Informationen über Vererbung und - von Hippel

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Informationen über Vererbung und - von Hippel
Verein VHL (von Hippel-Lindau) betroffener Familien e.V.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Inhalt:
1. VHL-Rundbrief März/2016; Heft 1; Jahrgang 17
Vortrag Prof. Dr. H. Jochen Decker
Thema: Genetische Beratung beim von Hippel-Lindau Syndrom
2. VHL-Rundbrief März/2013; Heft 1; Jahrgang 14
Vorträge Informationsveranstaltung Hamburg 2012
Thema: VHL und Kinderwunsch: Ein wichtiges Thema der genetischen Beratung
3. VHL-Rundbrief Dez./2011; Heft 3; Jahrgang 12
Vorträge Informationsveranstaltung Stuttgart 2011
Thema: Vom Genotyp zum Phänotyp
4. von Hippel-Lindau (VHL) | Eine patientenorientierte Krankheitsbeschreibung
März 2010
Molekulargenetische Diagnostik und genetische Beratung
Pof. Dr. Decker, Ingelheim (Kapitel 3.1. bis 3.3.) und Dr. Graul-Neumann, Berlin (Kapitel 3.4.)
5. von Hippel-Lindau (VHL) | Eine patientenorientierte Krankheitsbeschreibung
März 2010
Molekulare Grundlagen der VHL-Erkrankung
Prof. Dr. Brauch, Stuttgart und Prof. Dr. Decker, Ingelheim
6. VHL-Rundbrief Nov./2009; Heft 4; Jahrgang 10
Vorträge Informationsveranstaltung Berlin 2009
Thema: Vom Genotyp zum Phänotyp
7. VHL-Rundbrief Nov./2009; Heft 4; Jahrgang 10
Vorträge Informationsveranstaltung Berlin 2009
Thema: Das VHL Gen
8. VHL-Rundbrief Nov./2009; Heft 4; Jahrgang 10
Vorträge Informationsveranstaltung Berlin 2009
Thema: Genetische Beratung
9. VHL-Rundbrief Aug./2007; Heft 3; Jahrgang 8
Ringversuch zu molekulargenetischen Analyse des von Hippel-Lindau Gens 2006
10. VHL – Sonderheft Symposium in London/Ontario, Kanada 2006
Zusammenfassung von Prof. Dr. Hansjakob Müller, Abteilung Medizinische Genetik
KBB/DKBW, Universität Basel
11. VHL-Rundbrief Nov./2006; Heft 4; Jahrgang 7
Zusammenfassung Vorträge Informationsveranstaltung Mainz 2006
Vortrag Prof. Dr. Decker, Zentrum für Humangenetik Bioscientia, Institut für Medizinische Diagnostik, Ingelheim
Thema: Genetische Diagnostik: Detaillierte VHL-Mutationsabklärung und deren Bedeutung für
die genetische Beratung
12. VHL-Rundbrief Mai/2006; Heft 2; Jahrgang 7
Ringversuch zur genetischen Untersuchung
13. VHL-Rundbrief Mai/2005; Heft 2; Jahrgang 6
Die VHL-Erkrankung: die heutige Vorstellung wie ein Genotyp zum Phänotyp führt
14. VHL-Rundbrief Nov./2004; Heft 4; Jahrgang 5
Nobelpreis für Pioniere der Proteinforschung
15. VHL – Sonderheft Symposium in Kochi, Japan 2004;
Neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der molekularen Krankheitsprozesse beim VHL-Syndrom
und deren Bedeutung für die Entwicklung neuer Therapieansätze von PD Dr. rer. nat. Hiltrud
Brauch, Dr. Margarete Fischer-Bosch-Institut für Klinische Pharmakologie, Stuttgart und Prof.
Dr. med. H. Jochen Decker, Bioscientia Zentrum für Humangenetik Ingelheim
16. VHL-Rundbrief Feb./2004; Heft 1; Jahrgang 5
Methodischer Fortschritt - verbesserter Nachweis von größeren intragenischen VHL Mutationen im Humangenetischen Zentrum Ingelheim des Bioscientia Instituts.
von Prof. Dr. Decker, Zentrum für Humangenetik Ingelheim, Bioscientia Institut
17. VHL-Rundbrief Feb./2003; Heft 1; Jahrgang 4
Genetische Beratung bzw. genetische Sprechstunde
Wann ist sie angezeigt, wie geht sie vonstatten
von Frau Dr. L. Neumann Charité Campus Virchow
18. VON HIPPEL-LINDAU ERKRANKUNG - Leitfaden für Patienten und Ärzte - Hrsg.
Verein für von der Hippel - Lindau (VHL) Erkrankung betroffene Familien e.V.,
Nov. 2002
Autor: Prof. Dr. H. Neumann, Medizinische Universitätsklinik Freiburg
Beitrag: Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
19. VHL-Rundbrief Nov./2002; Heft 4; Jahrgang 3
Das VHL-Protein
von PD Dr. Hiltrud Brauch, Dr. Margarete Fischer Bosch Institut für Klinische Pharmakologie
Stuttgart
20. VHL-Rundbrief Nov./ 2001; Heft 4; Jahrgang 2
Zusammenfassung Vorträge Informationsveranstaltung Berlin 2001
Vortrag Frau Dr. L. Neumann, Kinderärztin und Humangenetikerin Genetische Beratungsstelle, Institut für Humangenetik Charité Campus Virchow
Thema: Genetische Beratung bei VHL
21. VHL-Rundbrief Aug./ 2001; Heft 3; Jahrgang 2
Grundsätzliches zu Gentests
PD Dr. med. H. Jochen Decker, Med. Direktor, Geschäftsführer Bioscientia Institut, KonradAdenauer Strasse 17, 55218 Ingelheim
22. VHL-Rundbrief Mai/2001; Heft 2; Jahrgang 2
Tumorsuppressorgene und die Zwei-Schritt-Theorie der Karzinogenese
Von Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Hiltrud Brauch; Leiterin des Onkologischen Schwerpunktes am Dr.
Margarete Fischer-Bosch Institut für Klinische Pharmakologie, Stuttgart
23. VHL-Rundbrief Aug./2000; Heft 3; Jahrgang 1
Umwelteinflüsse bei der Entstehung von Genschäden
Von Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Hiltrud Brauch
Leiterin des Onkologischen Schwerpunktes am Dr. Margaret Fischer-Bosch Institut für Klinische Pharmakologie, Stuttgart
VHL-Rundbrief März/2016; Heft 1; Jahrgang 17
Zusammenfassung Vortrag Prof. Dr. H. Jochen Decker, Humangenetik Freiburg
Thema: Genetische Beratung beim von Hippel-Lindau Syndrom
Die genetische Beratung ist ein aufwendiger mehrdimensionaler Prozess. Im Wesentlichen werden
dabei vier Ziele verfolgt:
(1.) Die Ratsuchenden sollen über die humangenetische Kondition/Erkrankung informiert werden, die
bei ihnen oder in ihrer Familie vorliegt oder vorliegen könnte.
(2) Es geht auf der einen Seite um die individuelle Situation, wie auch um die Bedeutung für die gesamte Familie. (3) Es werden die Möglichkeiten und Grenzen von humangenetischen Analysen
(„Gentest“) mit ihren Konsequenzen dargestellt. Dies dient als Grundlage für die Entscheidung des
Ratsuchenden für oder gegen eine solche mögliche Untersuchung. (4) Schließlich soll dies einmünden in einen verbesserten Umgang mit der Gesamtsituation: Krankheits-/Risiko-Management, selbstbestimmtes Umsetzen der Konsequenzen aus den Ergebnissen eines Gentests. Oft sind heute bereits eine deutliche Risikoreduktion bezüglich der Vermeidung von Krankheitskomplikationen und eine
Verbesserung der Lebenserwartung ein erreichbares Ziel. Die Lebensqualität kann darüber hinaus
auch allein schon durch die Aufklärung verbessert werden.
Es geht also darum die Ratsuchenden zu befähigen, mit der bei ihnen und ihrer Familie vorliegenden
Situation so gut, wie es heute möglich ist, umzugehen. Das schließt eine verständliche angemessene
Information zum molekularen Hintergrund der Erkrankung, zur Erblichkeit und den sich daraus
ableitenden Konsequenzen und Möglichkeiten, einschließlich der humangenetischen Testung
ein.
Das kann ein recht zeitaufwendiges Unterfangen sein, welches auch und gerade in Deutschland
durch zum Teil etwas rigide wirkende gesetzliche Rahmenbedingungen einen definierten Gestaltungsraum hat. Vor jeder humangenetischen Untersuchung – also Chromosomen Untersuchungen,
biochemische Teste oder molekulargenetische Analysen - sollte eine humangenetische Beratung zu
den relevanten Themen erfolgen. Dies ist im Gendiagnostik-Gesetz festgeschrieben. Bei diesem
Gesetz geht es u.a. auch um (a) das Recht auf informelle Selbstbestimmung und (b) den Schutz der
erhobenen Daten.
Ratsuchender kann eine bereits selbst erkrankte oder eine noch nicht erkrankte Person aus einer
Familie mit gesicherter erblicher Krankheit oder mit dem Verdacht auf eine solche sein.
Durch die bio-methodischen und medizinisch-wissenschaftlichen Entwicklungen der letzten beiden
Dekaden ist in diesem Zusammenhang ein Überfluss an Informationen zu genetischen Themen in
den Medien, insbesondere auch im Internet entstanden, der oft geordnet werden muss.
Grundsätzlich gilt, dass die Mehrzahl der Tumorerkrankungen keinen „humangenetisch relevanten“
Hintergrund haben, also nicht erblich ist. Betrachtet man etwa die 400.000 jährlichen Krebserkrankungen in Deutschland, so sind nur etwa 5 – 10 % dieser Erkrankungen erblich. Dies macht allerdings
40.000 Familien aus, die in Deutschland jährlich ein gesetzlich verbrieftes Anrecht auf eine entsprechende Beratung und eine angemessene Betreuung hätten. In diesem Zusammenhang gibt es zum
Teil erhebliche versorgungsrelevante Herausforderungen, die hier nur angedeutet werden können.
Erbliche, familiäre und genetische Erkrankungsursachen müssen voneinander abgegrenzt
werden. Krebs ist genetisch: Jedes Tumorgewebe zeigt zum Teil eine sehr große Zahl von genetischen Veränderungen, ohne dass diese erblich wären. Erblichkeit liegt dann vor, wenn die verantwortliche Genveränderung bereits im gezeugten Embryo zu finden ist und damit dann auch in allen
Körperzellen, einschließlich den Geschlechtszellen. Nur so hat dieser Gendefekt Anschluss an die
Familie, liegt also in der Keimbahn vor. Neben Keimbahnveränderungen können auch nicht-erbliche
Faktoren für eine Häufung von Tumorerkrankungen in einer Familie verantwortlich sein. Die Ursache
können eine gemeinsame Diät oder aber andere gemeinsame Lebens-/Umweltbedingungen sein, die
die Familienmitglieder teilen. Beim von Hippel-Lindau Syndrom (VHL) liegt eine eindeutige erbliche
Kondition vor, die mit unterschiedlicher Häufigkeit zu unterschiedlichen Komplikationen führen kann.
Für diese variable Krankheitsausprägung können neben der Verschiedenartigkeit der Mutationen
auch unterschiedliche Lebensbedingungen zusätzlich verantwortlich sein.
Grundsätzlich bestehen bei der genetischen Beratung zwei verschiedene Ausgangssituationen:
(1) Aufgrund einer bei einem Familienmitglied bereits durchgeführten molekulargenetischen Analyse
ist das Vorhandensein des verantwortlichen molekularen Defekts (Mutation) eindeutig bekannt. Bei
den Blutsverwandten kann nun relativ rasch – nötigenfalls in nur wenigen Tagen – untersucht werden,
ob diese Mutation vorliegt. Das VHL Syndrom wird autosomal dominant vererbt. Jeder Mensch hat
in jeder kernhaltigen Körperzelle den gesamten genetischen Bauplan in Form von über 23.000 Gene
in zweifacher Ausführung auf 23 Chromosomenpaaren vorliegen – zweifach bedeutet jeweils von einem Elternteil. Ein Chromosomenpaar entscheidet über das Geschlecht, wobei XX Frauen und XY
Männer kennzeichnet. Alle anderen 22 Chromosomenpaare sind nicht geschlechtsspezifisch und
werden als autosomale Chromosomen bezeichnet. Dominant bedeute, dass nur ein Gen von den jeweils vorhandenen zwei Genausgaben die Mutation tragen muss, damit es zu dem erhöhten Erkrankungsrisiko kommen kann. Dies bedeutet, dass das entsprechende Erkrankungsrisiko in einem autosomal dominanter Erbgang mit einer 50% Wahrscheinlichkeit innerhalb der Familie unabhängig
vom Geschlecht weitergegeben wird. Diese 50:50-Regel gilt für jede Person unabhängig von bereits
betroffenen Personen immer für alle direkt verwandten Personen. Zur genetischen Beratung gehört
entsprechend auch die Aufzeichnung eines Familienstammbaumes über mehrere Generationen.
(2) Es ist auch möglich, dass der molekulare Defekt, dass also die verantwortliche Mutation bisher
noch nicht gefunden wurde. Das macht es notwendig, vor der ersten molekulargenetischen Analyse innerhalb der Familie verschiedene Aspekte zu klären. Zum einen sollte der klinische Verdacht auf
das Vorliegen von VHL eindeutig sein. Dies kann sich dadurch ergeben, dass eine typische Konstellation von verschiedenen VHL typischen Veränderungen innerhalb der Familie vorliegt. Zum anderen
kann das sehr junge Erkrankungsalter der betroffenen Person im Vergleich zu dem statistischen
Durchschnittserkrankungsalter der entscheidende Hinweis sein: je jünger eine an einem Tumor erkrankte Person ist, umso eher ist an eine erbliche Ursache zu denken. Wird eine molekulargenetische
Analyse das erste Mal in einer Familie angeboten, sollte immer die Möglichkeiten einer unklassifizierbaren DNA-Variante erörtert und deren Bedeutung erklärt werden. Unklassifizierbare DNAVarianten (UV) sind eindeutige Laborergebnisse, die beim derzeitigen Stand der Wissenschaft nicht
eindeutig interpretiert werden können. Das liegt daran, dass die nachgewiesene Veränderung so
noch nicht beschrieben wurde und so geringfügig ist, dass sie entweder als Mutation (krankmachend)
oder aber auch als ein genetischer Polymorphismus (nicht krankmachende Normvariante) verstanden
werden könnte. Diese fehlende Interpretierbarkeit ist gar nicht so selten, da sich jeder Mensch von
seinem Gegenüber an mehr als 2.000.000 Stellen in seinem Genen durch solche Polymorphismen
unterscheidet, ohne dass diese Genvarianten einen Krankheitscharakter haben. Im Laufe der Jahre
wachsen unsere Erfahrungen, sodass die Interpretation der molekulargenetischen Analysen immer
besser und eindeutiger wird. Für VHL ist diese „Unschärfe“ inzwischen mit unter 1% anzugeben. Aus
diesem Grund und durch weitere Methodenverbesserungen kann heute bei einem eindeutigen klinischen Bild einer VHL Familie die verantwortliche Mutation in weit über 95% der Fälle gefunden werden.
Zuerst sollte aus den genannten technischen Gründen immer eine bereits erkrankte Person („Familien-Indexperson“) molekulargenetisch analysiert werden. Nur, wenn dabei eine eindeutig interpretierbare Mutation identifiziert werden konnte, sind auch Untersuchungen bei noch nicht erkrankten Personen als so genannte prädiktive Analyse möglich und sinnvoll.
Liegt eine eindeutige VHL-Mutation vor, sollte in einem zweiten genetischen Beratungsgespräch
die Bedeutung der gefundenen Veränderung erörtert werden. Hierbei kann in einigen Fällen durch eine sogenannte Genotyp-Phänotyp-Korrelation das Risiko für spezifische Komplikationen, wie zum
Beispiel die hohe oder niedrige Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines Nierenkarzinoms als Komplikation dargestellt werden.
Durch gezieltes Umsetzen dieses Wissens kann mit Hilfe von spezifischen Vorsorgemaßnahmen die
Lebensqualität und die Lebenserwartung verbessert, wie auch eine unberechtigte Angst gemildert
werden.
VHL-Rundbrief März/2013; Heft 1; Jahrgang 13
Vorträge Informationsveranstaltung Hamburg 2012
Vortrag Prof. Dr. A. Gal, Direktor des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Thema: VHL und Kinderwunsch: Ein wichtiges Thema der genetischen Beratung
Prof. Gal ist Direktor des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Eine wichtige Aufgabe des Instituts ist die genetische Beratung von Ratsuchenden. Der Schwerpunkt
der wissenschaftlichen Tätigkeit von Herrn Prof. Gal betrifft die erbliche Netzhauterkrankungen.
Bei den Grundlagen der Genetik geht es um „M&M´s“, Mendel = Regel der Vererbung, und Mutationen = Veränderungen im Erbgut. Wie viele andere Erkrankungen auch, wird die VHL-Erkrankung autosomal-dominant
vererbt.
Autosomal bedeutet, dass die Erbanlage, die die Erkrankung verursacht, nicht auf dem XChromosom (Geschlechtschromosom), sondern auf einem der 22 anderen Chromosomen (Autosomen) liegt. Dominant bedeutet, dass bereits eine veränderte Genkopie (die vom Vater oder die von
der Mutter) ausreicht, um zu der Erkrankung zu führen. Veränderungen des Erbgutes werden Mutationen genannt. Einige dieser Veränderungen führen zu einer Erkrankung, während andere keinen
krankheitsverursachenden Effekt haben (Polymorphismen).
Das Genom besteht aus einer Folge von vier Basen (Adenin, Cytosin, Thymin und Guanin). Drei Basen ergeben ein sogenanntes Codon, das eine Aminosäure bestimmt. Die Abfolge ATG zeigt den Anfang der genetischen Information im Gen, während TAG signalisiert das Ende, wie in einem Satz der
„Punkt“. Bei einer Basenmutation wird eine Base durch eine andere Base ersetz.
An Hand des Satzes: „Ich sah den wal auf see.“ veranschaulichte Prof. Gal nun verschiedene Arten
von Mutationen. Drei Buchstaben bilden dabei ein Wort (wie drei Basen ein Codon). Wird aus dem
„wal“ ein „aal“ ist der Satz zwar perfekt, er sagt aber nicht mehr das aus, was ursprünglich gemeint
war. Dies wird Missense-Mutation genannt. Kommt an einer anderen Stelle durch Austausch einer
Base die Kombination (TAG = Punkt) mitten im Satz vor, stoppt der Satz an dieser Stelle und die Bedeutung des gesamten Satzes geht verloren (Dies wird Stop-codon genannt). Auch ein ganzes Wort
kann fehlen (Deletion; ich sah wal auf see.). Dieser Satz ist nicht perfekt aber verständlich. Anders
verhält es sich jedoch, wenn ein Wort an einer anderen Stelle fehlt (ich sah den auf see.). Völlig unterverständlich wird der Satz jedoch wenn ein Buchstabe fehlt und die folgenden Wörter weiter mit
drei Buchstaben geschrieben werden (ich shd enw ala ufs eef).
Neben den oben beschriebenen Informationen über „Mendel & Mutationen“ kann ein wesentlicher
Bestandteil einer genetischen Beratung die Information über vorgeburtliche (pränatale) Untersuchungsmethoden beinhalten. Ziel einer genetischen Beratung ist es dabei die Ratsuchenden so zu informieren, dass sie den für sie richtigen Entschluss fassen können.
Eine pränatale Diagnostik (PND) kommt u. a. auch für Erbkrankheiten in Frage, die auf einen bestimmten Gendefekt zurückzuführen sind, wie bei VHL. Ziel der PND ist es, den Gendefekt nachzuweisen bzw. auszuschließen. Mit der Chorionzottenbiopsie bzw. der Fruchtwasserpunktion gibt
es zwei Untersuchungsmethoden, die dafür in Frage kommen. Beide sind als invasiv anzusehen und
mit Risiken verbunden.
Bei der Chorionzottenbiopsie wird eine kleine Gewebsprobe aus dem Mutterkuchen entnommen und
untersucht. Dies kann schon in der 11.-14. Schwangerschaftswoche geschehen. Erste Ergebnisse
der genetischen Untersuchung liegen in der Regel innerhalb einer Woche nach Entnahme vor. Das
Risiko einer Fehlgeburt auf Grund des Eingriffs liegt bei ca. 2-3 Prozent.
Eine Fruchtwasserpunktion ist ab der 13. Schwangerschaftswoche möglich. Dabei wird durch Punktion der Fruchthöhle Fruchtwasser entnommen, in dem sich auch kindliche Zellen befinden. Die Zellen werden im Labor vermehrt und anschließend untersucht. Erste Ergebnisse der Genanalyse liegen
nach ca. 1 Woche vor. Im Vergleich zur Chorionzottenbiopsie ist eine Fruchtwasseruntersuchung somit erst später möglich, wobei das Risiko einer Fehlgeburt mit ca. 1 Prozent niedriger ist.
Im Rahmen einer genetischen Beratung werden die Ratsuchenden auch über die mögliche Art und
das Ausmaß der Erkrankung (Expressivität=Ausprägung) informiert. Je unterschiedlicher der individuelle Verlauf sein kann (welche Organe sind betroffen und/oder wie häufig und ab welchem Alter)
desto schwieriger lässt sich die Ausprägung vorhersagen. Eine Aussage über die Expressivität ist bei
der VHL-Erkrankung z. Zt. nur sehr eingeschränkt möglich.
Die Konsequenzen einer pränatalen Diagnostik sind je nach Ergebnis unterschiedlich. Bei einem unauffälligen Befund braucht sich das Paar keine unnötigen Ängste in Bezug auf die untersuchte Erkrankung machen. Wurde die krankheitsverursachende Veränderung nachgewiesen, können die Eltern sich emotional darauf vorbereiten mit einem eventuell behinderten Kind zu leben oder sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.
Gesellschaftlich steigt der Druck auf die Eltern eine PND durchzuführen. Dies gilt für viele Erbkrankheiten, wie z. B: die Trisomie 21 (Down-Syndrom). Auf der anderen Seite erheben die Eltern den Anspruch auf ein gesundes Kind, den es aber nicht gibt.
Neben der PND wird es auch zukünftig die Möglichkeit einer Präimplantations- Diagnostik (PID)
geben. Hierbei handelt es sich um Untersuchungen an außerhalb des Körpers künstlich befruchteten
Eizellen, also bevor diese der Frau implantiert werden.
In vielen Ländern, darunter den meisten europäischen Ländern, ist die PID gesetzlich geregelt und für
teils unterschiedliche Anwendungen erlaubt – in Deutschland ausschließlich zur Vermeidung von
schweren genetisch bedingten Krankheiten.
Voraussetzung für eine PID ist eine künstliche Befruchtung. Nachdem die Eizelle befruchtet wurde,
werden 1-2 Zellen aus dem Embryo entnommen und genetisch untersucht. Der Mutter wird dann der
Embryo eingepflanzt, bei dem die genetische Veränderung nicht diagnostiziert wurde. Embryonen,
bei denen der genetische Defekt vorliegt, werden nicht weiter versorgt.
Die psychische und körperliche Belastung für die Frau (und Mann) sind sehr groß. Bei jeder künstlichen Befruchtung muss die Frau sehr hoch dosierte Hormone nehmen, um mehrere Eizellen zu erhalten. Die Erfolgsrate einer künstlichen Befruchtung liegt bei etwa einem Drittel, so dass mehrere
Versuche nötig sein können.
Wie auch bei der PND gibt es auch bei der PID pro und contra. Im Vergleich der beiden Methoden
kann jedoch gesagt werden, dass bei einer PID ein Schwangerschaftsabbruch vermieden werden
kann. Auch ermöglicht die PID es Paaren, die ein hohes genetisches Risiko haben, nicht betroffene
Kinder zu bekommen. Gegen eine PID spricht das bereits oben genannte Argument zur PND, dass
Paare keinen Anspruch auf ein gesundes Kind haben. Außerdem besteht die Gefahr des Missbrauchs und die Hemmschwelle könnte sinken, die PID auch für weniger lebensbedrohende Erkrankungen zugänglich zu machen.
VHL-Rundbrief Dez./2011; Heft 3; Jahrgang 12
Vorträge Informationsveranstaltung Stuttgart 2011
Frau Prof. Dr. Brauch, Dr. Margarete Fischer-Bosch-Institut für Klinische Pharmakologie, Stuttgart
Thema: Vom Genotyp zum Phänotyp
An Hand einer Folie mit Aufnahmen von Menschen unterschiedlicher ethnischer Frau Prof. Dr.
Brauch ist stellvertretende Institutsleiterin des Dr. Margarete Fischer-Bosch-Instituts für klinische
Pharmakologie (IKP). Sie war in dem Team in den USA, das das VHL-Gen entdeckt hat. Sie hat Anfang bis Mitte der 90-er Jahre die VHL-Mutationsbestimmung u. a. für die Universität Freiburg durchgeführt. Seit 2002 ist sie Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der VHL-Selbsthilfe.
Frau Prof. Brauch hat verschiedentlich schon über das Thema gesprochen, da es für die internationale VHL-Forschung von grundlegender Bedeutung ist. Dabei geht es darum, zu verstehen, wie die individuelle Mutation (Genotyp) Auswirkungen auf die Ausprägung (Phänotyp) der Erkrankung hat.
Grundsätzlich wünscht sich jeder Erkrankte, dass er das richtige Medikament, in der richtigen Dosis,
zum richtigen Zeitpunkt bekommt. Dies mag sich zunächst sehr simpel anhören, ist es aber leider
überhaupt nicht. Auf die VHL-Erkrankung übertragen bedeutet es, dass für jede VHL-Mutation mit
seiner klinischen Ausprägung die richtigen Schlüsse gezogen werden, mit dem Ziel, die optimale Behandlung zu erzielen.
