideelle Wert: Der Weltstar Michael Jackson tanzt mit den Trommlern Olodums auf dem Pelourinho. Individuell ein bewegendes Erlebnis121, aber auch für die schwarze Bewegung ein Symbol: „Die Solidarität und Bruderschaft der afrikanisch-amerikanischen Gemeinschaft hatte ebenfalls ihren feierlichen Moment. Der Ort, wo der Pelourinho war, der Schandpfahl, wurde eingenommen von den Trommeln Olodums... Er (Michael) tanzte und inszenierte und begleitete den Trommler und seine Trommel preisend im Herzen des Pelo“ kommentiert der Kenner afro-brasilianischer Kultur Marco Aurélio Luz (A Tarde, 16.3.1996). „Die schwarze internationale Gemeinschaft ist nach Olodum, Spike Lee und Michael Jackson nicht mehr dieselbe. Olodum, Spike Lee und Michael Jackson haben die Kraft der Schwarzen Panther, Malcolm X’, Martin Luther Kings, des Movimento Negro Unificado und der Sektoren, die uns in unserem Kampf gegen die rassische Diskriminierung in den Vereinigten Staaten und Brasilien vorausgegangen sind, geerbt“ kommentiert der ehemalige Präsident Olodums in der Folha (FdSP, 09.02.1996). Dieses Zitat ( und der Ort, wo es steht) konzentriert wie bereits erwähnt die wichtigsten Elemente für den Aufstieg Olodums vom lokalen Bloco Afro zur international bekannten Musikgruppe und Repräsentanten der Schwarzenbewegung: die Identifizierung mit der internationalen Schwarzenbewegung, der 120 Werbewirksam spendet Olodum 800 Hemden, wie sie Michael getragen hat, einer Creche (A Tarde, 7.4.96). 121 Bira, der im Mittelpunkt stehende Trommler, dankt im Beitrag des Fantástico „Gott und Olodum“ für diesen Moment . 290 Bezug zu den schwarzen, importierten Idolen, die Gleichsetzung mit ihnen und die Selbstüberschätzung. Der Name Olodum wird nicht nur in einem Atemzug mit dem Namen des Megastars Michael Jacksons genannt, sondern diesem vorangestellt. Und: Das Zitat erscheint in der renommiertesten Tageszeitung Brasiliens. Selbstüberschätzung oder nicht, João Jorge bringt zum Ausdruck, welche Bedeutung die Aufnahme für Olodum hatte. Da ist zunächst die Symbolik des Aktes: Michael Jackson trägt die Farben Olodums. Da ist aber auch das zunehmende Prestige der Gruppe in der schwarzen Welt-Gemeinde. Dabei ist diese „Comunidade negra mundial“ im Sinne Andersons zu verstehen „als eine imaginäre politische Gemeinschaft, deren Mitglieder sich ebenso wenig kennen wie in der kleinsten Nation die Menschen die Mehrheit ihrer Mitbürger kennen, aber in deren Köpfen jedes einzelnen es das Bild dieser Gemeinschaft gibt“ (Anderson, 1983, S.23). Die Grupo Cultural Olodum hatte einen Platz in dieser schwarzen Gemeinschaft erobert. Damit wurden auf einem internationalen Niveau auch die Rassenbeziehungen in Brasilien sichtbar. 291 16. Olodum – ein schwarzes Kulturunternehmen Mit dem musikalischen Durchbruch entwickelte sich die Grupo Cultural Olodum zunehmend zu einer „holding cultural“ (Dantas 1994), einem diversifiziertem Kulturunternehmen. Mit der Diversifizierung des Angebots unter dem eigenen Dach - zunächst mit der Boutique und der Karnevalsfabrik - geht der Karnevalsverein neue Wege. Der Samba-Reggae und der Karneval werden Produkte. Es wird versucht das Etikett Olodum zu vermarkten - egal, ob es sich um TShirts, Shampoo, Schlüsselanhänger oder Aschenbecher handelt. Zusätzlich zu den Einnahmen aus dem Musik- und Karnevalsgeschäft sollen dadurch die sozialen und politischen Projekte Olodums finanziert werden, aber auch Arbeitsplätze und Einkommen für die im Pelourinho-Viertel ansässige Bevölkerung geschaffen werden. Die sozialpolitische Komponente Olodums spielt auch bei der unternehmerischen Tätigkeit eine wichtige Rolle. Die wichtigsten Einrichtungen sind die Boutique Olodum 1991 und die Eröffnung der Fábrica de Carneval 1994, aber auch der Vertrag mit der Bradesco-Bank, die 1994 die Kreditkarte Olodum lancieren, und das Franchising. Das Kapitel 16 beschäftigt sich mit Olodum als „schwarzem“ Unternehmen. Einfallsreichtum und unternehmerisches Geschick stehen in einem Spannungsverhältnis zum schnellen Wachsen der Aktivitäten und der Intransparenz der Entscheidungsstrukturen. Die Veränderungen durch die Restaurierung des Viertels und die Dynamik des Marktes beeinträchtigen die Arbeit Olodums. Dennoch: Olodum ist tatsächlich eines der wenigen schwarzen Unternehmen Brasiliens. 16.1. Das Kultur-Unternehmen Olodum ist einer der ersten Blocos Afros, der versucht sich über den Karneval hinaus als Marktteilnehmer zu agieren. Sie versuchen damit den Kreislauf zu durchbrechen, der bei den Blocos zwar die Meriten für die kulturelle Arbeit sieht, deren finanzielle Beteiligung an der Kulturproduktion jedoch gering bleibt. „Die Musik und die Tänze werden von den Menschen der Blocos Afros gemacht, finanziell bleibt uns jedoch wenig davon. Wer mit den Rhythmen verdient, sind die Musikgruppen der Trios, die Tanzlehrer der Fitness-Studios der Strandviertel und einige wenige andere“ (Vovô, Interview 1992). 292 16.1.1 Die Boutique Olodum „Die Idee der Boutique, die kam von João Jorge, eine Idee, die er von Malcolm X und anderen schwarzen amerikanischen Organisationen übernommen hatte, die ...ihre Arbeit sozialisierten, indem sie T-Shirts, Gegenstände nutzten und die Kultur über die Marke verbreiteten“ (Peter Leão, 19.12.1995 zitiert nach Nunes, 1997 S. 101). Am Pelourinho-Platz, dort wo früher die Gruppe ihren Sitz hatte, war seit 1991 die Boutique Olodum untergebracht. Sie lag im ersten Stock eines historischen Sobrado-Hauses.122 Von den Balkonen hatte man einen privilegierten Blick über den ganzen Pelourinho-Platz. In der Boutique wurden die verschiedensten Artikel der Marke Olodum verkauft: CDs , aber auch TShirts, Baseball-Mützen, Shorts, Schlüsselanhänger - alles mit dem Logo Olodums. Dazu gab es noch eine kleine Auswahl an Büchern und Postern zu Themen afro-brasilianischer Kultur. Die Boutique wurde hauptsächlich von Touristen besucht, die ein Andenken aus dem Urlaub in Bahia mit nach Hause nehmen wollten. Die beste Werbung für die Produkte Olodum machte die Show-Gruppe. Jedes Mitglied der Banda Show trägt bei den Auftritten in der Afrikan Bar und auf den Tourneen Kleider in den Farben Olodums. Früher war die Kleidung der Trommler stärker vereinheitlicht, heute ist ihnen das Styling freigestellt. Einige Trommler lassen sich extra Hemden und Hosen für die Shows entwerfen. Die Touristen sehen diese bei den Auftritten und kommen in die Boutique, um sie zu kaufen. Besondere Wirkung hatte, wie bereits erwähnt, der Auftritt Michael Jacksons in drei verschiedenen Olodum T-Shirts und Weste, die innerhalb weniger Tage ausverkauft waren. Anfang der 90er Jahre war die Boutique der einzige Ort in Salvador, wo Olodum-Artikel zu kaufen waren. „Aus der Sicht Olodums als Unternehmen ist dies der Raum, der am besten die Beziehung zwischen schwarzer Bewegung und Konsum darstellt. Es ist nicht nur ein Ort, an dem eine Marke kommerzialisiert wird, sondern wo das ethnische, die schwarze Kultur, eine Identität verbreitet wird“ (Nunes, 1997). Der britische Soziologe Mike Featherstone, der sich mit der Logik des Konsums in den modernen Gesellschaften beschäftigt, lenkt die Aufmerksamkeit auf das Angebot symbolischer Güter in den modernen Gesellschaften, die sich auch auf die Beziehungen zwischen Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft auswirken. Die symbolischen Assoziationen, die mit dem Konsum von Gütern verbunden sind, drücken auch unterschiedliche Lebensstile aus (Bourdieu, 1995 S.35). Die Verbreitung und Kommerzialisierung der Marke Olodum ist 122 Heute funktioniert die Boutique im Erdgeschoss der Fábrica de Carnaval. Vitrinen gibt es auch im Erdgeschoss der Casa de Olodum. 293 ein gutes Beispiel für ein „symbolisches Gut“. Die Käufer eines Olodum-Hemdes erwerben nicht nur ein T-Shirt, sie demonstrieren damit auch eine gewisse Haltung, einen Lebensstil. Da es sich bei vielen der Käufer um Touristen handelt, wird ihnen das Olodum-T-Shirt bei der Rückkehr nach Rio oder São Paulo außerdem einen gewissen Status einbringen und u.U. Sehnsüchte bei anderen nach dem exotischen Ort hervorrufen. Mit dem Erfolg Olodums wurden die Olodum-Artikel (vor allem T-Shirts) nicht nur in der Boutique, sondern auch an anderen Stellen der Stadt verkauft, wie zum Beispiel im Mercado Modelo, einigen Hotels oder in der Hochsaison an Ständen und in den Shopping Centers. Darüber hinaus vergrößerte sich das Sortiment. Die Konsumenten erkannten die Produkte Olodums vor allem an den Farben der Gruppe und an bestimmten Symbolen wie dem PeaceZeichen. Nicht alles, was mit der Marke Olodum zum Angebot gehörte, wurde jedoch von der Gruppe produziert. Einige Produkte wurden von lokalen Fabrikanten hergestellt, wie das Parfüm Olodum oder der Modeschmuck, andere Produkte kamen aus anderen Regionen Brasiliens. Die Mützen beispielsweise kamen aus dem südbrasilianischen Bundesstaat Paraná, die Keramik-Andenken (Tassen, Aschenbecher etc.) genau wie die Schlüsselanhänger aus São Paulo. (Nunes 1997). Der Boom der Marke Olodum geht mit zwei Entwicklungen einher: a) Im Bestreben das Angebot zu vergrößern, tritt Olodum zunehmend in den Markt ein, geht Geschäftsbeziehungen mit anderen Unternehmen ein, die eine Reihe Verpflichtungen und Abhängigkeiten mit sich bringen. Kapital aus dem Geschäft mit der Marke Olodum fließt aus Bahia ab in andere Regionen Brasiliens. b) Mittlerweile werden die meisten OlodumProdukte gefälscht und billiger in den unzähligen Geschäften des Pelourinho-Viertels angeboten. Hier wurde die Gruppe von der Dynamik des Marktes überholt. 