Bericht N° 2 von Jürgen Baron November

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Bericht N° 2 von Jürgen Baron November
Bericht N° 2
von Jürgen Baron
November - Dezember 2007
Studienaufenthalt in Sheffield
Jürgen Baron
48 Renshaw Road
Sheffield
S11 7PD
[email protected]
20.01.2008
Bericht N° 2 - Jürgen Baron Studienaufenthalt in Sheffield
November - Dezember 2007
Inhalt:
Einleitung
3
I. Grundlegende Überlegungen und Beobachtungen
3
1. Veränderungen und Entwicklungen in der Church of England
3
2. Geistliche Prägungen in der Church of England
6
II. Erfahrungen in Gemeinden
7
1. Trinity Church und XPlore Liverpool 05.-11.11.2007
1.1 Trinity Church - Back from the Brink
1.4 XPlore
7
7
11
2. Somewhere Else - 08.11.2007
12
3. St. Thomas’ Crookes und St. Thomas’ Philadelphia 12.-16.11.2007
14
3.1 Geschichte
14
3.2. Gemeindekonzeption
15
3.3. Festzuhalten
18
4. All Saints Ecclesall Parish Church 24.11.-24.12.2007
18
4.1 Vision
19
4.2 Gottesdienste
19
4.3 Einheit in der Vielfalt
20
4.4 Missionarisches Anliegen
21
4.5 Persönliche Erfahrungen und Eindrücke
24
III. Zusammenfassung
25
Literatur
27
-2-
Einleitung
Eine Kirche, die dreimal in der Woche Gottesdienst in Form von Brotbacken feiert, eine andere, die
einmal als “most-vandalised church in Western Europe” bezeichnet wurde und eine Gemeinde mit
fünf Gottesdiensten an jedem Sonntag - welch eine Vielfalt von Gemeindeformen!
Gemeinsam ist ihnen, dass sie neue Wege zu Menschen suchen, die keine Beziehung zum christlichen Glauben haben. Sie haben neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens, “Fresh Expressions
of Church”, entwickelt. Diese Gemeinden sind keine Einzelfälle, selbst wenn sie durchaus etwas
Besonderes haben.
I. Grundlegende Überlegungen und Beobachtungen
1. Veränderungen und Entwicklungen in der Church of England
Im Jahr 2005 haben 40% der Gemeinden innerhalb der Church of England eine “Fresh Expression
of Church” begonnen. Weitere 12% der Gemeinden haben konkrete Planungen dazu unternommen.
Mehr als die Hälfte der Kirchengemeinden unternimmt also missionarische Anstrengungen, um
neue Bevölkerungsgruppen mit dem Evangelium zu erreichen.
Warum nimmt Church Planting und die damit verbundene missionarische Arbeit in der Church of
England inzwischen einen solch breiten Raum ein? Welche Trends haben dazu geführt, dass heute
missionarische Arbeit nicht nur akzeptiert ist, sondern weit oben auf der Agenda kirchenleitender
Gremien steht und ebenso von einer breiten Basis von Verantwortlichen vor Ort getragen wird?
Die Church Army unterhält mit dem Sheffield Centre eine Forschungseinrichtung, die insbesondere
die Church Planting Bewegung und “Fresh Expressions of Church” untersucht. Der Direktor des
Sheffield Centre, Rvd. George Lings, hat die Bedingungen untersucht, die den Boden für die missionarische Entwicklung in der Church of England bereitet haben. Er nennt sieben Bewegungen,
durch die sich das kirchliche Leben in England in den vergangenen Jahrzehnten entscheidend verändert hat:
a. Kleingruppenbewegung
Durch die Kleingruppenbewegung wurde die Bedeutung der Beziehungen der Gemeindemitgliedern untereinander neu entdeckt. Das Anliegen war gemeinsames Lernen und Nachfolge
auch unabhängig von den Geistlichen und ohne deren Kontrolle.
In kleinen Zellgruppen kann leichter eine Balance von “innerer Reise” und Beziehungen zu Außenstehenden erreicht werden. Mit diesem Blickwinkel nach außen vermeidet eine Gemeinde,
sich nur um die Probleme ihrer eigenen aktiven Mitglieder zu drehen.
Aus der Kleingruppenbewegung ist inzwischen mit dem “Cell Church Movement” ein ganz eigenes Gemeindekonzept entstanden. Manche Gemeinden verstehen sich als reine “Cell
Church”.1
1
s. z. B.: Astin, Howard, Body and Cell
-3-
b. Laien-Leiter-Bewegung
Hand in Hand damit wuchsen mündige Christen heran, die ihrerseits Leitungsaufgaben übernommen haben. In gleichberechtigten Teams von Laien und Theologen wurden Dienste aufgebaut. Damit entstand eine starke und selbstbewusste Leiterschaft von Nicht-Theologen, die ihre
Gaben in den Dienst der Gemeinde stellten. In den späteren Gemeindepflanzungen übernahmen
häufig diese ehrenamtlichen Mitarbeiter Leitungsfunktionen, sowohl in organisatorischen als
auch in geistlichen Bereichen.
c. Charismatische Erneuerung
Seit Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts erlebten weite Bereiche der Church of England
eine charismatische Erneuerung.2 Während in vielen anderen Kontexten, z. B. in Deutschland,
die charismatische Bewegung weithin neben und außerhalb der etablierten Kirchen wuchs, gelang es in England, sie in gesunder Weise zu integrieren. Diese Erneuerungsbewegung breitete
sich zunächst innerhalb der “Evangelicals” aus und wurde später auch von Teilen der “AngloCatholics” aufgenommen. 1981 widmete sich der Report an die Generalsynode unter dem Thema “The Charismatic Movement in the Church of England” ausführlich mit neuen Entwicklungen in den Gemeinden. Damit weitete sich die Kreativität in den Gottesdienstformen. Die geistlichen Gaben nach dem 1. Korintherbrief wurden wiederentdeckt und in den Gemeinden entfaltet und entwickelt.
Wenn dies auch mancherorts scherzhaft als “massage of the saints” bezeichnet wurde, verstand
man diese Erneuerung doch weitgehend als Teil der “message to the world”. Charismatische
Gaben sind in ihrer theologischen Bedeutung Zeichen der Mission Gottes und der Sendung zur
Welt. Sie dienen damit der missionarischen Arbeit der Kirche.
d. Liturgische Revision
Durch das Book of Common Prayer von 1662 war bis Anfang des 20. Jahrhunderts der verbindliche Rahmen für die Gottesdienstgestaltung vorgegeben. Für viele Gemeinden waren diese
Formen nicht mehr hilfreich und sie entwickelten vielfältige eigene Liturgien und Gottesdienstformen. Durch mehrere liturgische Reformen3 gelang es, diese individualistischen Formen wieder zu einem gemeinsamen Rahmen der Gottesdienstgestaltung zusammen zu führen. Damit
flossen in hohem Maße zeitgemäße und kreative Formen und Sprache in die Liturgie ein, die
dazu halfen, wieder eine gemeinsame gottesdienstliche Identität zu entwickeln.
Gleichzeitig blieb immer die Offenheit, diese liturgischen Revisionen dem “Säuretest’ von
nichtkirchlichen Gottesdienstbesuchern zu unterziehen. Nur was auch für sie verständlich und
nachvollziehbar ist, soll in Gottesdiensten verwendet werden, die sich auch nach außen richten.
Damit stehen liturgisch aufgeschlossene Leiter stets vor der Herausforderung, Liturgie kreativ
zu gestalten und sich nicht auf “Althergebrachtes” zurück zu ziehen. Dies erfordert eine große
Weite in der Gestaltung der Gottesdienstabläufe.
e. Ökumenische Bewegung
Die Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910 hatte einen weitreichenden Einfluss auf die
ökumenische Bewegung in England. Man entdeckte die gemeinsame Zugehörigkeit zur weltweiten, einen Kirche. Selbst wenn noch viele ungelöste Fragen des geschwisterlichen Miteinanders offen sind, so versteht sich die Church of England als ein Motor der ökumenischen Bewegung.
2
Steven, James H. S., Worship in the Spirit
3
1980 wurde das “Alternative Service Book” eingeführt und inzwischen durch den “Common Worship” ersetzt.
-4-
Sie sieht sich damit in der Pflicht, von innerkirchlichen Machtkämpfen abzusehen und den Auftrag, “eins zu werden, ...damit die Welt glaubt” (Joh 17) als oberste Prämisse anzunehmen.
Konkret wird dies an vielen Orten durch “local ecumenical projects” (LEP), in denen die
Church of England mit anderen Denominationen zusammen arbeitet. 4
f. Gemeindewachstums-Bewegung
Selbst wenn manche Ansätze des Church Growth Movement 5 kritisch gesehen werden, so hat
doch die Auseinandersetzung ein Bewusstsein für strategische Planung und organisches Wachstum der Kirche und ihrer Mission geschärft. Die Konzentration auf bestimmte Zielgruppen beispielsweise hat ihre Auswirkungen in Zielgruppengottesdiensten oder -gemeinden gefunden.
Auch zahlenmäßiges Wachsen von Gemeinden ist erlaubt zu denken und wird als erreichbar angesehen. Gemeindewachstums-Strategien werden vor allem auf ihre praktische Umsetzbarkeit
hin abgefragt und weniger auf ihre akademische Durchdringung. Umgesetzt wird, was in der
Praxis funktioniert. Dieser Pragmatismus hilft, unbefangener mit Impulsen aus unterschiedlichen Richtungen umzugehen.
g. Church Planting Bewegung
Diese sechs Bewegungen ebneten den Weg für Gemeindepflanzungen auf breiter Ebene ab den
frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Der Bericht “Breaking New Ground” sieht auf zehn
Jahre Church Planting zurück und stellt fest, dass in dieser Zeit 177 Gemeindepflanzungen
entstanden sind. Diese werden als “...not an erosion of the parish principle of mission in the
Church of England” angesehen, sondern als “supplementary strategy”.6
Wieder zehn Jahre später stehen Church Plants und “Fresh Expressions of Church” gleichberechtigt neben dem Parochie-Prinzip. 7 Während bis vor kurzem dazu immer noch die Zustimmung der Parish Church erforderlich war, was in einzelnen Fällen zu großen Konflikten geführt
hat, kann inzwischen der Bischof durch eine “Bishop’s Order” Fresh Expressions auch unabhängig von der Ortsgemeinde einrichten.
Aus meiner Wahrnehmung möchte ich noch einige weitere Aspekte hinzufügen:
• Der Anglikanismus ist eine Gebetsbewegung. Die anglikanische Theologie ist in einer tiefen Spiritualität verwurzelt, die im Gebet gründet. Es gibt dabei eine große Offenheit für vielfältige Formen des Gebets: liturgische Formen, freie Gebete, persönliches Gebet, Anbetung im Lobpreis,
hörendes Gebet, Segensgebete - eigentlich alles, was in der christlichen Frömmigkeit geübt wird.