Bei einer medikamentösen Behandlung nimmt der Patient das Medikament z.B. in Form einer Tablette oder Infusion auf. Das Medikament wird dann im Körper verstoffwechselt und es entsteht ein wirksamer Wirkstoff, der anschließend ausgeschieden wird. Es wird nun beobachtet, dass die Wirkung
eines Medikaments bei Personen mit der gleichen Erkrankung unterschiedlich sein kann. Einige Personen sprechen überhaupt nicht auf das Medikament an, bei anderen wird der Wirkstoff so stark verstoffwechselt, dass es zu schweren Nebenwirkungen kommt und bei wiederum anderen wird der optimale Medikamentenspiegel erreicht und der Wirkstoff wirkt optimal. Die Erklärung, warum Personen
so unterschiedlich auf das gleiche Medikament reagieren, ist im Wesentlichen genetischer Natur. Die
Summe unserer genetischen Merkmale eines Individuums ist für den Phänotyp verantwortlich.
Auch wenn alle die gleichen Chromosomen haben, hat nicht jeder das gleiche Genom. So wie wir uns
alle in den Blutgruppen unterscheiden, unterscheiden wir uns im Genom. Für die Unterschiede gibt es
zwei Ursachen. Zum einen sind es die sogenannten Polymorphismen, das sind „Schreibfehler“ im
Genom, die nicht zu einer Erkrankung führen, aber z.B. dazu führen, dass ein Lebensmittelunverträglichkeit, ein Medikamentenansprechen oder –versagen vorliegt. Diese Polymorphismen kommen bei
jedem Menschen im gesamten Genom millionenfach vor. Zum anderen gibt es Mutationen, die viel
seltener auftreten, aber eine Erkrankung auslösen, wie VHL.
Die individualisierte Medizin ermöglicht es an Hand von genetischen Untersuchungen herauszufinden, welcher Patient bei der gleichen Diagnose auf ein bestimmtes Medikament reagiert. Dabei können vier Möglichkeiten auftreten: Das Medikament hat eine positive Wirkung und es kommt entweder
zu keinen Nebenwirkungen oder zu Nebenwirkungen. Oder es hat keinen therapeutischen Effekt und
verursacht zudem noch Nebenwirkungen oder keine Nebenwirkungen.
Diese individualisierte Medizin kommt heute schon bei verschiedenen Medikamenten zum Einsatz.
Das Brustkrebsmedikament Tamoxifen ist schon sehr lange auf dem Markt und bereits seit Mitte der
70-er Jahre weiß man, dass die Behandlung sicher und effektiv ist, denn die Rückfallrate lässt sich
um ca. 50% senken und die Todesfallrate um ein Drittel verringern. Neuerdings weiß man auch, dass
sich
im
Falle
eines
Therapieversagens,
diese
durch
einen
gestörten
Tamoxifen(medikamenten)stoffwechsel erklären lässt. Patientinnen können nämlich in die Gruppe unterteilt
werden, die das Medikament sehr gut verstoffwechseln und andere, die dies kaum oder gar nicht
können. So konnte Frau Prof. Brauch nachweisen, dass Tamoxifen auf Grund von Polymorphismen
bei betroffenen Frauen ganz unterschiedlich wirken kann. Durch genetische Untersuchungen kann
nun den Frauen Tamoxifen als das Medikament der ersten Wahl gegeben werden, die es sehr gut
verstoffwechseln. Untersuchungen haben gezeigt, dass das Risiko für Frauen, einen erneuten Brustkrebs (Rezidiv) zu entwickeln, dadurch deutlich gesunken ist.
Welche Erkenntnisse können daraus für VHL-Betroffene gewonnen werden? Zunächst sehr wenig,
denn es gibt kein Medikament gegen VHL, so dass ein Ansprechen darauf bei verschiedenen VHLMutationen noch nicht untersucht werden kann. Aber diese Erfolgsbeispiele machen deutlich, wohin
die VHL-Forschung gehen muss. Neben den Fortschritten in der chirurgischen Behandlung von den
Tumoren, müssen zielgerichtete Therapien entwickelt werden auf Basis des individuellen Phänotyps.
Bislang gibt es noch sehr wenige VHL-Mutationen, die es erlauben den Phänotyp zu beschreiben. Die
am besten erforschte Mutation ist die sogenannte Schwarzwald-Mutation. Sie wurde 1990 jedoch
nicht im Schwarzwald sondern in Pennsylvania in den USA als erstes nachgewiesen. Dort gab es eine Familie mit 13 Kindern, von denen 9 ein Phäochromozytom wie der Vater hatten. Untersuchungen
haben dann ergeben, dass die Familie vor über 200 Jahren aus dem Schwarzwald in die USA ausgewandert war. Die vielen Betroffenen sowohl in den USA wie auch in Deutschland ermöglichten es,
den Phänotyp genauer zu beschreiben und das Erkrankungsrisiko für bestimmte Organe einzugrenzen.
Es gibt jedoch viele Mutationen, die nur in einer oder in sehr wenigen Familie weltweit vorkommen
und von denen es nur wenige Betroffene gibt. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die Forschung
weltweit vernetzt vorangetrieben wird. Es muss eine Zusammenarbeit von allen Forschern (aber auch
Selbsthilfegruppen) geben, die es dann hoffentlich ermöglicht, für viele VHL-Mutationen den individuellen Phänotyp vorherzusagen.
von Hippel-Lindau (VHL) | Eine patientenorientierte Krankheitsbeschreibung
März 2010
Molekulargenetische Diagnostik und genetische Beratung
Prof. Dr. Decker, Ingelheim (Kapitel 3.1. bis 3.3.) und Dr. Graul-Neumann, Berlin (Kapitel 3.4.)
Zusammenfassung
DNA Veränderungen werden, wenn sie krankheitsassoziierte DNA-Varianten darstellen, als Mutationen bezeichnet, wohingegen DNA-Veränderungen ohne funktionelle Konsequenzen und ohne Krankheitsbezug als Polymorphismen oder Normvarianten bezeichnet werden.
Diese DNA Veränderungen können in ihrer Qualität sehr verschieden sein. Dies betrifft sowohl den
Umfang der Genstörung, wie auch die Lokalisation dieser Veränderung innerhalb des Genes. Entscheidend für die funktionellen und damit klinischen Konsequenzen einer Mutation sind die Auswirkungen der Störung auf das Genprodukt, d.h. das VHL-Protein. Bestimmte Mutationsarten können in
unterschiedlicher Häufigkeit bestimmten klinischen Typen der VHL-Erkrankung zugeordnet werden.
Dies nennt man Genotyp-/Phänotyp-Korrelation, die eine sehr große Bedeutung hat für die genetische Beratung von Betroffenen und von noch nicht erkrankten Personen, bei denen ein Verdacht auf
eine VHL-Erkrankung besteht.
Fortschritte der Labortechniken haben zu einer deutlichen Verbesserung der molekulargenetischen
Diagnostik des VHL-Syndroms geführt, so dass heute bei über 95 Prozent der an VHL-Erkrankten,
diese Diagnose auch durch Laboruntersuchungen gestellt oder bei eindeutigem klinischen Bild bestätigt werden kann.
3.1. Hintergrund
Seit der Klonierung des VHL-Gens im Jahre 1993 besteht die Möglichkeit einer molekulargenetischen
Diagnostik, wovon zunehmend Gebrauch gemacht wird. In den letzten 10 Jahren konnte zudem die
Empfindlichkeit des Gentestes so weit verbessert werden, dass es heute möglich geworden ist, bei
über 95 Prozent der tatsächlich an VHL erkrankten Personen, die Diagnose molekulargenetisch zu
stellen. Es handelt sich bei diesem genetischen Test um eine aufwendige und teure Untersuchung,
die nicht wie ein herkömmlicher Labortest zu werten ist. Die Besonderheiten beziehen sich dabei aber
nicht allein auf die technischen Aspekte dieser komplexen Untersuchung, sondern auf das Wesen
dieses Tests. Die besondere Qualität besteht im einzelnen aus: (1) lebenslange Gültigkeit des Testergebnisses, (2) besondere Bedeutung des Testergebnisses für die individuelle Lebensplanung, (3)
Auswirkungen der durch diesen Test gewonnenen Information auf die gesamte Familie der untersuchten Person und (4) schließlich den gesellschaftlichen Konsequenzen, die möglicherweise aus
dem Testergebnis resultieren können, wie z.B. die Bedeutung für Versicherungen, Arbeitgeber etc.
Um die Besonderheiten einer molekulargenetischen Diagnostik dieser Art, insbesondere den Gefahren einer Diskriminierung Rechnung zu tragen, hat der Gesetzgeber im neuen Gendiagnostik Gesetz
(GDG vom 4. August 2009) wichtige Punkte festgeschrieben. In diesem Gesetz wird vorgeschrieben,
dass eine Indikation zu einem Gentest nur durch entsprechend qualifizierte Ärzte gestellt werden
kann. Des Weiteren wird vorgeschrieben, dass sowohl vor, wie auch nach dem Test eine entsprechende genetische Beratung erfolgen muss. Weitere Einzelheiten hierzu und die Indikationen zum
Gentest werden im Teil 3.4. Genetische Beratung beschrieben.
3.2. Molekulargenetische Grundlagen
Jede kernhaltige Körperzelle des Menschen enthält eine Kopie unseres gesamten Erbguts (Abb. 16).
Diese genetische Information findet sich dort chemisch in Form der so genannten Desoxyribonukleinsäure (DNS oder engl. DNA). Die DNA ist ein Biomolekül, das in seiner Struktur als langes
Kettenmolekül an eine Wendeltreppe oder eine in sich verdrehte Leiter (Doppelhelix) erinnert. Die
Erbinformation ist wie Buchstaben in einem Wort in Form von vier verschiedenen Basen, oder Nukleotide (C = Cytosin, G = Guanin, T = Thymin und A = Adenin) gespeichert, welche, um im Bild zu bleiben, die Sprossen dieser Leiter ausmachen. Hierbei steht einem T immer ein A, und einem C immer
ein G gegenüber, man sagt die Basenpaarung ist zueinander komplementär. Diese Komplementarität
stellt eine Verdopplung der Erbinformation dar und ist sehr bedeutsam für die Konservierung der Erbinformation bei der Zellteilung.
Gene stellen die funktionellen Untereinheiten der Erbinformation dar. Der Mensch hat zwischen
20.000 und 25.000 Gene. Die für die Übersetzung und Umschreibung in Proteine verantwortlichen
Basenpaare dieser Gene machen nur etwa 1,5 Prozent der gesamten Anzahl der 3 Milliarden Basenpaare eines menschlichen Genoms aus. Ein höherer Anteil der Basenpaare des Genoms ist für die
Regulation der Aktivität dieser Gene verantwortlich.
3.2.1. Was sind Mutationen?
Hier soll von Mutationen auf der molekularen Ebene gesprochen werden, da diese Ebene für das
Verständnis der heute in der VHL-Diagnostik eingesetzten Verfahren bedeutsam ist. Im engen Sinne
des Wortes sind Mutationen pathologische, also krankmachende oder zumindest sehr sicher krankheitsassoziierte Veränderungen der DNA. Die enge Verknüpfung mit den klinischen Konsequenzen
dieser Veränderungen ist wichtig, wie im Abschnitt Genotyp-/Phänotyp-Korrelationen beschrieben
wird.
Bei den Punktmutationen sind nur einzelne Bausteine (Nukleotide) der DNA betroffen, wobei ein Nukleotid verloren (Deletion) gehen oder eingefügt (Insertion) werden oder durch ein anderes ausgetauscht (Substitution) werden kann. Bei den größeren Veränderungen können mehrere Nukleotide in
den drei genannten Qualitäten (Substitution, Deletion oder Insertion) betroffen sein.
Abb. 16: Organisation der Erbinformation und deren Umsetzung. Im Zellkern (Nucleus) wird die genetische Information auf langen DNA-Molekülen gespeichert und in Form von Chromosomen bei der Zellteilung an die beiden Nachfolgezellen weitergegeben. Jedes Chromosom stellt den höchsten Kondensationsgrad des DNAMoleküls dar und besteht aus jeweils zwei identischen Kopien, (die des Vaters und der Mutter), die sich bei einer Zellteilung gleichmäßig auf die beiden Tochterzellen verteilen. Die Erbinformation wird durch die Abfolge der
vier Basen Cytosin, Guanin, Thymin und Adenin gespeichert. Um von diesem Bauplan die Information in Funktion umzusetzen, erfolgt zunächst die Übersetzung (Transkription) in einen Botenstoff (messenger Ribonukleinsäure = mRNA). Dieser Botenstoff kann aus dem Nucleus in die Zelle transportiert werden, wo danach die
Übertragung der Information des Botenstoffs (Translation) in ein Eiweiß (Protein) erfolgt. Hierbei wird jeweils die
Information aus der Abfolge von drei Basen als Erkennungschiffre (genetischer Code) für eine der 20 Aminosäuren, aus denen Proteine aufgebaut werden, genutzt. Die Proteine setzen dann die in der DNA vorhandene
Information in die entsprechenden molekular-zellulären Funktionen um. Es wird klar, dass ein Fehler in der DNA
in einer Störung des Proteins resultiert. Wichtig ist, dass auf jeder Ebene dieser Informationsumsetzung zusätzliche Regulationsmechansimen eingeschaltet sind und dass auf jeder dieser Ebene ebenfalls Störungen auftreten können, über die es zum Auftreten von pathologischer (also fehlerhaften) Funktion des Proteins kommen
kann.
Der Mensch hat in seinem Genom eine große Zahl von sogenannten DNA-Polymorphismen. Das sind
DNA-Veränderungen, denen bei gründlicher und umfassender Bewertung keine funktionelle Bedeutung zukommt, d.h. sie sind nicht krankmachend. Diese Polymorphismen sind vielmehr Ausdruck
der Variabilität unseres Genoms, wobei heute viele Einzelheiten noch unklar sind.
Tabelle 2: Eine DNA-Variante ist eine DNA-Veränderung (vereinfachte Darstellung)I. Bezogen auf die funktionellen Konsequenzen unterscheidet man drei Formen:
(1) Polymorphismus
(2) Mutation
DNA-Variante ohne
funktionellen Effekt
DNA-Variante mit
funktionellem Effekt
(3) DNA-Variante mit unklarer
klinischer Signifikanz (UV)
DNA-Variante, bei der nicht zwischen
(1) und (2) unterschieden werden
kann
II. Bezogen auf die strukturellen Ereignisse unterscheidet man drei Formen:
(1) Deletion
(2) a. Insertion,
(3) Substitution
b. Amplifikation
DNA-Verlust
DNA-Zugewinn
DNA-Austausch
a. Einfügen
b. Vermehrung
III. Bezogen auf die Dimension der Grössenordnung unterscheidet man drei Formen:
(1) Einzelbasenpaar
(2) grössere Genomab- (3) Gesamtgenom betreffend
schnitte betreffend
= Punktmutationen
Genrearrangements,
Hyperdiploidie
Translokationen
3.2.2. Wie entstehen Mutationen?
Mutationen treten sehr häufig auf. Jeder Mensch erlebt, oder erleidet im Laufe seines Lebens - ja geradezu täglich - Millionen von Mutationen. Hierbei gibt es eine Vielzahl von sehr verschiedenen Ursachen. Man unterscheidet die endogenen von den exogenen Ursachen. Endogene Ursachen: Die Körperzellen von Organen wie unserem Blut- und Abwehrsystem, unserem Magen/Darmtrakt müssen
sich täglich in großer Zahl teilen, um ihre normale Funktion wahrnehmen zu können. Bei jedem Zellteilungsvorgang wird in jeder sich teilenden Zelle unser gesamtes Erbgut einmal kopiert, was im Idealfall ohne Fehler geschehen sollte. Um diese Fehlerfreiheit zu gewährleisten, hat sich ein komplexer
Kontrollapparat von so genannten DNA-Reparatur-Proteinen und nachgeschalteten „Zelltod“Proteinen entwickelt, die die Zelle in die Lage versetzen, entweder den Fehler zu beheben oder aber
die Zelle, bei der dies nicht möglich ist, kontrolliert zu zerstören. Trotzdem kommt es regelmäßig dazu, dass ein Fehler bei der Vervielfältigung dieser Wachstums- und Differenzierungsaufsicht entkommt.
Exogene Ursachen: Durch unsere Umwelt sind wir täglich einer Vielzahl von Mutationen begünstigenden Faktoren ausgesetzt. Dies sind zum Teil natürliche Faktoren, wie die natürliche Strahlung,
einschließlich bestimmter Anteile des Sonnenlichtes. Aber auch Viren und Bestandteile von unserer
Nahrung und von Genussmitteln (Rauchen etc.) wirken mutationserzeugend. Diese Mutagene wirken
physikalisch oder chemisch auf unsere DNA so ein, dass Mutationen entstehen können.
Entstehen diese Mutationen während der Reifung der Geschlechtszellen, wird damit eine Mutation
permanent in unserem Erbgut an die Nachkommen weitergegeben. Man nennt diese Veränderung
(Alteration) eine Keimbahn-Mutation. Sind keine Geschlechtszellen sondern lediglich Körperzellen be-
troffen, spricht man von somatischen Mutationen, bzw. Genveränderungen. Auch im VHL-Gen können Mutationen, die als somatisch Mutation auftreten, bedeutsam sein, wenn sie im Tumorgewebe
bei VHL-Patienten als zweite Mutation auftreten oder auch bei nicht von VHL betroffenen Patienten,
die ein sporadisches klarzelliges Nierenzellkarzinom entwickeln. Hierbei sind dann beide Mutationen
(Zweitreffer-Modell) somatisch.
3.2.3. Nachweis von Mutationen
War 1996 - wenige Jahre nach der Isolierung des VHL-Gens - die Rate des Mutationsnachweises mit
den damals zur Verfügung stehenden molekulargenetischen Untersuchungsverfahren etwa 60 Prozent, so beträgt sie durch die Anwendung ergänzender Nachweismethoden heute nahezu 95 Prozent.
Heute werden bei der Entdeckung (Detektion) von DNA-Veränderungen zum Nachweis von VHLMutationen im Wesentlichen Methoden eingesetzt, die auf den beiden relevanten Ebenen Veränderungen mit ausreichender Empfindlichkeit (Sensibilität) nachweisen können. Die erste Ebene umfasst
den Nachweis (Detektion) von sehr kleinen Veränderungen, die einige wenige Basenpaare, im Extremfall auch Punktmutationen umfassen. Die zweite Ebene betrifft den Nachweis von größeren genetischen Veränderungen (Rearrangements oder Deletionen, Duplikationen, etc.).
(1) Die Veränderungen auf der Ebene der Nukleotide können mit Hilfe der Gensequenzierung entdeckt werden. Bei diesen Methoden wird die Reihenfolge der Basen/Nukleotide an jeder Position des
Genes bestimmt.
(2) Sind die Veränderungen wesentlich umfangreicher (z.B. Deletionen und Rearrangements) als nur
einige Nukleotide betreffend, müssen zum Nachweis andere Methoden als die Sequenziermethode
eingesetzt werden. Vor einigen Jahren wurde die so genannte Multiplex ligationdependent probe
amplification = MLPA-Methode in die VHL-Gendiagnostik eingeführt. Hiermit kann man nachweisen,
dass ein größerer Bereich im VHL-Gen oder um das Gen herum verloren gegangen ist, verdoppelt
wurde, bzw. ob andere größere genetische Rearrangements vorliegen. Neben der MLPA-Methode
kommt auch der Q-RT-PCR (quantitative real time polymerase chain reaction) eine Bedeutung bei der
Detektion größerer Genalterationen zu.
3.3. Bewertung von Mutationen
Wichtig, da für die klinische Bedeutung relvant, sind die Auswirkungen solcher Mutationen auf die
Funktion des Genproduktes, des VHL-Proteins. Hier werden verschiedene Mutationseffekte unterschieden: eine so genannte Missense-Mutation führt dazu, dass der Austausch eines Nukleotids
durch ein anderes Nukleotid lediglich zur Veränderung einer Aminosäure im VHL-Protein führt, wohingegen eine Nonsense-Mutation dazu führt, dass es entweder direkt am Ort der Mutation oder im
weiteren Verlauf der Transkription der DNA-Kette zum Abbruch des Proteins kommt und somit ein
verkürztes und damit funktionell wesentlich umfangreicher eingeschränktes Protein entsteht. Eine
Bewertung der Mutation bezüglich ihres Effektes, ein Vergleich mit Daten aus der Literatur, die anzeigen, ob eine Mutation identischer Natur bereits als eindeutig krankmachend bewertet werden konnte,
sind ein wesentlicher und recht aufwendiger Teil der Bewertung (Befundung) der Untersuchungsergebnisse. Hier soll auch deutlich herausgestellt werden, dass sich die Bewertung einer DNA-Variante
mit dem Fortschritt der Wissenschaft auch ändern kann. Diese Komplexität und Problematik der Befundinterpretation erklärt sofort, (1.) warum ein genetischer Test, wie hier beschrieben, kein „einfacher“ Labortest ist, und (2.) dass – insbesondere bei den „UVs“ (siehe Tabelle 2) – eine regelmäßige
Nachbeurteilung des Testergebnisses notwendig wird. Man spricht dann davon, dass die Veränderung im Genom (Genotyp) eine funktionelle Konsequenz im klinischen Erscheinungsbild (Phänotyp)
verursacht. Die Genotyp-Phänotyp-Korrelation stellt die Basis dar für die klinische Bedeutung der
molekulargenetischen Analysen. Wenn eine gesicherte Verknüpfung (Assoziation) zwischen einer gefundenen Mutation und einer daraus resultierenden klinischen Konsequenz besteht, wird die Bedeutung des Gentestes z.B. für die genetische Beratung deutlich. Die klinische Subklassifikation (vgl. Kapitel 1. Übersicht) lässt sich auch mit einem qualitativen Unterschied an gefundenen Mutationen in
Verbindung bringen. Bei der Gesamtheit aller VHL-Patienten fanden sich bisher bei etwa 50-60 Prozent Missense-Mutationen, 20-30 Prozent grosse Deletionen, 12-20 Prozent Mikrodeletion und Insertionen, sowie 7-11 Prozent Nonsense-Mutationen. Dies Verhältnis verschiebt sich beeindruckend,
wenn hierbei die beiden Typen 1 und 2 getrennt berücksichtigt werden: So finden sich beim Typ 2 fast
ausschließlich Missense-Mutationen (über 90 Prozent), durch die das VHL-Protein nur geringfügig
verändert wird. Dahingegen verändern die im Typ 1 gefundenen Mutationen das VHL-Protein bzgl.
seiner räumlichen Struktur erheblich. Der Typ 1 (etwa 80 Prozent) wird häufiger gesehen als der Typ
2 (etwa 20 Prozent). Bis heute sind weltweit etwa 1000 VHL-Mutationen beschrieben und in Datenbanken (http://www.umd.be, u.a.) aufgelistet worden.
3.4. Genetische Beratung bei VHL
Dr. Graul-Neumann, Berlin
Die von Hippel-Lindau-Erkrankung ist eine autosomal dominante genetisch bedingte Erkrankung. Autosomal bedeutet, dass die Erbanlage, die das Merkmal verursacht, nicht auf einem Geschlechtschromosom, sondern auf einem anderen Chromosom der übrigen 22 Chromosomenpaare (Autosomen) liegt. Das heißt, das Merkmal kann unabhängig vom Geschlecht, bei Frauen oder Männern gleichermaßen auftreten. In den Körperzellen liegt die genetische Information (abgesehen von den Geschlechtschromosomen X und Y) jeweils doppelt vor, wobei je ein vollständiger Chromosomensatz
vom Vater und einer von der Mutter stammt. Wenn die Veränderung eines Gens, entweder des auf
dem mütterlichen oder des auf dem väterlichen Chromosom, bereits zur Merkmalsausprägung führt,
spricht man von dominanter Genwirkung (das veränderte Gen überdeckt die Ausprägung des NormalGens).
Jedes Kind eines Trägers der veränderten Erbanlage hat eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent
ebenfalls Genträger zu sein und damit zu erkranken. Entscheidet sich ein Elternpaar, von dem ein Elternteil das defekte VHL-Gen trägt, für ein Kind, so besteht eine 50 prozentige Wahrscheinlichkeit,
dass das defekte Chromosom vererbt wird. Es ist bisher nicht vorgekommen, dass die Erbanlage eine
Generation überspringt. Es gibt allerdings einige wenige Genträger, die bis ins Erwachsenenalter keine VHL-Symptomatik hatten. Eine genetische Testung eines Kindes ist ca. ab dem 4. Lebensjahr
sinnvoll, da etwa zu diesem Zeitpunkt frühestens Veränderungen im Sinne von VHL aufgetreten sind
und dann die entsprechenden Vorsorgeuntersuchungen begonnen werden sollten.
Wenn eine genetisch bedingte Erkrankung wie VHL erstmals in einer Familie auftritt, (das heißt, dass
beide Elternteile der betroffenen Person nicht das defekte Gen haben) dann ist von einer Neumutation in einer zur Befruchtung gelangten Keimzelle (mütterlicher oder väterlicher Herkunft) auszugehen. Somit kann eine Genveränderung auch durch eine Neumutation entstehen.
Seit Verabschiedung des Gendiagnostikgesetzes in 2009 dürfen genetische Untersuchungen nur
dann durchgeführt werden, wenn der Betroffene nach eingehender genetischer Beratung ausdrücklich eingewilligt hat. Eine Blutabnahme im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes ohne eine genetische Beratung ist grundsätzlich zulässig, wenn der Patient schriftlich einwilligt. Das Befundergebnis
soll aber bei Bestätigung im Rahmen einer genetischen Beratung erläutert werden. Eine prädiktive
Untersuchung (d.h. Untersuchung von möglichen Genträgern, die bisher keine Erscheinungen einer
VHL-Erkrankung haben) darf nur durch einen Facharzt/ärztin für Humangenetik durchgeführt werden.
Wann ist an die VHL-Erkrankung zu denken?
Wenn bereits ein Betroffener in der Familie bekannt ist.
Ein Vorkommen von VHL in der Familie ist bislang noch nicht bekannt, es ist aber ein Tumor in
sehr jungen Jahren entstanden oder es sind mindestens zwei VHL-typische Tumoren aufgetreten.
Beim Auftreten von nur einer Tumorart kann eine molekulare Untersuchung bzgl. VHL (als Differentialdiagnose) in Erwägung gezogen werden, insbesondere bei einem frühem Erkrankungsalter
und/oder dem Auftreten mehrerer, eventuell beidseitiger Tumoren.
Wie ist der Ablauf einer genetischen Beratung?
