Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch?
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Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch?
Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Diese Frage möchte ich zu beantworten versuchen. Und ich werde sie – nur um das gleich vorwegzunehmen – negativ beantworten. Das allerdings setzt ein differenziertes Verständnis von Zeitgenossenschaft voraus. Eines, das auch die epochale Definition von Zeitgenossenschaft einschließt. Denn der zeitgenössische Tanz nennt sich zwar zeitgenössisch, aber er tut dies nicht, um sich damit der Zusammengehörigkeit mit Zeitgenossen zu rühmen, sondern - so meine These - um sich von früheren Epochen der Tanzgeschichte abzugrenzen. Mit Agamben könnte man auch sagen: „Mit der Zeit zu sein, kon-temporär zu sein, heißt [...] die Zeit zu spalten, Zäsuren einzufügen, die sie [die Zeit] allererst lesbar machen.“1 Zeitgenossenschaft in diesem Sinne bedeutet etwas Anderes, als einfach nur die Teilhabe an der chronologischen Zeit. Aber genau diese interessiert mich mit Blick auf den zeitgenössischen Tanz, der immer auch mehr ist als nur eine kritische Wendung gegen die Moderne im Tanz. Ich möchte eine weitere Bemerkung voranstellen. Meine Beobachtung, dass der zeitgenössische Tanz nicht wirklich zeitgenössisch ist, gilt ausschließlich für den zeitgenössischen Bühnentanz westlicher Prägung seit den 1960/70er Jahren, also das, was wir im deutschsprachigen Raum landläufig unter zeitgenössischem Tanz verstehen. Ich argumentiere also wohl oder übel aus eurozentrischer Perspektive. Wollte man über gegenwärtige Tanzpraktiken in anderen Regionen oder aber alltagsweltliche Tanzphänomene sprechen, müsste man den Begriff des Zeitgenössischen sofort problematisieren. Denn der zeitgenössische Tanz, von dem wir hier reden, tendiert meiner Auffassung nach dazu, zugunsten der eigenen Distinktion sowohl die globale Dimension des zeitgenössischen Tanzschaffens als auch die Folgen der Medialisierung für den Tanz zu vergessen. Und genau deshalb vergisst er auch die eigenen Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gegenwart in einem epochalen Sinn. Um das anschaulich zu machen, möchte ich mir zunächst Gedanken zum Begriff des Zeitgenössischen machen, die mit Tanz scheinbar nichts zu tun haben. Ich möchte vier Konzepte von Zeitgenossenschaft voneinander unterschieden: das epochale, das kunsthistorische, das kulturelle und das populärkulturelle. Natürlich ist diese Trennung heuristisch, sie hilft jedoch, zunächst den Begriff zu bestimmen, unterschiedliche 1 Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, Hamburg 2013, S. 13. 1 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 theoretische Konzepte zu fassen und diese schließlich auf den Tanz zu übertragen. Je weiter ich in meiner Definitionsarbeit komme, desto mehr wird der Tanz dann auch seinen Platz in der Argumentation finden. „ALL ART HAS BEEN CONTEMPORARY“ Die epochale Definition von Zeitgenossenschaft 2004 entdeckte der damalige Direktor des Ägyptischen Museums in Berlin, Dietrich Wildung, die gleichnamige Neonskulptur des Künstlers Maurizio Nannucci in einer Galerie. Seit 2005 prangt der rot leuchtende Schriftzug in Versalien „ALL ART HAS BEEN CONTEMPORARY“ hinter der Säulenkolonnade des Alten Museums, in dem sich heute die Antikensammlung befindet. Ein zeitgenössisches Werk, die Neonskulptur Nannuccis, weist also darauf hin, dass auch eine antike Skulptur zu ihrer Zeit zeitgenössisch war, da sie dem damaligen Zeitzusammenhang entsprang. Mit dieser Setzung ist auf zwei unterschiedliche Definitionen des Zeitgenössischen verwiesen: den heute zumindest in der westlichen Hemisphäre geradezu