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27. April 2012
Einwanderer in Dortmund Nordstadt
27.04.2012 · Von Stolipinowo nach Dortmund, aus der Armut in die Prostitution und Tagelöhnerei:
Wie die Europäische Union ein bulgarisches Plattenbau-Getto und ein deutsches Gründerzeitviertel
zu Nachbarn machte.
Von Dirk Liesemer
© Frank Röth Auf der suche nach Glück und Arbeit: Mehr als tausend Bulgaren sind in den letzten
Jahren nach Dortmund gekommen
Du musst an dein Schicksal glauben, und du brauchst gute Schuhe, sonst hast du keine Chance.
Wenn du fremd bist in einer Stadt, musst du viel laufen. Jeden Tag zwanzig, dreißig Kilometer durch
die Straßen. Du musst mit den Augen schauen und die Leute in den Cafés ansprechen. Du wirst
hunderte Male abgewiesen, aber du darfst nicht aufgeben. Irgendwann kennen dich die Menschen
und vertrauen dir. Bis dahin ist es ein Kampf.“
Der das sagt, ist Oktay, 21 Jahre, der Name stammt aus dem Türkischen und bedeutet starker,
tapferer Mond. Es ist das Pseudonym, das er sich gewählt hat. Vergangenen Herbst bricht er mit
seiner 16jährigen Freundin und dem Baby aus Plowdiw in Bulgarien auf, wo er sich als Bäcker
selbständig gemacht hatte und gescheitert war. Sie verkaufen die Möbel, packen die Koffer und
nehmen den Bus. Die Reise führt nach Dortmund, in eine, wie sie glauben, bessere Welt.
Nebenan herrscht Leerstand
Ihre Fahrt beginnt im Morgengrauen und endet am Abend des folgenden Tages. Sie führt von der
östlichen Peripherie ins Zentrum der Europäischen Union. Seitdem Bulgarien vor fünf Jahren in die
EU aufgenommen wurde, sind Hunderttausende nach Westeuropa ausgewandert. Viele gingen in
Städte, in denen sie jemanden kannten, Verwandten, Freunden, frühere Nachbarn, deren Erzählungen
sie vertrauten. So entstanden im Westen Brückenköpfe des Ostens. Seither entscheidet sich das
Schicksal der EU nicht mehr in Brüssel, Berlin oder Paris, sondern in Stadtvierteln wie der
Dortmunder Nordstadt. Als Oktay und seine Freundin mit dem Baby aus dem Bus steigen, folgen sie
einfach den anderen Reisenden, die mit ihren Rollkoffern vorausmarschieren.
Die Dortmunder Nordstadt könnte ein Viertel wie der Prenzlauer Berg sein. In keinem anderen
Stadtteil des Ruhrgebietes stehen mehr Gründerzeithäuser auf so engem Raum. Die Straßen sind
benannt nach Goethe, Schubert, Heine, Schiller, Mozart. Doch anders als in Berlin ist die
Gentrifizierung hier ausgeblieben. Hinter Stuckfassaden und unter hohen Decken leben noch
Künstler, gibt es Programmkinos, vorbildhafte Grundschulen und Bierkneipen wie aus den sechziger
Jahren, aber nebenan herrscht Leerstand, breiten sich Ein-Euro-Ketten aus und schrammelige
Waschsalons. Vor Jahren sind Ausländer in das Arbeiterviertel gezogen, Türken, Libanesen, Serben,
die nun das Bild bestimmen. Die Nordstadt ist Stadterneuerungsgebiet und Sanierungsfall zugleich.
„Die kriegt man nicht mehr raus“
Noch am ersten Tag sucht Oktay eine Wohnung. Verblüfft staunt er über all die Säufer und
Drogensüchtigen, die er im Viertel sieht. Und darüber, wie viele Menschen er aus Plowdiw kennt.