Sollte auf Grund der oben genannten Kriterien eine genetische Beratung angezeigt sein, wird zunächst die Familiengeschichte hinterfragt, ob z.B. Angehörige früh verstorben sind, oder ob bestimmte Operationen oder Behinderungen vorkamen. Die Familiengeschichte wird mittels eines Stammbaums visualisiert. Anschließend wird die gesundheitliche persönliche Vorgeschichte besprochen und
ärztliche Befundberichte überprüft.
Wird aus den Erhebungen ersichtlich, dass ein Verdacht auf VHL vorliegen könnte, wird auf Wunsch
eine molekulargenetische Diagnostik veranlasst. Dazu muss der Ratsuchende schriftlich einwilligen.
Dieser hat natürlich auch das Recht, dies nicht wissen zu wollen. Dem Ratsuchenden wird ferner der
Erbgang erklärt (wie vor) und das Risiko, die Erkrankung an die Kinder weiterzugeben, erläutert. Das
Thema „Kinderwunsch“ kann in einer genetischen Beratung bei Bedarf ausführlich besprochen werden.
Liegt das Ergebnis der molekulargenetischen Untersuchung vor, so wird der Endbefund mit dem Ratsuchenden besprochen. Sollte sich der Verdacht auf VHL bestätigt haben, wird auf die nötigen jährlichen Kontrolluntersuchungen hingewiesen (jährlich Kernspintomografie des ZNS und Abdomen, Augenuntersuchung und Bestimmung der Hormonwerte Adrenalin bzw. Noradrenalin im Blut oder Urin).
Wo finden Ratsuchende eine genetische Beratungsstelle?
Eine genetische Beratung kann man in einem Humangenetischen Institut einer Universität oder in einer Humangenetischen Praxis durchführen lassen (s. auch Kapitel 16 Weiterführende Hinweise und
Links).
Wie finden Beratungsstellen ein genetisches Labor?
Die Ärzte, die genetisch beraten, senden die Blutprobe in ein dafür qualifiziertes Labor.
von Hippel-Lindau (VHL) | Eine patientenorientierte Krankheitsbeschreibung
März 2010
Molekulare Grundlagen der VHL-Erkrankung
Prof. Dr. Brauch, Stuttgart und Prof. Dr. Decker, Ingelheim
Zusammenfassung
Seit der Klonierung des VHL-Gens im Jahr 1993 in der chromosomalen Bande 3p25.3 ist unser Verständnis des molekularen Aufbaus des Gens und des Zusammenhangs der Struktur mit der normalen
und der krankhaft veränderten Funktion des VHL-Proteins deutlich gewachsen.
Verschiedene Funktionen des VHL-Proteins sind aufgeklärt worden. Die bis heute am besten verstandene Funktion ist die Regulation anderer Gene als Antwort auf die Sauerstoff-Konzentration in
der Zelle. Das VHL-Protein ist Bestandteil eines so genannten Multimer-Proteins, hierbei lassen sich
verschiedene funktionelle Bereiche räumlich zuordnen. Die Verteilung der bis heute bei VHL-Patienten beschriebenen Mutationen ist nicht zufällig, sondern scheint den verschiedenen Funktionen der
einzelnen Genregionen zu entsprechen.
Das VHL-Protein ist ein Tumorsuppressor, welcher in seiner Funktion dem so genannten ZweitrefferModell folgt. Dieses Modell beschreibt den molekularen Mechanismus der Tumorentstehung als eine
Abfolge von zwei genetischen Störungen in den beiden Allelen des gleichen Gens, die als Konsequenz den Verlust der Funktion des Genproduktes zur Folge hat. Meist geht dabei eine negative Regulation
verloren,
d.h.
der
Verlust
einer
Wachstumskontrolle
führt
zur
Tumorentstehung.
Das VHL-Gen wurde bereits 1988 durch molekulargenetische Untersuchungen an Blutproben Angehöriger vieler betroffener VHL-Familien auf dem kurzen Arm des Chromosoms 3 lokalisiert. Erst später, im Jahre 1993, konnte es isoliert und charakterisiert werden. Heute wird die genaue Lokalisation
mit 3p25.3 angegeben. Dieser Genort beherbergt die biologische Information, d.h. die Bauanleitung
des VHL-Tumorsuppressor, dessen Gensequenz mit einer Länge von 642 Basenpaaren (ehemals
855 Basenpaare, Abb. 17) angegeben wird. Sie setzt sich aus einer Abfolge von nur vier sogenannten Nukleinbasen A, C, G, und T zusammen und enthält drei Bereiche mit funktioneller Information,
sogenannte Exons, dazwischen liegen stumme Bereiche ohne Information. Das VHL-Gen ist evolutionär hoch konserviert, d.h. auch Säugetiere, Fische, Insekten und Würmer benötigen dieses Gen,
bzw. seine entwicklungsgeschichtlichen Vorläufer. Das spricht für die fundamentale Bedeutung des
VHL-Genproduktes und seinen biologischen Funktionen, die bereits früh in der Entwicklung aller Lebewesen (Phylogenese) eine entscheidende Rolle gespielt haben. Das VHL-Gen kommt im gesamten
Genom nur einmal vor. Trotz elementarer Bedeutung ist es im Vergleich zu vielen anderen wichtigen
Genen sehr klein. Um aus der genetischen Speicherinformation eine biologische Aktivität zu bilden,
muss das VHL-Gen zunächst in einen Botenstoff, eine sogenannte messengerRNA „umgeschrieben“
werden.
Abb. 17: Darstellung des VHL-Gens, dessen Genprodukt - das VHL-Protein (pVHL) mit seinen funktionellen Bereichen und Häufigkeit bekannter Keimbahn-Mutationen. Die Ziffern 1 – 855 beziehen sich auf die ursprünglich
beschriebenen Nukleinbasen im Gen, die Ziffern 1 bis 213 auf die Aminosäuren im Protein. Die verschiedenen
Grautönen dargestellten Bereiche beziehen sich auf funktionelle Bereiche, die für die spezifische Bindung an
andere Proteine (z.B. HIF, siehe Text), den Transport von VHL in den Zellkern und die Tumorentstehung verantwortlich sind. Die Mutationsverteilung mit den beiden häufig betroffenen Regionen (um Aminosäureposition
98 und zwischen 161 und 167) korrespondiert mit der funktionellen Bedeutung der entsprechenden
Proteinregionen für HIF- und Elongin Bindung. Die Mutationsverteilung zeigt, dass mit Ausnahme des vorderen Exon 1 Bereichs generell fast alle Nukleinbasen von Mutationen betroffen sein können. Zwar können dort
Mutationen ebenso auftreten, diese sind aber wahrscheinlich nicht lebensfähig und daher nie beobachtet worden.
Jetzt erst kann die Zellmaschinerie ein Eiweiß, das VHL-Protein, herstellen. Das VHL-Protein besteht
aus 213 Eiweißbausteinen, den Aminosäuren, wobei sich ihre Anzahl aus der Gensequenz ermitteln
lässt, denn jeweils 3 Nukleinbasen liefern den Code für eine Aminosäure (642 Nukleinbasen / 3 = 213
Aminosäuren). Der Umschreibeprozess vom Gen zum Eiweiß kann „flexibel“ stattfinden, d.h. der Ablesevorgang zur Herstellung des VHL-Proteins kann variieren, weshalb verschiedene Ausprägungen
des VHL-Proteins bekannt sind, jedoch bezeichnet man heute das 213 Aminosäure umfassende Protein allgemein als „das VHL-Protein“. Das VHL-Protein ist ein Tumorsuppressor, d.h. Wort wörtlich es
kann die Entstehung von Tumoren unterdrücken. Im Allgemeinen regulieren Tumorsuppressoren die
Zellteilung oder sie können auch beim Auftreten von „Schäden“ den Selbstmord (Apoptose) der Zelle
einleiten, um so den Prozess der Entartung zu verhindern. Der VHL-Tumorsuppressor nimmt seine
Kontrollfunktion jedoch ganz anders wahr. Er markiert verbrauchte oder überschüssige Signalstoffe
für deren kontrollierten Abbau, d.h. er ist ein wesentlicher Bestandteil der zellulären „Müllabfuhr“.
Durch ihre kontrollierte Entsorgung wird die Aktivität von Signalmolekülen empfindlich genau eingestellt und somit die Entartung der Zelle durch falsche Signalgebung verhindert. Genau genommen hat
das VHL-Protein mehrere Funktionen, jedoch wird derzeit die Bildung und Funktion des sogenannten
Multimer-Proteins dem sogenannten E3 Ubiquitin Ligase (ECV)-Komplex (Abb. 18) am besten verstanden, das eine Überlastung der Zelle mit „Abfall“ verhindert. Der bekannteste durch den VHL-Tumorsuppressor regulierte Signalstoff ist HIF-α, der zur Familie der durch Hypoxie induzierbaren Faktoren gehört (Abb 18). Hypoxie bedeutet Sauerstoffmangel und somit wird klar, dass das VHL-Protein
normalerweise mit der Regulation der Sauerstoffversorgung einer Zelle zu tun hat. Eine hohe HIF-α
Konzentration signalisiert der Zelle mehr Botenstoffe zur Bildung neuer Blutgefässe und somit eine
bessere Sauerstoffversorgung zu „aktivieren“. Da die Versorgung mit Blutgefäßen das Tumorwachstum begünstigt, ist die intrazelluläre Konzentration des kurzlebigen HIF-α Proteins eine sehr genau
regulierte Stellgröße. Der zu Grunde liegende Kontrollmechanismus funktioniert wie folgt: In Abhängigkeit von der intrazellulären Sauerstoffspannung wird HIF-α an einer spezifischen Stelle chemisch
durch Anbringen von OH-Molekülen so verändert, dass es an den ECV-Komplex binden kann. Diese
ECV-Bindung stellt eine Markierung dar, die wiederum die Erkennung durch die zelluläre Proteinabbaumaschinerie (Proteasom) ermöglicht. Man sagt auch, das VHL-Protein wird ubiquitinisiert und anschließend degradiert. Dieser Vorgang der HIF-α Erkennung durch das VHL-Protein sowie die Bindung weiterer Faktoren im ECV–Komplex (Elongin B und C/Cul27pVHL) für die nachfolgende „Eiweißentsorgung“ ist in Abb. 18 dargestellt: Ist der Sauerstoffgehalt der Zelle zu gering, erfolgt keine chemische Veränderung von HIF-α und seine Konzentration steigt an, da es nun nicht mehr abgebaut
werden kann. In der Folge kommt es zu einer Kaskade von Wechselwirkung über sogenannte HRE
(hypoxia responsive elements) und zur Regulation sauerstoffkonzentrationsabhängiger Zielgene.
Mehr als 60 dieser Gene sind bereits bekannt, dazu gehören VEGF (vascular endothelial growth factor), EPO (erythropoietin), GLUT-1 (glucose transporter 1), PDGF (platelet derived growth factor),
TGF α (transforming growth factor alpha) und viele andere.
Abb. 18: Darstellung der normalen und der gestörten Funktion des VHL-Proteins (pVHL) im Zusammenhang mit
der Bindung und chemischen Veränderung (Modifizierung) von HIF-α (s.Text). Die Wechselwirkung von pVHL
und HIF-α kann man sich wie einen Schalter vorstellen, der bei Änderung des Sauerstoffgehalts der Zelle um-
gelegt wird. Oben ist der Zustand mit normaler Sauerstoffkonzentration und kontrolliertem Abbau von HIF-α gezeigt. Unten ist der Zustand bei Sauerstoffmangel oder beim Vorliegen einer VHL-Mutation dargestellt. Die
Hauptaufgabe des Komplexes E3 Ubiquitin Ligase-Komplexes ist die sogenannte Ubiquitinierung von HIF-α.
Dies ist das Anhängen von Ubiquitin-Resten (Ub), eine chemische Modifizierung für den nachfolgenden vollständigen Abbau des so markierten HIF-α.
Durch eine VHL-Mutation wird die Situation des Sauerstoffmangels dauerhaft nachgeahmt. Diese ununterbrochene Imitation einer Hypoxie (Pseudohypoxie) führt zum chemischen Stress für die Zelle und über weitere
Schritte, die im Detail noch nicht vollständig verstanden sind, zur Umwandlung der Zelle in eine Krebszelle.
Das „Notsignal Sauerstoffmangel“ kann aber auch durch Mutationen im VHL-Gen nachgeahmt, d.h.
phänokopiert werden. Mutationen im VHL-Gen, die mit Ausnahme des Exon 1 fast jedes der 642 Nukleotide betreffen können, stören den Bauplan des VHL-Proteins derart, dass das veränderte VHLProtein die Bindung von HIF-α nicht oder nur noch eingeschränkt bewerkstelligen kann. Im schlimmsten Fall kann es ganz fehlen. In der Folge wird HIF-α nicht mehr ausreichend entsorgt und es kommt
zur Tumorbildung mit verstärkter Blutgefäßbildung (Abb. 18), woran das bereits erwähnte VEGF
maßgeblich beteiligt ist. Wie dieser Regelmechanismus in den einzelnen Zielorganen des VHLSyndroms (Zentrales Nervensystem, Niere, Nebenniere, Pankreas etc.) durch die bekannten VHLMutationen gestört und beeinflusst wird, ist derzeit noch unklar. Bislang wurde beobachtet, dass einige leichte Mutationen, sogenannte Missense-Mutationen (Unsinnmutationen), die im VHL-Gen nur eine Nukleinbase betreffen und zum Einbau einer „falschen Aminosäure“ im VHL-Protein führen und
die insbesondere die HIF- oder Elonginbindung beeinträchtigen, die Ausprägung des VHL-Krankheitstyps mit Phäochromozytomen (VHL-Typ2) begünstigen. Im Gegensatz dazu führen grobe Mutationen, die mehrere Nukleinbasen betreffen oder sogar eine längere Gensequenz stören zu einer
größeren Beeinträchtigung oder gar dem völligen Fehlen des VHL-Proteins und seiner Funktion. Sie
sind mit dem VHL Typ 1, dem Krankheitsbild ohne Phäochromozytome assoziiert und manifestieren
sich unter anderem häufig als Nierenzellkarzinom. Noch ungeklärt ist, warum fast alle Mutationen in
den Geweben des zentralen Nervensystems “wirken“, so dass dort dann Angiome und/oder Hämangioblastome entstehen.
Dem Mechanismus der sauerstoffabhängigen Regulation spezifischer Zielgene kommt ein großer klinischer Stellenwert zu. Dieser Mechanismus wurde bereits zur Entwicklung erster gezielter Therapieansätze genutzt (s.unten). In Tumoren wie Nierenzellkarzinomen (NZK) und Hämangioblastomen
konnte die ungekehrte Regulation von VHL und VEGF gezeigt werden. So bewirkt viel VHL-Protein
ein niedriges VEGF, aber wenig VHL-Protein erhöht die Menge an VEGF, was Tumor- und Gefäßneubildung begünstigt. Neben der reaktiven Anpassung bei Veränderung der Sauerstoffkonzentration in der Zelle spielt das VHL-Protein auch eine Rolle bei der Induktion des Zellzyklusarrest und bei
der Regulation anderer für das Tumorwachstum bedeutsamer Faktoren, Mechanismen die derzeit intensiv beforscht werden. So ist noch erwähnenswert, dass kürzlich die Wechselwirkung des VHLProteins mit einem anderen Effektormolekül, der sogenannten atypischen Protein Kinase C gezeigt
wurde, was möglicherweise für die Entstehung von Phäochromozytomen bedeutsam sein könnte.
Der verantwortliche pVHL-Wirkmechanis-mus basiert auf dem Modell der Tumorsuppressor Gene
und einer Zwei-Schritt-Inaktivierung (Abb.19).
Abb. 19: Darstellung des Wirkmechanismus des VHL-Tumorsuppressorgens im so genannten Zweitreffer Modell. Hierbei sind die molekularen Mechanismen, die zur Entstehung eines erblichen VHL-Tumors und eines
nicht-erblichen (sporadischen) Nierenzellkarzinoms beitragen, identisch. In beiden Fällen ist das VHL-Gen
durch Mutationen betroffen, die die tumorunterdrückende Wirkung des VHL-Proteins aufheben. Jede unserer
Körperzellen besitzt zwei Kopien des Chromosoms 3 (alle Autosomen = nicht Geschlechtchromosomen liegen
als homologe Chromosomen vor). Davon stammt je eine Kopie vom Vater und die andere Kopie von der Mutter.
Somit liegen die beiden Kopien des VHL-Gens als väterliche und mütterliche Kopie (Allel) vor. Auf der Ebene
der einzelnen Körperzelle müssen beide Allele inaktivert werden, damit es zum Verlust der Genfunktion kommen kann. Dies liefert den Hintergrund für den Begriff des Zweitreffer Modells der Tumorsuppressor Gene. Man
spricht in diesem Fall, wenn für die Ausprägung des Krankheitsbildes beide Allele betroffen sein müssen, von
einem rezessiven Mechanismus. Der einzige Unterschied zwischen der erblichen und sporadischen Form ist
der, dass bei der erblichen Form die erste Mutation bereits in der Keimbahn vorliegt, d.h. dass sie über die Geschlechtszellen an die Nachfahren weitergegeben werden kann, und dass diese Mutation dann in allen Körperzellen von Geburt an vorliegt. Dies muss man sich wie eine lebenslange Hypothek vorstellen. Es ist dann nur
eine Frage der Zeit und des Zufalls, bis eine weitere Mutation auf dem bis dahin ausgleichenden Allel hinzukommt, denn auch im Normalzustand ereignen sich Mutationen häufig. Dieser zweite „Treffer“, die sogenannte
homologe Inaktivierung, führt dann zum Vollbild des pVHL-Funktionsverlustes. Die beiden Blitze deuten an,
dass weitere genetische Ereignisse eintreten, damit ein Tumor entsteht. In diesem Modell wird klar, (1) warum
sich Tumoren vom selben histologischen Typ bei erblichen Tumoren innerhalb einer Familie geradezu dramatisch häufen können. Ebenso wird klar, (2) dass diese erblichen Tumoren bei deutlich jüngeren Personen auftreten als die sporadischen Tumorformen, da bei letzteren beide Mutationen durch Anhäufung (Kumultation) über
einen längeren Zeitraum und durch Zufall in derselben Zelle zusammen kommen müssen. Hier kann es zeitliche
Unterschiede von über 20 Jahren geben. Beim erblichen Tumor kommt es mit fortschreitendem Alter geradezu
gesetzmäßig zum Auftreten der zweiten, bzw. der somatischen Mutation.
Ein detailliertes Verständnis der durch pVHL beeinflussten molekularen krankheitsauslösenden Mechanismen (Pathomechanismen) ist für zukünftige individualisierte Tumortherapieformen von enormer
Bedeutung. Dies trifft heute schon auf das Nierenzellkarzinom zu und wird möglicherweise auch bei
anderen mit dem VHL-Syndrom vergesellschafteten Tumoren an Bedeutung gewinnen. Die ersten
Medikamente dieser zielgerichteten („personalisierten“) Therapie haben tatsächlich bereits heute Einzug in den klinischen Alltag gefunden. Es ist wichtig zu verstehen, dass detaillierte Kenntnisse des
seltenen VHL-Syndroms zur Entwicklung von Medikamenten beigetragen haben, die auch bei den
viel häufigeren sporadischen Tumorformen ebenso erfolgreich eingesetzt werden konnten, wie bei
VHL-Patienten mit diesen Tumoren.
21
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Nov./2009; Heft 4; Jahrgang 10
Vorträge Informationsveranstaltung Berlin 2009
Vortrag: Prof. Dr. Brauch, Institut für klinische Pharmakologie (IKP), Stuttgart
Thema: Vom Genotyp zum Phänotyp
An Hand einer Folie mit Aufnahmen von Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft machte
Frau Prof. Brauch deutlich, was ein Phänotyp ist: Die Summe aller Merkmale eines Individuums. Eine
Ursache für die Unterschiedlichkeit sind Veränderungen im Genom (Genotyp).
Auf die VHL Erkrankung übertragen bedeutet es, dass versucht wird herauszufinden, welche Mutation
(Genotyp) welche Krankheitsausprägung (Phänotyp) hervorruft. Seit vielen Jahren gibt es eine Einteilung in VHL Typ 1 und VHL Typ 2, wobei der Typ 2 noch weiter in 2a, 2b und 2c unterschieden wird.
Der VHL Typ 1 unterscheidet sich vom Typ 2 darin, dass beim Typ 1 keine Phäochromozytome vorkommen während beim Typ 2 Phäochromozytome immer vorkommen. Das Risiko ein Nierenzellkarzinom zu entwickeln ist beim Typ 2a als gering anzusehen während es beim Typ 2b häufig vorkommt.
Beim Typ 2c kommen ausschließlich nur Phäochromozytome vor. Die Einteilung der VHL Erkrankung
in die Phänotypen 1 oder 2 erfolgt an Hand des Krankheitsbildes. Eine Zuordnung anhand der VHLMutation ist bislang nur in Ausnahmefällen möglich. Jedoch kann der Mutationstyp bereits einen ersten Hinweis liefern. Beim VHL Typ 2 sind über 90 Prozent aller Mutation sogenannte Missens Mutationen. Dabei wird eine Nukleinbase gegen eine andere Nukleinbase ausgetauscht (Punktmutation) so
dass im Protein eine andere Aminosäure gebildet wird - das VHL Protein wird also nur geringfügig
verändert. Der VHL Typ 1 zeichnet sich hingegen dadurch aus, dass dort oft ganze Teile des VHL
Gens fehlen (Deletion), so dass das VHL Protein in seiner Funktion sehr stark eingeschränkt ist. Von
den bekannten VHL Mutationen - mehrere hundert verschiedene Mutationen sind bekannt- werden
ca. 80 Prozent dem VHL Typ 1 zugeordnet.
Am Beispiel der sogenannten Schwarzwaldmutation erläuterte Frau Prof. Dr. Brauch dann die Genotyp-Phänotyp Beziehung. Auf die Schwarzwaldmutation wurde die Forschung aufmerksam, als eine
Familie aus Pennsylvania / USA sich an Ärzte und Wissenschaftler wandte. Von ihren 13 Kindern hatten 9 Jungen und Mädchen ein gutartiges Phäochromozytom. Bei der genetischen Untersuchung
wurde dann eine Mutation 505 T>C (Tyr98His) diagnostiziert. Als man sich den Stammbaum und die
Molekulargenetik der Familie genauer anschaute, kam heraus, dass die Familie vor über 300 Jahren
aus dem Schwarzwald nach Pennsylvania ausgewandert war und dass die gleiche Mutation auch im
Schwarzwald sehr häufig vorkommt. Mittlerweile ist die Schwarzwaldmutation die am besten dokumentierte VHL Mutation. Die Mutation wird dem VHL Typ 2a zugeordnet, da Phäochromozytome sehr häufig auftreten, Nierenkarzinome hingegen sind sehr selten.
Die Einteilung der VHL Betroffenen in Typ 1 und Typ 2 ist laut Frau Prof. Dr. Brauch jedoch nur ein
erster Schritt. Die Frage ist: „Wie viele Genotyp-Phänotyp Beziehungen gibt es bei VHL?“ Durch intelligente Methoden in der Medizin wird es möglich werden weitere unbekannte Faktoren zu entdecken.
Helfen werden dabei zum einen die klinischen Daten der VHL Betroffenen aber auch eine detaillierte
Analyse des Genoms der VHL Betroffenen. Neben dem Genom können neuerdings auch die Erforschung des Epigenoms, des Reguloms sowie des Metaboloms neue Geno-Phänotyp Beziehungen
aufdecken. Letztere stellen andere wichtige regulatorische Mechanismen zur Prozessierung und
Übersetzung der Erbinformation in funktionell intakte Proteine und Stoffwechselprodukte dar.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Nov./2009; Heft 4; Jahrgang 10
Vorträge Informationsveranstaltung Berlin 2009
Vortrag Prof. Dr. Decker, Zentrum für Humangenetik, Ingelheim
Thema: Das VHL Gen
Die gesamte Erbinformation wird in der DNA gespeichert und besteht aus einer „endlosen“ Abfolge
von vier Nukleinbasen (C = Cytosin, G = Guanin, T = Thymin und A = Adenin). Das VHL Gen befindet
sich auf dem kurzen Arm des Chromosoms 3 und ist mit 642 Basenpaaren gegenüber anderen Genen relativ klein. Es besteht aus drei Bereichen mit funktioneller Information, den sogenannte Exons,
dazwischen liegen „stumme“ Bereiche.
Um aus der genetischen Information eine biologische Aktivität abzuleiten, muss das VHL Gen zunächst in einen Botenstoff (messenger RNA) umgeschrieben werden. Danach kann die Zellmaschinerie ein Eiweiß, das VHL-Protein, herstellen. Das VHL-Protein besteht aus 213 Eiweißbausteinen, den
Aminosäuren, wobei sich ihre Anzahl aus der Gensequenz ermitteln lässt, denn jeweils 3 Nukleinbasen liefern den Code für eine Aminosäure (642 Nukleinbasen / 3 = 213 Aminosäuren).
Das VHL-Protein ist ein Tumorsuppressor, d.h. es kann die Entstehung von Tumoren unterdrücken.
Von jedem Gen hat jede Körperzelle zwei Kopien, von denen jeweils eine vom Vater und eine von der
Mutter geerbt wurden. Das VHL-Protein kann seine Funktion nicht mehr ausüben, wenn beide Allele
mutiert (pathologisch/krankhaft verändert, s.u.) sind. Da VHL Betroffene von Geburt an ein defektes
Allel geerbt haben, muss im Laufe des Lebens nur noch das zweite, das „gesunde“ Allel eine Mutation erfahren, damit ein Tumor entstehen kann. Dies erklärt, weshalb VHL Betroffene wesentlich früher
an bestimmten Tumoren erkranken als Nicht-VHL Betroffene.
Von DNA-Varianten wird gesprochen, wenn in der DNA eine Veränderung gegenüber dem sogenannten Wildtyp auftaucht. Der Wildtyp ist die DNA-Form, die in der Bevölkerung am häufigsten auftritt,
und die eine normale Funktion zeigt. Die funktionellen Konsequenzen der DNA-Varianten entscheiden über die begriffliche Zuordnung: So sind Mutationen DNA-Varianten, die im (funktionalen) Zusammenhang mit einer Krankheit gesehen werden, wohingegen Polymorphismen DNA-Varianten
darstellen, die keiner bekannte Funktionsveränderung bedingen, also auch keine Erkrankung anzeigen. Jeder Mensch besitzt Tausende von Polymorphismen.