• Der Anglikanismus ist eine Bibelbewegung. Auch die Auseinandersetzungen um die Bibelkritik
seit dem ausgehenden 19. Jh. haben nicht verhindert, dass die Heilige Schrift für das persönliche
Glaubensleben eine hohe Bedeutung hat. Noch bis 1928 war jeder Priester dazu verpflichtet, einmal im Monat den Psalter, zweimal jährlich das ganze Neue Testament und einmal jährlich den
4
Die Trinity Church in Liverpool/Huyton ist beispielsweise ein LEP mit der örtlichen Methodistengemeinde. Die St.
Thomas Crookes Church sowie die St. Thomas Philadelphia Church in Sheffield sind LEP mit Baptistengemeinden. Im
Gespräch mit Bishop Jack von der Diözese Sheffield erfuhr ich, dass ein LEP einer Gemeinde seiner Diözese mit einer
deutschen Kirchengemeinde in Hattingen-Witten besteht.
5
MacGavran, Donald, Understanding Church Growth
6
Breaking New Ground, S. 1
7
Mission-shaped Church, S. 125ff.
-5-
größeren Teil des Alten Testaments zu lesen.8 Noch heute wird ein Kampfspruch aus dem 16. Jh.
zitiert: “Zeigt uns einen Satz der Bibel, den wir nicht lehren, und wir werden ihn lehren; zeigt uns
einen Satz unserer Lehre, der entgegen der Schrift ist, und wir werden aufhören, ihn zu lehren.”9
• Schon seit dem 17. Jh. geht vom Anglikanismus eine starke Missionsbewegung aus, die sich zunächst als christliches Zeugnis in den Kolonialgebieten entfaltete. Henry Venn, der langjährige
Generalsekretär der CMS (Church Mission Society), setzte sich in der Mitte des 19. Jh. für die
drei “Self Principles” ein: Self Propagating, Self Financing, Self Governing. Diese Prinzipien ermöglichten die Entstehung selbständiger und unabhängiger Kirchen in den überseeischen Gebieten.
Roland Allen betont die Bedeutung dieser Prinzipien für die Übertragung des Evangeliums in die
einheimische Kultur.10 Nur wenn ein Kirche auch von der einheimischen Bevölkerung, die in der
eigenen Kultur verwurzelt ist, geleitet und verantwortet wird, kann sie deren Kultur erreichen.
Indem England nun als Missionsland wiederentdeckt wird, gewinnen diese Erfahrungen neu an
Gewicht.
2. Geistliche Prägungen in der Church of England
In der Church of England gibt es heute vier große geistliche “Grundtypen” von Spiritualität, wobei
die Grenzen zwischen einigen dieser Richtungen häufig fließend sind:11
• Die Anglo-Catholics beziehen sich in ihrer Theologie und in der Gottesdienstgestaltung weitgehend auf die Traditionen des Book of Common Prayer von 1662. Insbesondere die “Oxford-Bewegung” seit Mitte des 19. Jahrhunderts akzentuierte die apostolische Tradition und die Autorität
der sichtbaren Kirche und trug zu einer Stärkung der “High Church” bei. Streng liturgisch gestaltete Gottesdienste und ein enges Amtsverständnis kennzeichnen diese Richtung des Anglikanismus. Die Frauenordination wird strikt abgelehnt.
• Die Liberals stehen für eine Abwehr von Dogmatismus und Enge und zeigen sich aufgeschlossen
gegenüber neuen Wahrheiten.
• Die Evangelicals verstehen sich seit George Whitefield und John und Charles Wesley als Teil der
Erweckungsbewegung, wobei evangelical nicht ohne weiteres mit dem deutschen Begriff evangelikal gleichgesetzt werden kann. Während aus der Wesley’schen Richtung der Methodismus hervorging und schließlich eine Trennung von der Church of England stattfand, ist der Evangelikalismus fest in ihr verankert. Er bezieht sich stark auf die “Thirty Nine Articels” und der darin entfalteten Rechtfertigung allein aus Glauben und der Konzentration auf die Bibel.
Unter den Evangelicals kann man die Open Evangelicals, die sich sehr für das Miteinander im
Anglikanismus einsetzen, und die Closed Evangelicals unterscheiden, wobei letztere eine konservative Richtung vertreten und stärker Einflüsse aus der reformierten Tradition aufgenommen
haben.
• Seit den ersten Aufbrüchen in England 1964 haben die Charismatics einen wachsenden Anteil an
der geistlichen Erneuerung der Church of England. Ausgehend von Michael Harper in West Lon8
Neill, Stephen, TRE Bd. 2, S. 719
9
ebd, S. 715
10 Allen,
Robert, Mission Principles
11
Chadwick, Owen, TRE Bd. 2, S. 344ff; Reed, David, RGG Bd. 1, S. 484ff.; Sykes, Stephen, Purdy, William, Lexikon
für Theologie und Kirche, Bd. 1, 659ff.
-6-
don und später von Holy Trinity Brompton in London sowie St. Thomas’ Crookes in Sheffield
und anderen haben sich viele Gemeinden auf den Weg gemacht, die Dimension des Heiligen
Geistes neu zu entfalten. Inzwischen gibt es eine breite Schicht von Gemeinden, Pfarrern und Bischöfen, die sich zu dieser Bewegung zählen oder die sie intensiv unterstützen, wie der Erzbischof
von Canterbury, Rowan Williams, und sein Vorgänger, John Carey. Die Grenzen der charismatischen Erneuerung sind vielfach fließend und und lassen sich häufig nicht einer der großen Richtungen des Anglikanismus zuordnen. Die größte Nähe besteht sicher zu den Evangelicals, aber in
ihrem Anliegen einer geistlichen Vertiefung der Kirche treffen sich Charismatics auch mit den
Anglo-Catholics.
Es ist zu beobachten und beeindruckt mich sehr, dass alle diese verschiedenen geistlichen Strömungen im Anglikanismus vertreten sind und dass es gelingt, diese weitgehend zusammen zu halten.
Faktoren dafür sind eine breite Akzeptanz der “Thirty Nine Articels”, die Autorität des Episkopats
und hier insbesondere die große persönliche Achtung vor dem Erzbischof von Canterbury als Leiter
der Church of England, aber auch das Bewusstsein, eine Kirche für die ganze Nation sein zu wollen.
Trotzdem steht die Anglikanische Kirchengemeinschaft derzeit vor einer Zerreißprobe. Mit der Bischofsweihe von Gene Robinson, der in gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaft lebt, trat im
Jahr 2003 ein Konflikt über die Haltung der Anglikaner zu Homosexualität zu Tage. Mit Spannung
wird die alle zehn Jahre stattfindende Lambeth-Konferenz im Juni 2008 erwartet, auf der Vertreter
der Anglikanischen Gemeinschaft aus aller Welt unter dem Vorsitz des Erzbischofs von Canterbury,
Rowan Williams, aktuelle Fragen diskutieren. Es wird erwartet, dass die Lösung dieses Konflikts
das beherrschende Thema der Lambeth-Konferenz wird. Damit sind viele Hoffnungen verbunden,
diesen Konflikt ohne eine Spaltung der weltweiten anglikanischen Gemeinschaft lösen zu können.
II. Erfahrungen in Gemeinden
1. Trinity Church und XPlore Liverpool 05.-11.11.2007
1.1 Trinity Church - Back from the Brink
In Roby/Huyton, einem Stadtteil von Liverpool besuchte ich die Trinity Church. Trinity ist ein LEP
(Local Ecumenical Project) der Church of England und der methodistischen Kirche in Page Moss.
Sie ist eine Schwesterkirche von St. Bartholomews, der lokalen Anglican Parish Church. Beide
Gemeinden arbeiten eng zusammen.
Der Stadtteil Roby/Huyton ist auch unter dem Namen Page Moss bekannt. Ein großer Teil dieser
Region gehört zu den “sink estates” in Großbritannien. Damit werden Stadtteile bezeichnet, die einen sozialen Brennpunkt darstellen und trotz staatlicher Hilfen immer weiter absinken. Page Moss
gehört zu den landesweit ärmsten Regionen Englands. Ein großer Teil des Wohnviertels besteht aus
Wohnhäusern in kommunalem Eigentum, in dem sozial schwach gestellte Familien wohnen, vergleichbar etwa mit unseren Sozialwohnungen. Wirtschaftliche Veränderungen in der ursprünglich
von Stahlindustrie und Schiffsbau geprägten Industriestadt Liverpool wirken sich gerade in Page
Moss gravierend aus. Hohe Arbeitslosigkeit und Alkoholprobleme führen zu zerrütteten Familien.
Etwa 80 % der Eltern sind “Single-Parents”, viele Kinder leben also in Teil-Familien. Kennzeichnend ist eine hohe Zahl von Geschwistern, die aber häufig von verschiedenen Vätern stammen.
-7-
Kinder erfahren wenig Unterstützung für ihren Schulalltag, viele sind verwahrlost. Der Notendurchschnitt der Schuljahre 1-8 liegt weit unter dem Landesdurchschnitt. Der Anteil der Kinder, die freie
Schulmahlzeiten erhalten (deren Elterneinkommen unter dem Sozialhilfesatz liegt) ist bei ca. 75 %
gegenüber 21 % im Landesdurchschnitt.
Vandalismus und Gewalt auf den Straßen sind ein großes Problem für die Bevölkerung. Bis vor vier
Jahren war die Bevölkerung weiß und englisch. In den vergangenen Jahren wurden aufgrund der
staatlichen Wohnungspolitik zunehmend Familien mit Migrationshintergrund angesiedelt, was zu
wachsender Fremdenfeindlichkeit unter der angestammten Bevölkerung führt.
Die sozialen Probleme in Page Moss führen dazu, dass alle, die es sich irgendwie leisten können,
den Stadtteil verlassen. Zurück bleiben in der Regel die schwachen, armen und zerrütteten Menschen.
Seit 1933 gab es eine kleine Methodistengemeinde in Page Moss, die sich in einem eigenen Gemeindehaus traf. In den 70er und 80er Jahren ging die Zahl der Gemeindeglieder, auch bedingt
durch den sozialen Niedergang von Page Moss, kontinuierlich zurück. Vandalismus machte der
Gemeinde sehr zu schaffen. Ein Gemeindemitarbeiter berichtete, er sei zeitweise an zwei bis drei
Nächten pro Woche von der Polizei benachrichtigt worden, dass in der Kirche wieder Scheiben eingeworfen, Feuer gelegt wurde oder ähnliches. “Schlimmer als Beirut”, war sein Kommentar dazu.
In der örtlichen Zeitung erschien in dieser Zeit ein Artikel unter der Schlagzeile: “Most Vandalised
Church in Western Europe”.
Die Zeit schien reif, aufzugeben und die Gemeinde zu schließen.
