Zuflucht zu einem Zwitter

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Zuflucht zu einem Zwitter
Mitteldeutsche Zeitung
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Montag, 14. Februar 2000 - 2 6
Preis an Harald Szeemann
Frankfurt
(Maln)/dpa.
Der
Schweizer
Ausstellungsmacher
Harald Szeemann hat am Sonnabend den mit 50 000 Mark dotierten Max-Beckmann-Preis der Stadt
Frankfurt am Main erhalten. Der
1933 in Bern geborene Kunsthistoriker übte mit Ausstellungen einen
nachhaltigen Einfluss auf das zeitgenössische Kunstgeschehen und
die Kunstrezeption aus.
Junger Fotowettbewerb
Die Situation am Marktplatz heute und wie sie sich der Architekt Johannes
Kister vorstellt. Aus einem Komplex für Einzelhandel und Gastronomie ragt
der zentrale Baukörper in den Umrissen der „Ratswaage" heraus. Von dem
nach Kriegsschäden abgerissenen, einst reich verzierten Renaissancebau
existiert noch das Portal. Zeichnung: Büro Kister, MZ-Foto: Jens Schlüter
Städtebau
Bonn/MZ. Zum dritten Mal
schreibt die Deutsche Stiftung
Denkmalschutz einen Foto-Wettbewerb für Jugendliche von zehn
bis 19 Jahren aus. Beiträge zum
Thema „Neu und Alt" können bis
30. November eingereicht werden.
Auskünfte von der Stiftung unter
Tel. 0228/9573878.
Zuflucht zu einem Zwitter
Snoopys
Schöpfer
ist tot
Ein Bauvorhaben am Marktplatz offenbart erneut das Niveau der Architekturdiskussion in Halle
Charles Schulz wurde 77
Von unserem Redakteur
GÜNTER KOWA
Halle/MZ. Der Marktplatz in Halle
ist und bleibt Mitteldeutschlands
potenzielle Probebühne für das
„neue Bauen im alten Kontext".
Derzeit erregt ein Bauvorhaben an
der Nordost-Ecke die Gemüter.
Was bisher geschah: 1993 wurde
ein Warenhaus gebaut, das zum
abschreckenden Beispiel avancierte. Plump proportioniert und kraftlos gegliedert, verstört es mit teils
ärmlichen, teils gekünstelten Details, wirkt billig, unbeholfen, provinziell. Am Platz schräg gegenüber sind Pläne einer Bank zum
Bau eines Glasturms auf Eis gelegt
worden. Die konservative Strömung in der Stadt verlangt derweil
immer wieder mal nach einer Kopie des verlorenen alten Rathauses.
In dieser Situation bot jüngst eine
Diskussion im Planungsausschuss
des Stadtrates Anschauungsunterricht darüber, wie weit es gekommen ist in Sachsen-Anhalts Kulturhauptstadt mit der öffentlichen
Meinungsbildung zur Frage des
zeitgenössischen Bauens.
Zum Tagesordnungspunkt „Nordostecke Markt", einem städtischen
Grundstück, das neu zu bebauen
ist, erhob sich der Preisträger des
Architektenwettbewerbes
vom
vergangenen Jahr, der Kölner Architekt und Dessauer Fachhochschulprofessor Johannes Kister,
und präsentierte den überraschten
Bürgervertretern eine „kritische
Rekonstruktion".
Mit diesem Terminus aus der Berliner Architekturdebatte bezeichnete jedenfalls der Planungsdezernent der Stadt, Friedrich Busmann,
sichtlich wohlwollend die komplett
umgearbeitete Version des Wettbewerbsbeitrages des Büros Kister,
Scheithauer, Gross. Der Architekt
hielt eine Zeichnung hoch, auf der
im Blickfang, eingefügt in moderne
Rasterfassaden der rückwärtigen
Bauten, ein Baukörper in den Umrissen der „Ratswaage" zu sehen
war, mit steilem Satteldach, Gauben und seitlichen Treppengiebeln.
Die Ratswaage stand bis Kriegsende auf demselben Grundstück und
war, wie das benachbarte Rathaus,
ein Werk des Stadtbaumeisters Nickel Hofmann von 1558-1575.
Warum diese Anbiederung von
dem Vertreter einer Moderne der
würfelförmigen Baukörper, gläsernen Schauseiten und rechtwinklig ausgeschnittenen Blendfassaden? Dazu muss man auf die
Ausgangslage zurück gehen. Der
Wettbewerb war für Investoren im
Tandem mit Architekturbüros aus-
Einigung zu Beutekunst
Marktplatz
Wunde im Zentrum
Vom „historischen Marktplatz" ist
in Halle gerne die Rede, aber vorgründerzeitliche Substanz ist nur
an der Südost-Ecke überliefert. In
Kriegs- und Nachkriegszeiten ist
der Platz durch Bomben und Abrisse verwundet und ausgeweitet
worden. Der einzige NachwendeNeubau, ein Warenhaus, trat an die
Stelle eines Warenhaus-Gebäudes
aus den zwanziger Jahren. Mehrere
Architekten-Wettbewerbe zur Bebauung der Fläche des abgebrochenen Alten Rathauses sowie zur
Platzgestaltung blieben bisher ohne Ergebnis.
geschrieben worden, weil sich die
Stadt architektonisch befriedigende und zugleich wirtschaftlich umsetzbare Ergebnisse versprach.
