Zwei Gedichte: Vom Sinn des Lebens?

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Zwei Gedichte: Vom Sinn des Lebens?
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Bist alsobald und fort und fort gediehen nach dem Gesetz, wonach du angetreten?
Zwei Gedichte: Vom Sinn des Lebens?
„Urwort“ von Goethe und Benns: „Nur zwei Dinge“
Gedichtstunden waren, wenn auch nicht immer, Horrortage des Schullebens. Dennoch
versucht dieser kleine Vortrag aus dem Jahre 2004, ein paar Basisfragen zum Sinn des
Lebens mit der Hilfe von zwei Gedichten etwas näher zu betrachten.
Vor einigen Jahren eröffnete einmal ein Kabarettist seine Nummern wie folgt: „Meine Damen und Herren, wo
ich auch in letzter Zeit hinkam; ein neuer philosophisch-religiöser Tiefsinn hat die Gesellschaft ergriffen und
scheint Mode zu werden. Da hört man jetzt in Bars und Kaschemmen neuerdings Fragen wie: „Woher nur
kommen wir?“ oder „Wohin nur gehen wir?“ Warum aber fragt da keiner zwischen zwei Drinks mal schlicht:
„Was machen wir mit der Zeit dazwischen?“ Sofort dachte ich: Der könnte sogar Recht haben! Das wäre nun
doch mal eine Frage mit konkreter und alltagstauglicher Nutzanwendung für den homo practicus, anstelle
lustfeindlicher Leer- und Kreislaufen für Universitäts-Philosophieaspiranten.
Denn Studenten der Philosophie verkehren nicht in Bars? Das hätten wir wohl gerne! Sie tun es; zu ihrem
Glück. Also nehmen wir einmal an, ein paar von ihnen wären wider Erwarten in einer Bar, und sie kämen
dort auf den Sinn des Lebens zu sprechen, ich verwettete eine Flasche erstklassigen Blanton, dass sie sich
mehr – wenn auch nicht ausschliesslich – der Periode zwischen, als der Zeit vor und der Zeit nach dem, was
wir Leben nennen, widmen würden.
Ja, und danach wären sie dann wahrscheinlich sehr rasch bei der vierten Frage dieser Reihe angelangt:
„Wozu das Ganze? Nicht nur: „Warum leben wir?“ sondern auch „Wozu leben wir?“ Aber dann wird’s erst
recht kitzlig, denn je nach persönlichem Bauplan und Schicksalsweg würden sie auch unterschiedliche
Antworten geben. Und das auch noch zu bedenken, da fehlt mit die Lust und die Zeit.
Wie aber würden wir als geschäftige Lebenspraktiker antworten, wenn wir gezwungen würden? Ausreden
wären dann eher peinlich unangebracht, wie etwa die: „Keine Zeit, habe zu tun, das hat Zeit bis zur
Pensionierung!“ Oder wir sind Skeptiker und zweifeln generell daran, dass es Antworten auf eine derartige
Frage gibt. Kann sein, dass wir auch Hedonisten sind und allem Tiefsinn ausweichen und lieber das Leben
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aus vollen Zügen geniessen wollen. Kann sein, dass wir Pessimisten sind und im Leben partout keinen Sinn
sehen können und wollen! Oder wir sind Zyniker und finden solche Fragen nach dem Wozu? nur einfach
kindlich, wenn nicht sogar kindisch, sicher aber alleweil belustigend.
Wir sehen: Methoden und Ausreden zu finden, dem Ganzen auszuweichen, ist überhaupt kein Problem, so
wie es aber eigentlich kein Problem sein müsste, Wege zu finden, das Ganze gleichwohl zu ergründen. Wir
könnten zum Beispiel mit uns in Klausur gehen und meditieren, wir könnten im Freundeskreis die Frage
nach dem Sinn des Lebens aufwerfen, dies mit dem Risiko, zögerliche Reaktionen zu ernten; wir könnten
uns im Notfall an der Volkshochschule für einen Kurs einschreiben. Titel: Metaphysik für ungeduldige
Manager oder Die philosophische Notfallapotheke! Wir könnten uns auch an den Dorfpfarrer wenden oder in
den Ferien durch einen Stapel einschlägiger Bücher pflügen.
