Tatort Gesellschaft

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Tatort Gesellschaft
Special | Krimi, Thriller, Fantasy
Politische, packende, präzise
Prosa: Noir, (Neo-)Polar, Krimi
als Gesellschaftsroman
Die wachsende Vielfalt politischer Kriminalromane verändert die Buchlandschaft. Der einstigen Schmuddelecke ist
das Genre Krimi längst entwachsen, das
wissen nicht nur Krimiexpert/innen. Doch
jetzt spricht Kriminalliteratur extrem unterschiedliche Zielgruppen an, und wer gut
beraten will, muss unterscheiden können.
Die altvertrauten Kategorien Thriller,
Whodunnit, Rätselkrimi schaffen es nicht
mehr, die Möglichkeiten des Genres zu erfassen. Sie sagen etwas über Erzählmuster
aus, aber gute Kriminalliteratur unterwirft
sich solchen Mustern oft gar nicht. Sie
spielt damit, verweigert Schematisches,
zeigt sich als ernst gemeinte GegenwartsProsa, grenzüberschreitend, die Realität
kommentierend. Die Genre-Zugehörigkeit
liegt in der treibenden Handlung, den Themen Gewalt und Verbrechen, der Betonung
von Konflikten und Widersprüchen unserer
Zeit. Das ist keine harmlose Unterhaltung,
es ist politische Kultur. Und doch ist es
Krimi.
Anspruchsvolle politische
Krimis erleben eine Blütezeit.
Was bedeutet das kulturell
und genrehistorisch?
Tatort Gesellschaft
Die Verlegerin der ariadne-Krimis im Argument Verlag,
Else Laudan, geht der Frage nach, wie sich das Genre des
politisch-kritischen Krimis in den letzten Jahren zum
modernen Gesellschaftsroman entwickelt hat – und was
das für Verlage und Handel bedeutet
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BuchMarkt Juni 2016
Wir erleben seit einigen Jahren eine
Konjunktur des sozialkritischen Kriminalromans, des Roman noir, des politischen
Gesellschaftsromans mit Spannungsaspekten. Das beeinflusst die Zusammensetzung
der Krimi-Zielgruppe stark. Leserschichten, die früher Krimis verschmähten,
entwickeln immer stärkeres Interesse am
Genre. Gerade in gebildeten Kreisen setzt
sich die Sichtweise durch, dass Noirs und
Politkrimis die Gesellschaftsromane unserer Zeit sind: Sie thematisieren Konflikte
und Missstände, loten die Dimension des
Verbrechens auf höherer Ebene aus und
bilden soziale Realität ab. Diese Wahrhaftigkeit und Brisanz des Genres zieht starke
Schriftsteller/innen an, die wiederum neue
Leser/innen anziehen.
Historisch steht diese „gehobene“ politische Kriminalliteratur in der Tradition
der amerikanischen Hardboiled-Autoren
Krimi, Thriller, Fantasy | Special
(Hammett, Chandler, Macdonald & Co)
der 1920er, 30er und 40er Jahre: „Raymond Chandlers Forderung, Morde von
realen Verbrechern unter wirklichen Verhältnissen zu beschreiben, war die Begleitmusik zu einer Innovation des Genres“
(Tobias Gohlis). Mit Kriminalliteraten
wie Himes, Thomas, Ellroy, Willeford,
Thompson, Mosley, Paretsky und vielen
anderen lässt sich die Reihe zeitlos guter
US-Hardboiled-Autoren bis heute weiterverfolgen. Was sie von der staatstragendgemütlichen Abteilung des Krimigenres
unterscheidet, drückte mal ein Feuilletonist so aus: „Philip Marlowe, anstelle von
Hercule Poirot in Christies Orientexpress
versetzt, würde keinen Mörder finden,
sondern eine verbrecherische, halb Mitteleuropa umfassende Fahrplanstruktur“
(J. Jessen in der Zeit). Hardboiled und Noir
sind Absagen an das harmlosere Krimimuster der wiederherstellbaren Ordnung:
Die Verbrechen, die untersucht werden,
sind keine Störung der gesellschaftlichen
Ordnung, sie sind Bestandteil oder Folge
dieser Ordnung. Kurz gesagt: Es geht nicht
um einen Mord, sondern um die Wahrheit. Ob als zeitgenössische literarische
Bestandsaufnahme der Wirklichkeit, als
historische Spurensuche oder präzises Sittenbild, das vielgestaltige Genre kann dies
alles leisten.