In diesen Jahren begann der neue Pfarrer von St. Bartholomew, in deren Parish die Trinity Church
liegt, ein Gebetstreffen mit deren Pastor. Andere kamen hinzu. Unterstützung kam von unerwarteter
Seite: Die örtliche Polizei bat die Gemeinde, nicht zu schließen! Die Kirche sei die einzige verbliebene Organisation, die im Stadtteil seit langer Zeit verwurzelt sei und noch nicht aufgegeben habe.
Man schätze sehr, dass Gemeindeglieder regelmäßig in den örtlichen Schulen die morgendliche Assembly hielten.
1991 startete ein “Local Ecumenical Project” mit St. Bartholomew. Eine Gruppe von 12 erwachsenen Gemeindegliedern und 12 Kindern wechselte von St. Bart zur Trinity Church, um diese neu zu
beleben. Die Diözese erklärte sich bereit, einen Church Army-Mitarbeiter für die Arbeit dort in
Teilzeit anzustellen. Um Geld für ein geeignetes Gebäude zu bekommen, wurde das alte sanierungsbedürftige Anwesen verkauft und direkt daneben ein neues, kleineres Gemeindehaus gebaut.
1998 begann Philipp Clark als vollzeitlicher hauptamtlicher Leiter in der Trinity Church.
In einer Umfrage im Stadtteil hatten sich zwei Grundbedürfnisse ergeben: Es gab keine Angebote
für Kinder und es gab keinen Treffpunkt für ältere Menschen. Es stellte sich die Frage: Was ist die
Gute Nachricht für Page Moss? Was bedeutet das Evangelium für Menschen, die in einer Umgebung wie Page Moss aufwachsen?
Eine Spur fand man in der Arbeit von Bill Wilson’s Metro Ministries in New York. Wilson’s Konzept wurde entwickelt, um Kinder im Umfeld sozio-ökonomischer Deprivation mit der christlichen
Botschaft zu erreichen. Es beinhaltet ein sehr aufwändiges Programm mit vielen verschiedenen Aktivitäten wie Liedern, Theaterstücken und Anspielen, Spielen usw. Das Wichtige dabei sind aber die
Beziehungen zu den Kindern - verlässliche, verbindliche Beziehungen, die durch wöchentliche
Hausbesuche gepflegt werden.
-8-
Im gleichen Jahr begann die Arbeit des “Kidz Klub” in Page Moss. Das Angebot für 5-11-jährige
Kinder basiert auf zwei Elementen:12
• Der eigentliche “Kidz Klub” ist eine Veranstaltung von einer Stunde mit Spielen, kreativen Elementen, Bastelangeboten und biblischer Botschaft. Die Kinder können unter drei wöchentlichen
Angeboten auswählen, zwei davon finden in der Trinity Church statt, eine in der lokalen Primary
School als “After-School Klub”. Es kommen zwischen 30 und 60 Kinder zu jeder Veranstaltung.
Sie wird als “Show” gestaltet. Damit tun sich jungschar-gewohnte Ohren schwer. Aber vielleicht
brauchen diese Kinder, die sich kaum länger als wenige Minuten am Stück auf eine Sache konzentrieren können, solch ein abwechslungsreiches Programm, bei dem ein Höhepunkt den anderen jagt.
• Die wichtigere Arbeit sind wöchentliche Hausbesuche durch die Mitarbeitenden. Mittlerweile stehen etwa 300 Kinder auf den Adressenlisten des “Kidz Klub”. Alle Kinder werden von sechs
Zweierteams zu Beginn der Woche zu Hause besucht. Als Hilfe dient dabei ein Einladungszettel,
der auch kleine Rätsel enthält, die auf das Thema der nächsten Veranstaltung vorbereiten. Diese
Besuche erfüllen unterschiedliche Funktionen. Sie dienen als Erinnerung der Kinder an den
nächsten Kidz Klub. Für die Mitarbeiter ist es wertvoll, das Lebensumfeld der Kinder kennen zu
lernen, selbst wenn sich die meisten der Besuche nur in der Haustür abspielen. Vereinzelt entstehen Beziehungen zu Elternteilen, zu denen die Mitarbeiter über ganz alltägliche Fragen Vertrauen
aufbauen können. Manche der Elternteile begleiten ihre Kinder mittlerweile zum Kidz Klub und
erleben hier Kirche. Die wichtigste Funktion aber ist, dass die Kinder durch den Besuch Wertschätzung erfahren. Sie erleben, dass sie jemandem wichtig sind, dass jemand nachfragt, wenn sie
einmal nicht da waren, dass sich Menschen Mühe um sie machen. Das sind Erfahrungen, die viele
Kinder in Page Moss nirgendwo sonst und vor allem nicht in ihrem Elternhaus machen.
Für mich war das wirklich beeindruckend zu erleben: dass die Mitarbeiter bei jedem Wetter verlässlich jeden Montagnachmittag ihre Besuche machen; wie die Kleinen mit strahlenden Augen in
der Tür standen und sich über den Besuch freuten; wie andere nur verstohlen im Türspalt standen,
weil der Partner der Mutter dahinter im Flur stand; wie ein kleiner Junge verstört in der Tür stand,
weil gleichzeitig mit uns die älteren Brüder mit einigen Kumpels und mehreren Sixpacks Bier an
der Haustür ankamen; wie die gleichen Kinder donnerstags im “Kidz Klub” ausgelassen die Lieder mitsingen; wie den Kindern Wertschätzung gezeigt wird; wie wir zu Dritt auf dem Bürgersteig
im Gehen ein kurzes Gebet für die Kinder sprechen.
Das Team besteht aus etwa 20 Mitarbeitenden. Ein Leitungsteam plant abwechselnd die Veranstaltungen.
In vier Schulen gestaltet die Gemeinde sogenannte
“Assemblies”. In Großbritannien gibt es keinen
Religionsunterricht an Schulen. Aber auf Grund
der guten Kontakte zu den Schulen kann die Trinity Church wöchentlich insgesamt sechs Assemblies gestalten. Für ein Programm von 20-30 Minuten werden alle Schülerinnen und Schüler der
Klassen 1-6 in der Schulaula zusammen gerufen.
Kurze Anspiele, Quiz, Spiele, Geschichten entfalten ein Thema aus christlicher Sicht, z.B “How to
make positive contributions”. Wertvoll ist neben
12
s. a. Clark/Pearson, Kidz Klubs
-9-
dem Lernprozess des eigentlichen Themas die Vermittlung eines positiven Images der Jugendarbeit
der Gemeinde: Kirche ist interessant, Glauben macht Spaß und ist relevant für Kinder. Die Leiter
sind cool. Zu dieser Kirche ist es attraktiv dazu zu gehören.
Für die älteren Kinder ist inzwischen der “X-Scape” Youth Club entstanden, der versucht, die “Kidz
Klub-Arbeit auf die Altersgruppe der 11-13-Jährigen zu übertragen. Für 13-15-jährige Jugendliche
gibt es mittlerweile “TNT”, das mit jugendgemäßen Methoden christliche Gemeinschaft anbietet
und von etwa 40 Jugendlichen besucht wird.
1.2 Veränderungen in der Trinity Church
Was war Ausschlag gebend für die Veränderung der Trinity Church?
• Die Vision der Leiterschaft
Die beiden Pfarrer der anglikanischen und der methodistischen Gemeinde teilten eine gemeinsame Vision: Sie waren entschlossen, den Stadtteil Page Moss nicht aufzugeben. Diese Vision war
nicht wirklich neu, sie war bereits in den 30er Jahren der Grund für die Entstehung der Gemeinde
gewesen, wurde aber nun neu belebt und durch das gemeinsame Gebet um eine neue Generation
erneuert.
• Risikobereitschaft
Sowohl die Gemeinde- als auch die Kirchenleitungen waren bereit, in eine ungewisse Zukunft zu
investieren und ein bisher nicht da gewesenes Projekt zu starten - ohne vorher zu wissen, wie die
Arbeit und was genau laufen wird.
• Lange zeitliche Perspektive
Die ersten beiden Mitarbeiter waren nur auf Teilzeitbasis mit einer Perspektive von 3 Jahren angestellt. In dieser Zeit gelingt es nicht, langfristige Beziehungen aufzubauen. Erst mit dem langen
verbindlichen Engagement von Phil Clark und anderen hatte die Entwicklung der Gemeinde
nachhaltigen Charakter.
• Glaube und Loyalität
Die Gemeindeglieder der ursprünglichen Methodistengemeinde hatten, trotz der schwindenden
Zahlen und der äußeren Probleme, Glauben für ihren Stadtteil. Anstatt der besseren Vergangenheit
nachzutrauern oder in andere, lebendigere Gemeinden zu wechseln, sahen sie loyal ihre Berufung
für ihren Wohnort.
• Offenheit für Veränderungen
Mit der Entscheidung, nicht aufzugeben und die Kirche zu schließen, sahen die Gemeindeglieder
die Notwendigkeit ein, sich zu verändern. Einer der Älteren sagte: “Wenn wir uns nicht verändert
hätten, wären wir gestorben!” Veränderungen sind nicht einfach, insbesondere die älteren Gemeindeglieder sind nicht immer “happy” mit den neuen Entwicklungen, Formen und Methoden.
Aber es ist andererseits eine große Überzeugung und Freude da, so viele Kinder und junge Menschen in der Kirche zu sehen.
• Bereitschaft zu Opfern
Opfer wurden von vielen Seiten gebracht. St. Bart’s opferte 12 ihrer besten Mitarbeiter für den
Neuanfang in Trinity. Diese 12 opferten Bequemlichkeit und Sicherheit der großen Gemeinschaft
in St. Bart’s. Die neu hinzukommenden Gemeindeglieder opfern die Chance, in einem einfacheren Umfeld Gottesdienst zu feiern. Die Mitarbeiter des Kidz Klub opfern Zeit und Geld, um das
Programm durchzuführen und Kinder zu besuchen. Phil Clark und seine Familie opferten unzählige Fensterscheiben, die in ihrem Wohnhaus eingeworfen wurden.
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Page Moss wird wohl immer ein schwieriger Ort bleiben. Aber die Vision von Christen, diesen
Stadtteil nicht aufzugeben, hat diesen Stadtteil “einen Schritt weiter weg vom Rande des Abgrunds”13 gebracht.
1.3 Predigt am Remembrance Sunday
In Page Moss nahm ich während der Woche an vielen Gemeindeveranstaltungen teil. Besonders
eindrücklich war die Einladung in St. Bart’s, der Schwesterkirche der Trinity Church, am Sonntagabend-Gottesdienst des “Remembrance-Day” am 11. November zu predigen. An diesem Tag wird
der britischen Kriegsopfer der großen Kriege gedacht. In den Wochen vorher werden überall gegen
Spenden “Poppies” verteilt, die an die Mohnblumen auf den Schlachtfeldern in Flandern im 1.