inflationär gebrauchten Begriff der zeitgenössischen Kunst, der uns primär dazu dient, das heutige Kunstschaffen von der Epoche der Moderne abzugrenzen und ein Konzept des Zeitgenössischen in Sinne einer Gleichzeitigkeit von Ereignissen und Personen, das sich bereits seit der frühen Neuzeit – also in der Vormoderne findet. Mit letzterem möchte ich beginnen. Folgt man dem Historiker Lucian Hölscher, so hat sich das Konzept der Zeitgenossenschaft seit der frühen Neuzeit stetig gewandelt. Seine Leitfrage lautet: „ 2 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 [...] was teilen Menschen eigentlich miteinander, wenn sie Zeitgenossen sind?“2 Seit dem 18. Jh. meint Zeitgenossenschaft „ein Band unter Menschen, das nicht im direkten Kontakt zwischen ihnen aufgeht.“3 So war man etwa Zeitgenosse der französischen Revolution, nicht nur indem man an einem Feldzug teilnahm, sondern auch, indem man zur selben Zeit lebte und somit den Anfang einer neuen Epoche miterlebte. Diese Gemeinsamkeit wird seitdem als „Zeitgeist“ bezeichnet. Gemeint ist damit nicht nur ein Kausalzusammenhang zwischen historischen Begebenheiten. Stattdessen ist davon auszugehen, dass schon die schiere Koexistenz von Ereignissen oder Personen zu indirekten Verbindungen führt, die so zuvor nicht erkennbar waren. Laut August Ludwig Schlözer ist der Zeitgeist „ein höherer Geist, der die Verkettung aller Dinge unseres Erdbodens durchschaut“, und der „[...] unter ihnen eine entweder spätere oder frühere Realverbindung schaffen [würde].“4 Ein weiterer, mit der Zeitgenossenschaft verwandter Begriff ist laut Hölscher der des „Zeitalters“, der sich u.a. bei Voltaire findet. „Es bezeichnet nicht nur einen Zeitpunkt noch nur eine Zeitperiode, sondern beides gewissermaßen in eins gedacht, nämlich eine konkrete Sinneinheit. Diese Sinneinheit umfasste zwar in sich einen Ablauf, als Ganzes aber war sie zeitlos.“5 Die Zeitgenossen von Louis XIV teilten etwa ein Schicksal miteinander, das sie von anderen Zeitaltern unterschied: die Erfahrung der absolutistischen Herrschaft des französischen Sonnenkönigs, der sich ja übrigens mit der Gründung der Académie Royale de Danse auch vehement für das klassische Ballett einsetzte. Aber wir kommen erst an späterer Stelle zum Tanz zurück. Aus historischer Sicht ist noch zu bemerken, dass Zeitgenossenschaft in der Regel erst mit zeitlichem Abstand offensichtlich wird. Innerhalb einer Epoche, eines Zeitalters steht die Zeit gewissermaßen still, „alles ist in ihr gleichzeitig und eben dadurch miteinander verknüpft. Dann aber, wenn sie vorbei ist, kommt die Zeit wieder in Gang, markiert Differenzen und rückt den Zeitzusammenhang der Zeitgenossen in die Perspektive 2 Lucian Hölscher, Der Zeitgenosse – eine geschichtstheoretische Begriffsbetrachtung, unter: www.ruhruni-bochum.de/lehrstuhl-ng3/.../DerZeitgenosse.pdf, S. 1. 3 Ebd., S. 1. 4 Ludwig August Schlözer, Versuch einer Universal-Historie, Göttingen/Gotha 1772, S. 48f., zitiert nach Lucian Hölscher, Der Zeitgenosse, a.a.O., S. 2. 5 Lucian Höscher, Der Zeitgenosse, a.a.O., S. 2. 3 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 eines historischen Standorts, der sich mit dem Ablauf der Zeiten immer weiter verschiebt.“6 Was Zeitgenossen miteinander teilen, zeigt sich also erst retrospektiv. „This is So Contemporary“ Die kunsthistorische Definition von Zeitgenossenschaft So lautet der Titel einer Arbeit von Tino Sehgal aus dem Jahr 2005. Damals war Sehgal zusammen mit Thomas Scheibitz beauftragt worden, den deutschen Pavillon bei der 51. Biennale in Venedig zu gestalten und hatte diese Gelegenheit dazu genutzt, um mit seiner Performance über den Status der zeitgenössischen Kunst nachzudenken. Aber was ist daran so zeitgenössisch, wenn drei als Museumswärter verkleidete Performer (oder Interpreten, wie sie Sehgal nennt) um die einen leeren Raum betretenden Ausstellungsbesucher herum tänzeln und gegen Ende des Tänzchens “This is so contemporary, this is so contemporary …” singen, um dann wieder in ihre Ausgangsposition zurück zu kehren und zu sagen: “This is So Contemporary! Tino Sehgal! 