Bei Mutationen kann unterschieden werden zwischen der Lokalisation, der Qualität und der Größe
der Mutation. Diese drei Eigenschaften entscheiden darüber, wie stark die Funktion des VHL Proteins
geschädigt wird. So gibt es Mutationen, die einen schweren Krankheitsverlauf (z.B. hohe Wahrscheinlichkeit eines Nierenzellkarzinoms) haben, während andere milder (z.B. lediglich Phäochromozytome)
verlaufen. Punktmutationen sind DNA-Veränderungen, die nur eine einzelne Nukleinbase betreffen.
Wird eine Nukleinbase durch eine andere Nukleinbase ersetzt und führt dies beim Protein zum Austausch einer Aminosäure durch eine andere Aminosäure, spricht man von einer Missense Mutation.
Führt diese Mutation hingegen zum Abbruch der Eiweißkette, so spricht man von einer Nonsense Mutation. Der Effekt der zuletzt genannten Mutationsart ist in der Regel wesentlich größer als der einer
Missense Mutation. Fehlen ein oder mehrere Nukleinbasen kommt es zum Abbruch oder zur Verkürzung des Proteins (Deletion). Das Einfügen von Nukleinbasen (Insertion) zeigt entsprechend analoge
Effekte.
Bei der genetischen Untersuchung wird das VHL-Gen auf mögliche Schreibfehler hin untersucht. Der
Austausch einer Nukleinbase durch ein andere ist dabei mit dem Verfahren der Sequenzierung feststellbar. Fehlen jedoch sehr viele Nukleinbasen, z. B. über die Grenzen eines Exons hinaus, kann
dies mit der Sequenzierung nicht mehr nachgewiesen werden. In der Vergangenheit wurde dann mit
verschiedenen Verfahren gearbeitet (Southern Blot, FISH). Für den Nachweis großer Deletionen hat
sich heute die MLPA (Multiplex Ligation dependent Probe Amplification) durchgesetzt. Durch die
Kombination dieser beiden Techniken (Sequenzieren & MLPA) können heute fast alle VHL Mutationen gefunden werden.
Unter Genotyp-Phäonyp Korrelation versteht man die Zuordnung von bestimmten Mutationen (Genotypen) zu bestimmten Ausprägungen (Phänotypen). Aussagen darüber, welche Mutation welches
Krankheitsbild (Schweregrad, Erkrankungsmuster, Organbeteiligung) verursachen kann, nehmen immer mehr an Bedeutung zu. Die VHL-Erkrankung wird zunehmend nach der Qualität der zugrunde
liegenden Mutationen unterteilt werden, was direkte klinische Konsequenzen in Diagnostik und Therapie hat.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Nov./2009; Heft 4; Jahrgang 10
Vorträge Informationsveranstaltung Berlin 2009
Vortrag Frau Dr. Graul-Neumann, Charité Berlin
Thema: Genetische Beratung
Frau Dr. Graul-Neumann arbeitet an der Charité und bietet dort genetische Beratungen an, u. a. auch
für mögliche VHL Betroffene. Seit Verabschiedung des Gendiagnostikgesetzes in 2009 dürfen genetische Untersuchungen nur dann durchgeführt werden, wenn der Betroffene nach eingehender genetischer Beratung ausdrücklich eingewilligt hat. Eine Blutabnahme im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes ohne eine genetische Beratung ist grundsätzlich zulässig, wenn der Patient einwilligt. Das
Befundergebnis soll aber bei Bestätigung im Rahmen einer genetischen Beratung erläutert werden.
Eine prädiktive Untersuchung darf nur durch einen Facharzt(ärztin) für Humangenetik durchgeführt
werden.
Schätzungen zu Folge soll es in Deutschland zwischen 1.500 und 2.000 VHL Betroffene geben. Für
das Bundesland Berlin würde es bedeuten, dass dort knapp 100 Betroffene leben. Zirka 80 Prozent
haben die Erkrankung von einem betroffenen Elternteil vererbt bekommen. Die restlichen 20 Prozent
sind sogenannte Neumutationen. Im Alter von 60 Jahren haben fast alle Genträger Symptome entwickelt.
Die VHL Erkrankung folgt einem autosomal-dominanten Erbgang. Autosomal bedeutet, dass es nicht
auf dem Geschlechtschromosomen liegt und somit Jungen wie auch Mädchen erkranken können.
Dominant bedeutet, dass bereits ein defektes Chromosomenhälfte (Allel) reicht, damit eine Krankheitsausprägung entsteht.
Wann ist an die VHL Erkrankung zu denken?
- Wenn bereits ein Betroffener in der Familie bekannt ist.
- Ein Vorkommen von VHL in der Familie ist bislang noch nicht bekannt, es ist aber ein Tumor in sehr
jungen Jahren entstanden oder es sind mindestens zwei VHL-typische Tumoren aufgetreten.
- Beim Auftreten von nur einer Tumorart kann eine molekulare Diagnose (Differentialdiagnose) in Erwägung gezogen werden. Dies sollte jedoch immer nur auf der Basis klarer Anhaltspunkte wie z.B.
einem frühem Erkrankungsalter und/oder dem Auftreten mehrerer, eventuell beidseitiger Tumoren
durchgeführt werden.
Wie ist der Ablauf einer genetischen Beratung?
Sollte auf Grund der oben genannten Kriterien eine genetische Beratung angezeigt sein, wird zunächst die Familiengeschichte hinterfragt, ob z.B. Angehörige früh verstorben sind, oder ob bestimmte Operationen oder Behinderungen vorkamen. Die Familiengeschichte wird mittels eines Stammbaums visualisiert. Anschließend wird die gesundheitliche persönliche Vorgeschichte besprochen und
ärztliche Befundberichte überprüft.
Wird aus den Erhebungen ersichtlich, dass ein Verdacht auf VHL vorliegen könnte, wird eine molekulargenetische Diagnostik veranlasst. Dazu muss der Ratsuchende schriftlich einwilligen. Dieser hat
natürlich auch das Recht, dies nicht wissen zu wollen. Dem Ratsuchenden wird ferner der Erbgang
erklärt (siehe oben) und das Risiko, die Erkrankung an die Kinder weiterzugeben, erläutert. Das Thema „Kinderwunsch“ kann in einer genetischen Beratung einen breiten Raum einnehmen.
Liegt das Ergebnis der molekulargenetischen Untersuchung vor, wird der Endbefund mit dem Ratsuchenden besprochen. Sollte sich der Verdacht auf VHL bestätigt haben, wird auf die nötigen jährlichen Kontrolluntersuchungen hingewiesen (jährlich Kernspin des ZNS und Abdomen, Augenuntersuchung und Bestimmung der Hormonwerte Adrenalin bzw. Noradrenalin im Blut oder Urin).
Wo finde ich eine genetische Beratungsstelle?
Eine genetische Beratung kann man in einem Humangenetischen Institut einer Universität
oder in einer Humangenetischen Praxis durchführen lassen. (siehe Webseite der Gesellschaft für
Humangenetik (GFH) http://www.gfhev.de/de/beratungsstellen/beratungsstellen.php).
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Aug./2007; Heft 3; Jahrgang 8
Ringversuch zu molekulargenetischen Analyse des von Hippel-Lindau Gens
2006
Der Ringversuch fand in diesem Jahr das erste Mal statt und war auf Anregung der VHL Selbsthilfegruppe durch eine Anfrage bei der Gesellschaft für Humangenetik (GfH) zustande gekommen. Die für
die Ringversuche zuständige Kommission der Qualitätssicherung hatte durch den Vorsitzenden Herrn
Prof. Müller-Reible (Universität Würzburg) Herrn Prof. Decker (Universität Mainz / Bioscientia Zentrum für Humangenetik Ingelheim) mit der Durchführung beauftragt.
Es hatten sich 11 Labore angemeldet, von denen alle ihre Ergebnisse bis zum Stichtag (01.11.06)
bzw. mit angekündigter geringer Verspätung eingesendet haben. Ein Labor, das als VHL Diagnostikanbieter in HGQN gelistet ist, hat trotz mehrfacher Aufforderung nicht teilgenommen.
Drei DNA Proben mit Fallbeschreibung wurden verschickt. Für jeden Fall war die Rücksendung der
Rohdaten der Analysen und ein Befundbericht gefordert.
Die Auswertung erfolgte durch Frau Prof. Dr. med. Steinberger, Frau Dr. rer.nat. Wildhardt und Herrn
Prof. Dr. med. Decker, alle Fachhumangenetiker am Zentrum für Humangenetik Ingelheim.
Zehn der 11 Teilnehmer haben für alle drei Proben die Veränderungen gefunden und korrekt beschrieben. Ein Labor bietet derzeit noch keine Analyse zur Detektion von großen Deletionen an. Daher konnte dieses Labor für Fall RV# 1 keine Mutation nachweisen.
Für die Bewertung wurde der ermittelte Genotyp unter Berücksichtigung der angewandten Untersuchungsmethode sowie der Befundbericht zugrunde gelegt. Für den mit der entsprechenden Methode
korrekt bestimmten Genotyp wurde jeweils 1 Punkt vergeben. Für jeden Befundbericht erfolgte die
Vergabe eines Punktes, wenn mindestens 50% der Angaben, die vom European Molecular Genetics
Quality Network als „Best Practice“-Vorschläge erarbeitet wurden, im Bericht enthalten waren (hierzu
s.a. http://www.emqn.org/emqn/BestPractice.html). Punktabzug erfolgte für mißverständliche und potentiell für den Ratsuchenden und seine Familie nachteilige Interpretationen und Empfehlungen oder
solche, die von den Richt-, Leitlinien und Stellungnahmen (Verlag medizinischegenetik Sonderdruck
7. Auflage, Okt. 2001) abweichen.
Maximal konnte eine Punktzahl von 6 Punkten erreicht werden. Ein Zertifikat erhielten Teilnehmer, die
ein korrektes Ergebnis zur Genotypisierung erstellt sowie insgesamt mindestens 2/3 der maximalen
Punktzahl erreicht hatten.
Die Ergebnisse dieses Ringversuches wurden am 7. März 2007 auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Humangenetik vorgetragen und öffentlich diskutiert.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass bereits beim ersten VHL-Ringversuch ein hohes qualitatives Niveau der teilnehmenden Laboratorien in Deutschland festgestellt werden konnte.
Der nationale VHL - Ringversuch für 2007 hat schon begonnen. Für 2008 wurde mit dem European
Molecular Genetics Quality Network verabredet, ein europäisches Pilotprojekt zum internationalen
(EU) VHL Ringversuch von Ingelheim aus, durchzuführen.
Prof. Dr. med. Jochen Decker
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL – Sonderheft Symposium in London/Ontario, Kanada 2006
Zusammenfassung von Prof. Dr. Hansjakob Müller, Abteilung Medizinische Genetik KBB/DKBW, Universität Basel
Einleitung
Der VHL Family Alliance gelang es mit dem London-Symposium einmal mehr, Grundlagenforscher,
Kliniker, Betroffene und ihre Angehörigen zusammenzubringen. Die Wissenschaftler konnten ihre aktuellsten Erkenntnisse austauschen und diskutieren. Denjenigen unter ihnen, die die VHL nur von Experimenten mit Molekülen, gezüchteten Zellen oder Modelltieren kennen, bot sich die Chance, einmal
auch die Wirklichkeit der VHL-Erkrankung wahrnehmen zu können. Die teilnehmende Ärzteschaft
wurde auf neue Möglichkeiten der Diagnostik, Therapie und Prävention aufmerksam gemacht, was
sich unmittelbar auf die Beratung und medizinische Betreuung von VHL-Patienten auswirken sollte.
Die Betroffenen und ihre Angehörigen gewannen Einblick in die Komplexität der z. T. immer noch
wenig verstandenen biomedizinischen Ereignisse, die den vielschichtigen Symptomen der VHLErkrankung zu Grunde liegen. Forschungserfolge stellen sich nur schrittweise ein. Immer wieder
kommen neue Aspekte und neue Fragestellungen hinzu. Dies erfordert Geduld, von allen! Es wurde
immer offensichtlicher, wie wertvoll Gewebeproben von Patienten für die Entschlüsselung der VHLKrankheitsmechanismen sind.
Bekannte Mechanismen, die zur VHL-Erkrankung führen.
Ein entscheidender Durchbruch bei der Erforschung der VHL-Erkrankung erfolgte 1993 mit der Identifizierung des VHL-Gens. Das VHL-Gen blieb im Verlaufe der Evolution konserviert. Dies deutet auf
seine wichtige biologische Bedeutung hin. Gene sind Rezepte, damit Zellen umschriebene Eiweisse
(= Proteine) mit der richtigen Anzahl und Zusammensetzung ihrer Grundbausteine, den Aminosäuren,
synthetisieren können. Das VHL-Gen-Rezept wird in allen Zellen benutzt; d.h. überall exprimiert. Es
ermöglicht die Bildung von 2 Alternativen des VHL-Proteins, die mit verschiedenen anderen Eiweissen Komplexbildungen eingehen können. Unter diesen sind die sogenannten Transkriptionsfaktoren
HIF1α und HIF2α (HIF = „hypoxia-inducible factor“) von besonderem Interesse, weil sie weitere Gene
aktivieren, darunter diejenigen für das Erythropoietin (= EPO), den Wachstumsfaktor für die Auskleidung der Blutgefässe (vaskulärer Endothel-Wachstums <„growth“>-Faktor = VEGF), den von Blutplättchen stammenden Wachstumsfaktor (= PDGF) sowie Enzyme, die in die Glykolyse (Abbau von
Glucose im Zellplasma) involviert sind. Fallen beide VHL-Gene, das väterliche und das mütterliche, in
einer einzelnen Zelle funktionell aus, werden die durch Sauerstoffmangel induzierten HIF- Faktoren
nicht mehr entsorgt. Sie stimulieren die Produktion der obgenannten Wachstumsfaktoren weiterhin,
auch wenn diese nicht mehr benötigt werden. Die meisten VHL-Patienten haben ein mutiertes (defektes) VHL-Gen von einem Elternteil geerbt. Damit weisen sie mit dem zweiten normalen VHL-Gen nur
mehr eine diesbezügliche „Sicherung“ auf. Sobald auch dieses in einer Zelle eine Mutation erfährt,
sind die Voraussetzungen erfüllt, damit der Krankheitsprozess in Gang kommen kann.
Einführende Literatur:
Kaelin WG Jr. Nat Rev Cancer 2002; 2: 673-682
Müller Hj et al. Schweiz Med Forum 2006; 6: 70-76
In der Folge werden die einzelnen Referate des ersten Tages in der Reihenfolge ihrer Präsentation
kurz zusammengefasst. Die Literaturhinweise sollen einen vertieften Einblick in die einzelnen Forschungsprojekte und deren Ergebnisse ermöglichen.
Die extrazelluläre Matrix und die Gefässproliferation
Gemäss den Untersuchungen von Arnim Pause, Montreal/Kanada, tut das VHL-Genprodukt (= VHL
Protein) mehr als nur gerade den Abbau der durch Sauerstoffmangels produzierten HIF-Faktoren
(siehe oben). Es beeinflusst auch die Zusammensetzung der extrazellulären Matrix (ECM). Gewebe
besteht nämlich nicht nur aus Zellen. Einen erheblichen Teil ihres Volumens macht der extrazelluläre
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Raum aus, der unter anderem von einem komplexen Makromolekülgeflecht aufgefüllt wird, das man
extrazelluläre Matrix nennt. Der Verlust der Unversehrtheit (Integrität) der ECM, wie sie bei VHL beobachtet wird, führt zur Förderung der Gefässbildung (Angiogenese). Blutgefässe haben eine bessere
Möglichkeit, durch den extrazellulären Raum in das Tumorgewebe einzudringen. Somit eignet sich
die VHL-Erkrankung als von der Natur gegebenes Modell, um die Mechanismen der Gefässbildung in
normalen und entarteten Geweben zu erforschen.
Weiterführende Literatur:
Kurban G. et al. Cancer Res 2006; 66: 1313-1319
Differenzierung von Nervenzellen dank des VHL-Proteins
Das VHL-Protein scheint eine wichtige Bedeutung bei der Ausbildung von verschiedenen Nervenzellen zu haben, was im Hinblick auf die Regeneration von Nervengewebe bei Erkrankungen wie dem
Parkinsonismus von grossem Interesse ist. Hiroshi Kanno, Yokohama/Japan, berichtete von Versuchen, in denen das VHL-Gen/Genprodukt in Vorstufen von Nervenzellen der Ratte und anderen
Stammzellen transferiert wurde und dort die neuronale Differenzierung anregte. Dieses Phänomen ist
mit besonderen Motiven (Strukturdomäne) innerhalb des VHL-Proteins (Elongin BC-Bindungsstelle)
verknüpft.
Weiterführende Literatur:
Yamada H et al. Ann Neurol 2003; 54: 352 – 359
Der Zebrafisch: ein neues Tiermodell zur Erforschung der VHL-Erkrankung
Der Zebrafisch (korrekte Bezeichnung: Zebrabärbling) eignet sich als Modellorganismus für menschliche Erbkrankheiten. Mittels mutagener (das Erbgut schädigender) Chemikalien lassen sich seine Gene so verändern, dass sie den beim Menschen krankheitsverursachenden Versionen entsprechen.
Die Embryonen entwickeln sich ausserhalb der Mutter und sind optisch durchsichtig. Man kann mit
ihnen leicht Gewebetransplantationsexperimente vornehmen. Die Fische haben zudem einen kurzen
Generationszyklus und viele Nachkommen.
Zebrafische weisen zwei VHL-Gene auf: vhl1 und vhl2. Rachel Giles, Utrecht/Niederlande, untersuchte Zebrafisch-Embryonen bei denen beide oder nur eines dieser Gene ab Zeugung mutiert waren. Die
Embryonen mit zwei mutierten vhl1-Genen weisen ein komplexes Krankheitsbild auf: u.a. gestörte
Reaktion auf Sauerstoffmangel, vergrössertes Herz mit abnorm aussehenden Zellen, vermehrtes
Blutvolumen und Expression von Markern des Knochenmarkes bereits auf deren Vorstufen/Stammzellen, abnorme Nierentubuli und eine gesteigerte Bildung von Blutgefässen. Ein Ausfall
des vhl2-Gens beeinträchtigt die primäre Zilienbildung. Zilien sind haarförmige Gebilde auf der Oberfläche vieler Zellen, die Schlagbewegungen ausführen können (siehe unten). Die weitere Erforschung
der Zebrafisch-Modelle wird neue, grundlegende Einblicke in die VHL-verursachenden Krankheitsmechanismen eröffnen.
Genexpression Mikro-Array-Profile
Obwohl die Rolle des VHL-Gens/-Eiweisses bei der Regulation von HIF gut dokumentiert ist, bleibt
weiterhin unklar, woher die vielgestaltigen Läsionen der VHL-Erkrankung resultieren (siehe oben).
Sogenannte Mikro-Arrays erlauben es, Mutationen oder Varianten verschiedener Gene, bzw. deren
Expression gleichzeitig analysieren zu können. Eamon Maher, Birmingham/UK, berichtete von MikroAarray-Profilen, die mit Nierenkarzinom- und Phäochromozytom-Zelllinien erzielt wurden, die von Patienten mit verschiedenen VHL-Typen stammten. Dabei entdeckten sie 19 unterschiedliche VHLZielgene, die mit der Entwicklung des Nierenkarzinoms verbunden sind. Die mögliche Funktion dieser
Zielgene wurde im Reagenzglas abgeklärt. Die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Zielgene
könnten für die klinischen Unterschiede der VHL-Krankheitstypen je nach vorliegender VHL-Mutation
verantwortlich sein.
Weiterführende Literatur:
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Abdulrahman et al, Oncogene 2006, 25 in press.
Pollard PJ et al. J Clin Endocrin Metab 2006, in press
Aktivierung und Rolle von HIF (Hypoxia-inducible Factor)
Auch Patrick Maxwell, London/UK, ging in seinem Seminar auf zahlreiche neue Erkenntnisse über die
Entstehung und Entwicklung der VHL-Erkrankung ein. Das interzelluläre Adhäsionsmolekül
E-Cadherin spielt allgemein beim Zusammenhalten von Epithelzellen (zusammenhängende Zellschicht, die eine Aussenfläche abdeckt oder ein Hohlorgan auskleidet) eine bedeutungsvolle Rolle.
Der Verlust von E-Cadherin kann Krebs begünstigen, indem dadurch das eindringende (invasive)
Wachstum erleichtert wird. Die VHL-Inaktivierung in Vorstufen des Nierenkarzinoms geht mit einer
deutlichen Herabregulierung von E-Cadherin einher. In VHL-defekten Zelllinien führte die Wiederexpression von VHL zu einer Erholung der E-Cadherin-Erzeugung (Esteban et al. 2006).
Das Rückenmark von VHL-Patienten enthält viele kleine, wenig differenzierte Zellaggregate in den
Nervenwurzeln, die als „mesenchymale tumourlets“ (mesenschymale Tumorherdchen) bezeichnet
werden. Vortmeyer et al. demonstrierten, dass diese die Ausgangspunkte der HämangioblastomEntstehung darstellen. In den Zellen fehlt das VHL Protein. HIF2α und andere HIF-abhängige Zieleiweisse wie CAIX und VEGF sind dort hingegen im Übermaß vorhanden. Die Aktivierung von HIF1α
wurde erst in späteren Stadien der Tumorprogression festgestellt. Demzufolge erfolgt die Entstehung
von Hämangioblastomen über mehrere Schritte ausgehend aus dem Pool der häufigen Tumorherdchen.
Die Chuvash Polyzythämie wurde kürzlich als neue Form einer VHL-assoziierten Erkrankung beschrieben. Sie wird autosomal-rezessiv vererbt und ist auf eine umschriebene Mutation des VHLGens zurückzuführen (Ang S et al.), welche die HIF-Regulation beeinträchtigt, aber nicht ausschaltet.
Smith et al. konnten zeigen, dass diese „VHL“-Patienten Schwierigkeiten mit ihrer Lungen- und Herzfunktion haben, ähnlich wie sie bei der Akklimatisation an den niedrigen Sauerstoffgehalt auf grosser
Höhe auftreten. Demzufolge scheint der VHL-HIF-Mechanismus die Reaktion auf verschiedene
Sauerstoffkonzentrationen auf zellulärer und systemischer Ebene zu regulieren.
Die Zahl der roten Blutzellen wird durch die Registrierung der Sauerstoffkonzentration in der Niere
gesteuert. HIF spielt dabei eine zentrale Rolle. Percy et al. beschrieben eine Mutation im PHD2-Gen
(Prolyl-Hydoxylase Domaine (<PDH>) Protein 2), die zu einer Erythrozytose führt. Die Evidenz
spricht dafür, dass dieses Eiweiß für die normale Regulation von HIF wichtig ist.
Abschließend erinnerte Patrick Maxwell an eine Arbeit von SR Walmsley et al. in der sie und ihre Mitarbeiter zeigten, dass bei Sauerstoffmangel die neutrophilen Blutzellen (Fraktion der weißen Blutzellen) vor dem natürlichen Zelltod (Apoptosis) durch einen Mechanismus geschützt werden, der von
PDH/HIF1α abhängig ist. In ihren Versuchen konnten sie zeigen, dass die Neutrophilen von VHLPatienten unter normalen Sauerstoffverhältnissen eine geringere Apoptose-Rate und eine gesteigerte
Infektionsabwehr durch ein eigentliches „Fressen“ (Phagozytieren) von Bakterien zeigten, dies auch
bei niedrigen Sauerstoffverhältnissen. Diese Beobachtung demonstriert, dass VHL auch das angeborene Immunsystem beeinflusst und dass Träger nur eines mutierten VHL-Gens in der Lage sind,
diesbezüglich erfolgreich zu reagieren.
Weiterführende Literatur:
Ang S et al. Nat Genet 2002; 32, 611 – 621
Smith TG et al. Plos 2006; 3: 1178 – 1186
Percy MJ et al. PNAS 2006; 103: 654 – 659
Vortmeyer A et al.: J Pathol 2006; 210: 374 - 382
Walmsley SR et al. Blood 2006; 108, 3176 – 3178
Suche nach neuen Behandlungsmöglichkeiten für das Nierenkarzinom
Stephan Lee, Ottawa/Kanada, berichtete, dass HIF2α spezifisch den „transforming growth factor alpha/epidermal growth factor (=EGF)“–Pfad aktiviert und dadurch eine Wachstumsstimulation auf Nierenepithelzellen und Karzinomzellen ausübt. Die Blockierung dieses Pfades genügt, um Nierenkarzinomzellen mit einem VHL-Defekt in Kultur an ihrer Vermehrung, bzw. in der nackten Maus an der
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Tumorbildung zu hemmen. Der EGF-Rezeptor scheint eine kritische Größe im tumorigenen Potential
eines durch HIF2α ausgelösten, VHL-defizienten Nierenkarzinoms zu sein. Daher könnte er sich als
attraktives therapeutisches Ziel erweisen. Diese Möglichkeit ist mit grossen Hoffnungen verbunden.
Weiterführende Literatur:
Gemmill RM et al. Brit J Cancer 2005, 92, 2266-2277
Smith K et al Cancer Res 2005; 65: 5221-5230
Zur Behandlung des Phäochromozytoms
Eijiro Nakamura, Kyoto/Japan, und Mitarbeiter untersuchten durch das VHL-Genprodukt regulierte
Proteine und stiessen dabei auf das Clusterin. Beim VHL Typ 2C ist die Regulation des Clusterins
gestört. Die Clusterin-Erzeugung war in Phäochomozytomen ohne VHL-Expression reduziert. Clusterin könnte ein Marker für eine HIF-unabhängige Funktion des VHL-Eiweißes sein. Aufgrund von Beobachtungen an Rattenzellen leitete er ab, dass Phäochromozytome und Paragangliome aus Vorstufen der neuronalen Zellen hervorgehen, die während der Entwicklung nicht richtig ausgewählt werden.