Weltkrieg erinnern. In der Royal Albert Hall in London gibt es einen zentralen Gedenkgottesdienst
mit der Queen und hohen Würdenträgern, der live ins Land übertragen wird.
Gerade für mich als Deutschen hatte diese Bitte, die Predigt zu halten, somit eine besondere Brisanz. Sie zeigte aber auch die Freundschaft und Wertschätzung, die mir hier entgegen gebracht
wurde. Man betrachtete es als besondere Gelegenheit, Versöhnung, Heilung und Freundschaft zu
erleben. Als Predigttext wählte ich 2. Korinther 5,17-21 “das Wort von der Versöhnung”.
Besonders dicht wurde diese Erfahrung, als ich gebeten wurde, bei der Austeilung des Abendmahls
mitzuwirken. Gerade hier im Mahl wurde für uns als Brüder und Schwestern, deren Nationen einmal Feinde waren, die Versöhnung und die Geschwisterschaft in Christus tiefe Realität.
1.4 XPlore
Seit April 2007 ist Phil Clark für XPlore, ein neues Projekt der Church Army, verantwortlich. Es
verbindet gemeinsames Leben mit praktischer Ausbildung, Persönlichkeitsschulung mit Erwerb von
biblischem Wissen, konkrete Mitarbeit in Gemeinden mit der Erfahrung von Gemeinde in einem
schwierigen Umfeld.
XPlore ist ein Programm, das für junge Leute im Alter von 18-25 Jahren eine Art Freiwilliges Missionarisches Jahr anbietet. Während der ersten vier Monate leben sie gemeinsam in einer Lebensgemeinschaft in Liverpool in der Nähe der Trinity Church. An den Vormittagen erarbeiten sie gemeinsam christliche Themen. Der Unterricht ist sehr intensiv. Neben theologischen Themen wie Reich
Gottes, Gemeinde und Nachfolge, Mission, christliches Menschenbild und geistliches Leben kommen auch praktische Fragen vor wie Umgang mit Konflikten, Zeitplanung, Selbstwert und Lebensgeschichte, Persönlichkeitsprofil, Kommunikation, Begabungen und anderes. Einen besonderen
Stellenwert nimmt die persönliche Begleitung der Einzelnen durch das Ehepaar Clark ein.
Daneben arbeiten die jungen Leute in der Jugendarbeit der Gemeinde mit. Sie gestalten Assemblies
in den Schulen, arbeiten im Kidz Klub mit, besuchen Kinder zu Hause und beteiligen sich in den
Gottesdiensten.
Nach dieser Zeit in Liverpool arbeitet jeder für weitere sechs Monate in einem Projekt der Church
Army in Übersee mit. Einsatzorte sind in Kenya, USA, Canada, Jamaica, Australien.
Der erste Durchgang 2007/2008, den ich für einige Tage in Liverpool erlebt habe, war der erste
13 Wraight,
Heather und Pat, Back from the Brink, S. 71
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Kurs und somit eher ein Pilotprojekt mit 4 jungen Leuten. Geplant ist, bis zu 15 Teilnehmer aufnehmen zu können. Aus diesem Grund sollen zwei Wohnhäuser in unmittelbarer Nähe zur Trinity
Church erworben werden, in denen sie leben und lernen werden.
Einen kleinen Einblick gibt ein Video auf Youtube:
http://www.youtube.com/watch?v=QAV8is2XVuc&ep
2. Somewhere Else - 08.11.2007
In der Innenstadt von Liverpool trifft sich eine Glaubensgemeinschaft rund um das Backen und Teilen von Brot: “Gathering as a community around the making and sharing of bread”. Ich konnte an
einem Tag diese Gemeinschaft teilen - und das Backen und Teilen von Brot.
Diese Fresh Expression of Church begann vor acht Jahren. Es gab bis dahin eine Innenstadtgemeinde einer Methodistenkirche, die nur noch aus sehr wenigen, überwiegend älteren Mitgliedern bestand. Für die Gemeinde stellte sich die Frage nach ihrer Existenz. Und sie richtete diese Frage an
ihre Pastorin, Dr. Barbara Glasson: “Gibt es einen Platz für eine Methodistengemeinde in der Innenstadt von Liverpool?” Das Stadtzentrum von Liverpool erlebt derzeit einen enormen Wandel.
Stadterneuerung und -entwicklung stehen angesichts der Wahl Liverpools zur “Kulturhauptstadt
Europas 2008” ganz oben auf der Agenda. Menschen entdecken die Innenstadt neu als Wohn- und
Lebensort. Aber wo ist in dieser prosperierenden, pulsierenden Innenstadt ein Platz für eine christliche Gemeinde?
Barbara Glasson nahm sich für diese Frage viel Zeit. Ein Jahr lang tat
sie nichts anderes als durch die Straßen der City zu gehen, betend und
wahrnehmend, mit Menschen redend und ihnen zuhörend. Was macht
diese Stadt aus? Was bewegt die Menschen, die in ihr leben oder arbeiten? Welche Bedürfnisse haben die Menschen, die sich auf den Straßen
aufhalten? Welche Kultur lebt in dieser Stadt der Beatles, der Musikund Popkultur, der Stadt am Mersey mit den größtenteils stillgelegten
Docks und Hafenanlagen, die einmal das Tor zur Welt waren? Welcher
Geist lebt in der Stadt, die im 19. Jahrhundert vor allem durch Sklavenhandel reich geworden war, in der Stadt des vom Sklavenhändler zum
Autor von Amazing Grace bekehrten John Newton?
Barbara erzählte, dass für sie diese ersten Monate des Beobachtens, Zusehens und Wartens die wichtigsten des ganzen Entstehungsprozesses der
Gemeinde waren. Ein Wort, das immer wieder kehrte, war “Brot”. Brot ist ein archetypisches Symbol. Brot steht für die tiefe Sehnsucht im Menschen, für das Stillen des Hungers nach Leben. Die
Herstellung von Brot hat, wenn man von der industriellen Fertigung in Brotfabriken absieht, etwas
Ganzheitliches. Alle Sinne im Menschen werden angesprochen: die Hände kneten den Teig, die Augen messen die Zutaten ab und sehen der Entstehung des Brotes zu, der Duft des frisch gebackenen
Brotes steigt in die Nase. Die Seele begreift, dass das, was die Hände tun, etwas mit einer tieferen
Schicht im Menschen zu tun hat. Sie wird kreativ. Über das Tun und Empfinden kommt es zu geistiger und geistlicher Auseinandersetzung.
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So formte sich der Gedanke, eine Gemeinschaft
rund um das Backen von Brot zu bauen. Menschen, die zusammen kommen um Brot zu backen, zu reden, Gemeinschaft zu erleben, gemeinsam zu essen und zu beten.
Doch welcher Ort war der richtige für diese Idee? Barbara Glasson kam ins Gespräch mit der
Leiterin einer Frauen-Kooperative, die Literatur
für Minderheitengruppen verlegt und vertreibt. In
zentraler Lage der Innenstadt von Liverpool betreibt sie einen Laden mit dem Namen: “News
from Nowhere”. Im gleichen Haus wurde eine
Wohnung frei, die für die Idee der Brotback-Gemeinde ideal erschien. “Somewhere Else” - nicht nirgendwo, sondern woanders, an einem anderen
Ort.
Heute öffnet “Somewhere Else” dreimal in der Woche
(Dienstag und Donnerstag Vormittag und Freitag Abend) für jeweils etwa 4 Stunden. Es kommen jeweils
etwa 24-40 Besucher. An den beiden Vormittagen sind
viele der Gäste behinderte Menschen, die mit ihren Betreuern zu “Somewhere Else” kommen, andere Besucher sind wohnsitzlos, manche sind einfach ältere Menschen, die etwas Gemeinschaft erleben möchten.
Es geht los ab 10.30h. Besucher kommen an, werden
begrüßt und herzlich willkommen geheißen. Nach
gründlichem Händewaschen (!) werden die Zutaten abgewogen. Dabei wird Wert auf Qualität und ökologische Gesichtspunkte gelegt. Der Teig wird auf
einem großen Tisch gemischt, mit den Händen geknetet und geformt und kommt, nachdem er aufgegangen ist, schließlich in den Backofen. Während des Arbeitens wird viel Tee und Kaffee getrunken, viel geredet, gelacht oder auch geweint. Am Tag vor meinem Besuch ist einer der regelmäßigen Besucher verstorben, ein älterer Herr, der vor dem Hauseingang den “Big Issue”, die Obdachlosenzeitung, verkauft und außerdem Passanten
freundlich zu “Somewhere Else” eingeladen hat.
Er war wohl mehr ein Teil der Gemeinschaft als
lediglich ein Besucher.
Gegen 12.30h wird zu einem Gebet in den benachbarten Gebetsraum eingeladen. Nach der geschäftigen Atmosphäre im Backraum kann man hier zur
Stille kommen. Barbara Glasson liest einen Bibeltext vor, ein kurzer Gedanke leitet ins Nachdenken,
die Teilnehmer können eine Kerze anzünden und
ein kurzes Gebet sprechen. Mit dem Vaterunser
schließt die Runde ab. Etwa die Hälfte der Besucher kommen zum Gebetstreffen.
- 13 -
Nach dem Gebet gibt es ein einfaches Mittagessen, das während des Brotbackens zubereitet wurde,
ergänzt durch selbstverständlich selbstgebackene frische Brötchen. Um 14h schließt das Zusammensein. Das selbstgebackene Brot dürfen die Besucher mitnehmen, sollen aber die Hälfte davon
mit jemandem teilen.
Wie versteht sich “Somewhere Else”? Interessanterweise als Gemeinde, als vollwertige Kirche.
“Wo steht im neuen Testament, dass sich Gottesdienst nur am Sonntag Vormittag in einem Kirchengebäude abspielen darf, mit Kirchenbänken und Orgelmusik?” so Barbara Glasson. “Hier sind
Menschen zu Hause, die in keiner Kirche eine Heimat finden können. Hier beten sie, hören und erleben Gottes Wort, hier erleben sie Gemeinschaft”, erklärt sie. “Somewhere Else is like an orchestra - it is constantly changing because of the make-up of the members - it can be light and frothy,
dark and serious, whimsical or sombre, small or large, harmony or discord - God provides the notes
- the mystery of it is that the players seem to be able to arrange the otes to bring music.”14
Tatsächlich ist es so, dass diese Gemeinde Menschen erreicht, die in keiner herkömmlichen Kirche
ein Zuhause finden können: Behinderte, Wohnsitzlose, Einsame. Durch den ganzheitlichen Ansatz
sind sie mit hineingenommen in das gemeinsame Handeln. Sie sehen ein “Ergebnis” - das fertige
Brot. Die dürfen das Brot mitnehmen, bekommen es geschenkt, haben aber etwas dafür getan. Sie
waren selbst produktiv. Das gibt ihnen einen Wert und ein Selbstbewusstsein. Austausch geschieht
im informellen Rahmen, ungezwungen und nach Bedarf. Trotzdem sind Mitarbeiter da, die auf Fragen eingehen können und sich Zeit nehmen. Was sie “produziert” haben, teilen sie mit anderen.