Nun, wir wollen es dieses Mal anders und etwas unkonventioneller anpacken. Wir nehmen einmal als
Hypothese an, es sei uns gelungen, den geschäftigen Lebenspraktiker, den ätzenden Skeptiker, den
buntscheckigen Hedonisten, den grauen Pessimisten und den scharfen Zyniker in uns für ein paar
nachdenkende Momente zum Schweigen zu bringen. Zudem lasst uns einfach mal annehmen, dass wir hin
und wieder auch Gedichte lesen, und dass man aus dieser besonders konzentrierten Ausdrucksform ein
paar Erkenntnisse destillierte, vor allem dann, wenn diese Gedichte zwei grundsätzlich verschiedene
Lebenspositionen darstellen aber dennoch Ähnliches aussagen.
Denn genau das tun die beiden Gedichte, welche miteinander in einer inhaltlichen Beziehung stehen. 1953
hat Gottfried Benn einen 13-Zeiler (sic, was die Form betrifft) mit dem schlichten Titel „Nur zwei Dinge“
veröffentlicht, das man als eine zeitgemässe Antwort auf Goethes „Urworte. orphisch, Dämon“ betrachten
kann. In beiden Gedichten wird vom menschlichen Leben als Entwicklungs- und Reifungsprozess
gesprochen, die sich in mehr oder weniger festen Rahmenbedingungen und Konstellationen vollziehen.
Beide Dichter verfassten ihre Verse etwa im gleichen Alter: Goethe war 68, Benn 65 Jahre alt.
Auf den ersten Blick befremden uns die vorliegenden Verse vielleicht etwas, denn ihre Sprache und ihr Inhalt
sind ungewohnt und etwas hermetisch. Das aber nur auf den ersten Blick. Benn und auch Goethe
verwenden häufig Wort-Konzentrate, wir können auch von Chiffren sprechen, die dechiffriert sein wollen.
Dies sollten wir tun, bevor wir dann versuchen werden, aus ihnen eine eigene Position und Stellungnahme
zu extrahieren. Hier das Goethe – Gedicht:
URWORTE. ORPHISCH: , Dämon
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Grusse der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
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Dringen wir Zeile für Zeile ein und machen uns mit der Begriffswelt vertraut:
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
In einfachen Worten: Goethe spricht vom Tag unserer Geburt, der Tag unseres Eintrittes in die Welt, der
Beginn der grossen Reise, an dem
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Goethe spielt auf die Konstellation der Sterne im Verhältnis zur Stellung der Sonne an. Ob da nun ein
Loblied auf die Astrologie angestimmt wird, lass ich mal dahingestellt sein. Ich komme in der 4. Verszeile
darauf zurück. Goethe fährt dann fort, ganz frühzeitlicher Entwicklungspsychologe:
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Kaum auf der Welt, beginnt deine Entwicklung alsobald, moderner gesprochen vom ersten Tag an im
sogenannten extrauterinen Frühjahr, wo das Kind seine massgebenden ersten Prägungen für sein ganzes
Leben erfährt, die nun fort und fort die Persönlichkeit zusammen mit den erworbenen Erfahrungen gestalten;
und zwar
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
Heute würde man das Gesetz, wo nach du angetreten, mit Begriffen wie Erbgut, genetischer Code oder die
angeborenen Anteile der Persönlichkeit beschreiben wollen. Damit würde man dann auch mitten in eine der
General-Diskussionen vergangener Dezennien eintauchen, wo heftig darüber debattiert wurde und auch
noch wird, was denn wichtiger sei, das durch Vererbung Angeborene oder das durch Erfahrung Erworbene?
Goethe favorisiert offensichtlich die angeborenen Strukturen der Person; dies vor allem dann in der
folgenden Zeile:
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
Du wirst immer wieder auf die Grundbedingungen, deine Anlagen, deine Startbedingungen, Benn würde von
den Beständen reden, zurückgeführt, von ihnen bist du abhängig,
so sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Von ihnen bist du abhängig, was auch immer die modernen Sibyllen, also weissagende Frauen und
Propheten, oder moderner gesprochen, die Philosophen und Psychologen dir aufzuschwatzen versuchen.
Übrigens könnte man selbst versucht sein, denen nachzusagen, dass ihre Äusserungen zu Fragen der
allgemeinen und persönlichen Existenz bisweilen auch vagen Weissagungen und nebulösen Prophetien
gleichen.