16.1.2 Die Fábrica de Carnaval Olodum Durch den Erfolg mit den Produkten der Marke Olodum nahm die langehegte Idee, eine eigene Produktionsstätte dieser Artikel zu haben, konkretere Formen an. Eine Fabrik sollte eingerichtet werden, in der die Anwohner des Viertels beschäftigt werden, und deren Einnahmen auch in die sozialen Projekte Olodums fließen sollten. Die Popularität der Gruppe stärkte ihre Position gegenüber der Landesregierung, unter deren Federführung die Restaurierung des Pelourinho-Viertel stand. Olodum wurde ein Gebäude im historischen 294 Zentrum überlassen, in dem am 25.04.1994 die Fábrica de Carnaval Olodum eingeweiht wurde. Das Gebäude liegt in derselben Strasse wie die Escola Criativa, fünf Minuten zu Fuß von der Casa de Olodum entfernt. In dem dreistöckigen Altbau123 sollte die gesamte textile Produktion der Kulturgruppe hergestellt werden, vor allem die T-Shirts und die Karnevalskostüme. „Der Raum der Fábrica de Carnaval ist die größte Bestätigung des Olodum-Unternehmens, des modernen Olodum; es ist der Beweis, dass sich in der Kulturgruppe Olodum, das Fest und die Musikalität mit der produktiven Arbeit verbinden.“ (Nunes, 1997 S.53). Zum Zeitpunkt meiner Forschungen war die Fábrica erst mit wenigen Beschäftigten am Laufen. Es wurde vieles ausprobiert, Kurse gemacht, sowohl von den Angestellten, sowie von denen, die im Direktorium für die Verwaltung verantwortlich waren. Es herrschte eine gewisse Aufbruchstimmung, aber auch eine Verkennung der realen Bedingungen. Die Dimensionen des Fabrik-Vorhabens, angestrebt wurde die Beschäftigung von 300 Menschen aus dem Pelourinho/Maciel, entsprachen nicht den realen organisatorischen und technischen Kapazitäten der Kulturgruppe. Weder waren die Direktoren, die die Leitung übernahmen darauf vorbereitet, noch wurde eine realistische Einschätzung der betriebswirtschaftlichen Möglichkeiten vorgenommen. Hinzu kam, dass sich die Ausgangssituation verändert hatte. Als die Fábrica ihre Aktivitäten begann, hatte sich die gesamte Struktur des Pelourinho-Viertels durch die Restaurierung bereits komplett verändert. „Die Idee dieser Fabrik war es, den Bewohnern des Maciel/Pelourinho, als es die noch gab, eine Arbeit anzubieten. Aber jetzt sind nur noch die Hälfte, die hier arbeiten, Bewohner des Viertels oder der Nachbarviertel Carmo, Santo Antônio, Saúde....“ (Euzébio Cardoso, 01.03.1996 zitiert nach Nunes, 1997 S.124). Das schuf grundsätzlich andere Bedingungen für die Arbeit, die sich auch in den Beziehungen zwischen Angestellten und Organisatoren niederschlug, was zu einem späteren Zeitpunkt gezeigt werden soll. 123 Im ersten Erdgeschoss wurde der Zuschnitt gemacht, im zweiten Stockwerk standen die Nähmaschinen und lag die Verwaltung, im dritten Stock wurde der Siebdruck gemacht. 295 16.1.3 Die Marke Olodum – unverkennbar und leicht identifizierbar Die bereits erwähnte symbolische Bedeutung des Namens Olodums bleibt auch den Marketingstrategen anderer Produkte nicht verborgen. Mit der zunehmenden Popularität wollten immer mehr Anbieter ihre Produkte oder Dienstleistungen in Verbindung mit dem Namen Olodum anbieten. Mitte der 90er Jahre gehört Olodum untrennbar zum Bild Bahias: Fast jeder Brasilianer im Südosten des Landes kennt die Farben des Pan-Afrikanismus und der Rastafari-Bewegung als die Farben Olodums oder identifiziert den typischen OlodumTrommelwirbel. Fotos von Mitgliedern Olodums sind auf den Reiseprospekten, den Foldern der Tourismusbehörde, den verschiedensten Werbeträger zu sehen. Kein touristischer Artikel, kein Fernsehbeitrag, der in einem Bericht über Bahia, Olodum unerwähnt lässt. Eine der ersten internationalen Firmen, die Aufnahmen mit den Trommlern auf dem Pelourinho machte, war die Modemarke Sisley 1993. Trommler und Tänzer Olodums werben für verschiedene nationale Anbieter von Dienstleistungen und Produkten wie Banken und Krankenhäusern. Eine der größten Werbe-Kampagnen machte der skandinavische HandyHersteller Nokia, der die Trommler vom Pelourinho nicht nur in Zeitungen und Zeitschriften und auf Outdoors plazierte, sondern auch ins Fernsehen brachte. Nokia wollte zu dem Zeitpunkt über die Verbindung mit Olodum in den brasilianischen Mobil-Telefon-Markt kommen. Nicht nur visuell konnte mit der Gruppe geworben werden, sondern auch akustisch: Schon der typische Trommelwirbel reichte aus, die Assoziation mit den Trommlern vom Pelourinho heraufzubeschwören. Die Einnahmen aus den Werbeaufnahmen kommen je nach Vereinbarung entweder der Gruppe oder den einzelnen Mitgliedern zu. In der Handhabung herrscht eine gewisse Willkürlichkeit, die auch zur Verärgerung derer führt, die weniger gut abschneiden als andere. Die Entscheidungen trifft das Direktorium, die dies auch als individuelle Belohnung bzw. bewusste Unterstützung einzelner Trommler sieht. 1994 gelingt Olodum der Abschluss einer bis dahin einmaligen Aktion. Die größte private Bank Brasiliens, die Bradesco-Bank, gibt personalisierte Kreditkarten heraus mit dem Logo und den Farben Olodums. Zwei Ausführungen gibt es von der Karte, die Bradesco zusammen mit dem Kreditkartenunternehmen VISA herausgibt, eine Olodum Bradesco VISA Karte für den nationalen Einsatz und eine Olodum WORLD CARD, die weltweit gültig ist. Die Einnahmen aus den Umsätzen mit der personalisierten Kreditkarte sollen der Escola Criativa zugute kommen. Stolz wird im Jornal Olodum das neue Projekt vorgestellt und ausführlich erläutert, wie eine Kreditkarte funktioniert (Jornal Olodum, Ano II, Nr. 5, 1994). Die 296 Verbindung zwischen Wirtschaft und Kultur scheint zu funktionieren. Die Bradesco-OlodumKarte hat nicht nur finanzielle Bedeutung, sondern stellt auf einer symbolischen Ebene die Verbindung zweier Welten her: Die der marginalisierten Afro-Brasilianer des PelourinhoViertels, von denen die meisten vermutlich kein Konto, geschweige denn eine Kreditkarte besitzen, mit der Welt des modernen, überwiegend weißen Brasiliens. Banken, daran sei noch einmal erinnert, sind einer der Bereiche, in denen Afro-Brasilianer besonders häufig rassischer Diskriminierung ausgesetzt sind (s. dazu Kapitel 8). Die Marke Olodum vermag es auch gegensätzliche soziale Kräfte zusammen zu bringen. Die Kommerzialisierung der Marke Olodum hatte ihren vorläufigen Höhepunkt im Franchising „Planeta Olodum“ erreicht, bei dem in einem ersten Schritt Lizenzen für 40 Boutiquen in ganz Brasilien und zehn im Mercosur, Europa und den USA vergeben werden sollten. 124 Olodum nahm 1995 als Aussteller auf der alljährlichen Bahia-Messe teil, einer Verkaufsmesse, bei der bahianische Unternehmen sich präsentieren. Zur Vergabe von Franchising-Lizenzen ist es nicht gekommen. Der Versuch zeigte jedoch zweierlei: a) ein enormes Selbstbewusstsein, wie es bisher von schwarzen Kulturgruppen noch nicht gezeigt wurde; b) die starken unternehmerischen Motive, die sich auch in der vorerst letzten Aktion zeigen. Im Jahr 2000 stellt die Spielzeugfirma Estrela die erste Susi-Puppe (eine Art brasilianische Barbie-Puppe) mit dem Styling Olodums her. Die Puppe hat eine zimtfarbene und glatte dunkle Haare. Sie trägt ein Röckchen in den Farben des Pan-Africanismo und ein Top in denselben Farben mit dem Peace-Zeichen Olodums. Zur Ausstattung gehören auch die „Fitinhas do Senhor do Bonfim“, farbige Bänder, die von Bahianern und Touristen, um die Handgelenke geschlungen werden und Glück bringen sollen (für jeden der drei Knoten darf man sich etwas wünschen). Die Firma Estrela, die seit 1997 die Susi-Puppe auf dem brasilianischen Markt lanciert hatte, setzte damit ihre Strategie fort, Puppen in Bezug zu brasilianischen Themen zu lancieren. Olodum bekommt 5% des Verkaufspreises für die Nutzung des Olodum-Stylings. Zunächst wurde ein Ein-Jahres-Vertrag abgeschlossen. „Die Marke mit Produkten von Dritten in Verbindung zu bringen, begründet sich aus der Notwendigkeit, sich selbst zu unterhalten und erlaubt uns, unsere sozialen Programme fortzusetzen, wie die Escola Criativa, das Forschungszentrum, die Kurse, die Seminare und die sonntäglichen Proben auf dem Pelourinho“ sagt João Jorge (A Tarde, 27.01.2000). 124 Beim Franchising erwirbt der Franchising-Nehmer das Recht auf Benutzung eines Firmenamens, sowie Herstellung und Vertrieb eines Markenartikels und/oder Dienstleistungen. 297 Die Grupo Cultural Olodum versuchte sich zunehmend unternehmerisch zu organisieren. Es ist keine Forderung, die von außen an die Gruppe herangetragen wurde, sondern entsprang ihren eigenen Wünschen. Sie hatten den Anspruch modern zu sein, flexibel, agil. Olodum verfügte nicht nur über kreative Ideen im künstlerischen Bereich, sondern auch Einfallsreichtum in unternehmerischer Hinsicht. Das selbstbewusste Auftreten, mit dem sie soziale Grenzen überwanden, ist als ein großer Erfolg zu werten. Der Erfolg des unternehmerischen Handelns wurde, abgesehen von den äußeren Faktoren, allerdings eingeschränkt durch Fehleinschätzungen und mangelnde Transparenz der Entscheidungen. 