Die erfolgreichsten
Politkrimi-Highlights in Else
Laudans Ariadne-Reihe:
Merle Kröger: Havarie
Dominique Manotti: Zügellos
Liza Cody: Lady Bag
Monika Geier: Die Hex ist tot
Malla Nunn: Tal des Schweigens
Anne Goldmann: Lichtschacht
Literarische
Spannung
bei Folio
ISBN 978-3-85256-684-9
Gebunden | € [D/A] 22,90
Novitäten im Frühjahr 2016:
Dominique Manotti:
Schwarzes Gold
Christine Lehmann: Allesfresser
Gute Kriminalliteratur ist
der soziale Realismus des
21. Jahrhunderts
Es ist keine Modeerscheinung und kein
Zufall, dass explizit politische und literarisch kühne Genre-Titel immer mehr gelesen werden. Dafür gibt es plausible Gründe.
Zum einen das verbesserte Prestige des
Genres, auch eine Folge gezielter verlegerischer Anstrengungen: Die Krimi-Verlagslandschaft hat in den letzten Dekaden viel
qualitatives Engagement erlebt. Früh hat
sich Diogenes verdient gemacht, wo schon
ab den 1990ern große Kriminalliteratur in
erstmals anständiger, werktreuer Übersetzung herauskam (Rowohlt zog dann nach).
Thomas Wörtche zeigte im Unionsverlag
mit der Reihe UT Metro die Internationalität des Genres, mit Anspruch und Niveau.
In den letzten zehn Jahren haben vor allem
unabhängige Verlage das Feld gepflügt,
auch wenn die Konzerne gern nachziehen:
Novitäten im Herbst 2016:
Malla Nunn: Zeit der Finsternis
Liza Cody: Miss Terry
Dominique Manotti:
Das schwarze Korps
Unions macht weiter feine internationale,
Ariadne feiert Erfolge mit hochpolitischen
Schriftstellerinnen, Independent-Verlage
wie Alexander, Kunstmann, Pendragon,
Liebeskind, Pulp Master, Polar und viele
weitere kümmern sich mit Hingabe und
Qualitätsanspruch ums Genre, bringen große Klassiker neu heraus und pflegen die
Innovation. Dass Suhrkamp eine Krimireihe startete, ist schon ein Indiz; dass dort
kürzlich Thomas Wörtche als Herausgeber
eingesetzt wurde, erst recht.
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ISBN 978-3-85256-685-6
Gebunden | € [D/A] 14,90
WIEN · BOZEN
WWW.FOLIOVERLAG.COM
Special | Krimi, Thriller, Fantasy
Verlage im Profil
Die Indie-Verlage und ihr
Profil zu kennen, ist für den
beratenden Handel enorm
hilfreich. Manche veröffentlichen ihre Spannungsliteratur schlicht
unter dem Label „Roman“. Hier einige
wichtige unabhängige Verlage, die sich
um das Genre als starke politische Literatur kümmern, ob Noir, (Neo-)Polar
oder Krimi als Gesellschaftsroman:
Alexander Verlag In der seit 2002 wachsenden Krimireihe
des Verlags erscheinen Bücher der verstorbenen Autoren Charles Willeford
(„Niemand schreibt einen besseren
Kriminalroman als Charles Willeford!“,
Elmore Leonard) und Ross Thomas
(„Ein Roman von Ross Thomas ist nicht
einfach ein Krimi oder ein Polit-Thriller,
sondern (...) eine diabolische Analyse
unserer politischen Verhältnisse“, Jörg
Fauser).
Argument Verlag mit Ariadne
Ariadne ist „das Literaturprogramm
mit den kritischen Impulsen: Krimis,
Thriller, politische und packende
Schmöker, Bücher für anspruchsvolle
Kennerinnen und wilde
Weltverbesserer.“ (Siehe auch Kasten
zu Else Laudan auf Seite 89)
Assoziation A
Verlegt im Belletristikprogramm auch
Krimis und Spannungsliteratur. Den
Titeln ist gemein, dass sie, um mit
Manotti zu sprechen, so etwas wie
eine kritische Röntgenaufnahme der
bestehenden gesellschaftlichen (Un-)
Ordnung vornehmen, die herrschende
Geschichte gegen den Strich bürsten,
aber auch Momente der linken Bewegungen integrieren, ohne in schlichtes
Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen.