Noch unmissverständlicher wird Goethe dann in seinen letzten beiden Versen, wenn er sagt:
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Das was dir durch Gene und Herkunft mitgegeben wird, kann nicht zerstört werden. Aber es soll und wird
sich verändern, wenn du es in deinem Leben bewusst entwickelst und nicht als fatalistisches Faktum, eben
als Fatum oder als faule Ausrede hinnimmst und nichts damit beginnst.
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In moderne Kategorien übertragen könnte man dieses Sinngedicht von Goethe ebenfalls neu interpretieren:
Du wirst mit einem mehr oder weniger geeigneten Gepäck auf die Welt gestellt und auf drei Reisen
geschickt. Die erste Reise ist die Reise deiner Jugend, die Reise zu dir selbst. Die zweite Reise führt dich
durch die reiferen Jahre in und durch die Gesellschaft. Die dritte Reise schliesslich offeriert dir ein Panorama
von Fragen, welche du dir stellen wirst, wenn du daran denkst, dass die Reise eines Tages zu Ende sein
wird.
Auf allen drei Reisen wird die geprägte und weiterentwickelte Form deiner Persönlichkeit dich deinen Weg
zu finden heissen. Dir wirst du nicht entrinnen können. Dir musst du treu bleiben; oder wiederum modern
gesprochen. Du musst authentisch bleiben.
Goethes Lebenskonzept
In eine zeitgenössische Sprache übertragen würde denn also Goethes Gedicht nüchtern und gänzlich
unpoetisch etwa so klingen:
Am Tag deiner Geburt ist deine Lebenskonstellation bereits festgelegt. Du entwickelst dich
zwar früh und rasch weiter, aber deinen Genen kannst du nicht entrinnen. Daran ändern
auch die äussern Umstände deines Lebens nichts, was man dir auch aufzuschwatzen
versucht. Weder Umstände des Zeitgeistes, noch Gesellschaftskräfte können deinen Kern
zerstören, wenn du den Mut und die Ausdauer hast, dich im Rahmen deiner Hoffnungen und
Möglichkeiten weiter zu entwickeln.
Würde ich nun gefragt, was ist die Botschaft Goethes in diesem Sinngedicht? Nun, es ist ja offensichtlich.
Wir begegnen hier einer Botschaft der Hoffnung und der Entwicklungschancen für jeden.
Sie bejaht das Leben, sie ist optimistisch und ist natürlich auch ein Spiegelbild des Lebenslaufs von Goethe,
das bei aller Zerrissenheit seiner Person und ihrer Ansprüche doch mehrheitlich glücklich und für den
reichen Grossbürgerssohn aus Frankfurt doch auch äusserst erfolgreich war.
Goethe sieht hier als 68-Jähriger rückblickend das Leben als Reifungsprozess, der zwar von den
Startbedingungen, dem Erbgut, aber auch von Geburtsstunde und Ort, also man könnte sagen vom
geopolitischen Kontext abhängt, aber dennoch Gedeihen verspricht, einem Prozess also, der auch Zielen
zustrebt und auch die Hoffnung nährt, dass man sich weiterentwickeln kann, und dass die Mächte der Welt,
also persönliche Schicksalsschläge, Kriege, ja überhaupt die ganze Palette an Glück und Unglück uns nicht
zerstückeln, nicht zerstören können, wenn wir uns bemühen, uns treu zu bleiben und vor allem uns nicht
scheuen, viel in unsere persönliche Entwicklung zu investieren.
Das ist auch, selbst wenn wir sehr vorsichtig sind und Pauschalisierungen vermeiden wollen, das ist aufs
Ganze gesehen Goethes optimistische Botschaft. Darauf setzt Goethe alle Hoffnung; und nicht zufällig
entdecken wir in diesem Kontext einen Satz aus Goethes Maximen und Reflexionen, der lautet: „Hoffnung ist
die zweite Seele der Unglücklichen.“
Und es sei auch noch ergänzt, dass Goethe, ganz Kind seiner aufgeklärten Zeit, in einem weiteren Urwort
mit dem Titel Elpis) zu Deutsch Hoffnung, ganz klar Stellung bezieht, wo er die existentiellen
Erkenntnis-Grenzen anspricht, welche sich uns angeblich in den Weg stellen. Er fordert uns geradezu auf zu
versuchen, die prinzipiellen Lebensfragen, eben die Kinderfragen nach dem Woher, dem Wohin und dem
Wozu zu stellen. Goethe sieht Hoffnung, diese Grenzen der Erkenntnis zu überwinden, darin ist er
unerschütterlich, wenn er uns in seinem Urwort verdeutlicht:
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Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer
Höchst widerwärtge Pforte wird entriegelt,
Sie stehe nur mit alter Felsendauer!