16.2 Ein „schwarzes“ Unternehmen Einer der entscheidenden Faktoren für die mangelnde Transparenz liegt in der Größe und Struktur Olodums. Die Grupo Cultural Olodum ist auf dem Höhepunkt des Erfolgs 1994 ein äußerst komplexes und vielschichtiges Unternehmen. Die Zahl der aktiv Beteiligten an der Arbeit Olodums läßt sich nur schätzen. Nach eigenen Angaben gehörten 1993 zur Gruppe 475 Mitglieder: 200 Kinder in der Banda Mirim, 150 Jugendliche und Erwachsene aus der Banda Adulto, neun Sänger, 55 Teilnehmer der Schauspielgruppe (Bando de Teatro), sowie 35 Teilnehmer in der Tanzgruppe (Cia. De Dança), 26 Personen in der Diretoria und 09 Angestellte (Olodum 1993)125. Das stellte hohe Anforderungen an die Organisation. 16.2.1 Die Direktoren-Runde - Organisations-Struktur Olodum versuchte bei der Organisation ihrer Gruppe neue Wege zu gehen, als die bei anderen Blocos Afros üblichen. Statt familiär geprägter Hierarchie- und Entscheidungsstrukturen, wollten sie eine „demokratischere“ Organisationsform. So entwickelten sie eine eigene Organisationsstruktur mit zwei Direktorats-Ebenen, an deren Spitze ein(e) Präsident(in) stand. Der Präsident wurde alle zwei Jahre von den Direktoren der Gruppe gewählt. Er konnte nur für zwei Amtsperioden hintereinander gewählt werden. Der Präsident kann nur aus dem Kreis der sieben „Exekutiv-Direktoren“126 kommen, zu denen die Gründungsmitglieder Olodums gehören. Sie hatten 1983 das Statut für die Gruppe entwickelt und unterzeichnet. Die 125 Nicht aufgeführt sind die 18 Mitarbeiter der Escola Criativa, die zu dem Zeitpunkt auf Honorarbasis bezahlt werden. 126 Diese Bezeichnungen wurden von der Gruppe verwendet. 298 Exekutiv-Direktoren waren das Gremium, das die Entscheidungen Olodums traf, wobei der Präsident die größte Autorität hatte. Die 16 „Administrativ-Direktoren“, waren für bestimmte Aufgabenbereiche zuständig und wurden von den Exekutiv-Direktoren ernannt. Exekutiv-Direktoren (7): João Jorge, Petú, Lazinho, Cristina, Nêgo, Tom und Euzébio Administrativ-Direktoren (16): 3 Kultur-Direktoren: Zulú, Marcelo Gentil, Tita Lopes 2 Direktoren für Soziales: Billy, Wilson 2 Direktoren für Patrimônio: Joel, Paraná 2 Künstlerische Direktoren: Alberto Pita, Peter Leão Bildungs-Direktorin: Dora Dias Musik-Direktor: Neguinho de Samba Finanz-Direktorin: Rita Castro Direktor für Infrastruktur: Renato Ton-Direktor: Ratinho Foto- und Film Direktor: Jorge Fernandes Finanz-Direktor: Marinelson (Brasília) (05.05.1994) Nie zuvor gab es so viele Direktoren bei Olodum wie 1994. Einerseits wurden mit dem Erfolg mehr Menschen für die Organisation der Kulturgruppe gebraucht, andererseits wurde eine Tätigkeit bei der Gruppe immer attraktiver – finanziell und ideell. Zum Direktor wurde ernannt, wer sich um die Gruppe verdient gemacht hatte. Zu dieser Zeit brachte ein Direktorenposten gesellschaftliches Ansehen und öffnete auch im Alltag viele Türen, zum Beispiel bei der Eröffnung von Bankkonten, beim Ratenkauf eines Autos oder bei alltäglichen Streitigkeiten. Mit dem Namen Olodum im Rücken war vieles einfacher. 1994 wurde dann ein Ernennungsstopp für Direktoren erlassen. In den folgenden Jahren ging die Zahl dann wieder zurück. Jeweils zum 25. des Monats legten die Direktoren einen Bericht über ihre Arbeit vor (relatório). Am Ende jeden Monats wurde gemeinsam eine Einschätzung der Leistungen der einzelnen Mitarbeiter vorgenommen (avaliação). Die sieben Exekutiv-Direktoren berieten 299 und entschieden über die Leistungen und Zahlungen an die 16 Administrativ-Direktoren. Die sieben Exekutiv-Direktoren entschieden zusammen über die eigenen Leistungen und Zahlungen. Die sieben Exekutiv-Direktoren berieten und entschieden über die Leistungen und Zahlungen an den Präsidenten. Die Organisationsstruktur, wie sie sich 1994 präsentierte, kennzeichnet sich durch die Dominanz der „Exekutiv-Direktoren“, der Gründungsmitglieder Olodums. Alle kommen aus dem Pelourinho-Viertel, nur zwei von ihnen verfügen über einen weiterführenden Schulabschluss. Die Exekutiv-Direktoren sichern sich den größten Einfluss in der Gruppe, nur aus ihrem Kreis kann der Präsident kommen. Das zeigt sich daran, dass sie nicht nur das Recht zur Ernennung der „Administrativ-Direktoren“ haben, sondern auch über deren Zahlungen entscheiden. Die Machtposition des Präsidenten ist durch die „ExekutivDirektoren“ begrenzt, die auch über seine Zahlungen entscheiden. Mit einem anderen Mantel reproduzieren sie so, was sie eigentlich vermeiden wollten: Hierarchische Strukturen. Auch die vermeintlich leistungsorientierte Bezahlung pro Monat erscheint stark willkürlich und abhängig von einer Reihe subjektiver Faktoren. Über die Bezahlung des Direktoriums kursierten eine Menge Gerüchte, konkrete Informationen konnte ich dazu nie bekommen. Sichtbar wurden die finanziell besseren Verhältnisse der Direktoren vor allem an einem Konsumartikel, dem Auto, dem vielleicht wichtigsten Statussymbol Brasiliens. Mitte der 90er Jahre parkten einige von ihnen die neuesten Modelle typischer Mittelklassewagen auf dem Terreiro de Jesus, da wo sie teilweise als Jugendliche selbst Autos gewaschen hatten. Hier interessiert weder, ob dies politisch korrektes Verhalten war, oder ob alle Autos tatsächlich 100% abbezahlt wurden – die Autos zeigen deutlich den sozialen Aufstieg und erweckten den Eindruck, dass mit Olodum viel Geld zu verdienen ist. Sie provozierten Neid und Missgunst und stellten die Glaubwürdigkeit der Gruppe in Frage. Die Intransparenz von Entscheidungen und Finanzen wirken bei einer Organisation mit sozialer und politischer Zielsetzung noch schwerwiegender als bei einem normalen Unternehmen. 16.2.2 Die Dimensionen des Kulturunternehmens Vom Erfolg Olodums profitierte allerdings nicht nur ein kleiner Kreis von Direktoren, sondern mehrere Hundert Personen im direkten Umkreis. Wichtigstes Produkt der Kultur300 Holding ist die Musik, insbesondere die Organisation der Auftritte der Banda Show. Die Musikgruppen Olodums wurden von einem Team um Rita de Castro und Cristina Rodrigues organisiert, die Büroräume in der Nähe des Pelourinho in der Rua Chile angemietet hatten.127 Hier wurden die Auftritte aller Musiker, die sich auf die drei Gruppen (Banda Show, Banda Juvenil, Banda Mirim) verteilen, gemanagt. Olodum verfügte über eine Struktur, die es ermöglichte, in verschiedenen Teilen der Welt gleichzeitig zu sein. Zur Banda Show gehören jeweils zwölf Personen und zwei bis drei Sänger. Musiker und Sänger werden pro Auftritt honoriert. Die Honorare lagen zwischen 50 und 150 US$ pro Abend, je nachdem, wo sie stattfanden. Zum engeren Kreis der Banda Show gehören ca. 40-50 Musiker. Über den Einsatz der Trommler entscheiden die Direktoren. Feste monatliche Zahlungen bekommen der Trommelmeister (Neguinho de Samba) und fünf der langjährigen Trommler der BandaShow (Gilmário, Memeu, Ivan, Pacote, Coroa). Eine feste Einkommensquelle ist auch die wöchentliche Veranstaltung der Afrikan Bar. Rund 45 Menschen, darunter die Sänger und Trommler, aber auch die mit der Organisation, dem Kartenverkauf, dem Aufbau und der Sicherheit beschäftigten Personen. Nach eigenen Angaben Olodums gab es Ende 1994 45 fest angestellte Mitarbeiter und 23 vorübergehend beschäftigte Mitarbeiter im Bereich der Kulturgruppe Olodum. Sie verteilten sich wie folgt: In der Fábrica de Carnaval gibt es 25 fest angestellte Mitarbeiterinnen, die durchschnittlich 2,5 - 3 Mindestlöhne erhalten. Sie arbeiten in der Produktion von T-Shirts und anderen Artikeln der Olodum Konfektion. Darüber hinaus werden noch 13 vorübergehende Arbeitskräfte beschäftigt. In der Escola Criativa Olodum gibt es 15 feste Mitarbeiter, die durchschnittlich knapp 3,5 Mindestlöhne verdienen. Es sind Lehrkräfte, Verwaltungspersonal, sowie Reinigungs- und Sicherheitskräfte. Darüber hinaus gibt es noch 10 Mitarbeiter, die auf Honorarbasis bezahlt werden. In der Boutique Olodum sind drei Verkäufer/Innen beschäftigt, in der Bar der Casa Olodum gibt es zwei feste Mitarbeiter. Durchschnittlich verdienen sie 1,8 Mindestlöhne. Damit bewegt sich das Lohnniveau auf dem landestypischen Niveau, liegt teilweise sogar etwas darüber. Die meisten Angestellten Olodums sind über eine Drittfirma, bei Olodum angestellt. So soll verhindert werden, dass der Name Olodum, bei den für die brasilianische Arbeitswelt typischen Arbeitsgerichtsprozessen erscheint. Ein Teil der Finanzabteilung ist in einem Büro im Pituba Parque Center im Stadtviertel Itaigara untergebracht. 127 Informationen von Cristina Rodrigues. 301 Schätzungsweise rund 180 Menschen erhielten nach diesen Angaben von Olodum mehr oder weniger regelmäßig Einnahmen aus ihrer Tätigkeit bei der Kulturgruppe Olodum. Damit dürfte die Gruppe das größte Unternehmen und der wichtigste Arbeitgeber im PelourinhoGebiet sein. Die sich stellende Frage war: Handelte es sich dabei um ein „schwarzes“ Unternehmen? Gegen Ende des Jahres 1994 wurde über die Finanz-Direktorin ein Fragebogen unter den Angestellten mit Daten zur persönlichen Erfassung und fünf Fragen zum Bezug zu Olodum verteilt. 50 Personen haben den Fragebogen zu ihrer Arbeit bei der Gruppe Olodum ausgefüllt (n=50). Sie stehen in einem festen Anstellungsverhältnis und arbeiten entweder in der Produktion der Gruppe, der Fábrica de Carnaval oder der Escola Criativa. Sie sind nicht repräsentativ für alle zur Gruppe Olodum gehörenden Mitglieder, wohl aber für die Angestellten. Nach der Erhebung sind 80% der Angestellten Olodums Afro-Brasilianer. Über ein Drittel (36%) der Angestellten bezeichnet sich als negro. Weitere 44% beschreiben ihre Hautfarbe als dunkel („parda“, „preta“, „morena“, „morena clara“, „escura“, „mulata“). 