Weiterführende Literatur:
Nakamura E. et al. Am J Pathol 2006; 168:574 - 584
Nox4, ein weiterer Kandidat für eine gezielte Nierenkarzinomtherapie
Jodi Maranchie, Pittsburg/USA, stellte Untersuchungen vor, die zeigen, dass das Enzym Nox4, eine
NADP(H)–Oxydase, für die Erzeugung und Aktivierung von HIF2α auch in Abwesenheit des VHLProteins kritisch ist und somit eine eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Nierenkarzinoms hat. Demzufolge dürfte auch Nox4 ein Kandidat auf molekularer Ebene für eine gezielte Therapie des klarzelligen Nierenkarzinoms sein.
Weiterführende Literatur:
Maranchie JK, Zhan Y: Cancer Res 2005; 65: 9190 – 9193
Defekte der Zilien als Ursache der Zystenbildung in Niere, Bauchspeicheldrüse und Leber
Praktisch alle Zellen der Wirbeltiere und des Menschen haben haarförmige Ausstülpungen an der
Zelloberfläche, die primäre Zilien genannt werden. Obwohl die Zilien seit mehr als 100 Jahren bekannt sind und es aufgefallen ist, dass Ziliendefekte bei verschiedenen menschlichen Erbkrankheiten
wie Degeneration der Retina, polyzystische Nierenerkrankung oder Neuralrohrdefekten auftreten,
wird ihre Funktion immer noch unzureichend verstanden. Dorus Mans, Utrecht/Niederlande, und
Mallory Lutz, New York/USA, zeigten, dass die Bildung von Nierenzysten bei VHL-Patienten mit
Anomalien der primären Zilien verknüpft ist. Gezüchtete Nierenkarzinomzellen von VHL-Patienten
entwickeln keine Zilien. Dies ist ein von der HIF1α-Expression unabhängiger Mechanismus und deutet auch auf eine weitere biologische Rolle der VHL-Eiweisse hin, die bei der Verursachung der häufigen Zysten und des Nierenkarzinoms bedeutungsvoll ist. KIF3A, eine Komponenete des Kinesins
(Klasse von Motorproteinen der Zilien), scheint dabei der/ein VHL-Protein-Partner zu sein.
Weiterführende Literatur:
Singla V, Reiter JF, Science 2006;313: 629 - 633
Lutz MS, Burk RD. Cancer Res 2006; 66: 6903 – 6907
Survivin
Survivin ist einer von vielen Vertretern von Hemmstoffen der Apoptose (natürlicher Zelltod). Xiaoging
Wu, Erlangen/Deutschland, beobachtete eine starke Expression von Survivin in Zellen von Nierentubuli, jedoch dessen Herabregulierung unter Sauerstoffmangel. Diese Verringerung ist abhängig vom
VHL-Protein und von HIF1α. Dies trägt zur Erklärung des antiapoptotischen Verhaltens von Nierenzellkarzinomen und deren Therapieresistenz bei.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Ausblick
Komplexe Systeme galten in der Biomedizin bis vor kurzem als entzifferbar, wenn man sie in kleinere,
überschaubarere Systeme aufgliedert und dort analysiert. Trotz aller dabei erzielten Erfolge realisieren wir immer deutlicher die Grenzen dieser reduktionistischen Sichtweise. Ein Wald kann letztlich
schlecht verstanden werden, wenn man seine Bäume einzeln, eventuell sogar nur im Gewächshaus,
analysiert. Statt ein System zu seiner Erforschung in Unterelemente aufzuteilen, dürfte vielmehr dessen gesamthafte Analyse zu neuen Erkenntnissen über die Entstehung und Entwicklung einer Krankheit führen. Fehlsteuerungen während der Entwicklung scheinen bei der Entstehung der VHLErkrankung eine große Bedeutung zu haben. Auch Sven Gläsker, Freiburg/Deutschland, berichtete
aufgrund der Untersuchung von Gewebeproben von VHL-Patienten über pathologische, molekulargenetische und immunhistochemische Hinweise, dass die Tumorentstehung im Nebenhoden, bzw.
bei der Frau in den breiten Mutterbändern (Ligamentum latum) ähnlich wie im Rückenmark oder im
Nebennierenmark (siehe oben) von vielen kleinen Läsionen (Tumorherdchen) ausgeht und dass weitere Ereignisse dann dazukommen müssen, damit daraus klinisch erfassbare Tumoren hervorgehen.
So muss man nun versuchen, die frühen Entwicklungsstörungen, die sich im Rückenmark, in der
Niere, im Innenohr (endolymphatischen Sack), den Anlagen der Geschlechtsorgane und anderswo
abspielen, verstehen zu lernen. Aus den dabei gewonnenen Erkenntnissen dürften sich grundlegend
neue Strategien zur Prävention/Frühbehandlung der VHL-Erkrankung und nicht nur zur Therapie bereits fortgeschrittener Komplikationen ableiten lassen.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Nov./ 2006; Heft 4; Jahrgang 7
Zusammenfassung Vorträge Informationsveranstaltung Mainz 2006
Vortrag Prof. Dr. Decker, Zentrum für Humangenetik Bioscientia, Institut für
Medizinische Diagnostik, IngelheimThema: Genetische Diagnostik: Detaillierte
VHL-Mutationsabklärung und deren Bedeutung für die genetische Beratung
Genetische Grundlagen
Zunächst erläuterte Prof. Dr. Decker einige Begriffe, die in einem genetischen Befund auftauchen
können:
Eine Mutation ist eine krankheitsverursachende Veränderung im Erbgut. Es wird unterschieden zwischen einer erbliche (hereditäre) Mutation und einer erworbenen (somatischen) Mutation. Bei der erblichen Mutation befindet sich die Genveränderung in den Keimzellen (Ei oder Sperma), die nach der
Befruchtung in allen Körperzellen des Nachfahren (Lebenshypothek) vorhanden ist. Diese Veränderung wird auch Keimbahn-Mutation genannt. Die somatische Mutation ist eine Genveränderung, die
im Laufe des Lebens (nach der Befruchtung) in einzelnen Körperzellen entsteht und sich somit auf
nur diese Zelle beschränkt.
Im Gegensatz zu einer Mutation ist ein Polymorphismus eine Veränderung, die nicht krankheitsverursachend ist. Jeder Mensch hat Millionen von Polymorphismen im Genom ( = gesamte genetische
Information) jeder Zelle, die zum Teil auch dafür sorgen, dass z.B. jeder Mensch anders aussieht. Bei
einer genetischen Untersuchung müssen Polymorphismen jedoch mitbewertet werden.
In jedem Kern einer Zelle befinden sich die Chromosomen. Die Chromosomen liegen paarweise vor.
Eine normale menschliche Zelle hat 46 Chromosomen: 22 Paare von nicht geschlechtsbestimmenden
Chromosomen (Autosomen) und zwei Geschlechtschromosomen (Gonosomen). Die Chromosomen
bestehen im wesentlichen aus der sog. Desoxyribonukleinsäure, englisch "desoxyribonucleic acid"
oder abgekürzt „DNA“. Die DNA ist ein großes Molekül, das die genetische Information trägt, welche
die Zellen benötigen, um sich zu replizieren (= sich in identischer Kopie zu verdoppeln) und um Eiweiße (Proteine) zu produzieren. Früher wurde davon ausgegangen, dass ca. 90 % der DNA sogenannte Junk-DNA („Müll-DNA“) sei, die nicht direkt ins Protein übertragen. Heute weiß man, dass die
Junk-DNA nicht wirklich Müll darstellt, sondern dass sie sehr wahrscheinlich eine große Rolle bei der
Aufrechterhaltung der Organisation unseres Genomes hat (Stabilität und Integrität des Genoms).
Der Mensch hat in jeder Zelle ca. 25.000 - 30.000 Gene. Die Gene sind die aktive Untereinheit der
DNA. Jedes Gen enthält den Code für ein bestimmtes Produkt, normalerweise ein Protein. Jeder
Mensch hat zwei Kopien des gleichen Gens, eines wurde vom Vater und eines von der Mutter ererbt.
Diese beiden Versionen des gleichen Genes werden Allele genannt. Sind diese beiden Versionen
völlig identisch, spricht man vom homozygoten Zustand eines Gens. Liegen jedoch Unterschiede
zwischen den beiden Genallelen vor, so spricht man von heterozygotem Zustand. Dieser Begriff
kann auf das Vorliegen einer Mutation bezogen sein, d.h. eine heterozygote Mutation betrifft nur ein
Allel, das zweite Allel liegt in der normalen Version vor. Dies ist der typische Befund, der sich bei der
VHL Keimbahn-Mutation finden lässt: eine heterozygote Mutation in der Keimbahn, im Tumor findet
sich „später“ eine zweite Mutation, die in der Regel andersartig ist, als die erste, in der Keimbahn aufgetretene Mutation.
Die Arbeit auf chromosomaler Ebene wird als Zytogenetik, die Arbeit auf DNA- und RNA-Ebene wird
als Molekulargenetik, und die Arbeit auf DNA/RNA- und auf der Protein-Ebene wird als Molekularbiologie bezeichnet. Oft wird aber zwischen den beiden Begriffen Molekulargenetik und Molekularbiologie nicht genau differenziert.
Das VHL Gen befindet sich auf dem kurzen Arm des dritten Chromosoms in dem Abschnitt 2.5, die
genaue Bezeichnung ist: 3p25.3. Das Gen besteht aus drei Organisationsbereichen, den sogenannten Exons.
Wie ein Gen aufgebaut ist
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Die gesamte DNA besteht aus nur vier verschiedenen Bausteinen, den sogenannten Basen. Die Basen heißen Adenin (A), Thymin (T), Cytosin (C) und Guanin (G). Der Bauplan eines Genes besteht
somit aus einer „schier endlosen“ Abfolge dieser 4 Buchstaben. Es werden jeweils 3 hintereinander
folgende Basen als eine Einheit (Codon) betrachtet und jeweils in eine spezifische Aminosäure im
Protein übersetzt. Diese Übersetzung der jeweiligen Basenabfolge in entsprechende Aminosäuren
nennt man Translation. Dabei ist es wichtig, dass ein sogenanntes Leseraster (strenge Definition von
jeweils drei hintereinander folgenden Basen) eingehalten wird. So stehen die drei Basen AAA für die
Aminosäure Phenylalanin, AAT für Leucin usw. Diese Übersetzungsweise (3 zu 1) ist notwendig, da
für 20 verschiedene Aminosäuren jeweils nur vier verschiedene Basenarten zur Verfügung stehen.
Das bedeutet, dass jeweils 3 Basen (oder auch Basenpaare genannt) in jeweils eine genau definierte
Aminosäure übersetzt (codiert) werden. Dies nennt man auch unseren genetischen Code. Liegt ein
Schreibfehler im genetischen Code vor, spiegelt sich dies in einem Schreibfehler der hintereinander
abfolgenden Aminosäuren des daraus resultierenden Proteins mit entsprechender Funktionseinbuße
wider. Das VHL Gen besteht aus 642 Basen, aufgeteilt in drei Organisationseinheiten (Exons). Dies
wird entsprechend in ein Protein von 213 Aminosäuren umgeschrieben.
Methoden der genetischen Diagnostik
Mit der molekulargenetischen Diagnostik soll überprüft werden, ob die Abfolge der Basen des VHL
Gens normal oder verändert ist, und somit eine krankheitsverursachende Mutation vorliegt. Für die
Untersuchung muss als erstes die DNA aus dem Blut des Patienten isoliert werden. Dann wird die
DNA des VHL Bereichs mit einer sogenannten Polymerase Ketten Reaktion (PCR = polymerase
chain reaction) vermehrt, damit diese DNA in ausreichender Menge vorliegt. Erst danach kann sie
weiter untersucht werden. Mit der Sequenzierung wird zunächst überprüft, ob die Abfolge der Basen
korrekt ist. Wird dabei festgestellt, dass z.B. eine Base C durch die Base G ersetzt wurde, handelt es
sich um eine sogenannte Punktmutation. Punktmutationen sind also sehr kleine Veränderungen. Der
Unterschied zwischen der Auswirkung einer Punktmutation, die eine Substitution (das Ersetzen einer
Base durch eine andere) und einer Punktmutation, bei der eine Base fehlt (Deletion), machte Prof.
Decker an hand eines kleinen Satzes deutlich: „Rot ist die Kuh“. Bei einem Austausch einer Base
(Substitutions-Punktmutation) wird ein Buchstabe, durch einen anderen ersetzt (R durch T): z.B. „Tot
ist die Kuh“. Der Sinn des Satz ist zwar entstellt, ist aber noch nachvollziehbar. Während bei der Deletions-Punktmutation (Das „T“ wird entfernt) das Leseraster (s.o.) verschoben wird: „oti std ieK uh..“,
der Sinn ist nicht mehr verständlich. Auf Proteinebene hat eine Substitutions-Punktmutation zur Folge, dass im Protein eine Aminosäure durch eine andere ersetzt wird (Missense Mutation). Während
eine Deletion oft zu einer Verkürzung des Proteins führen kann. Diese zweite Störung kann eine gravierendere Auswirkung auf die Funktionsveränderung haben, als es die Substitution hätte.
Mit der Sequenzierung ist es nicht immer möglich, festzustellen, ob z.B. ein größerer Bereich des
Gens betroffen ist, dass z.B. ein ganzes Exon fehlt (grosse Deletion). Dieses ist mit der sogenannten
MLPA Analyse (Multiplex ligation-dependent probe amplification) möglich. Mit dieser Methode wird
überprüft, ob in einem vorher genau definierten Abschnitt auch entsprechend viele Basen vorhanden
sind. Ist dies nicht der Fall, handelt es sich um eine große Deletion, die möglicherweise unter ausschließlichem Einsatz der Sequenziermethode übersehen worden wäre.
Die Beurteilung, ob es sich z.B. bei einem Basenaustausch tatsächlich um eine Mutation oder um einen nicht krankheitsverursachenden Polymorphismus handelt, ist der schwierigste Schritt und auch
ein wichtiger Teil bei der Interpretation des Ergebnisses. Mittlerweile gibt es über 800 dokumentierte
VHL Mutationen. Der Humangenetiker kann also zunächst überprüfen, ob „seine“ Mutation in einer
der VHL Mutationsdatenbanken bereits gelistet ist. Ist dies nicht der Fall, muss er überprüfen, welche
Auswirkungen die Veränderung auf das Protein hat, d.h. ob die Veränderung funktionsstörend ist. Die
Beurteilung hierbei hängt ganz entscheidend von der Lokalisation der Veränderung ab.
Vererbung
Da sich das VHL Gen nicht auf einem Geschlechtschromosom, sondern auf einem Autosom befindet,
können sowohl Männer als auch Frauen an VHL erkranken und die Erkrankung vererben. Es wird gesagt, der Erbgang ist autosomal. Personen, die ein verändertes VHL Gen haben, erkranken mit hoher Wahrscheinlichkeit an VHL. Das wird dominant genannt. Das Risiko VHL weiterzuvererben, liegt
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
für jedes Kind bei 50 Prozent, je nachdem ob das VHL betroffene Elternteil das krankhafte oder das
gesunde Allel weitergibt.
Jeder VHL Betroffene hat in jeder Zelle seines Körpers auf Grund der Vererbung (Keimbahnmutation)
bereits ein defektes VHL Gen. Damit es aber zur Ausprägung der Erkrankung kommt, muss sich auch
das 2. Gen/Allel in einer Körperzelle verändern. Dies wird auch als das „zwei-Treffer-Modell“ (two hit
theory nach Knudson) bezeichnet. Neuere Untersuchungen haben darüber hinaus ergeben, dass
auch andere Krebsgene involviert sein müssen, damit es zur Tumorentstehung kommt.
Mit dem zwei-Treffer-Modell kann auch erklärt werden, warum VHL Betroffene früher – also in jüngerem Alter - gleichartige Tumoren entwickeln, als Personen ohne VHL. Da der erste Treffer bereits mit
der Zeugung in jeder Zelle vorhanden ist, fehlt nur noch der zweite Treffer im anderen Gen, damit ein
Tumor entstehen kann. Bei Nicht-VHL Betroffenen müssen hingegen beide Gene an der gleichen
Stelle sich verändern, dieser „Zufall“ dauert natürlich viel länger.
Genotyp – / Phänotyp-Korrelation
Die VHL Erkrankung wird in zwei Gruppen unterteilt. Sie unterscheiden sich darin, ob bei einer Mutation ein Phäochromozytom (Nebennierentumor) vorkommt, oder nicht. Beim VHL Typ 1 kommen keine Phäochromozytome vor. Der VHL Typ 2 entwickelt innerhalb der betroffenen Familie immer ein
Phäochromozytom, es wird aber noch weiter unterteilt. Beim VHL Typ 2a kommt kein Nierenzellkarzinom vor, beim VHL Typ 2b kann auch ein Nierenzellkarzinom auftreten und beim VHL Typ 2c kommen nur Phäochromozytome vor.
Die exakte Einteilung, welche Mutation in welche Gruppe gehört, lässt sich zur Zeit noch nicht an
Hand von genetischen Untersuchungen mit letzter Sicherheit sagen, sondern nur an Hand der klinischen Ausprägung. Damit solche Mutationszuordnungen zu spezifischen Krankheitsausprägungen
immer besser möglich werden, benötigt man für jede Mutation relativ viele Fälle, bei denen die klinische Ausprägung gut dokumentiert ist. Hierzu sind Mutationsdatenbanken enorm wichtig. Es kann
heute schon gesagt werden, dass Mutationen, die zu grösseren Deletionen, d.h. Trunkationen
(= vorzeitiger Abbruch des Proteins) führen, in der Regel dem VHL Typ 1 zugerechnet werden können (ohne Phäochromozytom). Ferner gibt es eine Studie von Lineham, die besagt, dass Betroffene
mit einer Deletion, die einen genau definierten Bereich der genetischen Region um VHL herum nicht
betrifft, häufiger Nierenzellkarzinome entwickeln, als Betroffene, deren VHL Gen mit dieser Region
komplett verloren gegangen ist. Dieser Unterschied ist sehr deutlich, so haben Betroffene mit der
„günstigen“ Mutation in weniger als 20 % der Fälle Nierenkarzinome, während Personen mit der „ungünstigen“ Form in über 50 % der Fälle ein Nierenkarzinom entwickelten. Da die Studie an über 100
Personen aus über 50 nicht verwandten Familien durchgeführt wurde und daher sehr aussagekräftig
ist, sollte die MLPA Methode (oder eine vergleichbar empfindliche Methode) heute bei der molekulargenetischen Routine-Untersuchung von VHL eingesetzt werden.
Fallbeispiel
Abschließend berichtete Prof. Decker den Fall einer Familie. Beim Vater konnte ein Basenaustausch
nachgewiesen werden, er war aber nicht erkrankt. Bei der Mutter und dem Sohn konnte lange Zeit
keine VHL Mutation nachgewiesen werden, obwohl beide bereits Tumoren entwickelt hatten. Dieser
„Widerspruch“ konnte erst erklärt werden, als man eine große Deletion fand, die mit der normalen
Sequenzierung unentdeckt geblieben war. Die vermeintliche Punktmutation beim Vater wurde daraufhin als ein Polymorphismus beurteilt.
Zusammenfassung
Mutationen können unterschieden werden nach ihrer Qualität (Deletion=Verlust, Insertion=Einfügen
von Basen u.ä.), ihrer Lokalisation entlang dem Gen (bzgl. der Funktion unterschiedlich wichtiger Bereiche) und ihrer Größe (Deletions-Punktmutation oder grössere Deletionen, die ganze Exons betreffen können). Ferner ist zu unterscheiden, ob sie in der Keimbahn (vererblich) oder in der Körperzelle
(somatisch, nicht vererblich) auftreten. Polymorphismen sind hingegen Norm-Varianten ohne funktionelle Konsequenzen.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Bei der genetischen Untersuchung ist eine detaillierte Beschreibung und weiterführende Interpretation
der Art der VHL-Mutation wichtig und heute möglich.
Es gibt mehrere sich ergänzende Verfahren, wie z.B. die Sequenzieren und die Deletions-Analyse
(z.B. MLPA), die heute eingesetzt werden, um Mutationen zu entdecken.
Die Aussagen über die Auswirkung einer Mutation (Genotyp) auf die Ausprägung (Phänotyp) hat bereits einen großen klinischen Wert und wird bei der VHL Erkrankung weiter an Bedeutung gewinnen.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Mai/2006; Heft 2; Jahrgang 7
Ringversuch zur genetischen Untersuchung
Wie bereits auf der Mitgliederversammlung im Herbst in Dresden angekündigt, haben wir im November einen Fragebogen an die genetischen Institute verschickt, die über die GfH (Gesellschaft für Humangenetik) die genetische Untersuchung für VHL anbieten.
In dem Fragebogen wurde u.a. nach der Dauer der Untersuchung sowie den Untersuchungsmethoden gefragt. Eine weitere Frage war, ob die Institute sich vorstellen könnten, an einer Qualitätsüberprüfung teilzunehmen.
Die Resonanz war unseres Erachtens sehr positiv: Sieben von den zehn angeschriebenen Instituten
(4 Universitätskliniken und 3 private Labore) haben geantwortet. Hinsichtlich der zeitlichen Dauer der
Untersuchung gab es eine zeitliche Spanne von 1 Woche bis 3-4 Monaten (bei großen Deletionen).
Als Untersuchungsmethoden wurde von allen Instituten die Sequenzierung und die MLPA Analyse
genannt. Auch erklärten sich alle Labore bereit, an einer Qualitätsüberprüfung teilzunehmen.
Im Februar sind wir dann an die Gesellschaft für Humangenetik (GfH) herangetreten und haben um
die Etablierung eines Ringversuches gebeten. Unser Antrag wurde von der GfH sehr positiv bewertet,
angenommen und umgesetzt: Mitarbeiter des Zentrums für Humangenetik Ingelheim des Bioscientia
Instituts für Medizinische Diagnostik haben sich auf Anfrage der GfH bereit erklärt, diesen Ringversuch zu koordinieren und durchzuführen. Die Einführung von Ringversuchen stellt den Beginn eines
stetigen Prozesses der Qualitätsverbesserung dar. Es werden die Kriterien der analytischen Genauigkeit, der verständlichen Ergebnisvermittlung und auch der angemessenen Dauer der Untersuchung
erfasst und kontinuierlich verbessert werden. So wird es letztendlich möglich werden, Ratsuchenden
die Institutionen zu empfehlen, die eine kontinuierliche, durch Ringversuche der GfH getragene Qualitätsverbesserung pflegen. Aus unserer Sicht ist dieses ein großer Schritt in der Verbesserung der Betreuung möglicher VHL-Betroffener.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Mai/2005; Heft 2; Jahrgang 6
Die VHL-Erkrankung: die heutige Vorstellung wie ein Genotyp zum Phänotyp
führt
von Privatdozentin Dr. rer. nat. Hiltrud Brauch, Dr. Margarete Fischer-BoschInstitut für Klinische Pharmakologie, Auerbachstrasse 112, D-70376 Stuttgart
Einleitung
In der onkologischen Therapie sind Therapieverläufe und -erfolge in der Regel nur bedingt vorhersagbar. Die Gründe dafür liegen in der mangelnden Kenntnis spezifischer Angriffspunkte für die medikamentöse Therapie. Durch die Aufklärung des menschlichen Genoms und die Identifizierung von
Krebs- und therapierelevanten Genen ergeben sich jedoch zunehmend Möglichkeiten, den Zusammenhang zwischen genetischen Ursachen und spezifischen zellulären Folgeeffekte zu verstehen.
Genotyp-Phänotyp-Betrachtungen liefern dazu die Grundlage, indem sie Einblicke in die Zusammenhänge zwischen Mutationen und zellulären Folgen unter Ausprägung von Krankheitssymptomen liefern. Sie werden in der molekularen onkologischen Forschung zu Rate gezogen, wenn die genetische
Ursache einer Tumorerkrankung z. B. Mutationen in einem Tumorsuppressorgen bekannt sind, die
krankheitsverursachenden Mechanismen der Tumorentstehung jedoch nicht ausreichend erklärt werden können.
Ein aufschlussreiches Beispiel ist das von Hippel-Lindau-Syndrom (VHL) mit seinen zahlreichen ursächlichen Keimbahnmutationen im VHL-Tumorsuppressorgen und multiplen und vielfältigen Organmanifestationen. Die VHL Erkrankung rückte im Verlauf der letzten Jahre ins Zentrum der Aufmerksamkeit, da sich an ihrem Beispiel anschaulich zeigte, wie sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse
der molekularen Krankheitsursachenforschung in erste, für Patienten nützliche Informationen umsetzten lassen.
Über den Nachweis des ursächlichen Gens hinaus gelang die Aufklärung eines neuen Krebsentstehungsmechanismus, der die VHL-Tumorentstehung auf der Basis einer Störung des kontrollierten
Proteinabbaus erklären und damit den Zugang zu möglichen therapierelevanten Zielmolekülen aufzeigen kann. Während letzteres noch Gegenstand aktiver Forschungsarbeiten ist, erlauben GenotypPhänotyp-Betrachtungen schon heute in Einzelfällen eine Abschätzung des organspezifischen Erkrankungsrisikos. Damit ist eine verbesserte Vorsorge im Rahmen des Patientenlangzeitmanagements und belasteter Familien möglich geworden.
Neuerdings können in die molekularen Betrachtungen auch Aspekte der VHL-Proteinstruktur und –
Funktion miteinbezogen werden. Auf diese Weise lassen sich die durch Mutationen verursachten
spezifischen zellulären Störungen abschätzen, die letztlich zu den Tumoren führen.
VHL-Tumorsuppressorgen und Mutationsspektrum
Das VHL-Syndrom entsteht infolge eines erblichen Gendefektes im VHL-Tumorsuppressorgen. Weltweit sollen ca. 32.000 Menschen Träger einer VHL-Mutation sein.
Am häufigsten wird die Erkrankung durch Punktmutationen hervorgerufen, die auf Proteinebene den
Austausch einer Aminosäure (Missense-Mutation) bewirken und so die biologische Funktion des
VHL-Proteins verändern können. Alternativ kann es auch zur Ausprägung eines Stopkodons (Nonsense-Mutation) kommen und damit die VHL-Proteinbildung verhindert werden, was den Verlust der
Funktion bedeutet. Ebenso können Nukleotidinsertionen und -deletionen (Frameshift-Mutationen) beobachtet werden, die ebenfalls zu einer Längenveränderung des Proteins und damit zum Verlust seiner Funktion führen.