Benn, ein radikaler Pessimist?
Nun, Gottfried Benn, pessimistisch-skeptisches Resultat eines anderen Jahrhunderts, teilt diesen
Optimismus Goethes ganz und gar nicht. Auch von Hoffnungsschimmern und vom Geschlecht zu
schwärmen, das vom Dunkeln ins Licht strebt, wäre beim ihm völlig verfehlt, das Gegenteil weniger.
Benn, von Haus aus Arzt für venerische Krankheiten, wurde früh mit den düsteren Seiten des 20.
Jahrhunderts konfrontiert; sei es im Ersten Weltkrieg als junger Militärarzt im besetzten Brüssel, wo er
Strassenmädchen medizinisch betreuen musste, sei es als Hautarzt in Berlin, sei es später im
Tausendjährigen Reich als innerlich Emigrierter, der sich vor den Verfolgungen der SS dadurch entzog, dass
er sich durch seine Beziehungen zur Wehrmacht militärisch reaktivieren liess und als Oberstarzt ein
trostloses Leben nach Dienstplan in Kasernen fristen musste, wo er Statistiken und Berichte über
Selbstmörder in der Wehrmacht bearbeitete.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er lange Zeit gemieden und auch verfemt, weil er im Jahre 1933 dem
Nationalsozialismus als Idee einige gute Seiten abgewonnen hatte, dies aber schon nach einem Jahr
bereute und dabei erkannte, wes’ Ungeistes Höllenkinder die Braunen in der politischen Wirklichkeit waren.
Benn war ein einsamer Mensch, zwar von Frauen umschwärmt, aber dennoch eine Art Eremit, der ein
Doppelleben führte. Ein Leben als Arzt und Gesellschaftsmensch und ein Leben als Dichter und
Zeitanalytiker. Ein Resümee dieser Lebenserfahrungen stellt das zweite Gedicht „Nur zwei Dinge“ dar, das
man ohne Bedenken als ein Gedicht unserer Zeit, ein Gedicht der grossen Desillusionierung deuten darf.
Gestattet sei auch hier, Zeile für Zeile zu dechiffrieren. Vorab das ganze Gedicht:
Nur zwei Dinge
Durch so viele Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewusst,
es gibt nur eines: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sagedein fernbestimmtes: Du musst.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
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Diese erste Strophe evoziert Erfahrungen der Kindheit und der Jugend, auf die verschiedensten
Erscheinungsformen des jungen Lebens, wo alles noch den formenden Glanz des Neuen hat und die
Illusionen blühen und man vielem nachrennt, vom dem man später bedauert, es getan zu haben.
Durch so viel Formen geschritten,
Wir haben die Erscheinungsformen des Lebens kennen gelernt! Wir haben unsere ersten formenden
Erfahrungen hinter uns.
durch Ich und Wir und Du,
Wir waren dabei, unser Ich kennen und vielleicht auch verstehen zu lernen, wir sind dem Wir in den
mannigfaltigen Forderungen und Absurditäten des Gesellschaftslebens begegnet, wir sind auf das Du
gestossen in Freundschaft, Erotik und Liebe.
doch alles blieb erlitten
Aber dies alles hat nicht nur Freude gemacht, vieles war auch unerfreuliche Erfahrung, Ernüchterung und in
den bittersten Stunden wohl auch Leid, das uns auf ein Panorama der kühlen Einsicht und Bewertung führte,
wenn wir
durch die ewige Frage: wozu?
alle Höhe- und Tiefpunkte unserer Existenz dem harten Schlaglicht einer selbst- und gesellschaftskritischen
Beleuchtung aussetzten und durch bohrendes Fragen uns vielleicht das Gehirn und die Seele zermarterten,
für unser Leben einen Sinn zu finden.
Oder haben wir uns nicht schon mal gefragt: Ist das jetzt alles? Soll es das gewesen sein? Wozu mühe und
strample ich mich ab und weiss doch nicht einmal wozu?