Sie stehen an einer Ecke am Nordmarkt, warten, schauen Kleinlastern nach, warten, kauen
Sonnenblumenkerne, warten, stundenlang. Viele von ihnen sind Roma. Er geht nicht zu ihnen hin,
grüßt nicht einmal. Sie sind ihm zu düster. Er weiß, dass sie aus dem Plowdiwer Stadtteil
Stolipinowo stammen, einem der größten Gettos der Balkanhalbinsel.
Oktay spricht kein Wort Deutsch. Selbst auf ein „Hallo“ weiß er keine Erwiderung. Aber er kann
sich auf Türkisch verständigen, und in der Nordstadt leben viele Türken. Vermutlich hilft es ihm,
dass er auf Kleidung, Gestik und Wortwahl achtet. Man hält ihn nicht gleich für einen Bulgaren. In
der Nordstadt denken die Menschen bei Bulgaren vor allem an Hehler, Prostituierte, Diebesbanden.
Erzählt wird von Bulgaren, die in Autos schlafen, von Windeln, die aus Fenstern fliegen, und von
Monteuren, die auf dem Mittelstreifen Öl wechseln. Zu hören ist von „Ekelhäusern“ mit Kakerlaken
und Müllbergen. „Wenn man denen eine Wohnung aufmacht“, sagt eine Vermieterin, „hockt zwei
Tage später die ganze Familie drin. Die kriegt man nicht mehr raus.“
Manch einer weiß die Not der Bulgaren für zu nutzen
Um länger als drei Monate in Deutschland bleiben zu dürfen, muss ein Bulgare einen Mietvertrag
vorweisen, eine Anmeldebescheinigung, eine Krankenversicherung. Aber kein Beamter versteht
Oktay und kaum jemand weiß, welche Rechte einem Bulgaren zukommen. Für Bulgaren (und
Rumänen) gilt anders als für andere Europäer bisher nicht die volle Freizügigkeit in der
Europäischen Union. In der Regel dürfen sie sich nur als Selbständige in Deutschland niederlassen.
Erst 2014 herrscht volle Freizügigkeit. Manche Politiker befürchten dann gewaltige
Migrationsströme aus Südosteuropa.
© Frank Röth
Glücksspiel und Zeitvertreib: Szene aus einem Café in der Dortmunder Nordstadt
Oktay läuft von Behörde zu Behörde, von einem möglichen Arbeitgeber zum nächsten. Nach einigen
Wochen sind die Sohlen seiner Schuhe „bis auf Null“ abgewetzt. Er kauft sich neue, bekommt
Blasen, läuft die Sohlen wieder ab. In der Beratungsstelle Westhoffstraße trifft er auf Marina Samra,
die ein paar Jahre in der Türkei gelebt hat und ihn versteht. Sie hilft ihm mit Formularen und dem
Kindergeld, vom dem er nur eine vage Idee hatte, dass es seiner Familie zusteht. Kurz darauf findet
er eine türkische Bäckerei, die ihn nicht gleich abweist. „Ich habe als Bäcker gearbeitet“, erzählt er
dem Chef, „ich kenne viele Menschen hier, wenn Sie mich einstellen, kommen sie als Kunden.“
Der Bäckermeister lässt ihn Börek machen und Dürum beurteilen. Nach sechs Wochen bekommt er
Arbeit, weil er bulgarische Teigwaren herstellen kann. Diese Fertigkeit hebt ihn von allen hier
lebenden Bewerbern ab, die sonst vorgezogen werden müssten. Nicht zuletzt die Türken empfinden
die Neuankömmlinge als gefährlich. Sie fürchten, dass ihr Viertel an Wert verliert und die Kinder
nicht sicher zur Schule gehen können. Manch einer weiß die Not der Bulgaren für sich zu nutzen und
drückt ihre Löhne rabiat. Oktay hat Glück gehabt. In nur sechs Monaten hat er erreicht, wovon viele
seiner Landsleute träumen. „Eines Tages eröffne ich eine Bäckerei“, sagt er, „du machst ein Foto für
die Zeitung und dann gebe ich meinen Namen preis.“
Armut, die man sich in Deutschland nicht mehr vorstellen
konnte
Kaum ein Bulgare will mit seinem Namen in der Zeitung stehen. Ein Notizblock kann jede
Unterhaltung beenden. Die einen kennen jemanden, der einmal von einer Zeitung zitiert wurde und
Tage später deshalb eine Vorladung zu einer Behörde erhielt. Die andere wollen nicht genannt
werden, weil sie sich für ihre aussichtslose Lage schämen. Eine Familie lässt mich in ihre Wohnung.