Durch das ganze Setting wird Gastfreundschaft vermittelt: herzliche Begrüßung, Wärme nicht nur
durch den Backofen, Duft von Brotteig und Gebackenem, Herzlichkeit.
Meiner Ansicht nach ist dies ein Konzept, das nicht allein auf eine Innenstadt-Situation bezogen ist.
Im ländlichen Rahmen mag solch eine Arbeit kleiner sein, vielleicht nur einmal in der Woche, vielleicht nur einer Wohnküche zu Hause. Möglicherweise mit anderem Besucherkreis: ältere Menschen, Mütter mit kleinen Kindern, alleinstehende Männer oder Frauen. Aber übertragbar ist sie mit
etwas Mut und Fantasie allemal.
3. St. Thomas’ Crookes und St. Thomas’ Philadelphia 12.-16.11.2007
Gemeinsam mit meiner Frau hatte ich Gelegenheit, während der “St. Thomas Visitors’ Week” das
die Arbeit der St. Thomas-Gemeinde in Sheffield kennen zu lernen.
St. Thomas’ Crookes und Philadelphia ist neben Holy Trinity Brompton in London die größte Ortsgemeinde in der Church of England und mit dieser eine der führenden charismatischen Kirchen.
3.1 Geschichte
In den 1980er Jahren schlossen sich die anglikanische St. Thomas’ Parish Church und die Crookes
Baptist Church im Rahmen eines Local Ecumenical Project (LEP) zu St. Thomas’ Crookes zusammen. Diese neue Gemeinde erlebte in den nachfolgenden Jahren ein enormes Wachstum. Anstöße
kamen aus der charismatischen Erneuerungsbewegung durch John Wimber und andere. Damit wurde St. Thomas’ als eine der ersten eine Gemeinde innerhalb der Church of England, die wir in unse14
Glasson, Barbara, Mixed-up Blessing, S. 95
- 14 -
rer Terminologie als “Richtungsgemeinde” bezeichnen würden.
Eines der innovativsten Projekte war der Nine O’Clock Service (NOS), der wöchentlich hunderte
von nichtkirchlichen Studenten und jungen Erwachsenen mit zeitgemäßen Gottesdienstformen und
einer postmodernen Kultur erreichte. Insbesondere eine besondere Gruppe der Jugendkultur war
hier vertreten, die sonst nirgendwo in Kirchen auftauchen: Punks! Dieser NOS entwickelte sich
recht bald zu einer selbständigen Gemeinde, die sich in einer Discothek in der Innenstadt traf.
Tragischerweise ist er aber ein Beispiel dafür, dass Eigenständigkeit ohne Einbindung und Rückverantwortung zu Fehlentwicklungen führen kann. Die Leiterpersönlichkeit entwickelte sich außerordentlich problematisch, so dass 1995 die Gemeinde geschlossen werden musste und seitdem vom
“Desaster des Nine O’Clock Service” gesprochen wird.
Die Gemeinde St. Thomas’ erlebte 1994 einen Leiterwechsel. Die neue Leitung unter Mike Breen
entwickelte ein Kleingruppenkonzept, mit dem Menschen von außerhalb der Kirche gewonnen
wurden. Mehrere Kleingruppen (Cells) sind zu einem Cluster zusammengeschlossen, alle Clusters
wiederum bilden die Congregation, also die Gottesdienstgemeinde. Um das Leben als Nachfolgerschaft Christi zu stärken, wurden sog. “Lifeshapes” entwickelt, einfache Formen, die dazu helfen
und ermutigen sollten, das Leben bewusst als Christen zu gestalten (diese Konzepte werden unten
näher erläutert).
Erneut hörte die Gemeinde eine Berufung sowohl für die Parish als auch über deren Grenzen hinaus, der ganzen Stadt zu dienen. Aus den schmerzlichen Erfahrungen des NOS lernte man, in größerer gegenseitiger Verantwortlichkeit die Gemeinde weiter zu entwickeln. 1999 zogen etwa 2/3 der
Gemeinde in die alte Discothek “Roxy” in der Innenstadt. Das Gebäude, das in der örtlichen Presse
als “Sündenpalast” bekannt war, wurde mit viel Aufwand renoviert. Diese City-Church wuchs
schnell auf über 2000 Gemeindeglieder an, 80% davon im Alter von unter 40 Jahren! Ebenso wie
die Muttergemeinde war die “Roxy-Church” in Cells und Clusters organisiert. Diese Struktur wurde
in der darauf folgenden Zeit überlebenswichtig. Denn nach zwei Jahren im “Roxy” musste die Gemeinde umziehen, der Mietvertrag war kurzfristig vom Vermieter gekündigt worden. Ein Jahr lang
traf sich die Gemeinde nur noch in den Cells und den Clusters. Ehrenamtliche Leitung wurde in
dieser Zeit elementar wichtig. Die Cellgroups trafen sich nach wie vor in den Häusern, die monatlichen Clustertreffen fanden in Kinos, Community Centres, benachbarten Kirchen oder sogar in Pubs
statt. Diese Zeit schärfte den Blick für die Menschen, die noch nicht zu irgendeiner Gemeinde gehörten, eine Kirche ohne Mauern zu sein und den Menschen in der Gesellschaft zu begegnen.
Im Jahr 2002 konnte die ganze Gemeinde in ein leerstehendes Gewerbeareal im Sheffielder Stadtteil Philadelphia einziehen und gab sich daher den Namen “St Thomas’ Philadelphia”. Ebenso wie
die Muttergemeinde in Crookes ist auch diese Kirche ein LEP, das aus einem gemischten Team von
Anglikanern und Baptisten geleitet wird. Mit einer umfangreichen Kinder- und Jugendarbeit ist die
Kirche in einem der sozial schwierigsten Stadtteil vertreten.
Während St. Thomas’ Crookes sich stärker als Parish Church versteht, die dem Stadtteil dient, ist
St. Thomas’ Philadelphia eine Jugend- und Junge-Erwachsenengemeinde für die ganze Stadt Sheffield. “Calling our City back to God” bestimmt das Programm.
3.2. Gemeindekonzeption
Die Konzeptionen der beiden St. Thomas’-Gemeinden sind einander sehr ähnlich, daher sollen sie
hier zusammen beschrieben werden.
- 15 -
3.2.1 Lifeshapes
Der frühere Leiter von St. Thomas’, Mike Breen, hat ein Konzept entwickelt, das als Schulung zur
Lebenshilfe verstanden wird. Für Lebensthemen wie Entscheidungen treffen, Lebensstil, Stress,
Beziehungen, Arbeit, Ruhe werden Hilfen angeboten, wie diese auf der Grundlage eines biblischen
Weltbildes bewältigt werden können. Mit “Lifeshapes” werden Handlungskonzepte und Prinzipien
bildhaft beschrieben, die sich bereits in der Bibel wiederfinden und die an einfachen geometrischen
Figuren verdeutlicht werden:15
• Der Kreis steht für den Lernzirkel aus Beobachtung, Reflexion, Diskussion, Planung, Verantwortung, Handeln.
• Im Halbkreis wird der Lebensrhythmus von Arbeiten und Ruhen, Rückzug und Abenteuer,
Fruchtbringen und Beschneiden bedacht.
• Im Dreieck kommen die Dimensionen UP in Richtungen zu Gott hin, IN als das Erleben von Gemeinschaft und OUT als Ausbreiten des Reiches Gottes zum Ausdruck.
• Das Quadrat macht die Entwicklung von Teams und Gruppen deutlich und ist aus der Managementliteratur abgeleitet. Vier Phasen der Teamentwicklung entsprechen vier unterschiedliche Leitungsmodelle (“I do it, you watch.” “I do it, you help.” “You do it, I help.” “You do it, I watch.”).
• Im Fünfeck/Pentagon findet sich die Beobachtung vom fünffältigen Dienst in der Gemeinde aus
Epheser 4,8-13 wieder (Apostel, Lehrer, Hirte, Prophet, Evangelist).
• Im Sechseck/Hexagon wird das Vaterunser in sechs Bitten gesehen: den Bitten um das Reich, das
Brot, die Vergebung der Schuld, die Vergebung für andere, Erlösung von dem Bösen.
3.2.1 Cell, Cluster, Celebration
Die Gemeindestruktur besteht aus den Elementen Cell - Cluster - Celebration.
Die Cell ist eine Kleingruppe von 6-12 Personen, die sich während der Woche zur gegenseitigen Ermutigung, Bibellesen,
Austausch und Gebet treffen. In der Cell steht die gegenseitige
Beziehung im Vordergrund.
Im Cluster sind mehrere, meist drei oder vier Cellgroups
zusammengeschlossen. In der Regel haben sie ein gemeinsames
Interesse, das sie verbindet. Es gibt z. B. Clusters aus Gruppen,
die gerne tanzen, andere wandern gerne oder bestehen aus jungen Familien. Diese “Cells” treffen sich normalerweise einmal
im Monat und laden dazu Freunde und Bekannte ein. Der Cluster ist klein genug, um sich noch gegenseitig zu kennen, eine
gemeinsame Vision zu teilen und etwas gemeinsam zu tun. Der
Cluster ist somit die missionarische Einheit der Gemeinde.16
15
Breen, Mike; Kallestad, Walt, A Passionate Life
16
Hopkins, Bob; Breen, Mike, Clusters
- 16 -
Die Celebration ist das Treffen am Sonntag, das aus allen
Clustern besteht, die gemeinsam im Gottesdienst Gott anbeten
und zur Predigt zusammen kommen und die übergreifende Gemeinschaft erleben.
3.2.3 Vision
Die Gemeindevision leitet sich vom Leben Jesu ab, der in Gemeinschaft mit Gott lebte, Menschen
ein Vorbild für ihre Lebensgestaltung gab und viele dazu einlud, mit ihm mitzugehen. St. Thomas’
beschreibt dies in drei Dimensionen:
UP
die Zeit, die Jesus mit Gott, seinem Vater verbrachte, Zeit des Gebets, der Anbetung, der Stille,
der Beziehung zu Gott und der Begegnung mit
ihm.
IN
die Zeit, die er mit seinen Jüngern und seinen
Freunden verbrachte, die “Kleingruppe” oder
“Zelle” des engsten Jüngerkreises, in der Jesus
Gemeinschaft lebte und seine Jünger Nachfolge
einübten.
OUT
die Zeit, die er mit dem Volk verbrachte, den Bedürftigen half und ihnen in Wort und Tat ddie
Botschaft vom angebrochenen Reich Gottes
brachte.