Benn sieht die Notwendigkeit solcher Fragen in der zweiten Strophe seines Gedichtes anders. In der zweiten
Strophe beschreibt er die Mannesjahre und beantwortet zugleich die ewige Frage „wozu“, wenn er im
Gegensatz zu Goethe lakonisch feststellt:
Das ist eine Kinderfrage.
Das vermengt uns in eine sinnlose Fragerei ohne Ende. „So fragen Kinder: Woraus ist ein Schrank
gemacht? Aus Holz! Woraus ist Holz gemacht?“ Kinder fragen auch: „Wozu arbeitet man? Um zu leben!
Wozu lebt man?“ Benn will uns bedeuten, dass solche Fragen im Kreis herumführen und nichts Besseres
intendieren, als unseren Pessimismus zu vertiefen. Deshalb sagt Benn:
Dir wurde erst spät bewusst,
in welchen Konsequenzen all diese sinnlosen Grübeleien und Lebenserfahrungen kulminieren. Sie münden
in die trocken-traurige Erkenntnis, welche in diesem Gedicht genau in der Mitte steht:
es gibt nur eines: ertrage
dein fernbestimmtes: Du musst.
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Es gibt also nur eines: Goethes: „So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen.“, ob Sinn, ob Sucht,
ob Sage - ob du nun für einen Sinn im Leben, für ein Lebensziel, für eine Sache, wie zum Beispiel
Entomologie, Sauerkrautproduktion, Gymnastik, Liberalismus oder für eine oder mehrere Personen
einstehst, ob du dich nun deinen Trieben und Süchten, deinen Gelüsten und Leidenschaften aussetzt, ob du
dich in Welterklärungsmodelle via Religion, Genetik, Esoterik oder Existentialismus oder in andere
sagenhaften Mythen verstrickst, am Ende aller Reflexion und Spekulation hast du nur dich und das, was du
aus dir gemacht hast.
Da gilt, was auch Goethe – daher auch die Verwandtschaft der beiden Gedichte – unvergleichlich klar als
Eindruck uns hinterlässt: „Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt geprägte Form, die lebend sich
entwickelt.“
Benn sagt auch nicht mehr als: Du musst lernen, Deine Bestimmung, deine geprägte Form, zu ertragen; und
zwar unabhängig von vergeblicher und sinnloser Sinnsuche, unabhängig von sinnlichen Süchten und
unabhängig auch von irrsinnigen Sagen, also auch unabhängig von Zeitgeist, unabhängig von den gerade
gängigen geistigen Mächten, welche uns Spukschlösser und Heftchenweisheiten über das menschliche
Leben mehr oder weniger grossmäulig anpreisen. Du musst deine Bestimmung kennen und nicht vor ihr
davonrennen.
Rekapitulieren wir: Benn will uns das Folgende verdeutlichen: Das, was er in der ersten Strophe prototypisch
als Ich, als Wir und als Du bezeichnet, das hier als Chiffre für alles Individuelle und Gesellschaftliche steht,
das scheint ihm mehr oder weniger belanglos und nichtig zu sein angesichts der ebenfalls seiner Deutung
nach der sinnlosen Frage nach dem Wozu.
Vom Sinn des Lebens
In der zweiten Strophe rechnet Benn gnadenlos ab mit unserer Lebenssinnsuche, mit unserer Jagd nach
Glück und Rausch und mit unserem verzweifelten Festklammern an überlieferte Mythen und Mären aus den
Welten des Glaubens und des Aberglaubens. Auch davon bleibt nichts, wenn du auf dein eigenes Ich
zurückgeworfen bist, das losgelöst von Kultur und Tradition sich in dieser bizarr widersprüchlichen Welt
behaupten muss.
Aber damit nicht genug. Seine ernüchternde Existenz-Analyse könnte eigentlich mit dem kategorischen
„Ertrage dein fernbestimmtes Du musst“ in der zweiten Strophe ihren Abschluss finden. Aber Benn legt
sein in die Tiefe des Lebens horchendes Stethoskop noch nicht beiseite. Im Gegenteil: Er untersucht den
Patienten Leben nun erst recht weiter. Nun will er in der dritten Strophe auch noch wissen, ob denn Hoffung,
Trost und Rettung für unser Dasein im Naturerlebnis zu finden sei.
Würde man nämlich in dieser Frage seine Gedichte zu Rate ziehen, dann könnte man das vermuten und
bejahen. Denn Benn gestaltete in seinen poetischen Werken immer wieder atemberaubende Bilder von
sinnlicher Naturschönheit und einem Sprachklang, der uns verführen könnte, Benn als naturverbundenen
Landschaftspoeten falsch zu deuten.