2005! Venice Biennial!” Natürlich ist es nicht erst der wiederholte Ausruf „This is so contemporary“, der sie zu zeitgenössischen Arbeiten im Sinne einer Gegenwartskunst macht. Vielmehr muss man seine Performances (oder Situationen, wie Sehgal sie nennt) deshalb als zutiefst zeitgenössisch betrachten, da sie für einen zeitgenössischen Kunstbegriff stehen, der nach Juliane Rebentisch durch drei Charakteristika gekennzeichnet ist: die Offenheit des Kunstwerks, die Überwindung der 6 Ebd., S. 3. 4 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 Grenzen zwischen den Künsten und die Destabilisierung von Kunst und Nicht-Kunst.7 Um das zu erörtern, muss ich kurz ins Detail gehen: Sehgals Arbeiten bestehen immer aus Handlungsanweisungen, die von einer oder mehreren Personen ausgeführt werden. Die menschliche Stimme, Sprache, Bewegungen und Interaktionen mit den BetrachterInnen sind für Sehgal das künstlerische Material. Seine flüchtigen, wenn auch im Laufe eines Ausstellungstags und während der gesamten Ausstellungsdauer ständig wiederholten Situationen konstituieren sich also gerade durch ihre Performativität. Betont wird diese Immaterialität des Werks noch dadurch, dass Sehgal jegliche Aufzeichnungen (Video, Foto etc) der Performances untersagt und auch die Verträge mit Sammlern seiner Kunst nur mündlich in Gegenwart eines Notars schließt. Eine weitere Auflage Sehgals ist es schließlich, den eigenen ökologischen Fußabdruck möglichst gering zu halten. Er selbst und alle an seinen Produktionen Beteiligten dürfen nicht mit dem Flugzeug kreuz und quer über den Globus zu Museen und Biennalen reisen, was eine ganz andere Planung und Organisation voraussetzt. Zeitgenössisch ist Sehgals Arbeit also in erster Linie, weil er die institutionellen Rahmenbedingungen von Kunst sowie die ökologischen Auswirkungen der eigenen Kunstproduktion auseinandersetzt. Damit propagiert er ein Verständnis von Gegenwart, das nicht ort- oder zeitlos ist, sondern eben geografisch, kulturell und nicht zuletzt historisch spezifisch. Er verweist ständig auf die Tatsache, dass seine Kunst nicht nur ein Resultat der Geschichte, sondern auch ein Produkt der Umstände ist. Sie ist nur hier und jetzt so möglich bzw. verständlich und damit keineswegs universell gültig. Zudem verortet er sich durch die explizite Thematisierung von fachlicher Expertise, Autorschaft, Gegenwart und Werkbegriff (This is So Contemporary, Tino Sehgal, 2005, Venice Biennial) sowie Ökonomie und Ökologie in einer kunsthistorischen Tradition. De facto knüpfen seine Arbeiten meiner Auffassung nach nämlich an die Institutionskritik der 1960er bis 1990er Jahre an. Sehgal selbst würde sich zwar eher in der Tradition der Situationisten sehen, und tatsächlich geht er ja nicht destruktiv, sondern fast affirmativ vor, da er die Konventionen des Museums braucht, um seine Situationen als radikalen Gegenentwurf wahrnehmbar zu machen. Dennoch steht „This is So Contemporary“ in einer Tradition, die insofern als zeitgenössisch zu verstehen ist, als sie sich grundlegend vom Selbstverständnis der Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts 7 Vgl. Juliane Rebentisch. Theorien der Gegenwartskunst, a.a.O., S. 21 5 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 unterscheidet. Stark verkürzt formuliert, ließe sich Sehgal also