Davon lässt sich die Gemeinde in ihrem Handeln leiten:
UP = meet God:
In den Sonntagsgottesdiensten, aber auch in den kleineren Gruppen (Clusters oder Cell) kann man
Gott begegnen, so dass jeder die Kraft und die Gegenwart Jesu erfährt, die in diesem heutigen Leben wirkt.
IN = meet friends:
Viele Menschen suchen Freundschaft und Beziehungen. Die Gemeinde St. Thomas’ will ein Ort
sein, an dem jeder willkommen ist und einen Ort findet, an dem er Freunde treffen kann. Die intensivsten Begegenung finden naturgemäß in den “Cells” statt.
OUT = live life better:
Die christliche Gemeinschaft ist dazu da, der Welt zu dienen. Jesus hat seinen Jüngern aufgetragen
- 17 -
hinaus zu gehen, die Botschaft vom Reich auszubreiten, zu Jüngerschaft einzuladen, zu taufen, die
Gerechtigkeit Gottes aufzurichten.
3.3. Festzuhalten
bleiben einige Eindrücke, die für unsere Gemeinden wertvoll sein können:
• Das Gebet hat einen sehr hohen Stellenwert. Im Gottesdienst wird in den Fürbittenzeiten ausführlich auch für persönliche Anliegen oder Anliegen der Gemeinde oder in der Welt gebetet. Nach
dem Gottesdienst wird eine Gebetszeit angeboten, in der Menschen persönlich für sich beten oder
sich segnen lassen können. Dabei wird auch Symbolik wie Salbung mit Öl angewendet. Das Leitungsteam bzw. wer aus dem Leitungskreis Zeit hat trifft sich während der Woche jeden Morgen
zu einer halbstündigen Gebetszeit.
• Die Gemeinde hat einen klaren Focus auf eine missionarische Außenwirkung. Sie versteht sich als
Kirche für andere, sei es die Community im Fall der Parish Church oder die City bei der Philadelphia-Gemeinde. Die bereits vorhandene Cluster-Struktur wurde komplett überdacht und überarbeitet, um diese effektiver für die missionarische Außenwirkung einzusetzen.
• Alle Mitwirkenden in der Gemeinde, ob haupt- oder ehrenamtliche Leiter oder Mitarbeitende
zeichnet eine hohe Verbindlichkeit aus. Diese Verbindlichkeit erwächst aus einer Hingabe an
Christus, die alle Lebensbereiche einschließt. Viele Ehrenamtliche sind an mehreren Abenden in
der Woche in der Gemeinde und nutzen außerdem viel Zeit zum Aufbau von Beziehungen außerhalb der Gemeinde, um Kirchen- und/oder Glaubensfremde einzuladen.
• Diese geistliche Motivation ist ursprünglich geprägt von der charismatischen Erneuerung, die
mittlerweile zum selbstverständlichen Leben der Church of England als Ganzes gehört.
• Auch die stark ausgeprägte Richtungsgemeinde St. Thomas’ versteht sich unmissverständlich als
Teil der Church of England. Ebenso begrüßen und fördern die Kirchenleitungen diese Prägung
von Gemeinde eindeutig und klar.
• Obwohl die Leitungsstruktur klar auf den oder die Geistlichen bezogen ist, wird großen Wert auf
Persönlichkeits- und Teamentwicklung und ehrenamtliche Leiterschaft gelegt. Das LifeshapesProgramm wird in unterschiedlichen Ausprägungen auch von den Leitern gelebt und damit geprägt.
4. All Saints Ecclesall Parish Church 24.11.-24.12.2007
All Saints ist die Parish Church, zu der wir auf Grund unseres Wohnortes gehören. Nebenbei bemerkt wohnen wir auch in einem der drei Pfarrhäuser, das wegen der Vakanz des Assistent-Ministers leer stand und das uns die Gemeinde zu mieten angeboten hatte. Vielleicht wurde deshalb unsere Ankunft in All Saints so intensiv wahrgenommen. Aber bereits vorher wurde uns die Gemeinde
von George Lings als eine der gastfreundlichsten Gemeinden beschrieben und empfohlen. Im ersten
Gottesdienst, den wir besuchten, wurden wir offiziell auf Deutsch (!) begrüßt. Der Vicar bat uns
nach vorne und nach einem kurzen Interview, in dem wir der Gemeinde vorgestellt wurden, betete
er für uns und segnete uns für die Zeit in Sheffield. Bei der obligatorischen Tasse Tee nach dem
Gottesdienst wurden wir von Gemeindegliedern zum Essen eingeladen, zur Fußballgruppe, unsere
Töchter zum Jugendgottesdienst - kurz: Wir erlebten am eigenen Leibe das komplette Programm
des Welcome-Teams.
All Saints ist mit durchschnittlich 550 Gottesdienstbesuchern je Sonntag neben St. Thomas’ Croo- 18 -
kes und Christ Church Fulwood eine der drei größten Gemeinden in Sheffield.
In der Gemeinde gibt es eine Reihe von Hauptamtlichen, nicht alle sind vollzeitlich angestellt:
• Vicar Simon Bessant
• Associated Vicar Stephen Hunter (Er ist Geschäftsmann und gleichzeitig ehrenamtlicher Pfarrer.)
• Family Minister Jo Hird
• Youth Minister Harry Steele (Teilzeit)
• Assistant Minister Jude Davis (Sie absolviert ein Praktikum vor ihrer Ausbildung zur Pfarrerin.)
• Music Director Matthew Redfearn (Teilzeit)
• Childrens Minister Nicole & Rich Adams (Teilzeit)
• zwei Gemeindesekretärinnen und zwei Church Buildings Managers (jeweils Teilzeit)
Die Hauptamtlichen (bis auf die Verwaltungs- und Gebäudemitarbeiter) treffen sich wöchentlich
zum Team-Meeting, wo organisatorische Fragen besprochen sowie die Gottesdienste geplant werden. Von montags bis freitags findet jeweils von 8.45h - 9.15h ein Staff-Prayer in der Kirche statt,
an dem teilnimmt, wer keine anderen Verpflichtungen hat. Dies ist ein liturgisches Gebet aus dem
“Common Worship” mit einem freien Gebetsteil.
4.1 Vision
Die Gemeinde beschreibt ihre Vision mit WWW:
• Worshipping - our Father God
• Witnessing - to others the power of His Spirit in our lives
• Walking - with Jesus
Zu den Grundwerten von All Saints gehört der Wunsch, gemeinsam Gottes Weg zu suchen und seine Gegenwart zu erleben. Predigen und Lehren in den Gottesdiensten, den Nachfolgegruppen und
Hauskreisen sind auf die Bibel bezogen. Die Bibel ist Grundlage für Gebet und Anbetung. Mit einer
Offenheit für die Leitung durch den Heiligen Geist sucht die Gemeinde geistliches Wachstum und
Handeln in der Gesellschaft. In ihrer geistlichen Prägung würde man All Saints als “open evangelicals” mit “charismatical” Einschlag beschreiben.
4.2 Gottesdienste
An jedem Sonntag werden fünf Gottesdienste angeboten:
• um 8:00 Uhr die Holy Communion, die sich am “Book of Common Prayer” orientiert. Neben der
festgelegten Liturgie, bei der nicht gesungen wird, und der Predigt wird jede Woche das Abendmahl gefeiert. Durchschnittlich kommen 20-30 Besucher.
• um 9:15 Uhr die Choral Communion. Dieser Gottesdienst folgt der Liturgie des “Common
Worship”, die (wenigen) Lieder werden von einem Chor, der in Roben gekleidet ist, begleitet.
Auch hier wird wöchentlich das Abendmahl gefeiert. Etwa 90 Gemeindeglieder besuchen diesen
Gottesdienst. Bei beiden Gottesdiensten tragen die Pfarrer Talare, im Gegensatz zum
- 19 -
• Worship Service um 11:00 Uhr. Mit ca. 250 Besuchern ist dieser der größte Gottesdienst. Er richtet sich neben der Kerngemeinde auch an Außenstehende und Gäste. An dieser Zielgruppe ist auch
der Gottesdienststil orientiert. Er folgt einer freien
Form von Liturgie. Die Lieder sind aus einer großen Bandbreite von modernen Anbetungslieder
ausgewählt, die aber häufig mit Chorälen abwechseln und von einer Worship-Band, zum Teil auch
gemeinsam mit der Orgel, begleitet werden. Die
Predigt wird in einer zeitgemäßen Sprache gehalten und ist oft mit kreativen Elementen verbunden.
Die Kinder sind am Anfang des Gottesdienstes mit
dabei und gehen während des Lobteils zu ihren Kindergruppen.
• um 18:00 Uhr das Living Word. Auch hier stehen moderne Lieder im Vordergrund, die Predigt ist
länger und lehrhafter als bei den anderen Gottesdiensten und die Gebetszeit intensiver.
• um 19:45 Uhr Uncut. Dies ist ein lebendiger Jugendgottesdienst allem für Jugendliche im Alter
von 13-18 Jahren. Auch hier stehen kreative, lebensnahe Predigten im Vordergrund, die relevant
für das Leben von Jugendlichen sind. Die modernen Lieder werden von einer Worship-Band begleitet. Häufig gibt es kreative Elemente, Kleingruppengespräche oder Zeiten für persönliche
Segnung und Gebet.
Die Predigten folgen häufig Themenreihen, die parallel in den ca. 25 Homegroups der Gemeinde
besprochen werden. Die Leitung der Gottesdienste und die Predigt machen in der Regel unterschiedliche Personen, so dass bereits hier eine große Vielfalt zum Ausdruck kommt.
4.3 Einheit in der Vielfalt
Interessant ist für mich die Frage, wie in diesen verschiedenen Gottesdiensten die Einheit der Gemeinde bewahrt werden kann. Mein Eindruck ist, dass gerade durch die Verschiedenheit die Einheit
bewahrt wird. Indem bewusst unterschiedliche geistliche Prägungen entfaltet werden, kann eine
große Vielfalt von Spiritualität entwickelt und integriert werden, ohne eine Richtungsgemeinde zu
werden. In der Tat versteht sich jeder dieser Gottesdienste als “Congregation”. Dieser Begriff ist
schwierig zu übersetzen. Jede Congregation als eigene “Gemeinde” zu bezeichnen wäre zu weitgehend, denn jede Congregation versteht sich selbstverständlich als Teil der einen Gemeinde All
Saints. “Gemeindegruppe” wäre zu wenig, denn die Besucher der einzelnen Gottesdienste verstehen
sich als Teil ihrer Congregation, selbst wenn es viele Überschneidungen gibt.
Vielleicht ist der Begriff “Gottesdienstgemeinde” am ehesten angemessen. Durch die verschiedenen
Congregations werden durchaus unterschiedliche Typen von Spiritualität entwickelt. Die Grundentscheidung in All Saints ist, keine Gemeinde für nur einen Glaubensstil zu sein, wie zum Beispiel St.