14% der Befragten haben die Frage nach der Hautfarbe nicht beantwortet. Unter den 50 Angestellten gibt es nur drei (6%), die sich als weiß bzw. hell bezeichnen. Nach den vorliegenden Angaben lässt sich Olodum zweifellos als schwarzes Unternehmen bezeichnen. Die weißen Brasilianer sind eine deutliche Minderheit unter den Angestellten. Insofern nimmt Olodum sicherlich eine Pionierrolle als schwarzes Unternehmen in diesen Dimensionen in Brasilien ein. Der Fragebogen zeigte noch eine weitere interessante Komponente: Die Hälfte der Angestellten verfügt über ein gehobenes Bildungsniveau (ab 2° grau completo), während 22% keinen, bzw. 24% gerade den Hauptschulabschluss (1° grau) erreichten. Es zeigte sich, dass die Angestellten der Kulturgruppe vor allem zwei Gruppen zugeordnet werden können: Die Gruppe derer, die schon länger dabei sind, über ein höheres Bildungsniveau verfügen und eine starke Identifikation mit den Zielen der Kulturgruppe zeigen, definieren sich als negros. Zu dieser Gruppe gehören viele Frauen, die im Umfeld der Direktorin Cristina arbeiten und alle sehr engagiert sind. Auch die Jugendlichen, die über die 302 Banda oder aus irgendeiner kulturellen Aktivität Olodums hervorgegangen sind, definieren sich als negros und geben die soziale und kulturelle Identifikation als Motiv der Arbeit an. Die zweite Gruppe sind die, welche ein niedrigeres Bildungsniveau haben und erst seit kurzem für die Kulturgruppe arbeiten, für sie ist Olodum eine der Möglichkeiten zum Überleben. Die zu dieser Gruppe gehörigen bezeichnen sich fast nie als negros, benutzen die Bezeichnungen mulato, moreno etc.. Sie kommen zu Olodum über jemanden aus der Banda, oder jemanden, der bereits zu Olodum gehört. Für sie scheint die soziale und kulturelle Identifikation nicht wichtig zu sein, wird zumindest nicht als Motiv für die Arbeit genannt. Sich als negro zu bezeichnen, scheint auch unter den Angestellten abhängig von individuellen Bewusstseinsprozessen zu sein. Bei stärkerer Identifikation mit der kulturellen und sozialen Arbeit Olodums, scheint es auch ein ausgeprägteres „schwarzes“ Selbstbewusstsein zu geben. Die Anthropologin Margareth Fagundes Nunes, die sich 1997 in ihrer Mestrado-Arbeit mit dem Funktionieren der Fábrica Olodum beschäftigte kommt zu dem Schluss, dass es eine große Distanz zwischen Angestellten und Direktorium Olodums gebe. Die Angestellten kritisieren die starke Trennung bei der Arbeit zwischen Angestellten und Chefs und die verspäteten Lohnzahlungen. Umgekehrt klagen die Direktoren über Unzuverlässigkeit, Verspätungen, Fehlen am Arbeitsplatz. „Hier haben die Leute das Schneidern gelernt. Wir haben Lehrer bezahlt, um den Leuten beizubringen, wie man näht, den Schnitt macht, eine Maschine benutzt. Die müssten heute eine andere Vorstellung hiervon haben. Sie müssten verstehen, dass dies hier Teil ihres Lebens ist, nicht meins, nicht der Direktoren von Olodum, es ist von ihnen....Nur, dies hier alles zu unterhalten, ist eine professionelle Verpflichtung, keine soziale. Weil das Soziale haben wir schon gemacht, das war die Kurse, die Möglichkeit zum Arbeiten zu geben“ (Euzébio Cardoso, 01.03.1996 zitiert nach Fagundes, 1997 S.124). Darüber hinaus stellt sie eine Distanzierung der Arbeiter, insbesondere der Fabrik, von den politischen Zielen Olodums fest. Diese fühlten sich nicht der Sache Olodums verpflichtet, es sei denn in speziellen Momenten, wo dies für die Konstruktion eines Bildes gefragt sei, wie bei Filmarbeiten oder Besuchen (Fagundes, 1997 S. 125-6). Zusammenfassend lässt sich Olodum als ein mittelgroßes Unternehmen bezeichnen, in dem fast ausschließlich Afro-Brasilianer beschäftigt sind, das sowohl in seinen Ausmaßen, seiner Lokalisierung und seiner Zusammensetzung einzigartig ist. Die Marke Olodum beschränkt sich nicht nur auf das Logo und die von der Gruppe vermarkteten Produkte. Dazu gehört auch der Rhythmus, der Tanz, die Farben. Olodum 303 investiert in die Konstruktion eines Bildes schwarzer bahianischer Jugendkultur. Sie transformieren dies in ein Produkt, das inner- und außerhalb Bahias konsumiert wird. Die Ästhetik Olodums zieht die verschiedensten ethnischen Gruppen an, in Salvador und Brasilien genauso wie bei den Auftritten in Europa, Asien oder Amerika. Die Auftritte der Banda Olodum sind perfekte Inszenierungen des Show-Business geworden. Die Bilder und Symbole der negritude werden als touristisches Marketing genutzt. Die Farben Olodums auf T-Shirts und Andenkenartikeln, die Moden, bis hin zu Haarschnitten, wie sie die Trommler tragen oder Rastazöpfen, der Cravinho (Nelkenschnaps) – alles kann man in der einen oder anderen Form im Pelourinho-Viertel erwerben, der nach der Sanierung zur Vitrine des bahianischen Tourismus geworden ist. Olodum ist Mitte der 90er Jahre eine stark heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Interessen und Entscheidungsebenen. Die unterschiedlichen Integrationsniveaus sind sicherlich nicht komplett zu vermeiden, könnten vermutlich aber durch mehr Transparenz und stärkere Mitbestimmung verbessert werden. Die zu Beginn angestrebte Demokratisierung blieb in den Ansätzen stecken, neue hierarchische Strukturen entwickelten sich, die viel Spielraum für paternalistische Handlungen boten. Die Ziele Olodums mögen teilweise zu weit gesteckt gewesen sein, zeugen aber von einem extrem kreativen und unternehmerischen Geist. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung lagen an internen aber auch externen Faktoren, wie den veränderten Verhältnissen im Pelourinho-Viertel. Darüber hinaus gab es große Unterschiede hinsichtlich der persönlichen Fähigkeiten und Vorstellungen zur Umsetzung der gemeinsamen Ziele Olodums. 304 17. Vom Karneval zur Quoten-Diskussion In dieser Arbeit wurden die Rassenbeziehungen in Brasilien und die Bedeutung der kulturellen Bewegung der Blocos Afros für die brasilianische Gesellschaft analysiert. Es ging darum zu zeigen, wie kulturelle Manifestationen zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen können. Als 1974 zum ersten Mal ein Bloco Afro im Karneval von Salvador mit einer neuen schwarzen Ästhetik teilnahm, war eine Diskussion des Thema Rassismus durch die Militärregierung verboten. Wenn heute, 2003, auf politischer Ebene – trotz aller rechtlichen Probleme und großen Widerspruchs in Teilen der Bevölkerung - die Einführung von Quoten für Afro-Brasilianer durchgesetzt wird, dann zeigt das, wie sehr sich die gesellschaftlichen Bedingungen in den letzten 30 Jahren verändert haben. Der Mythos der konfliktfreien Rassendemokratie Brasilien ist am Zerbröckeln. Rassismus wird zunehmend als ein Problem der brasilianischen Gesellschaft erkannt. Die Diskussion darüber beschränkt sich nicht mehr nur auf den kleinen Kreis militanter Afro-Brasilianer, sondern ist Thema in den Medien, den Universitäten, der Justiz. Auf politischer Ebene hat die Regierung unter Präsident Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) entscheidend zur Umsetzung der in der Verfassung von 1988 garantierten gleichen Rechte für Afro-Brasilianer beigetragen. Durch die Einrichtung verschiedener Arbeitsgruppen auf ministerieller Ebene, die Anerkennung der Landrechte der ehemaligen Sklavenfluchtburgen, der Quilombos, und die Einrichtung von Quoten in den Ministerien für Landwirtschaft, Justiz und Kultur, sowie in der Diplomaten-Ausbildung. Die schwarzen Karnevalsgruppen aus Salvador da Bahia haben entscheidend zu einer Veränderung der Rassismus-Diskussion in Brasilien beigetragen. Ihr kulturelles und soziales Engagement schufen die Vorrausetzungen für die politische Umsetzung von Maßnahmen zur Integration der Afro-Brasilianer. In diesem abschließenden Kapitel sollen die Gründe für die herausragende Bedeutung der Blocos Afros und deren Auswirkung auf die aktuelle Politik zusammenfassend dargestellt werden. 