Wichtig ist dabei ein hohes literarisches Niveau und das Experimentieren
mit literarischen Gattungen.
be.bra Verlag
Keine Hauptstadt-Romantik, sondern
authentische Berlin-Krimis mit KiezAnbindung. Mal hart, mal humorvoll –
aber immer dicht dran an der sozialen
Realität: von Gentrifizierung bis Hartz
IV, von Multikulti bis High Society.
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„Hardboiled und Noir sind Absagen an das harmlosere
Krimimuster der wiederherstellbaren Ordnung – sie sind
die Gesellschaftsromane unserer Zeit“
Dazu passend hat sich die Kritik neu
aufgestellt. Kriminal- und Noir-Literatur
leuchten heute im Feuilleton, viele Literaturkritiker schaffen in ihren Wirkungskreisen Raum für anspruchsvolle Krimikritik.
Der Trend wurde verstärkt durch die Vernetzung namhafter Rezensent/innen in der
Jury der KrimiZEIT-Bestenliste, die das
Interesse an hochkarätigen Krimis befördert und auch dem Buchhandel ein gutes
Instrument an die Hand gibt. Die meisten guten Literaturkritiker schätzen den
Realismus politischer Spannungsromane
(nicht aber Psycho- oder Metzelthriller und
Regiokrimis). Mehr und mehr große Medien pflegen eine ambitionierte Krimikritik,
im Feuilleton und online. Bezeichnenderweise finden sich in Krimirezensionen immer häufiger – und zwar im Sinne eines
Gütesiegels – Begriffe wie „Sozialstudie“
und „gesellschaftliche Wahrheiten“.
Naturgemäß lockt das „gehobene“ Genre
seit jeher auch glänzende StilistInnen an,
starke LiteratInnen, die das Geheimnis im
Gewöhnlichen aufspüren, präzise, packende Milieustudien schreiben, konzentrierte
soziale Szenarien mit verblüffend lebendigen Figuren und langem Nachhall. Da
gibt es neu zu entdeckende Klassiker wie
Ross Thomas, Charyn, Ambler, Greene,
Manchette, Dexter, Burke u.a. sowie packende GegenwartsliteratInnen wie Woodrell, Ortuño, Nixon, Disher, Ani, Kröger,
Manotti, Gran, Hooper, Bruen, Kerrigan,
Ming, Stroby, Victor und viele, viele mehr.
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Und was tut sich
beim Publikum?
Soziologisch gesehen rücken seit der
Wirtschaftskrise die LeserInnen-Erwartungen immer stärker ins Politische.
Dasselbe geschah in den 1930ern, und
es geschieht auch jetzt. Man merkt es an
Rezensionen und Bewertungen seriöser
Kritiker, in Blogs und Social Media, bei
Lesungen und Veranstaltungen. Die Kultur
ums Genre ist in Bewegung. Überall lesen kluge Köpfe Genreliteratur und reden
darüber. Menschen zitieren aus Krimis.
Das literarische Leben wimmelt von politischen Spannungsromanen. Die Krise hat
mit zunehmender Spürbarkeit die Menschen fühlen lassen, dass etwas dran ist
an der Aussage, das Verbrechen gehe von
der Macht bzw. vom Geld aus. Die Folge:
Das Interesse breiter Literaturleserschaften richtet sich aufs anspruchsvolle Genre.
Auf der anderen Seite gibt es natürlich
nach wie vor eine große Masse von herkömmlichen Krimifans, die sich hungrig
durch gemütliche Rätselkrimis, Regionalkrimis oder Nervenkitzelthriller schmökern. Ihnen bedeutet der neue Anspruch
wenig: Sie lieben gerade die leichte Kost
und haben keine Berührungsängste gegenüber „Trash“ (Schund), das Politische ist
ihnen egal. Diese LeserInnen finden ihre
Lektüre nicht nur in den Taschenbuchprogrammen großer Verlage, sondern – das
müssen BuchhändlerInnen wissen – auch
Special | Krimi, Thriller, Fantasy
Distel Verlag
Der DistelLiteraturVerlag bringt seit
1999 mit seiner Krimi-Reihe „Série
noire“ Romane aus dem französischen und spanischen Sprachraum
der deutschen Leserschaft nahe. Mit
Autoren wie Jean-Patrick Manchette,
Léo Malet, Jean-Bernard Pouy und Tito
Topin steht der DistelLiteraturverlag
für harte, politische Kriminalromane.