Kister war Auftragnehmer der Immobiliengesellschaft
Frankonia.
Sie bietet Kaufhof als Mieter auf.
Der Konzern führt besagtes neues
Warenhaus am Marktplatz. In den
Neubau soll die Elektronikkette Saturn ziehen, begleitet von Handel,
Gastronomie und Unterhaltung.
Bauen will aber auch die West-LB
im Verbund mit Karstadt. Im Wett-
bewerb waren sie mit einem Kaufhaus vertreten. Die konkurrierenden Handelsriesen üben inzwischen Druck auf die Stadt aus. Vor
der ortstypischen Haltung des Architektur-Wankelmuts blüht nun
der Opportunismus.
Johannes Kisters Wettbewerbsentwurf war ein mehrfach durch
gläserne Zwischenglieder gebrochener Kubus. An der Längsseite
knickte er in Richtung eines einmündenden Straßenverlaufs ab,
die Front schloss flächig; darin eingeschnitten waren Fenster und
Portale. Auf Busmanns Wunsch
überarbeitete Kister den Entwurf.
Heraus kam eine Verschlimmbesserung mit aufdringlichen sattelförmigen Flugdächern und einer
noch kahleren Fassade.
Angesichts dieses unverdaulichen
Brockens war die Stadtverwaltung
noch verzagter als sonst. Man trat
die Flucht auf das vermeintlich populäre Terrain der Altertümelei an.
In der erklärtermaßen laienhaft
agierenden Ausschuss-Runde („Es
ist doch alles eine Geschmacksfrage"), um Urteilsfähigkeit offensichtlich wenig bemüht, zirkulierte
jedenfalls gleich das Wort vom Hildesheimer Knochenhauer-Amtshaus. Busmann wiederum pries
Halberstadt. Dort steht im neu gebauten Zentrum vor dem postmo-
dem angehauchten Rathaus eine
Attrappe der Fassade des gotischen
Baus. Die Bizarrerien einer
Kleinstadt paradieren also als Vorbild für Halle - vielleicht sollte es
niemanden mehr überraschen.
Nun aber hat man die Geister gerufen. Die „Ratswaage" am Marktplatz, auch wenn sie nur „kritische
Rekonstruktion" sein will, wird
erst recht die Begehrlichkeiten
nach der Rathaus-Kopie wecken.
Es zeigt sich jetzt, wie bitter nötig
ein Gesamtkonzept für die PlatzArchitektur gewesen wäre.
Kisters „Ratswaage" ist ein Würfel,
dem er ein Satteldach mit Treppengiebeln aufgesetzt und das erhalten gebliebene RenaissancePortal vorne aufgeklebt hat. Das
angestrengte Bemühen, diesen
Zwitter mit den Rasterfassaden zu
verzahnen und mit einer schicken
Loggia aufzupeppen, lässt ihn nur
noch fremdartiger abstehen.
Halle will am Markt ein Haus des
Konsums, der Gastlichkeit und der
Unterhaltung. Welch Unding, dieses Tagtreiben und Nachtschwärmen hinter Mauern zu verstecken
und mit Attributen der Renaissance zu verbrämen! Die lange abgeräumte Nordseite des Marktplatzes wäre Halles große Chance, Zeichen der Gegenwart zu setzen.
San
Francisco/dpa/MZ.
Knapp 50 Jahre nach dem Beginn der Serie ist der Schöpfer
von Charlie Brown, Snoopy
und den anderen „Peanuts"
77-jährig
an
Darmkrebs
gestorben. Charles M. Schulz,
der „sein ganzes Leben lang"
die Figuren zeichnen wollte,
hatte selbst noch den Erscheinungstermin des letzten Strei-
„Oh Jemine!" - mit Trauer in der
Stimme: Charlie Brown
fens festgesetzt: Gestern stand
er in den amerikanischen
Sonntagszeitungen. Die archetypischen Charaktere steckten
in ihrer schlichten, schlagfertigen Art voller Tiefsinn, weshalb die Serie weltweit millionenfach Anklang fand.
Schauspiel Leipzig
Rückgabe in Sicht?
Sag Ja zu gutgepolsterter Gemütlichkeit
Bremen und Russland tauschen Kunstgut
Liebe in Zeiten des pop-urbanen Lebensstils: „Pussy Talk" hatte in der „Neuen Szene" Premiere
Bremen/dpa. 55 Jahre nach
Kriegsende haben sich deutsche
und russische Kulturpolitiker
auf einen Austausch damals geraubter Kunstschätze geeinigt.