als zeitgenössischer Künstler verstehen, weil seine Arbeiten nicht modern sind, weil sie nicht einer eindimensionalen Logik von historischem Fortschritt entspringen. Folgt man dem Kunsthistoriker Hans Belting, so intendierte die Kunst der Moderne, mit dem Kunstverständnis vorheriger Generationen zu brechen, ihre bloße Zeitgenossenschaft abzuschütteln und sich der Zukunft zuzuwenden.8 Mit dieser hegemonialen Haltung – so Belting - beanspruchten die Vertreter der Moderne nicht zuletzt auch universelle Geltung, um gegen alte Nationalismen Stellung zu beziehen. „La Création du Monde“ Die kulturelle Definition des Zeitgenössischen Resultat dieses „Antinationalismus“ war allerdings nicht selten die exotisierende und verklärende Aneignung der sogenannten primitiven Kunst wie etwa im Falle des Stücks „La Création du monde“ aus dem Jahr 1923 (einer Kooperation von Cendrars, Milhaud, Léger und Börlin), die 2013 von dem kongolesischen Choreografen Faustin Linyekula zum Ausgangspunkt für ein Stück aus postkolonialer Perspektive genommen wurde. Was bedeutet vor diesem Hintergrund also Zeitgenossenschaft in der Kunst? Wir müssen zur epochalen und kunsthistorischen Definition noch eine kulturelle hinzunehmen. Für Belting lässt sich die Situation folgendermaßen zusammenfassen: „[...] im 21. Jh., entsteht weltweit eine Kunst mit dem Anspruch auf globale 8 Hans Belting, Was bitte heißt „contemporary“? Modern oder zeitgenössisch: Die Globalisierung führt zu einer Verwirrung des Kunstbegriffs, unter: www.zeit.de/2010/21/Global-Art. 6 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 Zeitgenossenschaft ohne Grenzen und ohne Geschichte. Diese Kunst ist nicht mehr synonym mit moderner Kunst. Sie setzt sich in einen Gegensatz zur Moderne, und so ist es kein Zufall, dass sowohl in der Benennung von Museen als auch in den Katalogen der Auktionshäuser der Begriff „modern“ durch „zeitgenössisch“ abgelöst wird. Das Museum of Contemporary Art hat die Ära des Museum of Modern Art beendet.“9 Wobei – am Rande bemerkt – natürlich jenseits der Kunsttheorie noch beide Begriffe parallel verwendet werden und sich bspw. auch Werke der Gegenwartskunst in einem Museum für Moderne Kunst finden. Belting bemerkt weiterhin, dass sich auch der Kunstmarkt verändert hat: „[...] Die weltweiten Biennalen haben [...] die Wende zur globalen Ära vollzogen. [Sie] präsentieren das Paket aus internationaler und regionaler Gegenwartskunst an jeweils neuen Standorten für ein kosmopolitisches Reisepublikum. Das ist die Ursituation der Globalisierung geworden.“ Dasselbe gilt in ähnlicher Weise auch für die internationale Tanzszene mit ihren Festivals – vielleicht lediglich mit der Einschränkung, dass die Rolle der Tanzkuratoren als internationalen Agenten weniger klar definiert ist als in der bildenden Kunst. Während sie dort seit den 1990er Jahren längst kulturelle und politische Fragen in dem Mittelpunkt stellen, um Werke zusammenzustellen und zu kontextualisieren, aber auch um die Institutionen der Kunst von innen heraus zu hinterfragen, ist ihre Funktion hier, im Tanz, noch weitaus diffuser. Auch der Begriff des Zeitgenössischen bleibt kulturell determiniert. Was hierzulande selbstverständlich scheint, bleibt anderswo fraglich. Denn wo es beispielsweise keine Kunst der Moderne gab, lässt sich das Zeitgenössische eben nicht in Abgrenzung von der Moderne definieren - auch wenn man sich insbesondere in Schwellenländern von der kolonialen Geschichte der Moderne kompromittiert fühlt. Es kommt also immer darauf an, wer von Zeitgenossenschaft spricht. In diesem Zusammenhang sei kurz auf eine Diskussion im Rahmen des Tanzkongress 2013 verwiesen, die unter dem Titel „The Contemporary and the Critical. East-Western Perspectives on Dance Journalism“ stattfand. Beteiligt waren JournalistInnen und KünstlerInnen aus Deutschland, Indien und der Schweiz. Ziel der Veranstaltung war es, die Bedeutung der beiden Begriffe „zeitgenössisch“ und „kritisch“ für die Tanzproduktion bzw. den Tanzjournalismus in Europa, Indien und Sri Lanka zu klären. Ich selbst war leider nicht dabei, kann aber auf 9 Hans Belting, Was bitte heißt „contemporary?