Neueste Veröffentlichung: das Fluchtdrama Exodus aus Libyen von Tito
Topin („erschreckend aktueller Plot
über die Sinnlosigkeit von Kriegen“,
Jörg Kijanski).
Edition Nautilus
Nautilus-Krimis sollen sich abheben
vom Krimi-Output der großen Verlage, mit denen man vom Ladenpreis
her ja sowieso nicht konkurrieren
kann – aber nicht nur aus diesem
Grund, auch vom eigenen Lesevergnügen her publiziert Nautilus
sowieso viel lieber die literarischen
Krimis von Matthias Wittekindt zum
Beispiel, wo das Verbrechen im ganz
Alltäglichen liegt, und wirklich radikal
politische Krimis, etwa von Robert
Brack. Schön ist dann immer, wenn einem ein Erfolg mit einem schon eher
klassischen Krimi gelingt, wie mit Alan
Carters vielgelobtem Prime Cut – ein
zweiter Band mit Cato Kwong folgt im
August, Des einen Freud betitelt.
Folio Verlag
Im Krimi-Programm des Folio Verlages
erscheinen politisch brisante, hochwertige Krimis und Thriller. Einerseits
von italienischen Autoren wie Giancarlo De Cataldo, Gioacchino Criaco,
Gianrico Carofiglio oder Carlo Lucarelli.
Diese Krimis sind von stilistischen Könnern geschrieben, die die italienische
Gesellschaft genauestens analysieren
und als Grundmotiv mitführen. Den
größten Erfolg hatte der Politthriller
SUBURRA von De Cataldo/Bonini.
Außerdem erscheinen die Krimis der
meistgelesenen österreichischen Autorin Eva Rossmann, die gesellschaftliches Engagement und politische
Themen mit spannender Unterhaltung
verbindet, kontinuierlich im Folio
Verlag (im Herbst der 18.!). Aktualität,
Qualität und Zivilcourage zeichnen das
Programm aus.
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„Die altvertrauten Kategorien wie Thriller, Whodunnit,
Rätselkrimi schaffen es nicht mehr, die Möglichkeiten des
Genres zu erfassen“
ganz gezielt bei bestimmten unabhängigen
Verlagen, die sich schwerpunktmäßig um
deutschsprachige AutorInnen kümmern,
zum Beispiel Grafit, Gmeiner, Emons und
KBV. Der Bedarf an leichter Krimikost
besteht also weiterhin. Es gibt noch ein
Publikum für Nervenkitzelthriller und für
den „Cozy“, den „gemütlichen“ Krimi, der
mehr beruhigt als beunruhigt.
Das darf jedoch nicht den Blick dafür
verstellen, dass eine andere Kategorie von
Kriminalliteratur auf dem Vormarsch ist
und dass diese ein neues, gesondert anzusprechendes Publikum mobilisiert. Die
eingeführten Unterscheidungen (Thriller,
Regio- oder Cozy-Krimi) erfassen diese
Spaltung der Kriminalliteratur nicht. Sie
wenden sich nicht an die wachsende Zielgruppe des nicht-schematischen, literarischen Krimis. Aber genau das wäre jetzt
sinnvoll.
Braucht der Buchhandel
eine neue Kategorie?
Wie kann sie heißen?
Als Gesellschaftsroman unserer Zeit
kann der Krimi durchaus einen neuen Regalplatz beanspruchen. Nur wie bekommt
man das griffig gefasst? Die Bezeichnung
„gehoben“ mag verständlich sein, doch sie
ist vage und elitär. Es geht ja nicht darum,
LeserInnen abzuwerten, sondern darum,
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zu verstehen, was jemand im Genre sucht!
Regionalkrimis, Rätselkrimis, schlicht
gestrickte Thriller mit Gut und Böse, das
alles lesen bestimmte Kunden gern. Doch
das sind andere als die Kunden, die das
Genre für den dunklen Realismus lieben.