Thomas’ Crookes eine eindeutig charismatische Prägung hat oder Christ Church Fulwood eindeutig
evangelical ist. In All Saints gibt es eine gesunde Mischung von charismatisch und evangelical, aber
daneben auch hochkirchliche liturgische Elemente. Jede Gottesdienstgemeinde kann ihre Frömmigkeitsrichtung entfalten und trotzdem ist es die eine Gemeinde All Saints.
- 20 -
Ein alle Congregations verbindender Faktor ist, neben dem Kirchengebäude an sich, der bzw. die Gemeindepfarrer. In jedem der fünf
sonntäglichen Gottesdienst ist wenigstens einer der beiden Pfarrer
anwesend. Das bedeutet nicht, dass sie immer selbst die Predigt halten oder den Gottesdienst leiten. Hier sind durchaus verschiedene
Gemeindeglieder eingebunden und verantwortlich. Aber sie haben in
jedem der fünf Gottesdienste, ausgenommen der Jugendgottesdienste,
irgendeine Aufgabe. Zusammen mit dem besonderen Verständnis des
Amtes trägt dies zu einer Identifikation mit der Gesamtgemeinde bei.
Der Jugendbereich nimmt dabei eine Sonderstellung ein. “Uncut”
versteht sich nicht nur als Jugendgottesdienst, sondern als Church.
Alles, was entsprechend der CA VI Kirche ausmacht, nämlich “dass
das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem
Evangelium gereicht werden”, ist hier vorhanden. Somit ist hier Kirche im eigentlichen Sinne. Dem widerspricht nicht, dass “Uncut” Teil
der größeren Einheit All Saints Church ist.
Dieses Verständnis von selbständiger, aber nicht unabhängiger Youth Church ist wichtig für die
Gemeinde. Durch diese Selbständigkeit wird Verantwortung an die Jugendlichen abgegeben. Ihnen
wird zugetraut, dass sie diese Verantwortung wahrnehmen können. Voraussetzung dafür ist, dass die
Leitung in die Strukturen der Gesamt-Gemeinde eingebunden ist und dass es vielfältige Verflechtungen mit ihr gibt. So nehmen die verantwortlichen Leiter an den wöchentlichen Teamtreffen von
All Saints teil. Sie sind, wenn möglich, beim morgendlichen “staff prayer” dabei. Wenigstens einer
der Pfarrer ist bei den Jugendgottesdiensten anwesend, wenn auch ohne besondere Aufgabe, außer
wenn Abendmahl gefeiert wird.
4.4 Missionarisches Anliegen
In ihrer formulierten Gemeindevision (”Worshipping - Witnessing - Walking”) richtet All Saints
bewusst den Blick von innen nach außen. Die Gemeinde ist sich dessen bewusst, dass sie eine Kirche mit großen Ressourcen ist. Diese sollen aber nicht in erster Linie für die Versorgung der eigenen Gemeindeglieder eingesetzt werden.
Das führt zu der Frage, wer eigentlich zur Gemeinde gehört. In der Parish, d. h. im geografischen
Gemeindegebiet, von All Saints leben etwa 30.000 Einwohner. Für diese Menschen ist diese Kirche
“zuständig”. Allerdings sind dabei auch Muslime und andere Religionszugehörige sowie Mitglieder
anderer christlicher Gemeinden eingerechnet. Gemeindeglieder im eigentliche Sinne einer Gemeindemitgliedschaft sind 535 Menschen über 18 Jahren. Die Gemeindemitgliedschaft muss jährlich
durch Eintragung in die “Electoral Role” erneuert werden, ist aber noch nicht automatisch mit einer
finanziellen Verpflichtung gegenüber der Gemeinde verbunden. In der Regel sind dies Menschen,
die einen lebendigen Kontakt zur Gemeinde pflegen, sei es regelmäßig oder gelegentlich, denen
aber der christliche Glaube und die Gemeinde wichtig sind.
Das bedeutet, selbst wenn man von den Einwohnern der Parish die Mitglieder anderer christlicher
Gemeinden oder anderer Religionen abzieht, bleibt noch ein erheblicher Teil der Bevölkerung, der
ohne Zugehörigkeit zur christlichen Kirche lebt.
- 21 -
Mission-shaped church
10/12/03
9:10 am
Page 37
17
In der Church of England wird zwischen verschiedenen Gruppen unterschieden:
what is church planting and why does it matter?
Current (or previous) church attendance or involvement
10% regelmäßige Besucher (regular attenRegular attenders –
ders): mindestens 1x mtl. Kirchenbesuch
at least monthly (10%)
Non-churched
Fringe –
10% “Fransen” (fringe): weniger als 1x
(40%)
less than
monthly
mtl. Kirchenbesuch
(10%)
20% offen Entkirchlichte (open dechurched): Sie besuchen an irgendeinem
Punkt in ihrem Leben eine Kirche. ManchOpen demal werden sie als die “Verloren-gegangechurched
nen” bezeichnet: an irgendeinem Punkt in
(20%)
Closed de-churched
ihrem Leben, sei es Umzug, Wechsel des
(20%)
Pastors oder durch berufliche oder familiäre
Veränderungen haben sie den Bezug zur
Based on Philip Richter and Leslie Francis, Gone but not Forgotten, Darton,
Longman and Todd, 1998.
Kirche verloren. Manchmal finden diese
! Regular attenders
Menschen zurück zum Glauben, der vorher
Across the denominational spectrum, roughly 10 per cent of the
noch wie ein Schatten da war. Die Kirche hofft, sie
zurück
zuperhaps
gewinnen
- aber
sie sind
lediglich eipopulation
attend
5–8 times
in a two-month
period.
! Fringe attenders
ne Minderheit der Bevölkerung.
Roughly 10 per cent of the population may attend church 1–3 times in a
20% geschlossene Entkirchlichte (closed de-churched):
haben früher einmal gelegentlich die
two-month Sie
period.
Kirche besucht, aber sind enttäuscht oder desillusioniert
und haben nicht vor jemals zurück zu keh! Open de-churched
Forty per cent of the population are ‘de-churched’. At some point
ren.
in their life they attended church. Of these, 20 per cent are the ‘open
peopleKirche
who have besucht
left church at
some point,
but are open
40% Nicht-Kirchliche (non-churched): Sie habende-churched’
niemals –eine
außer
möglicherweito return if suitably contacted and invited.
se bei einer Beerdigung oder einer Trauung eines
Freundes. Sie hatten nie einen Kontakt mit Kirche
! Closed de-churched
Twenty per
centZiel,
of the “Menschen
population have attended
some point
und haben keine Ahnung, was sich hinter ihr verbirgt.
Das
zurückchurch
zuratKirche
zuin
their life, but were damaged or disillusioned, and have no intention of
bringen”, betrifft sie nicht, weil sie noch nie in der
Kirche
waren.
returning.
! Non-churched
per cent of the population nationally have never been to church,
SaintsForty
richten
sich
vor allem
except
perhaps
for meiner
the funeral Einschätzung
or wedding of a friendnach
or relation.
Die missionarischen Bemühungen von All
an die Gruppe der “fringe” und der “open de-churched”, zum kleineren Teil auch an “nonchurched” Menschen.
37
Verschiedene Bereiche richten sich bewusst nach außen:
• Gebäudegestaltung
Vor etwa acht Jahren wurde das Kirchengebäude renoviert. Die beiden seitlichen Emporen wurden durch einen Balkon und die Kirchenbänke durch Stühle ersetzt. Der Boden wurde mit Teppichboden ausgelegt. Eine moderne Musik- und Lichtanlage wurde eingebaut. Der Innenraum
wurde (gegen großen Widerstand des Denkmalamtes) hell und freundlich gestaltet.
• Welcome-Team
Nach und vor jedem Gottesdienst stehen Mitarbeitende für neue Besucher zur Verfügung und sind
bewusst und erkennbar ansprechbar, wenn jemand einen Kontakt sucht oder Informationen möchte. Nach jedem Gottesdienst gibt es im Welcome-Bereich der Kirche Tea & Coffee und somit Begegnungen untereinander.
• Welcome-Lunch
Einmal im Monat lädt das Welcome-Team neue Gemeindebesucher zu einem Welcome-Lunch in
bei einem der Team-Mitglieder zu Hause ein. Dabei sind immer auch Gemeindemitglieder eingeladen, so dass Begegnungen stattfinden können. Im Dezember wurden zum ersten Mal alle, die
17
Mission-shaped Church, S. 37
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•
•
•
•
•
•
•
sich selbst “neu” in der Gemeinde fühlten, zu einer “Welcome-Party” eingeladen. Anstatt der erwarteten 40 Teilnehmer kamen fast 100!
Advent-Carol-Singen
Eine Besonderheit der englischen Weihnachtskultur ist das Advent- und Christmas-Carol-Singen.
Dabei werden an öffentlichen Plätzen Advents- und Weihnachtslieder gesungen. Ohne großen
Aufwand und unaufdringlich ist dies ein Zeugnis für den Grund des christliches Glaubens, nämlich die Menschwerdung Gottes.
Alphakurse
Drei Mal im Jahr, jeweils ab September, Januar
und April, werden Alphakurse angeboten, die
Grundlagen des Glaubens einfach und einladend erklären und in denen durch die offene
und gastfreundliche Atmosphäre eine große
Offenheit für Gespräche entsteht.
Emmaus-Nachfolgekurs
Als Vorläufer oder Ergänzung zum Alphakurs
und als Vorbereitung zur Konfirmation wird
einmal jährlich ein altersübergreifender Emmauskurs angeboten. Konfirmieren lassen sich
nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene, die bereits getauft sind und nun ihre Glaubensbeziehung zu Jesus Christus bekräftigen wollen.
Parish Hall
Im Stadtteil gibt es kein Community-Centre wie in anderen Teilen Sheffields. Das Gemeindehaus
der Kirche erfüllt daher bewusst den Zweck, Raum für unterschiedliche Gruppen zu bieten. Vom
Gitarrenclub, dem Black-Belt-Judoclub bis zum Senioren-Badminton haben ganz unterschiedliche
Gruppen Räume gemietet. Einerseits ist dies eine zusätzliche Einnahmequelle, um das Gemeindehaus zu erhalten. Gleichzeitig wird damit aber auch vermittelt, dass die Gemeinde mit ihren Räumen der Community, dem Stadtteil, dient. In diesem Jahr wurden intensiv Überlegungen angestellt, wie der Kontakt zu diesen Gruppen vertieft werden könnte. Es gab zum ersten Mal persönlich überreichte Weihnachtsgrüße mit einem kleinen Geschenk von der Kirche an die Gruppen,
verbunden mit einer Einladung zu den Advents- und Weihnachtsgottesdiensten, was sehr positiv
registriert wurde.