17.1 Afro-brasilianische Kultur im Zeichen des Black Atlantic Der politische Protest der Afro-Brasilianer, der sich in den kulturellen Manifestationen der Blocos Afros ausdrückt, ist Antwort auf die besonderen brasilianischen Rassenbeziehungen: Die Afro-Brasilianer sind keine ethnische Minderheit, sondern eine Mehrheit der 305 Bevölkerung. Die Frage nach der Rassenzugehörigkeit in Brasilien ist allein schon aufgrund der starken Durchmischung der Gesellschaft keine biologische Kategorie, sondern eine soziale. Die rassischen Ungleichheiten sind eingebettet in einen Kontext großer sozialer Differenzen zwischen den wenigen „weißen“ Reichen und der Masse der „schwarzen“ Armen. Sie werden zugedeckt mit einer sehr subtilen, an den Zwischentönen orientierte Form des Rassismus, der treffend auch als „höflicher Rassismus“ bezeichnet wird. Der Karneval, einer der wichtigsten Momente gesellschaftlichen Lebens in Brasilien, stellt einen besonderen Bereich für die Aktionen der Afro-Brasilianer dar. Während er einerseits einen Freiraum bietet, der die vorübergehende Überschreitung von Grenzen zulässt, ist er andererseits auch Schauplatz gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Ort der Aushandlung kultureller Repräsentation. Die Blocos Afros betraten die Bühne des gesellschaftlichen Leben Brasiliens zu einem Zeitpunkt, an dem die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen neue Rahmenbedingungen geschaffen hatten. Das industrielle Wachstum Bahias in den 60er und 70er Jahren hatte eine afro-brasilianische Arbeiterschaft hervorgebracht, die nicht mehr mit den ihnen von der traditionellen Elite zugedachten gesellschaftlichen Positionen zufrieden war. Die politische Öffnung gegen Ende der Militärdiktatur tolerierte die politische Konnotation der Rassenproteste der schwarzen Karnevalsgruppen. Die Entdeckung der Volkskultur für den Tourismus und insbesondere die Restaurierung des historischen Zentrums Salvadors ab Anfang der 90er Jahre machte das ehemalige schwarze Ghetto zur Postkarte der Stadt. Gleichzeitig intensivierte die zunehmende Globalisierung den Austausch schwarzer Musik und Symbole unter den Jugendlichen der schwarzen Diaspora. Parallel dazu war der internationale Musikmarkt Anfang der 90er Jahre offen für Neues. Dies ermöglichte die Legitimierung schwarzer Kultur über die Musik und den Karneval. Die zunehmende Globalisierung der Welt wird nicht nur von einem Homogenisierungsprozess begleitet, sondern ermöglicht auch den Austausch mit anderen Kulturen. Gilroy prägte den Begriff des „Black Atlantic“, der für die Dynamik des interkontinentalen Austausches schwarzer Kulturen steht (Gilroy, 1993). Die in dieser Arbeit beschriebenen lokalen Prozesse sind Teil globaler Entwicklungen, charakterisieren sich jedoch durch einige Besonderheiten, die ihnen eine spezifische Bedeutung zukommen lassen. Die Blocos Afros sind nicht der einzige Weg afro-brasilianischer Jugendlicher bei der Identitätsfindung. In Rio de Janeiro ist es der Funk und in São Paulo die HipHop-Bewegung, 306 die diese Funktionen für die jetzige Generation schwarzer Jugendlicher übernommen hat (Herschmann, 2000). Die „neuen“ schwarzen Identitäten in Brasilien sind stark beeinflusst durch lokale ethnische Traditionen. Die HipHop-Bewegung und die Rap-Kultur São Paulos haben mit den Blocos Afros in Salvador den Anti-Rassismus-Diskurs gemeinsam, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der kulturellen Wurzeln und der lokalen gesellschaftlichen Muster. Bei der Musik der schwarzen Karnevalsgruppen in Bahia handelt es sich nicht um Protestlieder, die zu Rassenunruhen aufrufen, im Vordergrund steht die Aufwertung der schwarzen Kultur. Darin unterscheiden sie sich vom Rap aus São Paulo, der sich in Konfrontation zur herrschenden, mehrheitlich weißen Bevölkerung präsentiert, oder dem Funk aus Rio de Janeiro. Es ist bezeichnend, dass diese Bewegung in Bahia entstanden ist, wo die große Mehrheit der Bevölkerung Afro-Brasilianer sind. In Bahia ist die afrobrasilianische Kultur besonders ausgeprägt, ist der Candomblé traditionell die Wurzel des kulturellen und religiösen Lebens. Die Bewegung der Blocos Afros unterscheidet sich aber auch von schwarzen Jugendkulturen in anderen Ländern der Diaspora: Es ist etwas Eigenes, genuin Brasilianisches entstanden. Damit haben die kulturellen Ereignisse der letzten 30 Jahre langfristig eine wichtige Funktion zum Aufbau einer neuen schwarzen brasilianischen Identität. Die Blocos Afros packen das Problem des brasilianischen Rassismus an der Wurzel: der Überwindung des weißen Ideals als gesellschaftliches Vorbild. Dagegen setzen sie den Aufbau einer neuen schwarzen Identität. Der Verinnerlichung des negativen Selbstbildes und der Stigmatisierung der Schwarzen setzen sie neue, positive Sichtweisen schwarzer Identität entgegen. So gelingt es ihnen, die Sprachlosigkeit zu überwunden und den Mythos der Rassendemokratie zu entlarven. Die Blocos Afros agieren gleichzeitig auf mehreren Ebenen. Sie bieten neue Identitäten an (ästhetisch, musikalisch, kulturell), sind aber auch sozial und pädagogisch aktiv. Der Schlüsselbereich, in dem der Rassismus zu überwinden ist, ist die Bildung. Deshalb kommt den unterschiedlichsten formellen und informellen Bildungsprojekten mit einer explizit afro-brasilianischen Ausrichtung so große Bedeutung zu. Das haben alle Blocos Afros erkannt. Im Sinne Paulo Freires verstehen sie Bildung als Weg der Befreiung (Freire 1991). Sie entwickeln pädagogische Modelle, deren entscheidendes Merkmal das Lernen aus der gesellschaftlichen Situation heraus, vergleichbar mit dem Situationsansatz (Zimmer, 1985). Darüber hinaus versuchen die Blocos Afros die von ihnen 307 produzierte Kultur selbstständig zu vermarkten und unternehmerisch tätig zu sein. Sie agieren sozusagen als intuitive „productive community schools“. 17.2 Olodums Weg zum Erfolg Mitte der 90er Jahre ist Olodum der national und international erfolgreichste Bloco Afro – bekannt für seine Musik und seine kulruellen und sozialen Projekte. Sie versuchen in den unterschiedlichsten Bereichen eigene Strategien zu entwickeln, die ihnen Erfolg versprechen. Als Nicht-Regierungsorganisation versuchen sie ihre Projekte mit Hilfe von anderen NichtRegierungsorganisationen oder staatlichen Entwicklungsgeldern zu realisieren. Gleichzeitig versuchen sie unternehmerisch zu handeln, ihr Produkt Olodum zu verkaufen. Es sind eine ganze Reihe unterschiedlicher Faktoren, die für den Erfolg Olodums verantwortlich sind. Die Grupo Cultural Olodum geht von Anfang an in ihrer Arbeit über den Identitätsfindungsprozess in der Musik und der Ästhetik hinaus. Sie hatten eine politische Perspektive und praktizierten sozial-politisches Handeln. Ihre Führung versucht eine komplette Neukreation schwarzen Lebens in einem lange Zeit von der Gesellschaft marginalisierten Ghetto, ansetzend bei den zwei Grundbedürfnissen Bildung und Arbeit. Die Escola Criativa Olodum stellt ein kühnes Modell einer afro-brasilianischen Pädagogik dar. Selbst wenn sie heute nicht mehr als formal anerkannte Schule funktioniert, sondern als „Kreativ-Schule“, hatte sie Beispielcharakter für andere Schulen in ganz Brasilien. Ausgehend von den Erfolgen auf dem Musikmarkt versucht Olodum den Aufbau eines schwarzen Kultur-Unternehmens, wobei ihnen die zunehmende Bedeutung symbolischer Güter im Zeitalter der Globalisierung (Featherstone, 1995) zugute kommt. Bis heute gibt es in geringeren Dimensionen die Fábrica de Carnaval und die Boutique. Olodum gelang es, eine Vielzahl von engagierten jungen Afro-Brasilianern zu vereinen: durch einen weit vorausdenkenden Präsidenten João Jorge Rodrigues128, der viele Gleichgesinnte zur Mitarbeit hat motivieren können, sowie einen charismatischen Musikmeister, Neguinho do Samba, der unverkennbare Rhythmen erfunden hat und eine große Gruppe junger Trommler um sich scharte. Das große Engagement der Führungspersönlichkeiten, aber auch aller anderen Mitglieder Olodums, machten die Gruppe während der 90er Jahre zu einem Modell afro-brasilianischer Kreativität und Widerstands. 128 João Jorge macht inzwischen sein Jura-Mestrado-Studium in Brasília. 308 Der politische Anspruch der Gruppe zeigt sich unter anderem in der Vielzahl der publizierten Texte vom Aufstand der Malês bis zu Schriften über Panafrikanismus, den ideologischen Referenzen wie Malcom X und Nelson Mandela, den veranstalteten Seminaren zur Rolle der Frauen oder Religion, aber auch in der Identifizierung mit dem Roots-Reggae Bob Marleys. In diesen Aktivitäten, die vorwiegend von der Direktorats-Ebene getragen wurden, zeigt sich der edukative Ansatz der Gruppe, das Bemühen um Aufklärung, Austausch und Bewusstseinsbildung. Olodum hat die Rolle der schwarzen Militanz für sich eingenommen, dabei aber immer wieder die Musik in den Vordergrund gestellt, als Mittel kulturellen Widerstands. Mit ihrem geschickten Identitätsmanagement fiel der Gruppe das internationale Agieren leicht. Olodum gelang es eine Reihe von internationalen Kontakten zu knüpfen, die sich positiv für die Arbeit der Gruppe auswirkten. Gezielt hatte Olodum auch Beziehungen aufgenommen zu einer Reihe von politisch bzw. sozial orientierten internationalen NichtRegierungsorganisationen wie Amnesty International oder dem Habitat Forum Berlin, die sich für die Gruppe engagierten. Das Lied „Faraó“ war 1987 der Beginn des Eintritts in die globale Medienszene, nicht nur Olodums, sondern auch der anderen Blocos Afros. Die schwarzen Karnevalsgruppen lieferten die rhythmischen Vorlagen für die Axé Music, die in den 90er Jahren weltweit Erfolge verbuchen konnte. Zu dem bedeutendsten Faktor für den musikalischen Erfolg Olodums wirkte sich die Zusammenarbeit mit internationalen Popstars aus. Dies wurde begünstigt dadurch, dass es in der internationalen Musikszene ein Bedürfnis nach Authentizität, nach Neuem gab.129 In den USA sehen 1992 über 750.000 Menschen Olodum bei der Show mit Paul Simon im Central Park. Kein brasilianischer Musiker hat bisher im Ausland vor so einem großen Publikum gespielt, wie es der Gruppe durch die Teilnahme an einem Lied des internationalen Stars gelang. Im selben Jahr produziert die Gruppe in Großbritannien die erste auf den internationalen Markt ausgerichtet Platte „The Revolution Emotion“. Der Video-Clip mit Michael Jackson unter der Regie von Spike Lee 1996 war durch das clevere Agieren der Führung Olodums zustande gekommen. In Folge der verschiedenen Co-Produktionen gelang es Olodum und anderen Blocos Afros sich eigenständig auf dem internationalen Musikmarkt zu etablieren und Tourneen nach 129 Für die Aufnahmen mit Paul Simon verlangt die Gruppe kein Geld, sondern dessen Unterstützung bei weiteren internationalen Kontakten. 