Ebenso wie es andere AutorInnen sind,
die so etwas schreiben. Eine klare Kategorientrennung kann hier dem stationären
Handel unterscheiden helfen und suchenden Kunden Frust ersparen.
Der kriminalliterarische soziale Realismus beruht nicht nur auf Spannung und
Erzählkunst, sondern auf präziser Geschichtskenntnis und umfassender Recherche. „Die Wirklichkeit ist ein Krimi“ – wie
oft hat man diesen Satz schon gelesen?
Ein anspruchsvoller Krimi macht soziale
Realität greifbar, sinnlicher als Dokus und
Reportagen. Der Kritiker Thomas Wörtche schrieb: „Wie der Kriminalroman
mit Wirklichkeiten umgeht, ist ein Qualitätskriterium. So wie seine künstlerische
Inszenierung ein Qualitätskriterium ist.“
Illusionslose Wahrheiten in funkelnder
Prosa: Das ist die zeitgemäße kritische
Kriminalliteratur. Nennen wir es also Realismus-Krimis? Oder Kritische Krimis?
Diese neu belebte politische Genre-Tradition ist höchst international. Der französischsprachige Noir hat seine eigenen
Ikonen (Manchette, Izzo, Daeninckx, Malet u. a.), und derzeit glänzende politische
AutorInnen wie Manotti, Guez, Roux, Topin u.a. Ähnliches gilt für England, Irland,
Special | Krimi, Thriller, Fantasy
Liebeskind Verlag
Kriminalromane von Liebeskind sollen
immer ein bisschen mehr sein als
plot-orientierte Unterhaltungsliteratur.
Sie setzen sich mit den dunklen Seiten
unserer Gesellschaft auseinander, wie
beispielsweise Donald Ray Pollocks
Roman Die himmlische Tafel, der den religiösen Fundamentalismus in den USA
ins Visier nimmt. Liebeskind-Krimis
gehen unter die Haut, weil sie zeigen,
welche Abgründe sich hinter den Fassaden unserer Gesellschaft auftun.
Litradukt
Voodoo, Zuckerrohrschnaps und
Beretta: Litradukt bietet harten Stoff
aus Port-au-Prince von Haitis populärstem Gegenwartsautor Gary Victor.
Sozialkritik, Magie und schwarzer
Humor verbinden sich zu Victors
besonderer Handschrift, die ihn zu
einem der schärfsten Beobachter der
haitianischen Gesellschaft machen. Der
Ein-Personen-Verlag ist spezialisiert auf
karibische Literatur, der Schwerpunkt
liegt bei Haiti. Im Herbst wird mit Suff
und Sühne ein weiterer Krimi von Gary
Victor erscheinen.
Pendragon Verlag
Der Schwerpunkt des Pendragon Verlags liegt auf deutschen und amerikanischen Krimis. Bei den Amerikanern
sind es vor allem die absoluten Klassiker wie James Lee Burke oder Robert
B. Parker, aber auch Neuentdeckungen
wie Wallace Stroby. Die deutschsprachigen Krimis beschäftigen sich häufig
mit der jüngeren deutschen Vergangenheit, wie z. B. Andreas Kollenders
Kolbe. Bereits mehrfach wurden die
Autoren mit dem Deutschen Krimi
Preis ausgezeichnet.
Polar Verlag
Mit dem Polar Verlag hat Wolfgang
Franßen 2013 ein neues Zuhause für
den Noir geschaffen. Seitdem hat sich
Polar einen Ruf erarbeitet als kleiner
Verlag, der gute Krimis herausbringt.
Der „Seiteneinsteiger“ Franßen ist
außerdem aktiv als Herausgeber der
Polar-Gazette und mit seiner Internetplattform Polar Noir (www.polar-noir.de),
auf der er verlagsübergreifend Krimis
aus dem Noir vorstellt.
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Schottland und für die skandinavischen
Länder. Wo immer gute Verlage sich engagieren, wächst der Horizont. Politkrimis
aus Südafrika, aus Kuba, Israel, Südamerika, aus dem arktischen, asiatischen und
arabischen Raum machen von sich reden.