Familienarbeit
Unter der Woche treffen sich an drei Vormittagen Eltern mit ihren Krabbelkindern (”toddlers”) im
Gemeindehaus. Diese Krabbelkreise sind mit bis zu je 60 Teilnehmern recht groß. Zum festen
Bestandteil des Programms gehört der “Toddlers Praise”, eine kurze Zeit mit biblischer Geschichte und Mitmachliedern für die Kleinsten.
Frauenarbeit
Unter dem Stichwort “Mirror Mirror” trifft sich jede Woche ein offener Kreis von Frauen zu Begegnung, Gespräch und Kaffee. Viele dieser Frauen haben sonst keinen regelmäßigen Kontakt zur
Gemeinde, aber sind über Beziehungen und Kontakte zu dieser Gruppe gekommen.
Motion
14-tägig findet ein Treffen von Jungen Erwachsenen von 20-35 Jahren statt. Etwa 25 junge Leute
haben ein sehr straffes Programm von Auslegung eines Bibeltextes, Kleingruppengesprächen und
Gebet. In der Arbeit mit Jungen Erwachsenen kenne und schätze ich hingegen eher ein ausgewogenes Programm, bei dem man an Lebensfragen junger Menschen ansetzt und dies mit Glaubensfragen verbindet. Darauf angesprochen stellte sich aber heraus, dass genau das oben beschriebene
Programm das ist, was diese Leute wollen und wonach sie fragen.
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Die Perspektive für “Motion” ist, demnächst die Verantwortung für den 18h-Gottesdienst am
Sonntag zu übernehmen und ihn zu einem Gottesdienst für Junge Erwachsene zu entwickeln.
• Ehearbeit
Für junge Paare wird jährlich ein Marriage-Preparation-Course angeboten sowie für “langjährige”
Ehepaare ein Marriage-Course durchgeführt. An letzterem haben meine Frau und ich mit viel
Gewinn teilgenommen.
• Jugendarbeit
• Uncut
Die Youth-Church wurde bereits oben dargestellt. Sie ist ein Versuch, bewusst die Jugendkultur aufzunehmen und Jugendlichen in einer ihnen entsprechenden Gottesdienstform zu begegnen.
• Teenage Kicks
Einmal im Monat wird mit enormem Aufwand das ganze Gemeindehaus umgebaut und zu
einer Teenager-Disco gestaltet. Livebands, häufig von Jugendlichen selbst gebildet, unterhalten ein Publikum von 12-16 Jahren. Der Besuch ist enorm. Es gibt zwar keine explizit christliche Botschaft im Programm, aber die Verantwortlichen und die Mitarbeitenden sind auch
sonst in der Jugendarbeit aktiv, laden zu “Uncut” ein und bauen somit Beziehungen und Brücken zu anderen Angeboten der Gemeinde.
• Teenage Flicks
Eine ähnliche Funktion hat das ebenfalls einmal monatlich stattfindende Jugendkino im Gemeindehaus. Für viele der jüngeren Teenager ist es das erste Mal, dass sie “ausgehen” dürfen.
Bewusst wird von der Gemeinde die Fürsorge für die Jugendlichen betont (”health & care”).
• Assemblies
Die Jugendmitarbeiter und der Pfarrer gestalten in den Schulen in der Parish wöchentlich Assemblies. Auch hier geht es vor allem darum, bekannt zu werden, den Kindern und Jugendlichen ein positives Image von Kirche und damit vom christlichen Glauben zu vermitteln und
Beziehungen und Brücken in die Gemeinde zu bauen.
• Emerging Leadership Training
Für Jugendliche aus der Gemeinde hat im Januar ein monatliches Schulungsprogramm begonnen, das innerhalb eines Jahres sowohl geistliche Themen als auch praktische Fragen von
Zeitplanung und Gruppenleitung beinhaltet. An diesem intensiven Training nehmen etwa 25
Jugendliche aus der Gemeinde teil.
4.5 Persönliche Erfahrungen und Eindrücke
Die Eindrücke, die ich seit August von der Gemeinde in Ecclesall sammeln konnte, haben sich in
den intensiven vier Wochen noch bestätigt:
• Die Gemeinde legt großen Wert auf Gastfreundlichkeit. Sie bemüht sich sehr um Menschen, die
nicht zur Gemeinde gehören oder nur am Rande auftauchen, nimmt sie wahr und heißt sie willkommen. Die Herzlichkeit und Aufgeschlossenheit, mit der man uns als Familie als Besucher begegnet, erfahren auch andere Gäste der Gemeinde.
• An zwei Gottesdiensten im Dezember habe ich gepredigt und war bei insgesamt drei Gottesdiensten an der Austeilung des Abendmahls beteiligt. Der Gemeindepfarrer Simon Bessant ist sehr of-
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fen für ökumenische Kontakte und betont immer
wieder die Möglichkeit, miteinander Gottesdienst zu
feiern, die das “Meißen Agreement” eröffnet.
• Eine Gemeinde in dieser Größenordnung steht in der
Gefahr, sich vor allem darum zu kümmern, dass das
laufende Programm unterhalten wird. Die vielfältigen
Dienste und Verflechtungen erfordern eine gute Leitung, die leicht zum reinen Management werden
kann. Trotzdem fokussiert sich die Gemeindeleitung
immer wieder auf das Thema “Mission”.
• Die Dringlichkeit für Mission kommt nicht aus einer
defensiven Haltung, dass die Kirche erhalten bleiben
müsse, wenn man nicht neue Formen einführt. Vielmehr ist sie in einer tiefen Spiritualität begründet, die
aus dem Gebet und der Begegnung mit dem Wort
Gottes entspringt. Dies wird zu allererst im Team der
Hauptamtlichen erfahren und gelebt.
gemeinsam mit Canon Rvd. Simon Bessant
III. Zusammenfassung
Immer wieder fühle ich mich überwältigt davon, wie offen mir die Menschen in den besuchten Gemeinden begegnen. Immer wieder drücken sie aus, wie sehr sie sich wertgeschätzt fühlen, dass jemand aus Deutschland mehrere Wochen mit ihnen lebt, um von ihnen zu lernen. Dies fließt zurück,
indem sie ihre Erfahrungen teilen. Und das sind nicht nur die Erfolge, sondern auch die Niederlagen
und das Scheitern. In jedem Fall aber erlebe ich, wie uns der Geist Gottes über Grenzen und Kulturen hinweg vebindet.
Einiges möchte ich aus den Erfahrungen, die diesem Bericht zu Grunde liegen, festhalten:
• Veränderungen
Ich glaube nicht, dass sich Menschen in England mit Veränderungen leichter tun als in Deutschland. Mir scheint aber, dass zum einen der Druck von außen, sich verändern zu müssen, inzwischen sehr viel höher ist als bei uns. “Wenn wir uns nicht verändert hätten, wären wir gestorben”,
so drückte es ein Gemeindeglied in der Trinity Church in Liverpool aus.
Andererseits führt die intensive geistliche Gemeinschaft in den Gemeinden sehr viel eher zu Einsichten, die dann auch in äußeren Veränderungen münden. Wo Menschen dem Geist Gottes begegnen, werden sie aufmerksam für die Sendung in die Welt, die er für sie hat.
Wie sich Gemeinden verändern und welche Erfahrungen sie dabei machen, wird einer der
Schwerpunkte des nächsten Berichts werden.
• Hingabe
Missionarische Arbeit hat erst in zweiter Linie mit Methoden und Konzepten zu tun. Gerade wir
in Deutschland sind sehr schnell in der Formulierung von Zielen und und der Planung von konkreten Schritten. Das ist sicher eine Stärke und ist unerlässlich. Was mir in den Gemeinden in
England gefällt ist, dass sie zunächst beim Menschen selbst ansetzen. Die lebensverändernde
Kraft des Evangliums spricht Menschen ganz persönlich an. Am Anfang steht immer die Hingabe
an Gott und das Hören auf ihn, das “Listening what God is doing and joining in”. Die Hingabe
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des ganzen Lebens an den Heiligen Geist, das darf nicht übersehen werden. Und da der Heilige
Geist in der Sendung Gottes in die Welt steht, bedeutet auch Glauben und Nachfolge Sendung in
die Welt. Gesandt ist die ganze Gemeinde. Daher braucht es in der Mission die theologisch ausgebildeten ordinierten Spezialisten und jedes einzelne Gemeindeglied, die gemeinsam an der Sendung in die Welt mitwirken.
• Gebet
Diese tiefe Spiritualität ist verwurzelt in einer Haltung des Betens. Ob dies das spontane Gebet
auf dem Bürgersteig oder im Auto oder das liturgische Morgengebet im Hauptamtlichenteam ist,
die charismatische Anbetungszeit oder eine Stillezeit vor dem Abendmahl - diese bewussten Zeiten, Gott zu begegnen, scheinen mir sehr viel selbstverständlicher zum Tagesablauf und Arbeitsrhythmus zu gehören als bei uns.
• Vielfalt und Einheit
Vielleicht gehört es zum Wesen des Anglikanismus, Raum für vielfältige geistliche Strömungen
zu bieten. Die Einheit wird gerade dort erfahren, wo Vielfalt sein darf. Es gibt keine Scheu vor
anders geprägter Spiritualität (dass es sehr wohl aber auch Konflikte darum gibt, ist einer der
Punkte im nächsten Bericht).
In der Church of England ist es gelungen, die “evangelical” und die “charismatic” geprägten
Gruppen zu integrieren. Gerade aus diesen Bereichen kommt die Energie für die Mission und die
Aufbrüche der letzten Jahre.
Damit stellt sich die, nicht nur kirchenpolitisch, wichtige Frage, wie in unserer Landeskirche das
Miteinander der unterschiedlichen Formen von Spiritualität gelingt.
• Anfangen
Manche der Modelle lassen sich mit relativ wenig Aufwand in anderen Kontexten umsetzen. Mir
scheint, dass man in England sehr viel pragmatischer mit neuen Ideen umgeht. Während bei uns
in Deutschland häufig ein langer Konzeptionsprozess mit vielen Diskussionen die Energie lähmt,
probiert man in England oft zunächst einmal etwas aus und beginnt etwas, ein wenig nach dem
Prinzip “trial and error”. Das bringt durchaus auch Nachteile mit sich, aber Neues kann viel leichter umgesetzt werden.
• Vernetzung
Auf vielfältigen Ebenen, auch über die Kirchengrenzen hinaus, gibt es Vernetzungen von denen,
die missionarisch aktiv sind. Auch dazu mehr im nächsten Bericht.
Abschließend möchte ich noch festhalten, dass ich sehr gerne hier bin. Es ist eine sehr gute Zeit für
mich und auch meine Familie erlebt eine große Horizonterweiterung und einen Blick über den eigenen, deutschen Tellerrand. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie unmittelbar sowohl junge als
auch ältere Christen ihren Glauben leben und davon erzählen, was sie mit Gott erleben. Meine
Hoffnung ist, dass diese Erfahrungen Früchte für die Badische Landeskirche tragen.
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