Eine weitere Mutationsvariante betrifft Spleissregionen (Splice site-Mutation), die auch zum Verlust
der Proteinfunktion führen oder eine andere Funktion zur Folge haben kann. Große Deletionen von
bis zu mehreren tausend Basen treten in geringerem Umfang auf. Sie können ganze VHL-Exons und
darüber hinaus umfassende chromosomale Abschnitte einschließlich des gesamten VHL-Gens löschen.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Phänotypen
Für die Unterscheidung der VHL-Phänotypen VHL-Typ 1 und VHL-Typ 2 spielen Phäochromozytome
eine Schlüsselrolle. Alle Familien, die im Erkrankungsspektrum keine Phäochromozytome aufweisen
werden dem VHL-Typ 1 zugeordnet. Die Zuordnung einer Familie zum VHL Typ 2 basiert dagegen
immer auf dem Auftreten von Phäochromozytomen im Symptomspektrum.
Schon auf der Basis dieser ersten groben Einteilung zeigte sich, dass fast alle VHL-Mutationen, die
mit dem VHL-Typ 2 assoziiert sind, zur Klasse der Missense-Mutationen gehören (Abb. 1) und entsprechend den Austausch einer Aminosäure im Protein bewirken. Den meisten mit dem VHL-Typ 1
assoziierten Mutationen liegen dagegen „gröbere“ Mutationen zugrunde, deren Folge ein wahrscheinlicher Funktionsverlust ist.
Abb. 1 Überblick über die häufigsten VHL-Keimbahnmutationstypen (Missense- und Nonsense-Mutationen,
große Deletionen und Mikrodeletionen/Insertionen) beim VHL-Syndrom. Links: Mutationshäufigkeiten unter Berücksichtigung aller VHL-Familien. Mitte und rechts: Häufigkeiten von VHL-Keimbahnmutationen in Abhängigkeit vom Krankheitsphänotyp VHL- Typ 2 (mit Phäochromozytomen) und VHL- Typ 1 (ohne Phäochromozytome)
Die eindrucksvolle Assoziation von Missense-Mutationen und dem VHL2-Phänotyp konnte an einzelnen Beispielen weiter entschlüsselt werden. Je nach Kombination der Phäochromozytome mit anderen Tumoren aus dem Symptomspektrum kann dieser Phänotyp weiter in die Subtypen VHL2A,
VHL2B und VHL2C unterschieden werden. Während sich die Häufigkeit von ZNS-Manifestationen bei
VHL2A- und VHL2B-Familien nicht von der des VHL-Typs 1 unterscheidet, variieren diese beiden
VHL2-Subtypen im Hinblick auf die Häufigkeit von Nierenzellkarzinomen. VHL2A-Patienten erkranken
nur in Ausnahmefällen an Nierenzellkarzinomen. Dagegen kommen Nierenzellkarzinome bei VHL2BPatienten häufig vor. Eine „minimale“ Variante stellt der VHL2C-Phänotyp dar, bei dem nur
Phäochromozytome auftreten.
Tab 2.: VHL Phänotypen und assoziierte VHL Keimbahndefekte
*nur vereinzelt
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Für alle drei Subtypen wurden charakteristische Missense-Mutationen identifiziert. Auf der Basis der
Beschreibung ihrer klinischen Konsequenzen gilt, dass sich ihre biologischen Folgeffekte hauptsächlich im Nebennierengewebe manifestieren, sich ihre tumorigenen Effekte jedoch im Hinblick auf andere Gewebe unterscheiden. Interessanterweise betreffen diese Mutationen unterschiedliche Genabschnitte und nehmen somit Einfluss auf die unterschiedlichen funktionellen Domänen des VHLProteins.
Sowohl die Subtypen VHL2A und VHL2B können durch verschiedene Mutationen hervorgerufen werden. Am bekanntesten und speziell für unsere Patienten in Deutschland relevant sind die 505 T>C
Mutation (Schwarzwaldmutation) für VHL2A, und die beiden 712C>T sowie 713G>A Mutationen für
VHL2B. Letztere basieren nicht wie die Schwarzwaldmutation auf einem gemeinsamen Vorfahren,
sonder entstehen in der Regel neu, weshalb man von einem Mutations hot spot spricht. Das häufige
Auftreten dieser beiden Mutationen ist ein Hinweis darauf wie anfällig das VHL Gen für Mutationen ist,
keinesfalls beschränkt sich diese Anfälligkeit jedoch auf diesen hot spot. Der Subtyp VHL2C ist sehr
selten und wurde genauestens bei einer Familie beschrieben, die die Besonderheit von zwei
Punktmutationen 775C>G und 454 C>T bei den Genträgern aufweist.
Rolle des VHL-Proteins
Spezifische molekulare Genotyp-Phänotyp-Betrachtungen wurden erst durch die Aufklärung von
VHL-Proteinstruktur und –Funktion(en) möglich.
Das VHL-Protein besteht aus verschiedenen Strukturabschnitten, die als - Domäne und -Domäne
bezeichnet werden. Die -Domäne kann mit einem anderen Protein Elongin C in Interaktion treten
und so eine VCBC genannten Komplex bilden, der aus mehreren Komponenten einschließlich dem
VHL-Protein besteht. Dieser spielt bei der Markierung von Zielmolekülen für deren „Entsorgung“ eine
Rolle. Die eigentliche Erkennung der Zielmoleküle erfolgt jedoch über die -Domäne. Das VHLProtein ist somit das molekulare Verbindungsstücks zwischen dem zu entsorgenden Zielmolekül und
der dafür benötigten Entsorgungsmaschinerie. Es regelt so z.B. den kontrollierten Abbau des Zielmoleküls HIF, das wiederum für die Regelung der Gefäßbildung verantwortlich (Angiogenese) ist. Die im
Rahmen der VHL-Erkrankung auftretenden Keimbahnmutationen führen häufig zur Schädigungen der
beiden VHL- Proteindomänen. Insbesondere betreffen Mutationen vom Typ 2A mehrheitlich die Domäne während die häufigen Typ 2B Mutationen des Mutationshotspots die -Domäne betreffen
Ein noch besseres Verständnis von Genotyp-Phänotyp-Beziehungen wurde durch die Identifizierung
eines ersten VHL Zielmoleküls möglich. Dieses Zielmolekül heißt HIF-1 (hypoxia-inducible factor 1)
und ist ein Regulationsfaktor von Gefäßbildung, Energiestoffwechsel und programmiertem Zelltod
(Apoptose). Er wird in der Regel über die Sauerstoffspannung der Zelle reguliert. Bei normalen
Sauerstoffbedingungen wird HIF schnell über den VCBC-Komplex abgebaut, da nicht benötigt. Wird
HIF-1 jedoch nicht kontinuierlich auf kleiner Flamme gehalten, kommt es zur vermehrten Stimulation
von regulierenden Faktoren, die die Gefäßneubildung, den Energiestoffwechsel und das Zellwachstum anregen. Ein höherer Bedarf an HIF-Aktivität entsteht normalerweise nur bei Sauerstoffmangel
(Hypoxie). Auf dieses Signal hin bleibt HIF länger aktiv und in der Folge werden die für die Gefäßneubildung benötigten Faktoren gebildet, damit die Sauerstoffversorgung verbessert werden kann.
Dabei handelt es sich um einen zellulären Selbsthilfemechanismus, der fälschlicherweise auch durch
VHL-Mutationen ausgelöst werden kann. VHL-Mutationen greifen in dieses sensible Regelwerk ein,
indem sie irrtümlich den Zustand eines Sauerstoffmangels hervorrufen und so vermehrt HIF-Aktivität
bereitstellen. Dies führt zu den bekannten VHL-Folgeeffekten, d. h. Bildung von Tumoren mit starker
Gefäßneubildung.
Zusammenfassend kann nach heutigem Wissensstand festgehalten werden, dass sich die klinischen
Merkmale (Phänotyp) der VHL Erkrankung, wie z.B. eine hohe Gefäßbildungstendenz der Tumoren,
durch molekulare Mechanismen erklären lassen, die durch den VHL-Genotyp hervorgerufen werden.
Weitere Forschungsaktivitäten konzentrieren sich nun darauf, diese Zusammenhänge noch besser im
Hinblick auf die phänotypischen Unterschiede der VHL-Typen zu verstehen, die sich zwar auch auf
der Basis der Genotypen beschreiben lassen, deren funktionelle und mechanistische Unterschiede
jedoch noch nicht bekannt sind.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Nov./2004; Heft 4; Jahrgang 5
Nobelpreis für Pioniere der Proteinforschung
Der diesjährige Nobelpreis für Chemie ging an Aaron Ciechanover und Avram Hershko aus Israel
sowie an den US-Wissenschaftler Irwin Rose. Diese Ehrung ist für VHL Betroffene von Bedeutung, da
damit die Grundlagen zum Verständnis auch der VHL Erkrankung in den Blickpunkt des öffentlichen
Interesses gerückt sind. Dieser Zusammenhang wird deutlich, wenn man die VHL-Erkrankung als
Störung des Abbaus von Proteinen betrachtet. Die ausgezeichneten Arbeiten der drei Nobelpreisträger haben sich genau mit diesem grundlegenden Mechanismus beschäftigt.
Die drei Forscher hätten einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung der Eiweißregulierung in der Zelle geleistet, erklärte die Königlich Schwedische Akademie in Stockholm. Damit sei das Verständnis möglich geworden, wie die Zelle ihren Lebenszyklus steuere, die Reparatur von Erbgut funktioniere oder
die Information von Genen abgelesen werde.
Ihre Leistungen gehörten bislang „nicht unbedingt zu den wissenschaftlichen Entdeckungen, die im
Scheinwerferlicht stehen“, betonte Håkan Wennerström, Vorsitzender des Nobelkomitees. Die Arbeit
der drei diesjährigen Preisträger sei „fundamentale Grundlagenforschung mit Langzeitwirkung“. „Man
wird die Konsequenzen nicht heute oder morgen im Alltag bemerken. Aber die drei haben die Voraussetzungen zu einem besseren Verständnis vieler wichtiger Krankheiten geschaffen.“ Ferner heißt
es in der Begründung der Stockholmer Jury: „Dank der Arbeiten der drei Preisträger kann nun verstanden werden, wie Zellen auf molekularer Ebene eine Reihe zentraler Prozesse kontrollieren und
bestimmte Proteine abbauen und andere nicht.“
Die preisgekrönten Arbeiten der drei Chemiker liegen schon Jahrzehnte zurück. Der 67-jährige Hershko forscht noch heute gemeinsam mit dem 57 Jahre alten Ciechanover am Technion Israel Institute
of Technology in Haifa. Auch Irwin Rose, immerhin schon 78 Jahre alt, ist weiterhin in der Forschung
tätig, derzeit an der University of California in Irvine. Die drei Forscher beschrieben ihre Ergebnisse in
zwei Arbeiten von 1980. Später entdeckten sie noch weitere Details beim Abbau von Proteinen.
Während sich die meisten Forscher in den späten 70er und frühen 80er Jahren vor allem für Aufbau
und Entstehung von Proteinen interessierten - und damit immerhin fünf Nobelpreise gewinnen konnten -, untersuchten Ciechanover, Hershko und Rose gegen den Trend den Abbau dieser Eiweiße, von
denen ein Mensch mehrere hunderttausend verschiedene besitzt. Dabei entdeckten sie einen der
wichtigsten zyklischen Prozesse im Zellinneren, nämlich den gezielten Abbau von Proteinen.
Proteine dienen als Bausubstanz, Botenstoffe, Enzyme oder zur Abwehr von Bakterien. Wird ein Protein nicht mehr benötigt, bekommt es in der Körperzelle den "Todeskuss", so die Beschreibung der
Nobelstiftung. Das ist beinahe wörtlich zu verstehen: Die Zelle hängt die Markierungssubstanz
Ubiquitin wie einen Adressaufkleber an das alte Protein. Mit diesem Aufkleber versehen landet es im
zelleigenen Müllverwerter (Proteasom), wo es zerhäckselt wird. Kurz vor der Zerstörung wird
Ubiquitin wieder abgehängt, damit es erneut genutzt werden kann.
Genau diese Funktion hat auch das VHL Protein: Es bindet das Beutemolekül HIF und verknüpft es
mit dem sogenannten Ubiquitinligasesystem. Über diese molekulare Brücke wird HIF erkannt, markiert und der Entsorgung im Proteasom, einem Schredder für Proteinmoleküle zugeführt. In der
normalen Zelle wird durch diesen Entsorgungsmechanismus ein gefährlicher HIF-Überschuss vermieden.
Wenn der Abbau nicht mehr benötigter Proteine nicht korrekt funktioniert, können z.B. Krebs oder
auch VHL entstehen. Für VHL heißt dies: Liegt eine VHL-Keimbahnmutation vor und beide Allele (in
einer Zelle) sind geschädigt, ist dieser Regelmechanismus unterbrochen: Die Zelle „denkt“ zu ersticken (ähnlich wie bei einer Sauerstoffunterversorgung) und steuert massiv gegen, indem sie den Abbau von HIF verzögert und die Bildung von Blutgefäße anregt. Unter diesen Bedingungen kommt es
zur Ausprägung von VHL-Tumoren.
Die Entschlüsselung des Mechanismus des Proteinabbaus könnte langfristig zu neuen Medikamenten
führen, so die Akademie. Diese Arbeiten ermöglichten zudem, auf der Ebene der Moleküle zu verste-
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
hen, wie die Zelle bestimmte Proteine zerlege und andere unberührt lasse. Zu den auf diese Weise
angestoßenen Prozessen gehöre auch die Zellteilung als Grundlage für die Entwicklung von Leben
und die Regeneration der DNS.
Die Auszeichnung von Ciechanover, Hershko und Rose würdigt nicht nur unser heutiges Verständnis
von Proteinabbau und Tumorentstehung, sie sorgt darüber hinaus vor allem dafür, dass die Bedeutung dieses wichtigen biochemischen Prozesses der Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wurde.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL – Sonderheft Symposium in Kochi, Japan 2004;
Neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der molekularen Krankheitsprozesse beim
VHL-Syndrom und deren Bedeutung für die Entwicklung neuer Therapieansätze
von PD Dr. rer. nat. Hiltrud Brauch, Dr. Margarete Fischer-Bosch-Institut für Klinische Pharmakologie, Stuttgart und Prof. Dr. med. H. Jochen Decker, Bioscientia Zentrum für Humangenetik Ingelheim
Einleitung
Eine medikamentöse Therapie des von Hippel-Lindau Syndroms ist heute noch nicht möglich. Die
Gründe dafür liegen in der mangelnden Kenntnis spezifischer Angriffspunkte für die Entwicklung wirksamer Medikamente. Durch die Identifizierung des VHL-Gens im Jahre 1993 ergeben sich zunehmend Möglichkeiten, den Zusammenhang zwischen genetischen Ursachen und spezifischen zellulären Folgeeffekten zu verstehen. Die Entwicklungen und Fortschritte auf diesem Gebiet sind alle zwei
Jahre Gegenstand wissenschaftlicher Vorträge und Diskussionen auf dem Internationalen Symposium über die von Hippel-Lindau Erkrankung. In diesem Jahr fand dieses Symposium vom 20. bis 22.
Mai in Kochi, Japan, statt. Als Teilnehmer wurden mehr als 50 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus USA, Europa und Asien registriert, die mit ihren Vorträgen insbesondere die ersten beiden
Kongresstage bestimmten. Als Fachdisziplinen waren neben den klinisch und diagnostisch orientierten Fächern vor allem biologische, biochemische und pharmakologische Expertisen vertreten. Im interdisziplinäreren Austausch wurde eine weitere wichtige Etappe auf dem Weg zur Identifizierung potentieller therapeutischer Zielmoleküle zurückgelegt.
Dieser Bericht liefert eine Zusammenfassung der über 20 wissenschaftlichen Beiträge, die sich thematisch mit der Entschlüsselung der Funktion des VHL Proteins und den Konsequenzen seiner Störungen im Krankheitsprozess beschäftigten. Er soll Patienten und interessierten medizinischen Laien
einen umfassenden Überblick über das aktuelle Forschungsgeschehen und den gegenwärtigen Wissensstand beim VHL-Syndrom vermitteln. Die Zusammenfassung ist themenübergreifend abgefasst
und stützt sich im Wesentlichen auch auf die Erklärung der im Zusammenhang auftretenden biologischen Begriffe und Zusammenhänge. Auf diese Weise soll die Komplexität der Einzelvorträge reduziert und eine direkte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Aspekten dieser Thematik ermöglicht werden.
Das pVHL-HIF1-System
Allen Vorträgen gemeinsam war die Betrachtung der VHL-Erkrankung als Störung des Sauerstoffmonitorings der Zelle und der Gefäßneubildung. Daraus folgt, dass sich gegenwärtig das Augenmerk
vornehmlich auf die Regulation der zellulären Atmung durch das pVHL-HIF1-System richtet, das bei
der Überwachung des Abgleichs von Sauerstoffverbrauch und –nachschub im Organismus eine entscheidende Rolle spielt.
In Tumoren ändern sich die Stoffwechselbedingungen aufgrund der zunehmenden Zellmassen laufend, was sich häufig als Sauerstoffunterversorgung in ihrer Mikro-Umgebung zeigt. Als Reaktion darauf kommt es zur vermehrten Bildung von Faktoren, die die Gefäßbildung (Angiogenese) und damit
die Blut- und Sauerstoffversorgung des Gewebes anregen und verbessern sollen. Faktoren, die dabei
eine Rolle spielen, werden dem Angiogenese-Regelkreis (angiogenic pathway) zugeordnet. Inzwischen wurde gezeigt, dass der HIF-1 (hypoxia inducible factor 1)-Proteinkomplex die Hauptschlüsselkomponente in diesem Regelkreis darstellt, die für die Aufrechterhaltung der Sauerstoffkonstanz verantwortlich ist.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
hCUL-2
Elongin B

Elongin C

RBX-1
UBC
pVHL
Proteasome
HIF
stabil
abgebaut
O2
Abbildung: Schematische Darstellung des VHL-Proteins (pVHL) als Adaptormolekül beim kontrollierten Proteinabbau. pVHL bindet über seine -Region das Beutemolekül HIF und verknüpft es über seine -Region mit
einer Reihe von Faktoren (Elongin C, B, Cul2, Rbx) des sogenannten Ubiquitinligasesystem (abgekürzt E3, siehe Text). Über diese molekulare Brücke wird HIF „erkannt“ und der Entsorgung im 26S Proteasom, einem
Schredder für Proteinmoleküle zugeführt. In der normalen Zelle wird durch diesen Entsorgungsmechanismus
ein gefährlicher HIF-Überschuss vermieden. Dieses Gleichgewicht wird hauptsächlich vom Sauerstoffpartialdruck O2 der Zelle reguliert. Bei zu wenig O2 (abnehmender grauer Balken) wird HIF weniger gut abgebaut,
denn es wird mehr davon benötigt. Liegt eine VHL-Keimbahnmutation vor, ist dieser Regelmechanismus unterbrochen: Die Zelle „denkt“ zu ersticken (ähnlich wie bei einer Sauerstoffunterversorgung)und steuert massiv gegen, indem sie den Abbau von HIF verzögert und die Bildung von Blutgefäße anregt. Unter diesen Bedingungen
kommt es zur Ausprägung von VHL-Tumoren. (Abbildung modifiziert nach William G. Kaelin jr. 1999; Nature
399: 203-204).
HIF-1
HIF-1 ist ein Komplex von Molekülen, der sich aus - und Untereinheiten zusammensetzt. Seine
normale Aufgabe besteht im Überwachen und Regeln der Sauerstoffkonstanz. Dabei hängt die Aktivität von HIF davon ab, ob und wie gut die Übertragung von Hydroxyl (OH)-Gruppen an die Aminosäuren Prolin402, Prolin564 oder Asparagin803 erfolgen kann. Die OH-Übertragung (Hydroxylierung) an
beiden Prolinen wird von Enzymen mit Prolyl-Hydroxylase Aktivität (PHD) durchgeführt.
Die Bewerkstelligung dieser Reaktion ist Voraussetzung für das Zusammenspiel und –wirken mit dem
von Hippel-Lindau (VHL)-E3-Ubiquitin-Ligase-Komplex (VHL-E3), dessen Aufgabe es ist, überschüssiges HIF-1 zu entfernen (Abbildung 1). Entzieht sich HIF-1 diesem geregelten Abbau z.B. bei Sauerstoffarmut (Hypoxie) oder Hypoxie-ähnlichem Zustand bedingt durch VHL-Mutation, so kommt es in
der Folge zu einem breiten Spektrum von zellulären und systemischen Reaktionen. Die Folge davon
ist die verstärkte Bildung von Genprodukten, die im Rahmen der Angiogenese benötigt werden. Ein
Beispiel dafür ist der vaskuläre endotheliale Wachstumsfacktor (VEGF). Interessanterweise wird
VEGF häufiger in Tumoren als im Normalgewebe gebildet.
Prolyl-Hydroxylasen (PHD)
PHD sind in Gegenwart von Sauerstoff aktiv und übertragen jeweils eine OH-Gruppe an die HIFAminisäuren Prolin in den Positionen 402 und 564. Insgesamt sind 3 PHD Isoenzyme bekannt, die
mit PHD1, PHD2 und PHD3 bezeichnet werden. Noch ist unklar, welches PHD bei der VHLErkrankung eine Rolle spielt. Da jedoch PHD2 neben HIF einer der bedeutendsten Sauerstoffmonitore der Zelle ist, - es kann nämlich nur in Gegenwart molekularen Sauerstoffs seine Funktion wahrnehmen -, konzentriert sich das Interesse derzeit auf dieses Enzym. Der PHD-HIF Zusammenhang
erklärt, warum die Regulation von HIF bei Sauerstoffmangel nicht mehr funktionieren kann und zu
den typischen Folgeeffekten wie die Überexpression von normalerweise nicht vorhandenen Wirkmolekülen führen kann, wie sie auch für VHL-Tumoren bekannt sind. Da es sich beim VHL-Syndrom je-
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
doch nicht um einen echten Sauerstoffmangel, dennoch aber um einen Zustand mit zellulären HIFÜberschuss handelt, erscheint es sinnvoll, die Möglichkeiten der PHD-Aktivierung, d. h. einer VHLunabhängigen Hydroxylübertragung auf HIF, zu erforschen.
VHL-Ubiquitin Ligase (auch VHL-E3 genannt)
Die Funktion des VHL-Proteins als Mittler des kontrollierten Abbaus der HIF-Untereinheit ist aus
früheren Berichten bereits bekannt (Abbildung 1). Ebenso bekannt ist die phsysiologische, d.h. die
normale Aufgabe des VHL-Ubiquitin-Ligase-Komplexes bei der Eliminierung von HIF durch seine
„kontrollierte Zerstörung“ im Proteasom. Dieser physiologische Abbau ist notwendig, um die Zelle vor
zuviel HIF zu schützen. Die jetzt neue Erkenntnis schreibt die Interaktion zwischen HIF und VHL-E3
und damit die Wirksamkeit des HIF-Kontrollsystems der Aktivität und Effizienz eines PHD-Enzyms zu.
Die entscheidenden molekularen Schauplätze sind dabei ganz bestimmte Aminosäurebausteine des
HIF 1 Moleküls, nämlich die Proline in den Positionen 402 und 564. Der bestimmende biochemische
Schritt ist dabei die Hydroxylierung dieser Bausteine, d. h. die Übertragung einer OH-Gruppe. Erst
nach dieser Modifikation kann eine Bindung zwischen HIF und E3-VHL stattfinden. Somit hängt die
VHL-Tumorsuppressorfunktion insgesamt von seiner Fähigkeit ab, hydroxyliertes HIF zu binden.
Relevanz für die VHL-Erkrankung
Beim VHL-Syndrom geht die Tumorbildung mit einer Fehlregulation der Neubildung von Blutgefäßen
einher. Dabei wirken sich Mutationen im VHL-Gen nachteilig auf die HIF-Regulation aus. Im übertragenen Sinne „glaubt“ die VHL-mutierte Zelle zu ersticken. Als Folge davon aktiviert sie ihre eigenen
Regelmechanismen, die durch Anregung der Gefäßneubildung die vermeintlich gestörte Sauerstoffversorgung beheben sollen. Im Zuge dieser krankhaften (pathophysiologischen) Vorgänge
kommt es jedoch fatalerweise zur Anreicherung von HIF und in der Folge zur überschießenden Bildung und Anreicherung von Faktoren, die das Tumorwachstum begünstigen. Vor dem Hintergrund
von Genotyp-Phänotyp-Betrachtungen scheint beim VHL-Syndrom der Mechanismus der HIFAnreicherung für die Entstehung von Nierenzellkarzinomen und Hämangioblastomen erforderlich zu
sein, nicht aber von Phäochromozytomen.
Zusammengenommen erlauben die bisherigen Kenntnisse den Schluss, dass die bei der VHLErkrankung auftretenden Fehlregulierung von Zellwachstums und –teilung, HIF Aktivierung und Angiogenese über einen Mechanismus verknüpft sind, der normalerweise der Aufrechterhaltung der
Sauerstoffkonstanz bei der zellulären Atmung dient. Damit ist unmittelbar klar, dass die Komponenten
des HIF-Regelkreises als Kandidaten für mögliche Therapie-Angriffspunkte ins Blickfeld rücken. Zwar
sind einige dieser Komponenten, wie bereits ausgeführt, inzwischen bekannt, jedoch ist gleichermaßen klar, dass die Komplexität der möglichen Wechselwirkungen im Gesamtregelwerk wahrscheinlich
eine Vielzahl von beteiligten, jedoch noch unbekannten Faktoren ins Spiel bringen wird.