Es gibt zwei Zimmer, einen Fernseher, Plastikblumen. Der Vater wartet seit Wochen auf Anrufe von
Auftraggebern. Die Miete ist offen, die Frau weint, weil sie keinen Tee anbieten kann. Ihr 18jähriger
Sohn hat in Bulgarien das Gymnasium abgeschlossen. Er kam vor einem Jahr nach Dortmund,
spricht kein Wort Deutsch und ist überrascht, als ich frage, was er mit seinem Leben anfangen wolle.
Die Familie überlebt mit einfachsten Gerichten: Mehl, Wasser und Salz werden beispielsweise zu
einem Teig geknetet und in einer öligen Pfanne von beiden Seiten gebraten. „Das ist Armut, die man
sich in Deutschland nicht mehr vorstellen konnte“, erzählen die Leute beim Straßenmagazin. „Nur
wer blind ist, übersieht die Misere, in der diese Menschen leben“, sagt die Dortmunder
Oberstaatsanwältin. Und im Sozialdezernat des Oberbürgermeisters heißt es: „Im Ruhrgebiet dachten
wir immer, dass wir gut darin sind, fremde Menschen zu integrieren.“ Jetzt lerne man, dass das kein
Naturgesetz sei.
„Du hast ein Kind von ihm, du gehörst zu ihm“
Auch Violetta ist ein Pseudonym. Sie ist Mitte dreißig, eine Roma mit großen Augen und
kastanienbraunem Haar. Seit einigen Monaten ist sie als Opfer von Menschenhandel anerkannt,
Paragraph 25, 4a Aufenthaltsgesetz. Zwanzig Jahre, nachdem sie aus Plowdiw verschleppt wurde.
Damals kommt sie von ihrer Mutter, die sie im Vorort Stolipinowo besucht hat. Ein Ghetto wie es
wohl kein zweites Mal in Europa existiert. 45000 Menschen leben dort in Plattenbauten, vor allem
Roma. Handybilder zeigen, wie Müll alle Wege und Wohnblöcke säumt und sich an manchen
Stellen bis unter die Balkone im ersten Geschoss türmt. Es gibt keinen Strom, kein fließend Wasser.
Nicht einmal in den Mülleimern finde man dort Essensreste, heißt es.
Violetta ist minderjährig, als sie ein Mann auf einen Kaffee einlädt, nach dem ihr schwindelig wird.
Sie merkt noch, wie man sie in ein Auto drängt. Am nächsten Morgen erwacht sie nackt in einem
fremden Bett. Ihr Körper schmerzt. Sie wagt nicht zu fliehen, blau geprügelt wie sie ist. Monatelang
fährt sie der Mann durch Bulgarien, damit sie mit Freiern schläft. Als sie noch ein Kind bekommt,
weil ihr Zuhälter immer wieder über sie herfällt, geht sie zur bulgarischen Polizei, um ihn
anzuzeigen. Dort heißt es: „Du hast ein Kind von ihm, du gehörst zu ihm.“
Nach Bulgarien will sie nie wieder zurück
Anfang 2004 bringt sie ihr Zuhälter nach Dortmund. Tage später steht sie hinter dem Baumarkt in
der Nordstadt, zwischen Polinnen, Russinnen und drogensüchtigen Deutschen. „In schlechten
Monaten verdiente man damals 4000 Euro, an guten Abenden 1000 Euro,“ sagt sie. Solche Margen
gelten, so wird von mehreren Seite versichert, als recht hoch, aber nicht als abwegig. In Stolipinowo
spricht sich herum, wie viel Geld sich in Dortmund verdienen lässt. Im April 2007, nur Monate
nachdem Bulgarien in die EU aufgenommen ist, stehen plötzlich sieben bulgarische Roma hinter
dem Baumarkt. „Wir dachten nur: so viele, wie sollen wir die bloß auffangen“, erzählt eine
Sozialarbeiterin. Zwei Monate später sind es schon 35.