309 Europa, in die USA und Japan zu machen. Das starke internationale Interesse an lokalen Musikkulturen und ihre Vermarktung durch die Musikindustrie unter dem Namen World Music begünstigte die neue bahianische Musik. Zugute kam der Gruppe, dass sie auch in ihrem Äußerem genau dem Zeitgeist entsprach, der in der Mode unter dem Label Ethno verkauft wurde. Olodum bemühte sich den Anforderungen der globalisierten Gesellschaft gerecht zu werden. Sie präsentierten sich nicht mehr als folkloristische, traditionelle Gruppe von Schwarzen, die den Karnevalsumzug organisieren, sondern sie verstanden sich als moderne schwarze Unternehmer und Politiker und suchten Partner aus anderen gesellschaftlichen Bereichen. Wie keine andere vergleichbare Gruppe in Bahia hat Olodum schon früh die durch die technische Entwicklung hervorgebrachten neuen Kommunikationskanäle (Computer, Fax, Internet) genutzt. Besonderes Geschick bewies Olodum im Umgang mit den Medien. Ihnen gelang es Räume der Meinungsäußerung zu erobern, die bislang keiner anderen Gruppe der Schwarzenbewegung zur Verfügung standen130 und die internationale Popularität gezielt zu nutzen. Der Erfolg Olodums als Musikgruppe in Brasilien liegt auch an den internationalen Kontakten, über deren Bedeutung sich der damalige Präsident im klaren ist: „Da wir noch immer ein kolonialisiertes Land sind, gibt es viele Leute hier, die den Wert der eigenen Dinge erst erkennen, wenn diesen außerhalb Brasiliens applaudiert wird. Also, in dem Maße wie Olodum im Ausland auf Tournee ist, Shows macht und an Veranstaltungen teilnimmt und dies beachtet wird, beginnen die Menschen in Brasilien sich für Olodum zu interessieren, möchten wissen, um was es dabei geht.. Dies gilt insbesondere für São Paulo und Rio“ (João Jorge, 1992). Die Einrichtung der Karnevalsfabrik schien der Gruppe als weiter Schritt, um ihre eigene Produktion zu verwalten. Olodum wurde zu einem der größten Arbeitgeber und bedeutendstem wirtschaftlichen Faktor im Pelourinho-Viertel. Zeitgleich zur Entwicklung Olodums von einer Karnevalsgruppe zum Kulturunternehmen, verlief die Restaurierung und Umwandlung des Pelourinho vom schwarzen Ghetto zum Touristenviertel. Die bahianische Landesregierung nutzte die kulturellen Äußerungen der Afro-Bahianer immer häufiger als Aushängeschild Bahias im Südosten des Landes und im Ausland, besonders jedoch den 130 Auch hierbei spielt der internationale Faktor die Hauptrolle. Zwei Monate nach dem Interview des ExPräsidenten in der New York Times, erscheint auch auf den renommierten gelben Seiten des Wochenmagazins Veja ein Interview (Veja 09.06.1993) und die Folha de São Paulo veröffentlicht erstmalig anlässlich des Michael Jackson-Besuchs einen Kommentar des Präsidenten João Jorge. 310 mehrtägigen Karneval. „Seit 1992 kam Bahia dank des Erfolgs der Axé-Music in Brasilien wieder in Mode. Die Bahiatursa erkannte die Bedeutung der Musik für die Entwicklung des Tourismus in Bahia...“ (Loureiro in: A Tarde 19.07.1995). Die Bahiatursa warb mit Fotos von Mitgliedern Olodums im von der konservativen Landesregierung restaurierten Pelourinho. Die Assoziation Olodum - Pelourinho – Bahia als Symbol afrobrasilianischer Kultur war nicht mehr aufzuhalten. Olodum wurde zum Aushängeschild staatlicher und privater Propaganda. Der Pelourinho, der wie kein anderer Ort Brasiliens das afro-brasilianische Erbe repräsentiert, wurde zur Stätte der Begegnung von Persönlichkeiten des internationalen schwarzen Universums: von Musikstars wie Michael Jackson und Alpha Blondy, bis hin zu politischen Ikonen der internationalen Schwarzenbewegung wie Nelson Mandela, Desmond Tutu oder Rev. Jesse Jackson. Keiner der Blocos Afros hat so geschickt die Ansprüche und Möglichkeiten der modernen Gesellschaft genutzt und über die regionalen Grenzen Bahias hinaus agiert wie Olodum. Von Anfang an hat Olodum eine globale Perspektive im Auge: als Musikgruppe als Erben des Reggae und Repräsentanten schwarzer Musik aus der Dritten Welt und als Teil der internationalen Schwarzenbewegung. „Nach dem Tod Bob Marleys, Peter Tosh’s, Jacob Millers wurde die schwarze Welt, diese Dritte Welt, Waisenkind und in diesem Moment erscheint der Jugendliche Olodum, der sich als legitimer Nachfolger der Tradition der Kämpfe in den Amerikas präsentiert... Olodum hat mehrere Theorien vereint, Olodum ist der natürliche Erbe der Ideen phantastischer Personen dieses Jahrhunderts, wie Malcom X, Martin Luther King, Bob Marley, Haile Selassie“ (JJ 1992). 17.3 Brasilien – Land einer besseren Zukunft für Afro-Brasilianer? „In Bahia sind die Blocos Afros vor allem Modelle. Modelle einer Ästhetik, der Kraft, des Mutes, der Anmut und Schönheit, der Fähigkeit und Kreativität, des Vertrauens und der Einheit“ schreibt Hélio Santos, einer der führenden schwarzen Intellektuellen Brasiliens, der in São Paulo lebt (H. Santos, 2001 S. 259). Aber nicht nur das: Diese lokalen kulturellen Äußerungen wurden auch Wegbereiter politischer Veränderungen. Insofern stellen sie eine Besonderheit im Vergleich mit anderen schwarzen kulturellen Äußerungen dar. Die Bewegung der Blocos Afros war in den letzten dreißig Jahren nicht nur musikalisch innovativ, sondern an einem erfolgreichen, gesellschaftlichen Bewusstseinsprozess beteiligt. 311 Die Blocos Afros sind ein Versuch der Afro-Brasilianer, Kontrolle über ihr eigenes Leben als schwarze, marginalisierte, arme Jugendliche zu bekommen. Sie haben die schwarze Identität einerseits aufgebaut durch eine angenommene Kontinuität schwarzen Widerstands in den beiden Amerikas, der Karibik und zurückreichend bis Afrika, andererseits in Beziehung zu den globalen Repräsentationen modernen Schwarzseins, die durch Konsumverhalten, Moden und politische Ansprüche formuliert wurden. Die soziale Praxis der Afro-Brasilianer wurde symbolisch und ästhetisch neu organisiert. „They lived culture as a way of life in a unified way... on the other, they were constantly involved with producing representations of their culture as an object, a set of symbols of their lives… Black culture and identity were paramount for them, although they focussed on general social problems (poverty, education, violence, drugs) as these affected their barrio. The problem of racism was central and not reducible to a problem of class” schreibt der Anthropologe Peter Wade über seine Forschungen einer afro-kolumbianischen Rap-Gruppe (Wade, 1999 S. 457). Das gilt auch für Brasilien. Das Phänomen, dass Musikgruppen eine weit über die Musik hinausgehende Bedeutung für das Leben schwarzer Jugendlicher haben, ist nicht auf Brasilien beschränkt. Das passiert in vielen schwarzen Gemeinschaften, die sich im Austausch mit anderen der schwarzen Kulturen, hauptsächlich Nordamerikas, befinden. Was die Bewegung der Blocos Afros von vergleichbaren Gruppen unterscheidet – das wurde bereits gesagt – ist, dass sie musikalisch etwas genuin Eigenes produzieren. Auch im ästhetischen Bereich schaffen sie eine eigene Form der Repräsentation als Afro-Bahianer, selbst wenn sie teilweise im Styling andere Elemente anderer schwarzer Kulturen mit aufnehmen. Zunehmend wird dieses Potential von Schwarzen anderer Kulturkreise erkannt, die nach Bahia kommen, um die lokalen kulturellen Manifestationen, insbesondere die Feste in den Candomblés kennen zulernen. So produzieren die Blocos Afros neue „Anhaltspunkte in dem System von Zeichen auf, die ... jeder menschliche Körper an sich hat: Kleidung, Aussprache, Haltung, Gang, Umgangsformen“ so wie es Bourdieu beschrieb (Bourdieu, 1982 S. 374) und geben ihnen eine neue Bewertung. Sie verbreiten neue Normen für das, was als Geschmack gilt. Gesellschaftliche Macht wird, so Bourdieu, durch die Zustimmung zu Geschmack und Symbolen ausgeübt. Durch die kulturelle Bewegung sind diese in den letzten Jahren in einem Prozess der Veränderung begriffen. 