Denn SchriftstellerInnen aus allen Teilen
der Welt nutzen das Genre, um ihre Gesellschaft zu reflektieren oder zu sezieren, und finden dafür ein internationales
Publikum. Ein guter Krimi kann im Kopf
ein Fenster zur Welt aufstoßen: Mit magnetischem Spannungsbogen und starken
Figuren führt er uns über den Tellerrand
unseres Alltags und erlaubt Einblicke in
fremde Wirklichkeit. Die auf Spannung
und Mitfiebern ausgerichtete, stark personale Erzählperspektive verstärkt das Erlebnishafte, Lebensechte. Es ist wie eine
Reise im Kopf, aber nicht als lustig-bunte
Touristenunterhaltung, sondern wirklichkeitsnah und widersprüchlich. Das Genre
ist jetzt enorm welthaltig. Wäre demnach
Welt-Krimis ein gutes Etikett?
Genauer trifft es allerdings die mutigere
Bezeichnung Politische Kriminalliteratur,
denn die anspruchsvollen Krimis sind klar
gesellschaftskritisch. Statt schematisch zu
erzählen, bauen sie auf die Neugier und
Intelligenz ihrer LeserInnen, zeigen das
Verbrechen im Normalen, in Geschichte
und Gegenwart, prekäre Realität in packender, kunstvoller, aber zugänglicher
Form.
Diese Art Krimi ist ein erstklassiges literarisches Medium politischer Bildung
und kann mühelos zur schulischen Oberstufenlektüre avancieren. Sie ist Spiegel unserer Gesellschaft oder „Fenster
zur Welt“. Über die Machenschaften in
Wirtschaft und Politik, über Gier und
ihre Auswirkungen auf Menschenleben
erfährt man aus solchen Krimis oft mehr
Wahres, mehr Hintergrund und mehr
Konkretes als aus den Nachrichten. Es
ist eine beeindruckende Blüte, die dem
Genre besonders in Zeiten der Krise
wächst. Tobias Gohlis schrieb 2011: „Er-
Meinung
„Fenster ins Chaos“
Krimiautor, Jurist
und Kulturjournalist Christopher G.
Moore über den
internationalen Politbarometer-Charakter des Genres:
„In den letzten zwei
Jahrzehnten ist das,
was man Kriminalliteratur nennt, stark
gewachsen, in vielen verschiedenen
Ländern und Kulturen. Das Konzept der
Kriminalliteratur ist eine kulturelle Lupe,
entliehen von englischen und amerikanischen Autoren, darunter Hammett
und Chandler. Unter der Oberfläche
des Genres hat dieser kulturelle Blickwinkel Veränderungen gebracht, in der
Struktur und im Schema. Kriminalliteratur ist zu einem Fenster geworden,
durch das man in das Chaos blickt, das
brisante Veränderungen hinterlassen,
ein Chaos, das eine Bedrohung darstellt
für Institutionen, althergebrachte Vorrechte und Autoritätsstrukturen. Eine
Mordermittlung in einer unruhigen,
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im Umbruch befindlichen Gesellschaft
bringt die Spannungen in den Fokus, die
einander bekämpfenden Interessen und
repressiven Mächte, die dem Fall eine
politische Dimension verleihen.
Um Verhaltensweisen, Reaktionen
und Gefühle zu verstehen, braucht es
eine kulturelle Landkarte. Die besten
Kriminalromane funktionieren wie ein
GPS, das uns durch die gewundenen
Schleichwege, lokalen Gassen und kaum
erschlossenen Hügellandschaften von
Gesellschaft führt. (...) Kriminalliteratur
folgt einer Ermittlung oder zeigt Verbrechen und Gewalt, wobei ringsum die
Gebäude der Macht bröckeln, die hier
bloßgestellt, bezichtigt und in das sonst
gemeinhin Verbrechern vorbehaltene
Scheinwerferlicht gezerrt wird. Das ist
es, was internationale Kriminalliteratur
den Lesenden zuträgt – Gesellschaften
im Umbruch.“
Christopher G. Moore: Dispatches from
the frontline of Crime Fiction’s Extremistan.
Das englische Original ist online auf
CulturMag.de erschienen
Krimi, Thriller, Fantasy | Special
schütternde, bewegende Kriminalliteratur
entsteht durch einen neuen Blick auf die
verborgene, meist verdrängte und geleugnete Welt des Verbrechens“, und: „Gute
Kriminalliteratur erfüllte niemals nur ein
Schema, sie wuchs mit ihrem Thema, dem
Verbrechen.“
Ein Regal fürs politische
Genre – für ambitionierte
Buchhandlungen und
kritisch Lesende
Kürzlich notierte die schottische Bestsellerautorin Val McDermid im Observer:
„Der Kriminalroman ist zurzeit links, er
kritisiert die bestehenden Verhältnisse,
manchmal ganz offen, manchmal subtil.