„Viele kannte ich aus Stolipinowo“, sagt Violetta, „nicht eine kam freiwillig.“ Sie nennen sich Katja,
Melissa, Samanta, Tanja. Die deutschen Prostituieren-Organisationen sind schockiert über die
Arbeitsweise der Bulgarinnen. Sie sagen ihnen: „Euer Körper ist euer Kapital.“ Aber sie behandeln
ihn wie Schmutz und verhüten mit absurden Methoden: Sie streuen sich Zucker auf den Kopf,
schlucken Diabetes-Tabletten und verweigern die Pille, weil sie aufgrund der Bartwuchs fördernden
Wirkung befürchten, zum Mann zu mutieren.
© Frank Röth
Neben einem Schaufenster die eigene Arbeitskraft anbietend: ein bulgarischer Einwanderer in der
Mallinckrodtstrasse
Als Violettas Zuhälter sie für einige Zeit aus den Augen lässt, nimmt sie die Kinder, verschwindet
aus der Nordstadt und versteckt sich in einem Park. Sie lernt einen Mann kennen, der sie in seiner
Wohnung versteckt und nach einer Zeit will, dass sie zur Polizei geht. Sie wagt sie sich in eine
Dienststelle und ist überrascht, dass man ihr Kaffee anbietet und die Anzeige aufnimmt. Nach einer
Bedenkzeit erklärt sie sich bereit, vor Gericht gegen ihren Zuhälter auszusagen. Für die Zeit des
Verfahrens erzählt sie Sozialhilfe. Nach Bulgarien will sie nie wieder zurück.
Straßenstrich nach heftigen Debatten geschlossen
Der Dortmunder Strich gilt zu jener Zeit als modellhaft: Straßenprostitution wird als legal anerkannt,
im Gegenzug lassen sich die Prostituierten kontrollieren. Die Freier müssen mit ihren Autos in
„Verrichtungsboxen“ fahren, in denen sich die Fahrertür nicht öffnen lässt. Übergriffe und
Vergewaltigungen nehmen ab. Nun zerren bulgarische Zuhälter ihre Frauen an den Haaren über die
Straße, Prostituierte laufen in Reizwäsche durchs Viertel zum Strich. Schließlich berichten die
Boulevardzeitungen von 700 Prostituierten.
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Es ist eine verkürzte Nachricht, doch sie verfängt. Tatsächlich werden nie derart viele Prostituierte
gleichzeitig auf dem Straßenstrich gesehen, sondern über das gesamte Jahr gezählt. Denn viele der
Bulgarinnen rotieren permanent zwischen Stolipinowo und Dortmund hin und her. Die Armut dort
und die Möglichkeit zum schnellen Geld hier führen zu unfassbaren Fällen: Eltern verkaufen ihre
Töchter für 1000 Euro. Für Beobachter wird es immer schwieriger zu beurteilen, für wen die Frauen
anschaffen gehen. Selbst Verwandte und Eltern mischen als Zuhälter mit. Die Preise fallen derweil
bis auf dreißig Euro für den „full service“. Manche Frauen tragen jetzt Schilder um den Hals: „Bin
billig.“
Im Frühjahr 2011 wird der Straßenstrich nach heftigen Ratsdebatten geschlossen. Eine Lokalzeitung
titelt: „Deutliches Signal bis nach Plowdiw.“ Fortan prostituieren sich die Frauen illegal in
Wohnungen, wo sie gewalttätigen Freiern ausgeliefert sind. Eine Prostituierte wird aus einem
Fenster im ersten Stock gestoßen und überlebt schwerverletzt.