Natur, wie schön sie auch sein mag, sie ist für Benn Anlass zu Melancholie, zwar zu Glück aber eben auch
zu Elend, denn für ihn ist Natur nicht nur Ausdruck unendlicher Schönheit, sondern auch Kampf ums
Überleben, nicht nur blühende Landschaft, sondern auch Symbol des Werdens und Symbol des Vergehens.
Die dritte Strophe unseres Gedichtes bringt das einmalig präzis auf den Punkt, wenn er es mit folgenden
Versen abschliesst:
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere
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was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Seine Konklusion aus den Erfahrungen seines Lebens ist denn auch eine denkbar einfache: Anerkenne,
dass hinter allen Grundlagen deines Lebens, sei es deine gesellschaftliche, sei es deine weltanschauliche
Von Beständen ausgehen, nicht von Parolen
Position, sei es dein Verhältnis zur Natur, hinter all dem ist Leere, der du nur die Stirne bieten kannst, wenn
dein Ich gezeichnet ist, will sagen, wenn du dein Ich gestaltest, wenn du dich selber gezeichnet hast, als
wärst du ein einmaliges Kunstwerk, das sich nicht darum kümmert, ob das Leben einen Sinn hat oder eben
nicht. An anderer Stelle sagt Benn lakonisch: „Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen
Parolen.“ Ein Wort übrigens, das auch in unseren skeptischen Ohren Resonanz finden könnte; und zwar
immer dort, wo zu viel über Form statt über Inhalte gesprochen wird.
Nun (…) würde ich mich nicht sonderlich wundern, wenn der Leser seit geraumer Zeit gedacht hat, was soll
mir Benns abgründiger Pessimismus und seine ernüchternde Behauptung, es gäbe nur zwei Dinge: die
Leere und das gezeichnete Ich? Damit kann er uns nicht kommen! Und überhaupt: Unser Weltbild ist das
nicht. Wir gehen doch in unserem christlich-abendländischen Kulturkreis davon aus, dass diese Welt nicht
bloss ein hohler Zufall in einem sinnleeren Kosmos ist. Wir verdeutlichen diese Hypothese doch im Symbol
einer universellen, deistischen Architektur mit einer entsprechenden kreativen Potenz dahinter, wie immer
wir sie auch nennen wollen!
Aber warum dann diese bennsche Provokation, die vermeintlich an den Fundamenten der Freimaurerei
rüttelt? Ganz einfach. Weil die eigene Position sich an anderen festigen kann. Doch ich muss zugleich
gestehen, grosse Lust, Benn zu widerlegen, verspüre ich nicht. Im Gegenteil, ich denke ähnlich wie Benn,
nur ziehe ich andere Konsequenzen.
Machen wir zu diesem Zwecke ein kleines Experiment und geben wir Benn, tolerant wie wir sind, einfach mal
Recht. Anerkennen wir, dass alles, was wir tun, durch die Frage: wozu? Gefahr läuft, relativiert oder sogar
sinnentleert zu werden; und dass wir in der Tat halt das fernbestimmte und unbeeinflussbare „Du musst“,
oder nennen wir es auch mal Schicksal, ertragen lernen müssen, und dass wir vielleicht beim grossen Finale
doch zugeben müssten, dass es nur zwei wirkliche Dinge gibt: Eben die Leere und das gezeichnete Ich.
Chancenlose Thekenrumhänger?
Ist aus dieser existentiellen Erfahrung aber wirklich der Schluss zu ziehen, dass wir chancenlos sind, weil
hinter dem Leben nur Leere herrscht, das Leben also wenig Sinn macht, denn wir wissen ja, wie unsere
Barbesucher in der Tat nicht, woher wir kommen oder wohin wir gehen? Aber ist das wirklich wichtig? Ist
nicht viel wichtiger, was wir mit der Zeit dazwischen anfangen, wie wir diese drohende Leere ausfüllen und
uns fragen: Womit kann ich sie ausfüllen und neue Inhalte selbst gestalten?