Häufig verleiht er Figuren eine Stimme,
die in der Welt nicht behaglich eingerichtet, nicht gut aufgehoben sind. Wenn
Menschen alles Vertrauen in die Politiker verlieren, suchen sie es anderswo.
Vielleicht vertrauen sie uns SchriftstellerInnen, weil sie darauf bauen, dass wir
– eingewoben in erfundene Geschichten
– die Wahrheit sagen, und womöglich
werden wir darum auf eine Art gehört
und gelesen, wie wir es kaum je zuvor
erlebt haben.“
Ob urban oder Country, Europa oder
Übersee: Wir sehen seit Jahren, wie die
Leserschaft politischer Krimis ständig
wächst. Ambitionierte Buchhandlungen
tun gut daran, diesem Bedürfnis einen prominenten Regalplatz zu verschaffen. Weil
so ein Regal kritisch Lesende erfreut und
das Vertrauen in den Standort Buchhandel
wirkungsvoll erneuert – und zwar speziell
bei dem Publikum, das diesen Standort
kulturell erhalten will, statt nur noch per
Mausklick einzukaufen!
Diesen Indie-affinen Genre-LeserInnen
etwas zu bieten lohnt sich. Sie werden
nämlich immer mehr. Der politische
Kriminalroman erreicht sowohl ein problembewusstes jüngeres Publikum als
auch Weltliteratur-Leseratten aller Generationen. Er fasziniert Menschen mit Anspruch und weitem Horizont. Das sind die
dankbarsten Zielgruppen der Zukunft. Und
die Independent-Verlage sorgen mit engagierten AutorInnen und ÜbersetzerInnen
für den innovativen, qualitätsbewussten
Nachschub.
Else Laudan
Dort findet man Noir-Krimis aus aller
Welt, nach Ländern und Regionen
sortiert.
Pulp Master
Seit 1994 versorgt Frank Nowatzki als
Chef von Pulp Master seine Leserschaft
mit Ausnahme-Kriminalliteratur wider
den Zeitgeist und bietet den Marginalisierten unter den Noir-Autoren eine
Heimat. “Pulp geht dahin, wo man die
Menschen noch ein wenig schockieren kann”, sagt Frank Nowatzki über
das Genre, dem er sich verschrieben
hat. In zwei Jahrzehnten ist eine Reihe
mit unverwechselbarer Handschrift
entstanden, in der sich Systemkritik,
Härte und Witz verbinden. Im Verlagsprogramm finden sich Großmeister
des Genres wie Charles Willeford, Garry
Disher, Jim Nisbet, Dave Zeltserman
oder Rick DeMarinis, wiederentdeckte
Autoren wie Derek Raymond, Paul Cain
und Gerald Kersh, neuentdeckte wie
Buddy Giovinazzo und Paul Freeman
oder auch literarische Outlaws wie
Thor Kunkel.
Transit Verlag
Der Verlag mag Texte, die das Etikett
KRIMI nicht auf der Stirn tragen: Souverän erzählte Literatur, die neben einem
spannenden Plot Einblicke bietet in
unbekannte Terrains – seien es andere
Länder oder Kontinente, seien es blinde Flecken in unserer Geschichte. Und
Figuren, die in schnellen, ungeglätteten Dialogen ihre besondere Kontur
erhalten.
Unionsverlag
Kriminalromane aus aller Herren Länder, anderen Kulturen, fremden Mentalitäten und exotischen Schauplätzen
prägen die metro-Reihe aus dem
Unionsverlag. Ob Bangkok, Istanbul,
Buenos Aires, Marseille oder Havanna,
ermittelt wird auf hohem Niveau. Aber
auch Neuausgaben von Krimi-Klassikern, die dringend wieder unter’s Volk
sollten, finden hier ihren Platz.
Verlag Antje Kunstmann
Für Kunstmann-Krimis, ob sie nun in
Glasgow oder in Obergiesing spielen,
sind spannende Plots genauso Grundvoraussetzung wie eine elegante und
präzise Sprache.
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