„Ich spreche Deutsch ein bisschen“
“In Plowdiw wissen die Menschen, was die Dortmunder über uns sagen“, sagt Marija, 29, „dafür
haben wir uns geschämt.“ Sie trägt ein Kopftuch und ist gläubig. Ihre Familie gehört zur türkischen
Minderheit in Bulgarien. Seit vergangenem Sommer lebt sie in Dortmund. Sie ist wegen Marijas
ältester Tochter gekommen. Das Kind ist elf Jahre alt, kann nicht sprechen, nicht einmal Mama und
Papa sagen. Alle Laute sind gemurmelt. Es nässt ein und weiß nicht, wie es sich bei Hungergefühl
bemerkbar machen soll. Kein bulgarischer Arzt konnte sagen, was zu tun ist und ob sich der Zustand
bessert. Die Familie entschied, das Kind in einem deutschen Krankenhaus untersuchen zu lassen.
“Mit Gottes Hilfe“, sagten sie und setzen sich mit der Tochter, dem jüngeren Sohn und den
Großeltern ins Auto nach Dortmund. Der Schwiegervater spielt dort als Klarinettist auf Hochzeiten.
Zwei Wochen wollten sie bleiben. Doch die Untersuchungen dauern. Für die ersten drei Monate
besitzen sie eine europaweit gültige Krankenversicherung. Dann müssen sie in eine hiesige
Versicherung wechseln. Sie sammeln alle Unterlagen, Mietvertrag, Freizügigkeitsbescheinigung,
Anmeldung. Aber die Krankenkassen sperren sich. Immer wieder soll die Familie neue Formulare
ausfüllen oder irgendetwas herbeischaffen, von dem sie nie gehört hat. Erst eine juristisch
beschlagene Pädagogin weiß, bei welchem Pflichtversicherer es Bulgaren versuchen könnten. Der
Bescheid scheint abhängig von der Tagesform einer Sachbearbeiterin zu sein.
© Röth, Frank
Die obdachlose Bulgarin Kiymet: Sie ist die Mutter der Prostituierten Temenuska. Ein Freier
verletzte ihre Tochter so schwer, dass sie seither auf einen Rollstuhl angewiesen ist
Derweil wird Marijas Tochter behandelt. Als das Kind erstmals in ihrem Leben die Hände nach
Essen ausstreckt, sind die Großeltern schon wieder in Plowdiw. Marija und ihr Mann wollen nicht
zurück an den Rand Europas. Ihr Sohn soll ihnen später nicht vorwerfen, dass sie nicht alles für seine
Ausbildung getan hätten. Es wird wohl erst seine Generation sein, die in Dortmund ankommt. In der
Nordmarkt-Grundschule lernen manche bulgarischen Kinder zum ersten Mal, die Zähne zu putzen
oder einen Stift in der Hand zu halten. Andere sind begabt wie die siebenjährige Sevil. Schüchtern
gibt sie zu, dass sich nachmittags mit ihrer Mutter deutsche Vokabeln lernt. „Ich spreche Deutsch ein
bisschen“, sagt sie und schiebt grinsend nach, „besser als Mama.“
Jeden Tag nur eine kleine Salami, ein Stück Brot und eine
Tomate
Wer heute den Nordmarkt besucht, sieht nur wenige Bulgaren. Sie stehen an der Straße und warten
auf Kleinlaster, die sie für eine Arbeit auflesen, zum Möbelschleppen etwa. Vor gut einem Jahr
standen sie noch in großen Gruppen herum. Die Zeitungen schrieben von „Arbeiterstrich“. Legal
dürfen sie sich bisher in der Regel nur als Selbstständige niederlassen, als Monteure oder Tapezierer.
Einer versucht sich als Europaletten-Restaurierer. Andere fahren als Schrotthändler umher und
lassen Flötenmelodien ertönen. Zwanzig Jahre lang waren solche Töne nicht mehr in der Nordstadt
zu hören.