312 Seit etwa einem Jahr wird in Brasilien auch in der breiteren Öffentlichkeit über die Einrichtung von Quoten für Afro-Brasilianer diskutiert. Insbesondere im Umfeld der III. Konferenz der Vereinten Nationen gegen Rassismus in Durban/Südafrika im September 2001 wurde die gesamte Rassismus-Problematik in Brasilien neu aufgerollt. Von der brasilianischen Schwarzenbewegung werden die Quoten als Teil der Reparationsforderungen für die Folgen der Sklaverei gesehen, da es bis heute keine speziellen Integrationsmaßnahmen für Afro-Brasilianer gegeben hat. Die sozialen Diskrepanzen, so argumentieren sie, sind auch Resultat der Art und Weise wie die Sklaverei abgeschafft wurde. Die sozialen Ungleichheiten perpetuierten darüber hinaus das Bild des unfähigen AfroBrasilianers. Quoten sollen an den Universitäten eingeführt werden, bei der Besetzung politischer Organe und im Medienbereich. Zu einer der ersten Organisationen, das Quoten einrichten will, gehört das Instituto Rio Branco, das die brasilianischen Diplomaten ausbildet. Im Jahr 2002 sollen zum ersten Mal 20 schwarze Kandidaten ein Stipendium bekommen, um sich auf die Aufnahmeprüfung dieser Eliteschule vorzubereiten. Damit sollen in Zukunft die afrobrasilianische Bevölkerung auch im diplomatischen Dienst besser repräsentiert sein. Eine Untersuchung unter Diplomaten-Anwärtern im Jahr 2001 hatte ergeben, dass von den 30 Studenten des ersten Jahres 27 weiße Brasilianer waren. Kein einziger bezeichnete sich als negro. In Zukunft soll also in der traditionsreichen Diplomatenschmiede (die zweitälteste der Welt nach Wien) die heterogene Bevölkerungszusammensetzung Brasiliens sichtbar werden (Gazeta Mercantil, 09.01.2002 und 11.01.2002). Im Jahr 2002 wurden im Justiz-Ministerium, im Landwirtschafts-Ministerium und im Wissenschafts- und Technologie-Ministerium Quoten für negros beschlossen. Ziel ist es, 20% der Stellen mit negros, 20% mit Frauen und 5% mit Behinderten zu besetzen. Auch ein Gesetz, dass die Beteiligung schwarzer Künstler in Film und Fernsehen obligatorisch macht, soll in diesen Tagen verabschiedet werden. Nach dem Gesetzesentwurf sollen Afro-Brasilianer 25% der Sendezeit in Fernsehprogrammen, in der Werbung sogar einen Anteil von 40% der ausgestrahlten Sendezeit einnehmen. Initiator dieses Gesetzes ist der Abgeordnete Paulo Paim131, einer der wenigen schwarzen Abgeordneten in Brasília (A Tarde, 03.01.2002). An verschiedenen Universitäten sind in 2003 erstmals Quoten für Afro-Brasilianer eingerichtet worden. Die Landesuniversität von Bahia (UNEB) hat eine Quote von 40% beschlossen bei der Belegung der neuen Studienplätze für das kommende Semester. Die 131 . Er gehört der Arbeiter-Partei (PT) an und kommt aus dem südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul 313 Direktorin der UNEB ist eine der wenigen Afro-Brasilianerinnen in einer solchen Position. Ähnliche Quotenregelungen gibt es an den Landesuniversitäten in Rio de Janeiro. (Folha de São Paulo, 22.10.2001, Especial2) Die angestrebten Quotenregelungen in den Universitäten sorgen für heftige Diskussionen in Brasilien. Die Kritiker befürchten, dass sich das Niveau an den Universitäten verschlechtere. Darüber hinaus seien Quoten nicht demokratisch und bekräftigten den Rassismus (Valor, 28.06.2002). Die Befürworter der Quoten sehen in ihnen eine erste Widergutmachungsmaßnahme zugunsten der Afro-Brasilianer, 115 Jahre nach dem Verbot der Sklaverei, und eine Chance, auf lange Sicht die rassische Diskriminierung zu reduzieren. Sie beziehen sich dabei auch auf die Erfahrungen aus den USA, wo es nach Einführung der Quotenregelungen in den letzten 20 Jahren zur Verdoppelung der afro-amerikanischen Mittelschicht gekommen sei. Unabhängig von Pro und Contra der Einführung von Quoten ist die gesamte QuotenDiskussion - das sei noch einmal wiederholt - als großer Erfolg auf dem Weg zur Integration der Afro-Brasilianer zu bewerten. Dass rassische Diskriminierung nicht das Problem einer Minderheit in Brasilien ist, wurde bereits mehrfach erwähnt. Insofern sind die Quoten auch Ausdruck der sich weiter konsolidierenden demokratischen Prozesse in Brasilien. 46% der Bevölkerung sind AfroBrasilianer, ein großes Wählerpotential, auch wenn schwarze Politiker bisher eher schlechte Chancen hatten. Im vergangenen Wahlkampf 2002 war die Rassenfrage erstmals Thema in der Fernsehdiskussion zwischen den Präsidentschaftskandidaten. Der neue Präsident Luis Inácio Lula da Silva sprach sich für die Einrichtung von Quoten für Afro-Brasilianer aus. Auf Ministeriumsebene richtete er nach Interventionen der Schwarzenbewegung im März 2003 die Secretaria Especial de Políticas de Promoção da Igualdade Racial ein, ein SonderSekretariat zur Förderung der Rassengleichheit (A Tarde, 22.03.2003). Drei seiner Minister sind Afro-Brasilianer(innen): Benedita da Silva (Soziales), Mariana da Silva (Umwelt), Gilberto Gil (Kultur) 132. Anfang Mai 2003 hat Lula den ersten Afro-Brasilianer für den Obersten Gerichtshof benannt. Zum ersten Mal gibt es mehrere Afro-Brasilianer in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen133. Ohne die Bewegung der Blocos Afros wäre dies 132 Von Gil wird eine Kulturpolitik erwartet, welche die Volkskultur stärkt und die Dominanz des städtischen Südostens überwindet. 133 Die Bahianer sind in der neuen Regierung nicht nur mit Gilberto Gil als Kulturminister, sondern auch Ubiratan Castro als neuem Präsidenten der Fundação Cultural Palmares relativ gut vertreten. 314 nicht denkbar gewesen und dafür steht symbolhaft der schwarze Kulturminister Gilberto Gil, ein distinguierter Herr, 60 Jahre alt, mit Rastahaaren. Gil ist in erster Linie Sänger, Musiker, Kulturschaffender, seine Ausflüge in die Politik waren bisher nur relativ kurz. Gil war es, der nach dem Exil in Europa, entscheidend zum Entstehen der kulturellen Bewegung der Blocos Afros beitrug. Aus Europa brachte er Anfang der 80er Jahre zusammen mit Caetano Veloso den Reggae mit. In Bahia produzierte Gil die erste Platte eines Blocos Afros und half dem in Vergessenheit geratenen Afoxé Filhos de Gandhi wieder auf die Beine, mit dem er noch heute am Karneval teilnimmt. Gil ist der bahianischen Kultur in besonderer Weise verbunden und Würdenträger in einem der traditionellsten CandombléHäuser Bahias. Gil ist aber auch einer der größten brasilianischen Musikstars, quer durch alle sozialen Schichten hindurch, und gleichzeitig Teil der internationalen schwarzen Gemeinschaft. Geradezu symbolhaft vereint er in seiner Person die kulturelle schwarze Kraft und die Möglichkeit der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. „Dieses Zentralproblem, das sich jeder Generation und somit auch der unseren aufzwingt, ist die Beantwortung der allereinfachsten und doch notwendigsten Frage: wie ist auf unserer Erde ein friedliches Zusammenleben der Menschen trotz aller disparaten Rassen, Klassen, Farben, Religionen und Überzeugungen zu erreichen? ... Keinem Land hat es sich durch eine besonders komplizierte Konstellation gefährlicher gestellt als Brasilien, und keines hat es – und dies dankbar zu bezeugen, schreibe ich dieses Buch – in so glücklicher und vorbildlicher Weise gelöst wie Brasilien“ (Zweig 1984:12). Als Stefan Zweig 1941 aus den USA nach Brasilien übersiedelte, zerfleischte sich Europa in Rassenwahn und Krieg. Geradezu paradiesisch muss ihm das Land vorgekommen sein, das er in seinem Buch „Brasilien, Land der Zukunft“ beschreibt. Sicherlich erlag er den ersten positiven Eindrücken, idealisierte vieles, entging ihm der „höfliche Rassismus“. Dennoch: „Das Letzte was stirbt, ist die Hoffnung“ sagt man in Brasilien. Vielleicht kann dadurch, dass die marginalisierten schwarzen Brasilianer zu einer neuen Identität als Afro-Brasilianer finden, Brasilien das Land der Zukunft eines friedlichen und toleranten Miteinanders von Menschen verschiedensten Herkunft und Aussehens mit gleichen Chancen für alle werden. 315 19. 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Anhang 20.1 Verzeichnis der Interviews und Fragebögen Blocos Afros Ara Ketu, Vera Lacerda 20.04.1992 Ilê Aiyê, Vovô 09.03.1992 Malê Debalê, Jocélio 28.04.1992 Muzenza, Geraldão, Garí 21.03.1992 Olodum Billy 27.01.1994 Bira 20.07.1994 Carranca 10.01.1994 Cristina 31.01.1994 16.09.1993 Dora Dias 23.09.1993 João Jorge 02.05.1994 16.03.1992 Joel 23.09.1993 Lazinho 02.05.1994 Marquinhos 18.05.1994 Negão 08.04.1994 Negô 29.08.1994 Neguinho do Samba 19.01.1994 Nil 18.05.1994 Petu 01.10.1993 Tom 26.07.1994 Vera 11.05.1994 334 Wilson 24.08.1993 Zulu 25.08.1993 Bando de Teatro Olodum Jorge Washington 20.09.1993 Márcio Meirelles 1992 Escola Criativa Olodum Manuel Almeida 05.12.1995 Informelle Gespräche bei Olodum Nelson Rita Renato França Memeu Gilmário Grande Ivan Andréia Coroa Tânia Santana Reny Veneno Internationale Schwarzenbewegung Presse-Interviews Jesse Jackson 1997 Spike Lee 1996 Alpha Blondy 1995 Linton Kwesi Johnson 1994 Jimmy Cliff 1992 335 São Paulo Fernando Conceição 20.09.1994 Hélio Santos 10.12.2002 336 Questionário Nome (se quiser dar): Endereço: Bairro: Cidade: Idade: Sexo: Cor: Escolaridade: Estado civil: Profissão: „É a primeira vez que você vai sair no Olodum?“ “Porque você vai sair no Olodum?” “Em que outros blocos você já saiu?” “O que voce sabe sobre o Olodum?” “Na sua opinão: Tem racismo no Brasil?” “Há quanto tempo você está frequentando o Pelourinho? Quais lugares?” “Qual a sua opinão sobre a reforma do Pelourinho?” 337 Questionário Mulher Olodum ‘94 Tropicalismo o Movimento 1. O que levou você a candidatur-se Mulher Olodum? 2. Qual a sua disponibilidade de tempo para com o Olodum durante este Período de um ano? 3. Qual a sua atuacão a nível de conscientização e reconhecimento da mulher na Sociedade? 4. Na sua opinão esiste racismo no Brasil? 5. Você partecipa de algum movimento femminista? Qual a sua opinão sobre ele? 6. O que você sabe sobre o trabalho desenvolvido pelo Olodum? 7. Você partecipa ou já participou do Movimento Negro? Por que? 8. Qual dos trabalhos do Olodum que você mais se identifica ? 9. O que você sabe sobre o tema do Olodum para o carnaval de 94? 10. Como você analisa a situação politica do Brasil? 11. Qual a sua opinão sobre a reforma do Pelourinho? 12. Você acha que um Bloco Afro pode fazer um trabalho de conscientização racial? Como? 13.Você gosta de ler? Qual o último livro que leu? 14.Quem e? Ministro da Previdência Social? Spike Lee? Nelson Mandela? Desmond Tutu? Benedita da Silva? 