“, a.a.O. 7 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 einen Bericht der indischen Tänzerin Anusha Lall zurückgreifen.10 Sie fragt im Rückblick auf die Diskussion: Wie definiert man in Indien und Sri Lanka „kritisch“? Muss Tanz „kritisch“ sein, um als „zeitgenössisch“ zu gelten, wo doch Begriffe wie „klassisch“ und „zeitgenössisch“ für bestimmte historische, politische und ästhetische Erfahrungen stehen, die sich je nach Perspektive unterscheiden? Diesen Fragen könnte man hinzufügen: Wie können diejenigen „zeitgenössisch“ werden, die nie modern oder postmodern waren und dann bei Susan Manning lesen dürfen, dass selbst der von Sally Banes markierte Postmodern Dance der 1960er und 1970er Jahre einen modernistischen Impetus hatte? Um noch mal Belting zu zitieren: „Heute [...] geht es vielen Künstlern in anderen Weltteilen erst einmal darum, überhaupt zeitgenössisch zu werden oder als zeitgenössisch anerkannt zu werden. Sie wollen sich nicht mehr als Nachzügler und Neulinge stigmatisieren lassen. Zugleich stehen sie unter dem Druck, im eigenen Land die lokalen Traditionen nicht dem Preis der bloßen Zeitgenossenschaft zu opfern.“11 Oft nimmt die Exklusion ja auch viel subtilere Formen an. Schauen wir uns beispielsweise die zahlreichen regionalen Schwerpunkte bei Förderern und Veranstaltern an. Dass die Kulturstiftung des Bundes einen Projektfonds wie „Turn“ für Kooperationen zwischen Deutschland und afrikanischen Ländern ins Leben ruft, ist für viele KünstlerInnen sicher ein einmalige Gelegenheit zum Austausch. Aber wäre es nicht besser, die Präsenz von nicht-europäischen KünstlerInnen auf hiesigen Bühnen ohne den obligatorischen Hinweis auf deren Herkunft zu ermöglichen? Oder warum kam die Tanz- und Musikkultur des Coupé-Décalé, die vor mittlerweile 10 Jahren in der Pariser Diaspora von Musikern aus der Elfenbeinküste entwickelt wurde, nicht über die Clubszene, sondern über die Inszenierungen von Gintersdorfer/Klaaßen nach Deutschland? Braucht der afrikanische Tanz erst den Ruch den Populärkultur und die Übersetzung von deutschen Kollegen, um hier nicht mehr als traditionsverhaftet, sondern als wahrlich „zeitgenössisch“ wahrgenommen zu werden? 10 Anusha Lall, Und was ist mit dem Schussfaden? Gedanken zu den Verflechtungen von Kulturen, Überlegungen zum Zeitgenössischen und Kritischen und die Diskussion über Kulturpolitik in der Postkolonie, unter: http://www.tanzkongress.de/de/dokumentation/texte/berichte.html. 11 Ebd. 8 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 „At Large“ Die populärkulturelle Definition von Zeitgenossenschaft Das bringt mich nun zur vierten Definition von Zeitgenossenschaft, der populärkulturellen, die ich am Beispiel eines Urheberrechtsstreits zwischen Beyoncé Knowles und Anne Teresa de Keersmaeker, der sich in einem 30 Sekunden kurzen Youtube-Video kristallisiert. Es handelt sich dabei um einen Zusammenschnitt aus zwei unterschiedlichen Quellen: 1) Dem Musikvideo von Adria Petty zu dem Song „Countdown“ der Popsängerin Beyoncé Knowles (2011, 3:32 min.) 2) Den Tanzfilmen “Rosas danst Rosas“ (1983, 57:00 min.) und „Achterland“ (1990) von Thierry de Mey basierend auf Choreografien Anne Teresa de Keersmaeker Die Montage zeigt abwechselnd das Musikvideo und den Tanzfilm: https://www.youtube.com/watch?v=3HaWxhbhH4c Grund für den Zusammenschnitt war der im Jahr 2011 von der belgischen Choreografin De Keersmaeker an die US-amerikanische Popsängerin Beyoncé gerichtete Vorwurf des Plagiats. Über Facebook war Keersmaeker von jemandem auf die Ähnlichkeiten auf der Ebene von Bewegungen, Kostümen, Setting und Filmschnitt aufmerksam gemacht worden. Konkret handelt es sich also um ein doppeltes Plagiat, das Nachtanzen von Bewegungen sowie das Nachstellen von Filmszenen. Gefragt, ob sie nun wütend sei oder sich geehrt fühle, sagte De Keersmaeker „Neither, on the one hand, I am glad that Rosas danst Rosas can perhaps reach a mass audience which such a dance 9 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 performance could never achieve [...]. And Beyoncé is not the worst copycat, she sings and dances very well, and she has a good taste! On the other hand, there are protocols and consequences to such actions, and I can’t imagine she and her team are not aware of it.“12 Natürlich irrt De Keersmaeker, wenn sie meint, über dem Umweg des Musikvideos ein Massenpublikum erreichen zu können. Denn man kann zwar davon ausgehen, dass Beyoncé seitdem bei den Anhängern von De Keersmaeker ein Begriff ist, aber De Keersmaeker wird für die Fans von Beyoncé ein No-Name bleiben und sie wird auch nie gleichermaßen weltweit bekannt sein. Grund dafür ist die Tatsache, dass wir es im Falle der Populärkultur mit einer „unautorisierten Kultur“ zu tun haben, wie es der Literaturwissenschaftler Holt. N. Parker nennt.13 Anders gesagt, Beyoncés Videoclip (und die darin enthaltene Choreografie) muss nicht von Personen oder Institutionen autorisiert werden, um als solches anerkannt zu werden. Denn ein Videoclip muss nicht erst preisgekrönt werden, damit er auf Facebook massenhaft geliked wird. Bewegungen wie das „Sich-mit-der-Handdurch-die-Haare-fahren“ oder „Auf-einem-Stuhl-sitzen-und-die-Beine-übereinanderschlagen“ müssen weder als Tanz, noch als Choreografie von Adria Petty identifiziert werden, um kurze Zeit später in Wohnzimmern oder auf YouTube Nachahmer zu finden. Auch der Song „Countdown“ muss nicht erst in einer Musikzeitschrift rezensiert werden, um als Popmusik zu gelten. Ebenso wenig muss Beyoncé in einer Fernsehshow auftreten, damit ihr neues Album erfolgreich ist. Natürlich hilft all das bei der Publicity, aber im Prinzip entsteht Erfolg in dieser Branche doch eher über HörenSagen. Im Gegensatz dazu zählen bei De Keersmaeker durchaus Rezensionen im Feuilleton, wissenschaftliche Artikel in Fachbüchern oder Berichte im Kulturfernsehen, um den Ticketverkauf beim nächsten Gastspiel anzukurbeln. Zudem gelten alltägliche Bewegungen wie das „Sich-mit-der-Hand-durch-die-Haare-fahren“ oder „Auf-einemStuhl-sitzen-und-die-Beine-übereinander-schlagen“ im Tanz eben erst seit den 1960er Jahren als Kunst, als die Experten ihnen den Status der zeitgenössischen Kunst 12 Stellungnahme von Anne Teresa de Keersmaeker (2011), unter: http://theperformanceclub.org/2011/10/anne-teresa-de-keersmaeker-responds-to-beyonce-video/ 13 Vgl. Holt N. Parker, Toward a Definition of Popular Culture, in: History and Theory 50 (May 2011), pp. 147-170. 