Hasan, 29, hantiert mit einem Handy, dessen Batterie ausgefallen ist. Es ist eine Katastrophe. Kein
Auftraggeber kann ihn mehr erreichen. Solange das Gerät funktionierte, hat er manchmal mit Frau
und Töchtern in Stolipinowo telefoniert. Sie haben gesagt: „Papa, schick Geld für Schuhe.“ Wie die
anderen Männer pendelt er auf eigene Faust. Wenn er sich nach Dortmund aufmacht, nimmt er nicht
den Bus zum Hauptbahnhof, sondern steigt in einem Kleintransporter, der direkt zum Nordmarkt
fährt. Vor drei Jahren war er das erste Mal hier und verdiente hundert Euro am Tag. Jetzt hat er in
siebzehn Tagen vierzig Euro erhalten und zurück kann er nicht. Er hat nur noch 1,50 Euro, die Fahrt
nach Stolipinowo kostet fünfzig Euro, und die hundert Euro teure Hinfahrt hat er noch nicht bezahlt.
Er kauft sich jeden Tag nur eine kleine Salami, ein Stück Brot und eine Tomate. „Darum fehlt mir
Kraft für schwere Arbeit“, sagt er.
„Wir sind EU-Bürger, aber niemand will uns“
Sein Tag beginnt morgens um fünf Uhr. Er postiert sich auf einer Straßenecke am Nordmarkt und
wartet für gewöhnlich bis abends um acht Uhr. Danach, weiß er, geschieht nichts mehr. Nachts sitzt
er mit den Kumpels im Internetcafé, wo man nicht einschlafen darf, weil es verboten und kalt ist,
aber ein Matratzenlager ist ihm zu teuer. Er müsste monatlich 200 Euro auftreiben und würde mit
drei anderen in einem Zimmer liegen.
Er hockt mit seinen Kumpels im albanischen „Stehcafe Europa“, wo er sich aufhält, wenn es regnet.
Ein winziger, dunkler Raum, Spielautomaten blinken an der Wand, an der Tür ein Schild der
Vormieter: „Das Mitführen und der Konsum von Rauschgift ist in diesen Räumlichkeiten verboten!“
Männer, die eine Ewigkeit an einem Plastikbecher Mokka nippen. Jemand sagt: „Wir kommen aus
einem Mafiastaat, und wir stehen ganz unten.“ Ein anderer: „In unserer Heimat gibt nichts. Keine
Arbeit, kein Geld, keine Ausbildung.“ Ein dritter: „Wir sind EU-Bürger, aber niemand will uns.“ Ein
vierter: „Was ist mit den Menschenrechten, gelten die nicht für uns?“ Hin und wieder steht einer auf
und sagt im Hinausgehen: „Mir reichts, ich fahr nach Hause.“ Irgendwann taucht er wieder auf.
Kein Geld, keine Arbeit, kein Essen
Einmal ist Hasan durch die türkischen Geschäfte der Nordstadt gezogen und hat gefragt, ob er
anpacken könne. Man hat gesagt: Welche Arbeit sollen wir dir geben, wenn du nicht mal
Preisschilder lesen kannst? Eine Obdachlosenzeitung darf er nicht verkaufen, dazu müsste er
wenigstens Deutsch sprechen. Und an den Tafeln erhält er nichts zu Essen. Dafür müsste er einen
Nachweis vorlegen, dass er Sozialleistungen bezieht. Solch einen Nachweis erhält er als Tagelöhner
jedoch nicht.
© Frank Röth
„Mit Gottes Hilfe“: Drei bulgarische Frauen unterwegs in der Dortmunder Nordstadt
Als ich Tage später erneut in der Nordstadt nach Hasan frage, ist er fort. Man erzählt sich lediglich
von einem Bulgaren, der morgens auf einem Dachgiebel über dem fünften Stock hockte, mit
irgendetwas herumfuchtelte und auf türkisch schrie: „Kein Geld, keine Arbeit, kein Essen, Hunger.“
Die Feuerwehr spannte ein Tuch. Ein Psychologe und ein Übersetzer versuchten den Mann zu
besänftigen. Hunderte Menschen verfolgten zwei Stunden lang das Spektakel. Immerhin ist zu
erfahren, dass es sich nicht um Hasan handelte.

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