Die Suche nach neuen Therapie-TARGETS
Als TARGET (engl. Zielscheibe) bezeichnet man Moleküle, die potentiell wirksame Angriffspunkte in
der Tumortherapie darstellen. Bei den heute gängigen und derzeit verfügbaren AntiTumortherapeutika handelt es sich vorwiegend um Wirkmoleküle, die sich gegen sich schnell teilende
Zellen richten. Ursprünglich ging man davon aus, dass sich diese Medikamente gegen die auffälligste
Eigenschaft von Krebszellen, nämlich das unkontrollierte Wachstum und die vermehrte Zellteilung
richten müssen. Die Erfahrung zeigte jedoch, dass sich Tumoren diesem Angriff häufig entziehen, indem sie nicht darauf ansprechen, resistent werden oder von neuem zu wachsen beginnen. Daraus
erklärt sich der dringende Bedarf an SPEZIFISCHEN Anti-Tumortherapeutika, die sich jetzt nicht
mehr gegen eine allgemeine Eigenschaft, sondern gegen eine spezifisch ursächliche Eigenschaft
dieses Tumortyps richten. Ein unkontrolliertes Zellwachstum ist zwar mit den Hauptproblemen einer
Tumorerkrankung nämlich Raumforderung und Metastasierung verknüpft, heute geht man jedoch
darüber hinaus davon aus, dass die Eigenschaft des schnellen Wachstums „erst später“ dazu kommt,
also eher ein Begleiteffekt ist. Anders ausgedrückt münden Tumor-auslösende Prozesse in Störungen des Zellwachstums, die nicht nur einem, sondern vielen Regelkreisen unterliegen. Das heutige
Konzept einer wirksamen Krebstherapie setzt daher schon vorher an und versucht die Intialstörung zu
fassen. Dies setzt jetzt aber die genaue Kenntnis der beteiligten Komponenten als potentielle Angriffspunkte (Moleküle) für die medikamentöse Intervention voraus.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Im Falle des VHL-Syndroms wurde der ursächliche Defekt, nämlich die Störung der VHL-E3 Verknüpfung und der daraus resultierende HIF-Überschuss bereits erkannt. Jetzt laufen die Bemühungen auf
Hochtouren das gesamte funktionelle Regelwerk zu identifizieren, das bei der Entstehung verschiedener VHL-Tumoren eine Rolle spielt, um auf diese Weise ein oder mehrere geeignete TARGETS zu
identifizieren. Ermutigt werden die Wissenschaftler dabei durch die jüngsten Entwicklungen mit dem
Medikament Gleevec, auf das hier wegen seiner besonderen Bedeutung kurz eingegangen werden
soll.
Im Jahr 2001 wurde das neue Anti-Tumormedikament Gleevec (Synonyme: ST-571, imatinib, Glivec)
für die Behandlung von Krebspatienten mit chronisch myloischer Leukämie (CML) oder gastrointestinalen Stromatumoren (GIST) freigegeben. Bei Gleevec handelt es sich um einen Blocker für
sogenannte Tyrosinkinasen. Diese Enzyme spielen als wichtige Signalüberträger bei der Regulation
des Zellzyklus und damit bei der Kontrolle des Zellwachstums eine Rolle. Obwohl es über 90 verschiedene Tyrosinkinasen gibt, kann Gleevec genau die wenigen Enzyme unterdrücken, die CML und
GIST verursachen. Im Gegensatz zu bisherigen Erfahrungen in der Anti-Tumortherapie zeigt Gleevec
kaum Nebenwirkungen und ist bei über 90% der behandelten Patienten wirksam. Sogar nach 18 Monaten ist noch kein Fortschreiten der Erkrankung zu sehen und die Zahl der Krebszellen reduziert
sich drastisch bei mehr als 85% der CML Patienten. Wie ist ein solcher Durchbruch plötzlich möglich?
Die Antwort darauf ist, dass es sich dabei keineswegs um einen plötzlichen Erfolg handelt, sondern
um das Resultat jahrzehntelanger Forschungsarbeiten. Entscheidend und plötzlich erschien schließlich die Zusammenfügung zweier glücklicher Umstände. Zum einen wurden die Defekte der CML und
GIST funktionell exakt charakterisiert, und zum anderen wurde eine Substanz gefunden, die genau
die kritischen Tyrosinkinasemoleküle blockieren konnte. CML und GIST sind damit weitestgehend
beherrschbar geworden, jedoch wirkt Gleevec (erwartungsgemäß) nur bei diesen Tumoren. Der
Durchbruch und beispielhaft hohe Wert dieser Befunde liegt darin, dass sich eine spezifische Krebsfaktorblockade als hoch wirksam und bisher „dauerhaft“ gezeigt hat.
Geht man davon aus, dass die pharmazeutische Industrie heute schon viele Hunderttausende von
Komponenten für Therapie-Eignungsstudien bereit hält, so wird klar, dass der limitierende Schritt in
der Entwicklung wirksamer Anti-Tumortherapien die genaue Kenntnis funktioneller Störungen ist.
Beim VHL-Syndrom ist mit der Erkenntnis der Bedeutung des HIF-Regelkreises ein erster wichtiger
Schritt gemacht worden. Um nun aber das Gesamtregelwerk zu durchleuchten und geeignete Therapieangriffspunkte zu finden, werden die Forschungsarbeiten intensiv fortgesetzt. Die in Kochi zum
Thema „potentielle zukünftige Therapietargets“ vorgestellten Arbeiten aus der Grundlagenwissenschaft sind im Folgenden stichpunktartig zusammengefasst. Dabei handelt es sich um Ergebnisse
aus so genannten in vitro Untersuchungen, die überwiegend im Reagenzglas und an Zellkulturen
gemacht wurden, und daher in ihrer Aussage als vorläufig gelten. Dazu gehören:

Die Erforschung der VHL-unabhängigen Aktivierung von PHD (Prof. Patrick Maxwell, Imperal
College London, England, Dr. Yuichi Makino et al, Dr. Ken-ichi Yasumoto et al., jeweils Universität Tokyo, Dr. Kiichi Hirota et al, Kitano-Krankenhaus, Osaka, Japan). Man verspricht sich
davon einen Zugang zur Senkung des zellulären HIF-Überschuss und die Unterdrückung von
unerwünschter Gefäßneubildung.

Die Erforschung weitere Bindungspartner des VHL-E3 Komplexes (Dr. Maria Czyzyk-Krzeska
et al., Genomforschungszentrum, Universität Cincinatti, USA). Außer HIF können auch noch
andere Proteine von VHL-E3 exekutiert, d.h. dem kontrollierten Abbau zugeführt werden. Dazu gehört Rpb1, eine Untereinheit der RNA Polymerase II. Es handelt sich dabei um ein wichtiges Molekül für die Übersetzung von Gensequenzen in RNA, einem der Proteinbiosynthese
vor geschalteten Schritt. Eine mögliche Verbindung zu Regelkreisen scheint möglich, die das
Absterben/Überleben von Nervenzellen regulieren.
Die Erforschung der Rolle des Eph/Ephrin Signalwegs, der von pVHL beeinflussbar ist und der
eine Rolle bei der Ausbildung von Zellform, Zellwanderung und Ausbildung der verschiedenen
Organabschnitte der Niere haben soll (Dr. Rachel Giles et al., Medizinisches Zentrum, Universität Utrecht, Niederlande).
Die Erforschung einer HIF-unabhängigen Funktion, bei der das Enzym Casein Kinase II das
pVHL Protein aktiviert, um dadurch Fibronektin in der Extrazellulären Matrix zu deponieren


Vererbung und molekulargenetische Diagnostik


(Dr. Martijn Lolkema, Dr. Emile Voest et al, Medizinische Onkologie, Universität Utrecht, Niederlande). Fibronektin ist ein Grundbaustein der Zelladhäsion. Fibronektine regulieren Zellform
und -gerüst und sind damit wesentlich für Eigenschaften wie Wanderung (Migration) und Spezialisierung (Differenzierung) während der Embryonalentwicklung.
Die Erforschung möglich relevanter Wachstumsfaktoren (Dr. Eijiro Nakamura, Universität Kyoto, Japan und Prof. William G. Kaelin Jr., Dana Faber Institut und Harvard Medical School
Boston, USA). Im Zentrum des Interesses stehen dabei IGFBP-3, der Inhibitor des Plasminogenaktivators PAI-I und Clusterin. Während IGFBP-3 und PAI-1 mit HIF wechselwirken und
von VHL herabreguliert werden wird Clusterin in einer HIF-unabhängigen Weise hochreguliert.
Clusterin soll möglicherweise bei der Entstehung von Phäochromozytomen eine Rolle spielen.
Die Erforschung der spezifischen Wechselwirkungen im Rahmen der VHL-E3 Interaktion (Dr.
Takumi Kamura et al. Medizinisches Institut für Bioregulation, Universität Kyushu, Japan) und
HIF Regulation (Dr. Keiichi Kondo, Universität Yokohama, Japan, und Prof. William G. Kaelin
Jr., Dana Faber Institut und Harvard Medical School Boston, USA).
Antiangiogenetische Therapie – VEGF Blocker
Das favorisierte Ziel bisheriger Therapiestudien ist VEGF (vascular endothelial growth factor). VEGF
ist ein Wachstumsfaktor, der auch unter normalen Bedingungen in vielen Geweben des Menschen
von speziellen Zellen (Endothelien) gebildet wird. Dieser Wachstumsfaktor bewirkt, dass kleine Gefäße (vascular) gebildet werden. Man nennt diesen Vorgang auch Angiogenese (Gefäßbildung). Bei
Bedarf wird VEGF normalerweise in kleinen Mengen in die nächste Umgebung der Zellen und auch
ins Blut abgegeben. Ein Bedarf wird dadurch definiert, dass die Sauerstoffkonzentration in der Zelle
abfällt. Die Zelle reagiert über den oben beschriebenen Steuerkreis VHL – PDH – HIF 1 und kurbelt
dadurch die Produktion von VEGF an. Es besteht eine unmittelbare Beziehung zwischen VHL Protein
(pVHL) und VEGF Protein (pVEGF), insofern dass ein Funktionsverlust von pVHL zu einer vermehrten Produktion von pVEGF führt. Bis heute ist dieser Mechanismus in den oben beschriebenen
Grundzügen verstanden, d.h. das molekulare Stellglied, das erkennen kann, ob die Sauerstoffkonzentration in der Zelle abfällt, ist durch die Identifizierung der Prolyl-Hydroxylasen (PHD) inzwischen
bekannt. Liegt nun eine Mutation im VHL-Gen vor, funktioniert dieser Regel- und Steuerkreis nicht
mehr normal. Die Zelle reagiert so, als läge ein dauerhafter Sauerstoffmangel vor, obwohl dies nicht
so ist. Als Folge davon wird die Produktion von VEGF fälschlicherweise enorm gesteigert. Das VEGF
Genprodukt - also das VEGF Protein selbst - ist nicht krankhaft verändert, sondern in seiner Menge
überschießend erhöht: Biologen und Mediziner sagen: dieser Faktor ist (pathologisch) heraufreguliert.
Es ist diese unphysiologische (unnormale) Menge, die dem Organismus zu schaffen macht. Eine unangemessene, weil nicht am tatsächlichen Bedarf ausgerichtete Bildung von Gefäßen ist jetzt die
Folge. Dies ist eine der Ursachen, warum das klarzellige Nierenzellkarzinom, also der für das VHLSyndrom typische Subtyp des Nierenkarzinoms, sich von den anderen Nierenkarzinomen-Subtypen
durch seinen ausgeprägten Gefäßreichtum unterscheidet. Bis heute ist nicht geklärt, warum das
Problem der vermehrten Gefäßbildung nicht in allen Organen der Körpers auftritt. Auch bei der Frage
nach dem direkten Bezug zur Bösartigkeit des Tumors (Malignität) ist noch einiges unklar. VEGF
kommt auch bei der Bildung der zystischen Strukturen der Angiomatosis der Retina und der Hämangioblastome eine gewisse Bedeutung zu. Beim Phäochromozytom scheint dieser schon im Detail bekannte Mechanismus wahrscheinlich keine oder zumindest eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Dieser Unterschied in der Wirkung von VEGF erklärt auch, warum Medikamente, die auf die Hemmung der VEGF-Wirkung abzielen, nur bei einem Teil der Tumoren aus dem VHL-Spektrum Wirkung
zeigen.
Durch die Identifizierung von VEGF als bedeutsames therapeutisches Ziel (TARGET) und durch die
Fortschritte der Gentechnik, hat die Medizin heute einige, in ihrer Zahl noch begrenzt, aber hochwirksame Medikamente in der Hand. Diese können gezielt das in krankhaft vermehrter Konzentration vorliegende VEGF hemmen. Diese Medikamentenentwicklung und Austestungen im Rahmen von klinischen Studien erfolgen nahezu ausschließlich in den USA.
Die neuen Medikamente sind häufig so genannte monoklonale humanisierte Antikörper. Dabei handelt es sind um rekombinante – also durch gentechnische Verfahren hergestellte - Immunwirkstoffe
(Antikörper), die durch gezielte Veränderung ihrer Struktur so beeinflusst werden, dass sie im
menschlichen Organismus (humanisiert) wirksam werden könne. Sie blockieren gezielt die VEGFWirkung. VEGF kann nur wirken, wenn es an den Zellen, die es zum Gefäßwachstum anregt, durch
die Bindung an spezifische Rezeptoren (VEGF-R) an der Zelloberfläche andockt. Diese Interaktion
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
zwischen dem Wachstumsfaktor und seinem Rezeptor ist hochspezifisch und funktioniert nach dem
Schlüssel-Schloss-Prinzip.
Grundsätzlich bestehen nun zwei Möglichkeiten, dieses Schlüssel-Schloss-Prinzip in einem Therapieansatz zu blockieren. Um im Bilde zu bleiben: man kann (1.) den Schlüssel verbiegen, oder aber
(2.) das Schlüsselloch blockieren. (1.) Im ersten Fall bindet eine Substanz, wie z.B. ein monoklonale
Antikörper an VEGF selbst, um das Andocken an den Rezeptor zu verhindern. (2.) Im zweiten Fall
bindet ein Molekül, das wesentlich kleiner sein kann als ein monoklonaler Antikörper an den Rezeptor
selbst, um so eine Bindung von VEGF an den Rezeptor unmöglich zu machen. In beiden Fällen sind
die veränderten Molekülkomplexe (VEGF+Medikament, oder Rezeptor+Medikament) nicht mehr in
der Lage, in der Zielzelle einen Effekt zu erzielen. Damit entfällt – bei unverändert überschießend hoher VEGF- Bildung – der krankhafte Effekt dieses VEGF-Überschusses. Diese Medikamente (VEGFBlocker) müssen daher dauerhaft genommen werden, weil ja die Ursache der Störung - also die VHLMutation - durch die Wirkung des Medikaments nicht behoben wird. Da VEGF jedoch auch an andere
Rezeptoren bindet, die nicht nur auf den Tumor beschränkt sind, ist bei der Blockade von VEGF auch
mit Nebenwirkungen zu rechnen.
Im Folgenden sollen nun die ersten fünf VEGF-Blocker (AvastatinTM, BAY43-9006, LucentisTM,
SU11248 und PTK787) beschrieben werden, die sich heute in ihrer ersten klinischen Anwendung befinden und die auch für VHL-Läsionen, insbesondere für Nierenzellkarzinome und für Hämangioblastome, bedeutsam sein können. Diese Studien wurden während des Symposiums u.a. von
Prof. William G. Kaelin Jr., Dana Faber Institut und Harvard Medical School Boston, USA dargestellt.
Sie wurden auch im letzten VHL Rundbrief der VHL Alliance USA beschrieben. In einigen Fällen wurden im vorliegenden Bericht auch Daten der beiden jüngsten amerikanischen Krebskongresse eingearbeitet. Es ist wichtig festzuhalten, dass die beschriebenen Studien noch klein sind und sich zum Teil
noch in der Anfangsphase befinden. Diese Studien dienen zunächst dazu, Verträglichkeit, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit dieser neuen Substanzen zu analysieren. Daher können diese potentiellen
„Medikamente“ nur im Rahmen von klinischen Studien eingesetzt werden, die an wenigen Zentren zumeist in den USA - durchgeführt werden.
Inhibitoren von VEGF
AVASTIN™ beim metastasierenden Nierenzellkarzinom
AvastinTM ist der Markenname der Firma Genentech für das Medikament Bevacizumab. Es ist ein rekombinanter humanisierter Antikörper (s.o.), der gezielt VEGF bindet und so dessen Wirkung an den
Zielzellen blockiert. Dieses Medikament könnte möglicherweise für eine Vielzahl von Tumoren nützlich sein. Im Februar 2004 wurde AvastinTM von der amerikanischen Prüfbehörde (FDA) für den Einsatz beim fortgeschrittenen Dickdarmkrebs in Kombination mit einem anderen Medikament als erster
Behandlungsansatz zugelassen. Zwar zeigten sich unter Gabe von AvastinTM auch ernsthafte Nebenwirkungen (z.B. Bauchkrämpfe, Schwäche), der verbesserte Behandlungserfolg war aber so eindeutig, dass dieses Medikament heute für den fortgeschrittenen Dickdarmkrebs eingesetzt wird. In
den USA laufen nun klinische Studien an, die prüfen sollen, ob AvastinTM auch beim fortgeschrittenen
Nierenzellkarzinom ein sinnvolles Medikament sein kann. Dazu wird AvastinTM - allein verabreicht verglichen mit einer Kombination von AvastinTM mit einem anderen Medikament (Interleukin-2), das in
der Vergangenheit beim Nierenzellkarzinom schon in vielen Studien eine Wirkung zeigte. Beim letzten amerikanischen Krebskongress in Florida im Mai diesen Jahres konnten Ärzte des Amerikanischen Krebszentrum (NCI) zeigen, dass Avastin eine statistisch signifikante Wirkung auf die Wachstumsgeschwindigkeit von Nierentumoren von Patienten hatte, die nicht operiert werden konnten. Das
Tumorwachstum wurde um weit mehr als die Hälfte verlangsamt. Die Zahl der untersuchten Patienten
ist noch sehr klein, auch die mögliche Wirkungsverstärkung bei Kombination mit anderen Medikamenten sind noch zu prüfen.
BAY 43-9006 beim metastasierenden Nierenzellkarzinom und bei anderen mit dem VHLSyndrom assoziierten Tumoren
Diese neue Substanz ist ebenfalls ein monoklonaler humanisierter Antikörper, der an VEGF bindet
und damit ein Andocken am VEGF - Rezeptor verhindert. In klinischen Studien wurde BAY 43-9006 an
400 Patienten u.a. für die Behandlung von Nierenzell-, Leber- und Kolonkarzinomen und von Melanomen getestet. Dabei wurden günstige Anti-Tumor-Wirkungen beobachtet. Auf dieser Basis wurde BAY 43-9006 im Oktober 2003 in die Phase III (klinische Entwicklung) überführt. Derzeit läuft eine große multinationale klinische Phase-III-Studie mit 800 Teilnehmern mit metastasierendem Nierenzellkarzinom. Für andere mit dem VHL-Syndrom
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
assoziierten Tumoren sind Studien mit BAY 43-9006 für 2005 geplant. Ansprechpartner werden Ärzte des Massachusetts General Hospitals in Boston oder der Universität von Pennsylvania sein.
Lucentis TM bei Augenbeteiligung
LucentisTM (Genentech) ist ein Fragment eines monoklonalen Antikörpers (ranibizumab) gegen VEGF
und wird derzeit in klinischen Studien ausschließlich für altersbedingte Augenerkrankungen (makulare
Degeneration) eingesetzt. Innerhalb der nächsten Monate soll diese Studie auch für VHL-assoziierte
Augenkomplikationen ausgeweitet werden. Dr. Emily Chew von Nationalen Gesundheitsinstitut (NIH)
in Bethesda, MD, USA, wird Ansprechpartner für diese Studie sein.
Inhibitoren des VEGF-Rezeptors
SU11248 beim metastasierenden Nierenzellkarzinom
SU11248 (Firma Pfizer) ist kein monoklonaler Antikörper, sondern ein sehr kleines Molekül, das an
den VEGF Rezeptor und außerdem noch an andere Rezeptoren der gleichen Rezeptorengruppe
(PDGF-R) bindet. Als kleines Molekül hat es den Vorteil, dass es oral verabreicht werden kann.
Beim letzten Kongress der amerikanischen Gesellschaft für Onkologie in New Orleans im Juni dieses
Jahres wurde die Wirksamkeit von SU11248 beim metastasierenden Nierenzellkarzinom gezeigt.
70% der 63 Patienten mit fortgeschrittenem Nierenkrebs, die auf sämtliche bisherigen Therapien nicht
mehr angesprochen hatten, zeigten eine Stabilisierung ihrer Krankheit. Bei 33% der Patienten hat
sich eine Teilrückbildung gezeigt, der Tumor reduzierte sich um die Hälfte. Bei 14 von 21 Patienten
hält diese Rückbildung unverändert an. Diese Studie wird von Dr. Motzer vom Memorial SloanKettering Krebszentrum in New York, NY, USA, durchgeführt. Es wurden auch Nebenwirkungen wie
Übelkeit, Durchfall und Schleimhautentzündungen beobachtet, die aber relativ mäßig waren. Bei einem Drittel der Patienten wurde die Dosis reduziert, bei keinem war bisher ein Abbruch der Studie
notwendig.
PTK787/ZK 222584 bei Tumoren des zentralen Nervensystems
PTK787 (Novartis) ist ein kleines Molekül, das direkt an den Rezeptor von VEGF und von anderen
Wachstumsfaktoren (PDGF) bindet und die Wirkung von VEGF blockiert. Wie SU 11248 kann es oral
eingenommen werden. Beim Nierenzellkarzinom ist seine Wirkung bereits untersucht worden. Das
Medikament wird relativ gut vertragen. Die jetzt geplante Studie wird von Dr. Daniel George vom Dana Farber Krebsinstitut in Boston, USA, durchgeführt. Es sollen zunächst nur 15 Patienten untersucht
werden, um die Wirksamkeit dieser neuen Substanz bei VHL assoziierten Hämangioblastomen zu
prüfen.
ZUSAMMENFASSUNG
Durch das Verständnis der Krankheitsmechanismen auf der Ebene der Moleküle sind wir heute erstmals in der Lage, eine gezielte – auf die Ursachen ausgerichtete - Therapie in den klinischen Alltag
einzuführen. Dies ist für einige wenige Erkrankungen (z.B. CML) beispielhaft gelungen und zeigt auch
für VHL den Weg zur kausalen Therapie auf. Hierbei muss klar unterschieden werden zwischen (1.)
der heute noch nicht denkbaren Reparatur der Mutation im VHL-Gen selbst in der Keimbahn und (2.)
der Möglichkeit, durch die Einsicht in die molekularen Pathomechanismen, in diese gestörten Abläufe
gezielt therapeutisch einzugreifen (somatische Therapie, nicht die Keimbahn betreffend). Letzteres ist
denkbar geworden durch die oben beschriebene wachsende Zahl von molekularen Behandlungsansätzen (TARGETs). Ein wesentlicher Vorteil könnte auch das Verschwinden oder doch erhebliche
Reduzieren von unerwünschten Nebenwirkungen dieser Therapien sein.
Auf dem Symposium wurden im Bereich der Grundlagenerforschung einige mögliche neue Zielmoleküle für solche so genannten „smart drug“ (engl. Kluges Medikament) Therapien aufgezeigt. Allerdings sind diese neuen Möglichkeiten bisher erst für das VEGF-Molekül und seinen Rezeptor so weit
vorangetrieben, dass die ersten klinischen Studien dazu angelaufen sind. Die in diesen kleinen und
noch kurzzeitig laufenden klinischen Studien erzielten Behandlungserfolge sind aber viel versprechend und bestätigen, dass hier der richtige Weg beschritten wird.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Feb./2004; Heft 1; Jahrgang 5
Methodischer Fortschritt - verbesserter Nachweis von größeren intragenischen
VHL Mutationen im Humangenetischen Zentrum Ingelheim des Bioscientia Instituts.
von Prof. Dr. Decker, Zentrum für Humangenetik Ingelheim, Bioscientia Institut
Mutationen sind krankheitsassoziierte Veränderungen der DNA, denen in der Regel ein kausaler Zusammenhang mit der entsprechenden Erkrankung zugesprochen werden kann. Diese Genstörungen
können verschiedene Größenordnungsebenen des DNA-Moleküls betreffen: so kann im Extremfall
nur ein einzelner Baustein gegen einen anderen ausgetauscht sein (Punktmutation: Substitution eines
Basenpaares durch ein anderes), es können kleine Teile, also wenige Basenpaare verloren, hinzugefügt oder in ihrer Reihenfolge verändert sein. Diese kleineren Veränderungen können durch Sequenzieren der einzelnen DNA-Stränge dargestellt werden. Dies führt bei 75 – 80 Prozent der Fälle zu einer „molekularen“ Diagnose.
Es gibt aber auch krankheitsassoziierte DNA-Veränderungen, die so große Bereiche des Gens betreffen, dass sie mit der herkömmlichen Methode des Sequenzzierens nicht nachweisbar sind. In diesen
Fällen sind dann ein oder mehrere Exons deletiert, d.h. diese gesamten Genabschnitte sind verloren
gegangen. Exons sind Abschnitte eines Gens, die die strukturelle Einheit für die Übersetzung der genetischen Information in die Proteinsequenz darstellen; beim VHL Gen sind dies drei Exons mit insgesamt 639 einzelnen Bausteinen, den Basenpaaren, bzw. Nukleotiden (siehe Abbildung).
MPL Analyse:
Intragenische Deletion
Exon 3
Exon 1
Exon 2
Exon 1
Exon 3
Bei circa 75 - 80 Prozent der VHL Betroffenen kann der genetische Defekt mit der standardisierten
Gesamtsequenzzierung entdeckt werden. Zur Detektion der restlichen Mutationen stehen heute entweder die Southern-Blot Technik oder die Fluoreszenz in situ Hybridisierung (FISH) zur Verfügung.
Beides sind technisch aufwendige Verfahren, die in vielen Laboren nicht routinemäßig zur Verfügung
stehen. Da durch technische Limitationen auch diese beiden Verfahren nicht jede größere intragenische Deletion aufdecken können, wurde in den Laboren des Humangenetischen Zentrums Ingelheim,
Bioscienitia Institut für medizinische Diagnostik ein erst kürzlich in die Gendiagnostik eingeführtes
Verfahren auf die VHL Diagnostik übertragen und erstmals in Deutschland erfolgreich angewandt.
Probe mit Exon 3 Deletion
Probe ohne Deletionen (Kontrolle)
exon 2
exon 1
G
G
C
C
C/T
T
G
A
exon 3
A
Sequenzanalyse:
Punktmutation
Abbildung : Punktmutation und intragenische Deletion
Schematische Darstellung der Genstruktur des VHL-Tumorsuppressors.
Im unteren Bildabschnitt ist der Nachweis einer Punktmutation mittels Sequenzierung mit einem ABI Sequenziergerät dargestellt. Es handelt sich um eine C/T Substitution auf einem Allel, das bedeutet das ein Nukleotid C gegen ein Nukleotid T
ausgetauscht wurde.