10 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 zuschrieben. Ein und dieselbe Bewegung kann also in unterschiedlichen Kontexten auftauchen und dort einerseits populär und andererseits elitär sein. Ob sie nun als das Eine oder Andere betrachtet wird, hängt vom Feld (Popmusik vs. zeitgenössischer Bühnentanz) sowie von den jeweiligen Institutionen (Musikfernsehen und Internet vs. Theater und Tanzfilmfestivals) und Rezipienten (Musik-/Videoclipliebhaber vs. Tanzbzw. Tanzfilmkenner) in diesen Feldern ab. Erstaunlich ist an dem Fall De Keersmaeker gegen Beyoncé aber doch vor allem, dass erstere sich durch ihre öffentliche Anklage als so ganz und gar nicht zeitgenössisch entpuppt, obwohl ihr Name ja seit den 1980er Jahren quasi zu einem Synonym für den zeitgenössischen Tanz geworden ist. Sie ist zeitgenössisch im tanzhistorischen Sinne, aber offensichtlich nicht im epochalen Sinne. Jüngere Vertreter der zeitgenössischen Tanzszene sind da einen Schritt weiter, wenn sie glauben, die vermeintliche Diskrepanz zwischen Populär- und Hochkultur längst überwunden zu haben. So hat etwa Eleanor Bauer, eine der Tänzerinnen von De Keersmaekers Kompanie Rosas, im Jahr 2009 (also 2 Jahre vor dem Urheberrechtsstreit) ein Stück gemacht, in dem sie sich mit den Auswirkungen des Phänomens YouTube auf den Tanz auseinandersetzte. „At Large“ fragte nach der Rolle des Tanzes und seiner Bewegungen jenseits des europäischen Theaterbetriebs, indem es sich mit den im Internet kursierenden Tanztrends auseinandersetzte. Bauers Ausgangsfrage für ihr Stück war, was mit Tanzschritten passiert, wenn sie auf YouTube zirkulieren, so massenhaft Verbreitung finden, ohne dass sie von Körper zu Körper weitergegeben werden und lediglich medial vermittelt transformiert werden: „What happens, when media, such as YouTube, television, or even documentary movies, which are also participating mechanisms of cultural globalization, replace body-to-body transmission of dances? Does this alter our sense of „universal truths“ in dance or are we no longer concerned? When everything is accessible, everything is everybody’s, everything is treated as cultural currency, an appropriation is the common mode of relation to what exists, everything is doubled, imitated, transmitted virtually, simulated, represented [...] we no longer seek shared values by agreement or consensus, but individual truths by positioning in relation to each other [...].“14 Müssen wir diese Überlegungen, die übrigens gut als Definition von Populärkultur herhalten würden, nicht auch als vierte Dimension von 14 Eleanor Bauer, Self-Interview on „At Large“ (2008), unter: http://sarma.be/docs/1340. 11 Ist der zeitgenössische Tanz tatsächlich zeitgenössisch? Vortrag von Pirkko Husemann, RADC Zürich 29.04.2014 Zeitgenossenschaft im Tanz verstehen? Ich möchte dies gerne zur Diskussion stellen, schlage aber vor, die selbstverständliche Aneignung der Populärkultur als einen Schritt hin zur wahren Zeitgenossenschaft im zeitgenössischen Tanz zu verstehen. Als ein Tanz der Gegenwart, der der eingangs erwähnten epochalen Bestimmung des Begriffs schon wieder erstaunlich nahe kommt: Zeitgenossenschaft als „ein Band unter Menschen, das nicht im direkten Kontakt zwischen ihnen aufgeht.“15 Denken wir diese Idee mit Rebentisch weiter, hat sie nicht zuletzt Konsequenzen für den tanzhistorischen Kanon. Statt von der transhistorischen Gültigkeit großer Werke wie „Rosas danst Rosas“ auszugehen, rückt über den Umweg der Populärkultur der Umstand in den Blick, „dass der Kanon jeden Moment zur Disposition steht.“16 Wir hätten es also bei den Kindern und Enkeln von Beyoncé mit Konsumenten zu tun, die sich De Keersmaeker nicht aus nostalgischen Gründen oder zum Zwecke der individuellen Distinktion aneignen. Stattdessen möchte ich den Fall eher als Symptom eines komplexeren Verständnisses von Geschichte interpretieren. Einer Geschichte, die sich die Vergangenheit nicht nur einverleibt, die sich nicht nur von der Vergangenheit abwendet, um in die Zukunft zu schauen, die nicht nur im Hier und Jetzt angesiedelt ist, sondern alles zugleich. 15 16 Lucian Hölscher, Der Zeitgenosse, a.a.O., S. 1. Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, a.a.O., S. 18. 12