Nehmen wir zum Exempel die Erlebnisse der Liebe, die Erfahrungen mit der Gerechtigkeit und den Umgang
mit der Wahrheit. Stellen wir uns vor, ihr Gegenteil wäre Wirklichkeit. Das könnte uns wenig erfreuen, denn
eine Welt, die auf Liebe verzichtet, auf Gerechtigkeit pfeift und die Wahrheit den politischen und
gesellschaftlichen Umständen anpasst, ist eine Welt des nihilistischen Horrors. Wobei ich allerdings versucht
bin, manchmal feststellen zu müssen, dass wir schon ziemlich nahe vor dem schwarzen Loch der
gesammelten Nichtigkeiten stehen und uns fragen, was wir wohl tun können und müssen, um diese
bennsche Leere aufzufüllen.
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Wenn wir uns allerdings umschauen und sehen, was viele, vielleicht auch zu viele, in dieser Hinsicht tun,
dann erleben wir allerdings faktisch das Gegenteil.
Oder glauben wir wirklich, dass diese Leere, dieses Lebensgefühl unserer Zeit, mit allerhand TelevisionsKlamauk wie „Wetten dass, Dass …, Big Brother, Superstar und Musikantenstadl“ oder mit einer Flucht in
die Drogenhölle oder aber in esoterische Absurditäten, mit neuer Frömmigkeit und seichten
Volkshochschulkursen verdrängt oder ausgefüllt werden kann? Zu flüchtig sind die Inhalte, zu hohl!
Sie wird nicht reichen, die Flucht in die Scheinrealitäten einer Welt, die Weisheit durch Filme wie Godzilla
und die Riesenkäfer und Millionenshows ersetzt hat. Sie wird nicht genügen, die Flucht in eine Welt, die
Schönheit in Punk und den Bühnen-Exzessen des modernen Exkremente-Theaters wahrzunehmen glaubt.
Und schliesslich erfüllt uns auch die Flucht in eine Welt nicht, die Stärke mit brutaler Macht und dem
ungerechtfertigten Reichtum der Teppichetagen verwechselt.
Diese Fluchten führen ins Nichts einer banalen und aufgeblasenen Existenz. Da hat dann Benn wieder
Recht. Da ist dann wirklich nur noch Leere.
Wozu leben wir, eine Kinderfrage?
Also, was wäre zu tun? Was könnten wir tun, wenn wir dieser Leere entrinnen wollen, wenn wir versuchen
wollen, unser Ich eben trotz dieser Leere anders zu zeichnen, um im Grossen Ganzen einen wirklichen und
lebenserfüllenden Sinn zu entdecken und zu entwerfen?
Nun, ich denke, wir sollten vor allem den Ratschlag Benns beherzigen und die Frage: „Wozu leben wir?“
eben doch wie eine Kinderfrage behandeln und nicht dort Antworten suchen, wo Antworten nicht möglich
sind. Ich halte es da mit Kant und seinen Beschränkungen der Erkenntnismittel oder eben mit dem
Kabarettisten und frage mich tagtäglich „Was mache ich mit der Zeit dazwischen?“
Metaphysik und Transzendenz in Ehren, ob nun vorher oder nachher etwas war und ist, scheint mir keine
existentielle, sondern allenfalls eine Glaubensfrage zu sein. (…) Denn völlig unabhängig von allem
Erkenntnisfremden, unabhängig von jeglicher Glaubensoffenbarung, trotz Leere und pessimistischen
Perspektiven: Unseren Beitrag zum GROSSEN GANZEN sollten wir hier und jetzt nicht aus den Augen
verlieren, auch wenn es uns manchmal noch so unbegreiflich fern zu sein scheint.
Mensch sein heisst eben auch: Dennoch weitermachen, dennoch die Hoffnung nie aufgeben, der Tempel
der Humanität ist noch längst nicht vollendet. Oder wie es Benn einmal gesagt hat: „Dennoch die
Schwerter halten vor die Stunde der Welt.“.
Kein Pessimismus kann uns von der Überzeugung abdrängen, dass bei aller Weltverdrossenheit und
zynischer Distanz zum Weltgeschehen, wir die Aufgabe mit Einsicht und Weitblick ausführen müssen, denn
wenn es nicht getan wird, dann wird die Welt in der Tat so aussehen, wie Gottfried Benn sie gesehen hat:
Dann wird auch Goethes Entwicklungshoffnung zerschlagen, dann wird nicht mehr viel gedeihen, und Zeit
und Macht zerstückeln lauter gezeichnete Ichs, die sich nicht mehr lebend entwickeln.