15. Você è afavor ou contra o aborto? Por que? 16. Como você vê a disputa de mercado de trabalho da mulher comparada com o homen? 17. O que você entende por privatização? 18. Você é afavor ou contra a pena de morte. Justifique. 19. O que è Reforma Agrária? 338 20. Quais os líderes do Tropicalismo? 21. Escolha um dos temas abaixo e fale sobre ele: Fome ou Educação. 339 Questionário Nome (se quiser dar): Endereço: Bairro: Cidade: Idade: Sexo: Cor: Escolaridade: Estado civil: Profissão: „É a primeira vez que você vai sair no Olodum?“ “Porque você vai sair no Olodum?” “Em que outros blocos você já saiu?” “O que voce sabe sobre o Olodum?” “Na sua opinão: Tem racismo no Brasil?” “Há quanto tempo você está frequentando o Pelourinho? Quais lugares?” “Qual a sua opinão sobre a reforma do Pelourinho?” 340 20.2 Auswahl wichtiger Gesetze und offizieller Feierlichkeiten 1951 Das Lei Afonso Arinos verbietet erstmalig in der brasilianischen Geschichte die Diskriminierung von Rasse, Hautfarbe und Religion. 19.01.1969 Verkündung der Konvention 111 der Internationalen Organisation für Arbeit über die Diskriminierung am Arbeitsplatz durch die Militärregierung 1969 AI 5 Rassismus ist tabu. 1978 Der Todestag Zumbis wird von der Brasilianischen Schwarzenbewegung (MNU) zum „Tag des Schwarzen Bewußtseins“ (Dia da Consciência Negra) ausgerufen 1982 wird die Casa Branca, als Ilê Axé Iam Nasso Oka, als erste Candomblé-Stätte Salvadors von der Stadtverwaltung unter Schutz gestellt. 1983 wird in São Paulo wird der erste Conselho de Participação e Desenvolvimento da Comunidade Negra do Estado gegründet, der bis heute auf Landesebene São Paulo auf die Politik einzuwirken versucht 12.01.1988 Neue Verfassung Titel II, Kapitel I, Artikel 6, Paragraph 3 Todos são iguais perante a lei, sem distinção de qualquer natureza. A Constituição assegura aos brasileiros e aos estrangeiros residentes no país a inviolabilidade dos direitos concernantes à vida, à liberdade, à segurança e à propriedade, nos termos seguintes: §3 A lei punirá qualquer discriminação atentatória dos diretos e liberdades fundamentais. § A prática do racismo constitui crime inafiançável e imprescritível, sujeito a pena de reclusão nos termos de lei In der neuen Verfassung wird auch verankert, dass die Nachfahren der Quilombos ein Anrecht auf den angestammten Grund und Boden haben. Die Systematisierung der QuilomboGebiete übernimmt die Fundação Palmares. 13.05.1988 100 Jahrfeier des Lei Auréa-Gesetzes unter Regie des Kultur-Ministeriums. Die Schwarzenbewegung feiert jedoch erst am 20.11.1988. 22.08.1988Gesetz 7.668 zur Gründung der Fundação Palmares wird verabschiedet. Sie soll die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Werte durch die schwarzen Einflüsse in der sozialen Formation der brasilianischen Gesellschaft erhalten. 341 05.01.1989 Das Gesetz Nr. 7.716 definiert, was als Verbrechen aufgrund von Rassismus gilt und welche Strafen für dieses Vergehen gelten. Art. 3 Zugang zu Verwaltung und Öffentlichem Dienst (zwei bis fünf Jahre) Art. 4 Anstellung in privatem Unternehmen Art. 5 Zugang zu Geschäftshaus, Verweigerung der Dienstleistung (ein bis drei Jahre) Art. 6 Zugang zu Schulen (drei bis fünf Jahre) Art. 7 Unterkunft in Hotel Art. 8 Zugang zu Restaurants, Bars, Cafés (ein bis drei Jahre) Art. 9 Zugang zu Sport- und Sozialclubs Art. 10 Zugang zu Friseuren, Saunen etc. Art 11 Zugang zu Acessos Sociais in Hochhäusern etc Art. 12 Zugang zu öffentlichen Transportmitteln Art. 13 Eintritt ins Militär (zwei bis vier Jahre) Art. 14 Heirat, familiäres Zusammenleben Art. 20 rassische Diskriminierung über Kommunikationsmittel Rassismus ist jemanden zu hindern, etwas zu tun aufgrund der Farbe seiner Haut 1989 Bahia ist der einzige Bundesstaat Brasiliens, in dessen Verfassung ein Kapitel über die Rechte der Afro-Brasilianer aufgenommen wird. Der öffentliche Druck für diese Initiative ging von verschiedenen Gruppen der Schwarzenbewegung aus, insbesondere hatten sich Vertreter Olodums, der UNEGRO und der APLB in der Assembleia Legislativa für die Aufnahme eines speziellen Kapitels eingesetzt. Am 5. Oktober wird die neue Verfassung mit dem Kapitel über die Rechte der Afro-Brasilianer angenommen. Kapitel XXIII Do Negro Art .286 Rassismus wird unter Strafe gestellt Art. 287 Mit Ländern, die Rassismus praktizieren, darf der Staat Bahia keine Beziehungen unterhalten Art. 288 Im öffentlichen Bildungswesen muss die Beteiligung der Afro-Brasilianer an der Gesellschaft berücksichtigt werden Art. 289 Wann immer öffentliche Werbung mit mehr als zwei Personen gemacht wird, müssen AfroBrasilianer eingeschlossen werden Art. 290 Der 20. November wird im offiziellen Kalender als Dia da Consciência Negra vermerkt. 1992 Gründung der Coodernaria Especial de Negro in São Paulo. Zur Stadtverwaltung gehörende Organisation, die auf die öffentliche Politik zugunsten der AfroBrasilianer Einfluss nehmen soll. 13.04.1995 Gesetz 9.029 verbietet diskriminierende Praktiken 20.11.1995 Per Dekret wird die Grupo de Trabalho Interministerial (GTI) de Valorização da População Negra installiert 300. Todestag von Zumbí 342 Legalisierung der ersten Quilombos Brasiliens 20.03.1996 Per Dekret wird im Ministério de Trabalho eine Arbeitsgruppe zur Eliminierung der Diskriminierung am Arbeitsplatz eingerichtet 13.05.1996 Per Dekret wird das Programma Nacional de Direitos Humanos installiert 20.11.1995 Gesetz.9.315 sieht dieEintragung des Namens Zumbi in das Buch der Helden des Vaterlandes (Livro dos Heróis da Pátria) – eine Initiative, die von der damaligen afrobrasilianischen Senatorin Benedita da Silva ausging. 04.09.2001 Portaria 202 sieht die Einrichtung von Quoten für Afro-Brasilianer im AgrarMinisterium vor 110.09.2001 Dekret legt die Richtlinien für die Identifikation von Quilombos fest 04.10.2001 Conselho Nacional de Combate à Discriminação 20.12.2001 Portaria 1.156 sieht die Einrichtung von Quoten für Afro-Brasilianer im JustizMinisterium vor 21.03.2002 Die Ministerien für Wissenschaft und Technik, Justiz und Ausländische Beziehungen verständigen sich über Richtlinien für die Vergabe von Stipendien an AfroBrasilianer zur Vorbereitung auf den diplomatischen Dienst 13.05.2002 Per Dekret wird die Übernahme des Nationalen Programmes zur Ação Affirmativa in der öffentlichen Verwaltung auf Bundesebene beschlossen 22.08.2002 Portaria 484 sieht die Einrichtung von Quoten für Afro-Brasilianer im KulturMinisterium vor 343 20.3 Lebenslauf Name und Vorname : Schaeber, Petra Geburtsdatum : 16.01.1962 Geburtstort : Hamburg Eltern : Schaeber, Helmut Schaeber, Hildegard, geb. Lange Familienstand : verheiratet 2 Kinder: Luan Max (6 Jahre), Moritz Pablo (4 Jahre) Schulbildung : 1968-1972 Grundschule Horneburg 1972-1981 Vincent-Lübeck-Schule Gymnasium zu Stade Universitätsbildung : 1983-1990 Studium der Volkswirtschaft, sozialwiss. Richtung Universität Köln, Abschluss Diplom-Volkswirtin Diplom-Arbeit: Die Favelas der Metropolitanen Region Rio de Janeiros und die Wohnungssituation in Brasilien 1987–1988 Studium an der Pontifícia Universidade Católica (PUC) Rio de Janeiro (insbes. Wirtschaft, Geschichte, Geografie, Soziologie und Film Brasiliens) 1991-1995 Doktorandin an der Universität Bielefeld, Fachbereich Soziologie 1993-1994 Stipendium des Deutschen Akademischen Austausch-Dienstes (DAAD) und des Centro de Aperfeiçoamento de Pessoal de Nível Superior (CAPES) für Feldforschung in Brasilien Seit 1995 Doktorandin an der Freien Universität Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaften 344 Berufsausbildung : 1982-1984 Journalisten-Ausbildung an der Kölner Schule – Institut für Publizistik Berufstätigkeit seit 1984 Tätigkeit als freie Journalistin für Printmedien, Rundfunk und Fernsehen Auslandstätigkeit 1982 Buenos Aires 1985 Buenos Aires 1986 Mexiko 1988 Rio de Janeiro Wissenschaftliche Beiträge und Artikel :Publikation von Artikeln in Tageszeitungen, Wochenzeitungen und Fachzeitschriften Beiträge zur Fachliteratur in Brasilien Buchveröffentlichungen 1992 Anders Reisen Brasilien, Rowohlt Taschenbuch Verlag 1993 Reise-Taschenbuch Bahia, Dumont Verlag 1996 2. überarb. Auflage, Reise-Taschenbuch Bahia, Dumont Verlag 1996 Brasilianisch in letzter MinuteRowohlt Taschenbuch Verlag 2001 Reise-Taschenbuch Bahia, Salvador, Brasiliens Osten, Dumont Verlag Sprachen Portugiesisch Englisch Spanisch Französisch Italienisch Berlin, im Mai 2003 345 20.4 Verzeichnis der Abbildungen Koloniales Leben Sklaven-Bestrafung (Quelle für beide: DEBRET, Jean Baptiste 1989: Viagem pitoresca e história ao Brasil.São Paulo, Ed. Universidade de São Paulo(Original 1834) Batuque und Bahianerin (Quelle: Spix, J.B. & Martius, F.P.: Batuque in São Paulo, ca. 1817 und Lindemann, K.: Creoula in Bahia, ca. 1900. In: CARNEIRO, Maria Luiza Tucci u KOSSOY, Boris 1994: O Olhar Europeu. O negro na iconografia brasileira do século XIX. São Paulo, EDUSP) Fotos Karneval Ilê Aiyê Fotos Karneval Filhos de Gandhi Fotos Pelourinho und Schlange für Karnevalskostüm Fotos Karneval Olodum und Polizei Fotos vom Clip mit Michael Jackson Poster Nelson Mandela Jornal Olodum Zumbi Jornal Olodum Boletin Olodum Jornal Banto Nago, Programm Seminar Mulher und Werbung für PT Poster Frau Olodum Bucherveröffentlichungen Olodum Prospekte Femadum, Seminar zu Erziehung Werbung Bradesco/Sisley Prospekt Tourneen New York Times (12.04.1993) 346