Bei einem Treffen in Bremen
vereinbarten beide Seiten am
Samstag letzte Details einer
Rückgabe. Sie ist nach der russischen Präsidentenwahl vom 26.
März geplant. Bremen wird nach
den Worten von Regierungschef
Henning Scherf eines der Steinmosaik-Bilder aus dem legendären Bernsteinzimmer an Russland zurückgeben. Im Gegenzug,
so kündigten die Vertreter der
russischen Föderation an, sollen
101 Bilder des Bremer Kunstvereins übergeben werden.
Mitteldeutsche Zeitung
Tag für Tag mittendrin.
Versatzstücke zusammen. Das
dauert 75 kurze Minuten und ist
nicht darauf aus, so zu tun, als hätte das Dasein eine Quintessenz. Mit
einer Mischung aus Kitsch und Lakonie versucht von Hartz, dem beizukommen, was den Menschen
nunmal bewegt, auch wenn er es
am Intellektuellenstammtisch ungern zugibt: Sehnsüchte und Frust,
Selbstzweifel und Lust.
Von EVELYN FINGER
Endlich einmal Beinfreiheit. Endlich mal Bequemlichkeit. Endlich
öffnet die „Neue Szene" den letzten
benachteiligten Randgruppen die
Tür zum Theater. Rollstuhlgerechte Sitzplätze gibt es schon lange.
Jetzt dürfen auch die Klaustrophobiker ohne Angst dem subventionierten Kulturspaß beiwohnen,
genau wie jene theaterscheuen
Subjekte, die sich bisher in Kneipen herumdrücken mussten, weil
sie die Meinung der feuilletonverkleisterten Bildungselite nicht teilten: Was banal ist, kann nicht relevant sein. Was kein Kopfzerbrechen bereitet oder von niederschmetternder Tragik trieft, zählt
nicht zum gehobenen Amüsement.
Wer bereits seit einigen Jährchen
am Leben teilnimmt, der weiß, dass
es sehr oft banal ist. Lächerlich,
schön und doof. Deshalb wird natürlich niemand bestreiten, dass
das Leben tragisch sein kann, dass
es Krieg gibt, Krankheit, Armut,
Niedertracht. Darf der Rest darum
aber nicht Gegenstand von Kunst
sein? Matthias von Hartz findet:
doch. In der kleinen Spielstätte des
Leipziger Schauspielhauses hat er
„eine Abendunterhaltung" inszeniert. Die findet in einem rundum
Matthias von Hartz fragt: „Was wäre die Liebe, wenn sie eine Farbe wäre?"
grün ausgepolsterten Raum statt
(Ausstattung: Ina Reuter). Grüner
Teppich, grüne Lampen, grüne Sofas. Locker verteilter Plüsch, gedimmtes Licht und eine poppige
Geräuschkulisse, damit sich das
Publikum wie beim Clubbing fühlt.
Hier herein spazieren vier junge
Leute und schwadronieren über
Liebe. „Frage: Ist Sex auch Liebe?
Bist du wirklich interessant genug
für eine Beziehung?" Die Darsteller
stecken in generationstypischer
Kleidung, mit Computeranimation
verzierte Bildschirme signalisieren, dass wir uns ; m Zeitalter der
neuen Medien befinden - trotzdem
ist Vorsicht geboten. Wir befinden
uns mitnichten auf der Ratgeberseite der „Bravo- Girl". Wir amüsieren uns bei „Pussy Talk".
Matthias von Hartz hat gesammelt,
was dem durchschnittlich jungen,
durchschnittlich
verdienenden,
durchschnittlich gebildeten Bewohner der westlichen Welt in Sachen Liebe so durch den Kopf
schwirrt. Durch Herz und Unterleib natürlich auch. Gemeinsam
mit seinen Darstellern (Liv-Juliane
Barine, Frank Riede, Christoph
Schlemmer, Eva-Maria SchneiderReuter) schiebt der Regisseur nun
Weil die Regie dabei stark stilisiert,
weil Four-Letter-Words vorkommen, Talkshow-Themen und Talkshow-Rhetorik, könnte man meinen, das habe nichts mit Theater zu
tun. Hat es aber. Denn hier wird das
Leben ironisch imitiert. „Pussy
Talk" ist ein Reflex auf die Liebe in
Zeiten des pop-urbanen Lebensstils: genauso ernst gemeint wie
„Romeo und Julia" oder die „Wahlverwandtschaften". Es gibt aber bei
dieser Art Theater nichts zu lernen,
sondern nur etwas zu üben. „Pussy
Talk" ist kein Frontalunterricht,
sondern ein Training in Distanznahme zu einem Gegenstand, zu
dem es im echten Leben keine Distanz geben kann. Dass er selbst
letzteres nicht verleugnet, macht
von Hartzens Souveränität aus.
Nächste Vorstellungen heute, am 19.
und 20. Februar, 19.30 Uhr.