Im oberen Abschnitt ist eine größere „intragenische“ Deletion mittels MLPA (multiplex ligase polymerase analysis) dargestellt. Im angegebenen Beispiel sind in einem der beiden VHL Allele das Exons 3 verloren gegangen (siehe Pfeile).
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Diese sogenannte MLPA Untersuchung (MLPA = Multiplex Ligation-dependent Probe Amplification)
wurde im Bioscientia Labor bisher bei der Untersuchung des genetisch bedingten Brustkrebs' eingesetzt. In den letzten zwei Monaten wurden nun mit der MLPA auch VHL Familien untersucht (Dr. G.
Wildhardt / Dr. U. Lentes). Bei mindestens 6 von 18 Familien, bei denen es bisher nicht möglich war,
den VHL Gendefekt molekulargenetisch nachzuweisen, wurde so eine größere intragenische Deletion
sicher nachgewiesen. So wurde es möglich, Mutationsträger vor dem Auftreten von Symptomen als
solche zu identifizieren. Das Zentrum für Humangenetik Ingelheim des Bioscientia Institutes bietet
diesen Test jetzt als Teil seiner Routinediagnostik beim VHL Syndrom für solche Personen an, bei
denen die Gesamtsequenzierung keine Mutation detektieren konnte. Da die Gesamtsequenzierung
aber methodisch-bedingt die höhere Detektionsrate insgesamt aufweist, ist sie unverändert der Goldstandard und wird als erste Stufe einer molekluargenetischen Testung gesehen. Das hier beschriebene neue Verfahren ersetzt die etablierten Methoden daher nicht, stellt aber eine sehr effektive Erweiterung der uns heute zur Verfügung stehenden Untersuchungsverfahren dar.
Interessierte Familien können sich direkt an Herrn Prof. Decker und seine Mitarbeiter wenden:
Zentrum für Humangenetik Ingelheim, Bioscientia Institut,
Konrad Adenauer Strasse 17, 55218 Ingelheim,
Tel.: 06132-781411; Email: [email protected] oder [email protected]
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Feb./2003; Heft 1; Jahrgang 4
Genetische Beratung bzw. genetische Sprechstunde
Wann ist sie angezeigt, wie geht sie vonstatten?
von Frau Dr. L. Neumann Charité Campus Virchow
Uns suchen Erwachsene auf, die Krankheitssymptome haben und wissen möchten, ob sie diese an
eigene Kinder vererben können. Weiterhin kommen zu uns Paare mit Kinderwunsch und Eltern, die
wissen wollen, welche Diagnose bei ihrem Kind vorliegt, ob sie ein Wiederholungsrisiko für weitere
Kinder haben.
Wir beraten alle Paare mit Kinderwunsch über das allgemeine Basisrisiko:
Allgemeines Basisrisiko 4 %
Vier von 100 neugeborenen Kindern werden mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen geboren. Dieses Kollektiv setzt sich zusammen aus 6 auf 1000 Neugeborene mit einer Chromosomenstörung, 1 von 100 mit einer neuen genetischen Mutation und 2,4 von 100 mit einer Fehlbildung multifaktorieller Ursache (d.h. genetische und Umweltfaktoren spielen eine Rolle).
Da sich ca. 75 % der genetischen Erkrankungen im Kindesalter manifestieren kommen in unsere genetische Beratung überwiegend Eltern mit Kindern, die eine oder eine Kombination von Fehlbildungen aufweisen, die somit äußerlich sichtbar sind. Diese sind entweder von einem Elternteil ererbt oder neu aufgetreten. Dann kann diese durch eine neue Genveränderung entstanden sein, eine
sogenannte Neumutation, die in dem Moment entsteht in dem Ei- und Samenzelle zusammentreffen.
Die Fehlbildung kann jedoch auch multifaktoriell bedingt sein wie zum Beispiel ein Herzfehler. Hierbei
wirken genetische Faktoren und Umweltfaktoren zusammen.
Bzgl. Chromosomenveränderungen: der Mensch hat 46 Chromosomen (2 Geschlechtschromosomen und 22 Autosomenpaare), die paarweise bei uns vorliegen. Insbesondere bei
erhöhtem mütterlichen Alter sprechen wir über die erhöhte Wahrscheinlichkeit von Down-Syndrom,
Trisomie-21-Syndrom, Mongolismus, hierbei liegt ein drittes überzähliges Chromosom 21 vor.
Der Mensch hat ca. 30 000 Gene auf seinen Chromosomen. Ein verändertes Gen kann zu einer Erkrankung führen.
Wenn in einer Familie Krankheitsbilder vorhanden sind ist zu fragen, ob diese eine genetische Ursache haben wie zum Beispiel Cystennieren. Es gibt Cystennieren, die dem autosomal dominanten
Erbgang folgen und solche, die dem autosomal rezessiven Erbgang folgen. Autosomal bedeutet,
daß das veränderte Gen auf einem Körperchromosom liegt im Gegensatz zu den Geschlechtschromosomen. Bei autosomal dominanten Erkrankungen wird die Erkrankung zu 50 % an
Kinder vererbt unabhängig von Geschlecht und Geschwisterfolge. Das von Hippel-Lindau Syndrom ist
ebenfalls ein Beispiel für eine autosomal dominante Erkrankung. Bei autosomal rezessiven Erkrankungen wird die Erkrankung zu 25 % an Kinder vererbt unabhängig von Geschlecht und Geschwisterfolge, beide Eltern tragen die Anlage. Die Eltern sind hier in der Regel gesund. Die Krankheit prägt
sich hier nur aus wenn die kranken Anlagen zusammen kommen. Viele ange-borene Stoffwechselerkrankungen folgen diesem Erbgang.
Bei X-gebundenen rezessiven Erkrankungen wie zum Beispiel der Hämophilie wird die Erkrankung
von gesunden Trägerinnen (Mütter) auf 50 % der Jungen vererbt, die erkranken, 50% der Mädchen
werden gesunde Trägerinnen sein.
Wenn Patienten sich bei uns anmelden, die verschiedene Krankheitssymptome aufweisen, wissen wir
oft noch nicht um welche Diagnose es sich handelt. Sehr häufig gilt es diese erst herauszufinden.
Wir untersuchen Kinder und Erwachsene, klären über das jeweilige Krankheitsbild auf, besprechen die
jeweilige Vererbung. Weiterhin beraten wir über Vorsorgemaßnahmen, Untersuchungsprogramme,
Therapiemöglichkeiten soweit vorhanden. Wir vereinbaren bei Bedarf mit den Patienten einen Wiedervorstellungstermin.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Nicht erbliche Fehlbildungen können z.B. durch eine Medikamenteneinnahme in der Schwangerschaft entstehen oder auch durch Infektionen in der Schwangerschaft.
Medikamente in der Schwangerschaft
Andere Fehlbildungen sind durch eine Medikamenteneinnahme der Mutter in der Schwangerschaft
bedingt wie zum Beispiel durch Marcumar (Gesichtsauffälligkeiten, Skelettauffälligkeiten, mentale Behinderung in einem Teil der Patienten) oder Vitamin A (Retinoide), die bei Aknebehandlung angewendet werden und zu Gesichts- Hirn- und Herzfehlern führen können. Auch Antiepileptika können zu
Gesichts, Skelett- und inneren Fehlbildungen führen. Contergan (Thalidomid) hat zwischen 1958 und
1963 zu zahlreichen verschiedenen Fehlbildungen besonders im Bereich Der Extremitäten geführt.
Es ist seitdem nicht mehr auf unserem Markt.
Infektionen in der Schwangerschaft, die zu Fehlbildungen führen können sind Röteln und Windpocken
Auch Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes mellitus insbesondere, wenn er schlecht eingestellt ist
kann zu einem großen Spektrum von Fehlbildungen führen. Auch ein exzessiver Alkoholgenuss in der
Schwangerschaft führt zu Fehlbildungen und zu geistigen Behinderungen.
Weiterhin stellen uns Eltern Kinder vor, die allein in ihrer geistigen Entwicklung zurück sind. Dies kann
auf dem Boden einer Chromosomenveränderung möglich sein oder auf Grund eines Fragilen XSyndromes, einer Störung, die molekulargenetisch untersucht werden kann. Darüber hinaus gibt es
eine Vielzahl von bisher nicht identifizierbaren angeborenen Behinderungen und natürlich auch solchen, die nicht erblich bedingt sind.
Frau Dr. Luitgard Neumann
Genetische Beratungsstelle
Institut für Humangenetik
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Tel (0049)(030)450-56 60 83 / 450--566042
Telefax:(030)450 - 56 69 61
E-mail: [email protected]
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VON HIPPEL-LINDAU ERKRANKUNG - Leitfaden für Patienten und Ärzte Hrsg. Verein für von der Hippel - Lindau (VHL) Erkrankung betroffene Familien
e.V., Nov. 2002
Autor: Prof. Dr. H. Neumann, Medizinische Universitätsklinik Freiburg
Beitrag: Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Allgemeines zum Erbgang
Die Von Hippel-Lindau Erkrankung ist eine Erbkrankheit. Der Erbgang ist, wie wir sagen, "autosomaldominant". Dies ist so zu verstehen:
Es wird nur die Veranlagung zu der Erkrankung vererbt.
Autosomal heißt, dass die Anlage zu dieser Erkrankung nicht auf den Geschlechtschromosomen
sondern auf den Körper - Chromosomen, den sog. Autosomen, liegt. Beide Geschlechter, Männer
und Frauen, sind gleich häufig betroffen.
Jeder Mensch erhält seine Anlagen (Gene) von Vater und Mutter, d. h. er besitzt jedes Gen zweimal,
somit auch das VHL-Gen. Wenn eines dieser beiden VHL-Gene nicht normal ist, bezeichnen wir dies
als Mutation; wir sagen auch vereinfacht "er/sie ist Genträger" und meinen damit nur das nichtnormale Gen. Personen, die ein verändertes VHL-Gen haben, erkranken mit hoher Wahrscheinlichkeit. Dies nennt man "dominant"; im Gegensatz dazu gibt es andere, sogenannte "rezessive" Erbkrankheiten, die nur auftreten, wenn beide Gene ab Geburt verändert sind. Von der Von HippelLindau Erkrankung wissen wir heute jedoch, dass nicht alle Genträger erkranken. Die Wahrscheinlichkeit zu erkranken nennen wir Penetranz; diese wird zur Zeit intensiv erforscht. Für einige Familien
können wir bereits genauere Angaben machen. Insgesamt ist die Penetranz hoch, d. h. die Wahrscheinlichkeit, in irgendeiner Form Veränderungen zu entwickeln, ist groß.
Formen von Mutationen
Unter molekulargenetischer Diagnostik verstehen wir bei der Von Hippel-Lindau Erkrankung die Untersuchung des VHL-Gens im Blut. Hierdurch soll festgestellt werden, ob eine Person Anlageträger ist
oder nicht.
Hierzu ein paar Erläuterungen: Weil die Gene auf den Chromosomen liegen, benötigt man zur Untersuchung Zellen, die Chromosomen enthalten; das sind z. B. die weißen Blutkörperchen. Die Chromosomen bestehen im wesentlichen aus der sog. Desoxyribonukleinsäure, englisch "desoxyribonucleic
acid" oder abgekürzt "DNA". Deshalb wird bei der molekulargenetischen Diagnostik aus dem Blut der
betroffenen Patienten zuerst eine DNA-Isolierung durchgeführt. Danach wird der VHL-Bereich in verschiedenen Teilschritten herausgeschnitten und mit speziellen Methoden untersucht. Die DNA besteht aus einer Kette von hintereinanderliegenden Gliedern, den sog. Nukleotiden.
Jedes Nukleotid besteht aus einer von vier verschiedenen Basen (Tabelle 1) und einem Zuckerrest.
Mit der molekulargenetischen Diagnostik soll geprüft werden, ob die Abfolge der Basen des VHLGens normal oder verändert ist.
Mutationen, d. h. Veränderungen des VHL-Gens, können sehr verschieden sein:
Es kann eine Base gegen eine andere ausgetauscht sein; das ist eine sog. "Punktmutation". Dazu
setzen wir die Nummer ein, die diese Base hat, und fügen abgekürzt hinzu die normale und die veränderte Base. So bedeutet z. B. VHL c. 505 T/C, dass im Nukleotid 505 die normalerweise vorhandene Base T = Thymin durch C = Cytosin ersetzt ist (vgl. Tabelle 1). Solche Punktmutationen können
unterschiedliche Auswirkungen haben:
Entweder wird im VHL-Eiweiss eine Aminosäure durch eine andere ersetzt, was man MissenseMutation nennt.
Der Basenaustausch kann aber auch zu einem sog. Stop-Codon führen, dann entsteht ein verkürztes
VHL-Eiweiss.
Es können Teile des Gens fehlen; das nennen wir Deletion. Deletionen können sehr klein sein, z. B.
nur eine oder mehrere Nukleotide betreffen; es können aber auch größere Teile oder das ganze Gen
fehlen.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Basen der Nukleotide:
Adenin
Guanin
Thymin
Cytosin
A
G
T
C
Codons bestehend aus 3 Nukleotiden und entsprechende Aminosäuren (einbuchstabiger und dreibuchstabiger Code):
Codon
GCG, GCT, GCA, GCC
TGT, TGC
GAC, GAT
GAG
TTG, TTT
GGA, GGC, GGG, GGT
CAC, CAT
ATA, ATC, ATT
AAA, AAG
CTA, CTC, CTG, CTT, TTA, TTG
ATG
AAC, AAT
CCA, CCT, CCC, CCG
CAA, CAG
AGA, AGG, CGA, CGC, CGG, CGT
TCA, TCC, TCG, TCT, AGC, AGT
ACA, ACT, ACC, ACA
GTA, GTC, GTG, GTT
TGG
TAC, TAT
TAA, TAG, TGA
Aminosäuren
Alanin
A
Cystein
C
Asparaginsäure
D
Glutaminsäure
E
Phenylalanin
F
Glycin
G
Histidin
H
Isoleucin
I
Lysin
K
Leucin
L
Methionin
M
Asparagin
N
Prolin
P
Glutamin
Q
Arginin
R
Serin
S
Threonin
T
Valin
V
Tryptophan
W
Tyrosin
Y
Stop-Codon
X
Ala
Cys
Asp
Glu
Phe
Gly
His
Ile
Lys
Leu
Met
Asn
Pro
Gln
Arg
Ser
Thr
Val
Trp
Tyr
Tabelle 1:
Abkürzungen, die bei Mutationsbefunden Verwendung finden
Es können zwischen zwei Nukleotiden eine oder mehrere Nukleotide neu eingesetzt sein; das nennen
wir Insertionen. Es können Teile des Gens an einer Stelle fehlen, aber an einer anderen Stelle wieder
eingefügt sein; das nennen wir Rearrangements.
Bis heute kennen wir etwa 400 verschiedene VHL-Mutationen. Diese können wir meistens bei weiteren Verwandten, insbesondere den Eltern, auch finden. Wenn bei keinem der beiden Elternteile die
Mutation nachweisbar ist, spricht man von einer Neumutation.
Neumutationen können sich in der Eizelle oder der Samenzelle, aber auch nach der Befruchtung in
einem der Zellteilungsstadien ereignen. In letzterem Fall hat nur ein Teil der Zellen des betroffenen
Menschen das veränderte VHL – Gen; dies nennt man ein Mosaik. Solche Personen zeigen häufig
eine schwache Ausprägung der VHL – Erkrankung.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Molekulargenetische Diagnostik
Warum ist die molekulargenetische Diagnostik wichtig?
Die Antwort besteht aus drei Teilen:
Mit dem Nachweis einer Mutation im VHL-Gen wird die Diagnose Von Hippel-Lindau Erkrankung auf
molekulargenetischer Basis bestätigt und damit abgesichert. Hierdurch können wir insbesondere untypische Erkrankungsformen der Von Hippel-Lindau Erkrankung richtig zuordnen. Weiterhin ist der
Nachweis die Voraussetzung für die folgenden zwei Aspekte.
Wenn wir die jeweils vorliegende Mutation kennen, können wir bei Verwandten, d. h. Eltern, Geschwistern oder Kindern, aber auch bei weiter entfernten Blutsverwandten, anhand einer Blutprobe
untersuchen, ob sie Genträger sind oder nicht. Dies ist wichtig, weil bei neu entdeckten Genträgern
gezielt weitere klinische Untersuchungen durchgeführt werden können. Personen, die nicht Genträger
sind, können nicht die Von Hippel-Lindau Erkrankung entwickeln und benötigen daher auch keine
weiteren klinischen Untersuchungen. Solche Personen können die Anlage zu der Erkrankung auch
nicht weitervererben. Deshalb brauchen bei Kindern von Nicht-Genträgern keinerlei Untersuchungen
durchgeführt werden.
Es hat sich gezeigt, dass die Ausprägung der Von Hippel-Lindau Erkrankung bei Trägern unterschiedlicher Mutationen sehr verschieden sein kann. Dies nennt man auch Genotyp-Phänotyp Korrelation, was sagen will, dass oder ob eine spezielle Mutation zu einem ganz speziellen Erscheinungsbild der Erkrankung führt. Anzumerken ist aber auch, dass bei Trägern derselben Mutation die Veränderungen deutlich verschieden sein können hinsichtlich Erkrankungsalter und Schwere. Leider gibt es
so viele Mutationen, dass für eine einzelne Mutation oft nur wenige Personen gut untersucht sind; daher sind Aussagen über die Auswirkungen einer speziellen Mutation oft schwierig und können speziell
Voraussagen hinsichtlich zu erwartendem Erkrankungsalter, Erkrankungsschwere und Organspektrum häufig nicht gemacht werden.
Bei der Durchführung der molekulargenetischen Testung müssen wichtige Gesichtspunkte berücksichtigt werden. Dies gilt speziell für Angehörige von VHL-Patienten, die sich gesund fühlen.
Eine Testung sollte nur erfolgen, wenn eine umfassende Beratung vorausgegangen ist. Eine solche
Beratung kann ein Arzt übernehmen, der sich mit der Von Hippel-Lindau Erkrankung ausführlich auseinandergesetzt hat. Es sollte ein Facharzt für Humangenetik beteiligt sein. In jedem Falle muss gewährleistet sein, dass die Testung freiwillig erfolgt.
Sorgfältig ist zu erwägen, dass die Mitteilung einer neu entdeckten Anlageträgerschaft eine große Belastung für die jeweilige Person sein kann. Aus diesem Grunde wurden 1998 von der Bundesärztekammer "Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen" herausgegeben. Die Durchführung der genetischen Testung sollte sich eng an diese Richtlinien anlehnen. Speziell ist von größter Bedeutung, dass das sogenannte "Recht auf Nichtwissen" zu respektieren ist.
Aus ärztlicher Sicht steht allerdings die Prävention, d. h. das vorbeugende, vermeidende Handeln im
Zentrum. So hat bei den vielen, oft schwierigen Aufklärungsgesprächen immer überzeugt, dass dem
Arzt Vorwürfe gemacht werden könnten, wenn nach Eintritt schwerer Komplikationen bekannt würde,
dass er von diesen Gefahren Kenntnis hatte. In Anbetracht der sehr guten Behandlungsmöglichkeiten
kann deshalb kein Zweifel sein, dass die Gen-Diagnostik bei der Von Hippel-Lindau Erkrankung zu
empfehlen ist.
Zweifellos ist wichtig, dass VHL-Patienten und VHL-Familien gerade nach Aufklärungsgesprächen,
aber auch langfristig, Rückhalt und Absicherung brauchen. Große Erfahrung und gute psychologische
Betreuung von seiten eines VHL-Zentrums sind in diesem Zusammenhang von größter Bedeutung.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Nov./2002; Heft 4; Jahrgang 3
Das VHL-Protein
von PD Dr. Hiltrud Brauch, Dr. Margarete Fischer Bosch Institut für Klinische
Pharmakologie Stuttgart
Menschen die an der VHL-Erkrankung leiden, entwickeln diese Erkrankung auf der Grundlage einer
erblichen Veranlagung im VHL-Gen. Diese kann mit Hilfe genetischer Untersuchungen an einer Blutprobe festgestellt werden, so dass heute viele Patienten ihre familienspezifische Mutation kennen.
Mutationen werden mit einem gemischten Zahlen-Buchstabenkürzel angegeben, wie z.B. 421G>T,
440 delTCT, 505C>T, 575A>G, 620T>G oder 713G>A, die zum einen die Position und zum anderen
die Art der Veränderung im Gen angeben. Tatsächlich können fast alle der 639 VHL-Genbausteine
und ihre angrenzenden Nachbarn betroffen sein, was den individuellen Ursprung und die verschiedenen Ausprägungen der Erkrankung unterstreichen. Inzwischen haben Patienten und ihre betroffenen
Familien sowie Ärzte und Wissenschaftler gelernt, dass so gut wie jede Veränderung des VHL-Gens
die Erkrankung auslöst.
In den letzten Jahren galt das Interesse den genetischen Untersuchungen, die die Früherkennung
ermöglichten und so Gewissheit bei der Diagnose VHL schaffen können. Dieses Verdienst geht vor
allem auf die beiden amerikanischen Ärzte und Wissenschaftler Dr. Michael Isaac Lerman and Dr.
Berton Zbar vom US-Nationalen Krebsforschungsinstitut zurück, die sich seit Mitte der achtziger Jahre intensiv mit der Erforschung der molekularen Ursachen der VHL-Erkrankung befassten und denen
1993 die Entdeckung und Charakterisierung des VHL-Gens gelang. Damit schufen sie die Grundlage
für eine bessere Versorgung für VHL-Patienten und ihre betroffenen Familien. Eine Heilung gibt es
aber immer noch nicht, denn mit der Identifizierung des VHL-Gens war zwar die Ursache der VHL-Erkrankung (der Genotyp) aufgedeckt worden, die konkreten Zusammenhänge und die Auslöser der
gestörten physiologischen Abläufe in den Zellen der betroffenen Organe blieben jedoch weiterhin unklar.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum man sich zunächst überhaupt mit der Suche
nach dem VHL-Gen befasste und sich nicht direkt mit der Pathophysiologie der Erkrankung, d.h. der
ihr zugrunde liegenden spezifischen gestörten biologischen Funktion beschäftigte. Warum war dieser
Weg aussichtslos und warum konnte er nicht beschritten werden? Schließlich gelang doch auch lange zuvor die Aufklärung des Zusammenhangs zwischen der Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) und
dem Mangel an Körper-eigenem Insulin, das man heute im Rahmen der Therapie ersetzen kann. Die
enttäuschende Antwort ist, dass trotz intensiver Bemühungen, selbst über Jahrzehnte hinweg, in der
Medizin nur wenige krankheitsverursachende Wirk- bzw. Eiweißmoleküle (Protein) identifiziert werden
konnten. Ein Grund dafür ist, dass für eine biologische Funktion das Zusammenspiel vieler verschiedener Proteine erforderlich ist, und daher eine Sortierung und Zuordnung im Zuge der Aufklärung der
Zusammenhänge kaum möglich ist. Zbar und Lerman machten aus dieser Not eine Tugend, indem
sie den Zugang zur Lösung des Rätsels um die VHL-Erkrankung auf die Ebene des Genoms verlagerten. Als erfahrene Biochemiker und Molekulargenetiker erkannten sie die neuen Möglichkeiten
der Genomforschung und die Aussagekraft moderner Technologien bei der Zuordnung von Krankheiten und Genen. Letztere sind zwar nicht die „Macher“ biologischer Prozesse, jedoch speichern sie
die komplette Information darüber. Für die spätere Aufklärung der funktionellen Zusammenhänge bei
der VHL-Erkrankung war die Identifizierung des VHL-Gens somit zwingend notwendig. Es war von
Anfang an aber auch klar, dass das VHL-Gen nur eine Zwischenetappe auf dem Weg zur Identifizierung der funktionellen VHL-Störung(en) und ihrer Therapie sein würde.
Wie kommt man nun vom Gen zum Eiweißmolekül, dem Protein? Als molekulare Speicher biologischer Informationen stellen Gene mit ihren vier verschiedenen Bausteinen G, A, C, T (Guanin = G,
Adenin = A, Cytosin = C, Thymin = T) die Bauanleitungen für Größe, Zusammensetzung und Aussehen von Eiweißmolekülen dar. Jeweils drei genetische Bausteine (Nukleotide) bilden gemäß biologischer Grundregeln den genetischen Code für eine Aminosäure. Z.B. codiert das Triplett GCA für die
Aminosäure Alanin und das Triplett CGA für die Aminosäure Arginin. Bei vier Nukleotiden gibt es
theoretisch 34, d.h. 81 verschiedene Aminosäure Codes, praktisch beschränkt sich die Natur aber auf
nur 20 Aminosäuren als Grundbausteine aller Eiweißmoleküle. Die Aminosäuresequenz des VHL-
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Proteins wird somit direkt von der VHL-Gensequenz bestimmt und kann anhand des genetischen
Codes in die 213 umfassenden Aminosäuren übersetzt werden. Kennt man also eine Gensequenz,
so kennt „automatisch“ auch die Proteinsequenz.
Proteine dürfen jedoch nicht ausschließlich als lineare Anordnung von Aminosäuren, d.h. wie Perlen
auf einer Schnur, betrachtet werden. Da jede Aminosäuren ganz eigene und von einander verschiedene physikalische und chemische Eigenschaften besitzt, erzwingt die Aminosäuresequenz eine für
jedes Protein charakteristische räumliche Struktur, die seine spezifische Funktion wesentlich mitbestimmt. Die Aufklärung der VHL-Proteinstruktur, d. h. die molekulare Darstellung als Röntgenstruktur,
gelang schon fünf Jahre nach der Identifizierung des Gens durch die amerikanische Arbeitsgruppe
um Nikola Pavletich. Die Röntgenstrukturmessdaten wurden im Computer in die eigentlichen Proteingrundstrukturen umgewandelt. So wissen wir heute, dass das VHL-Protein aus sogenannten Spiralen- (-helikale Struktur) und Schichten (-Faltblatt-Struktur)-Strukturen besteht. Die Aufklärung
dreidimensionaler Proteinstrukturen gehört zu den ersten und schwierigsten Aufgaben in der Proteinchemie. Erst sie bringen richtungsweisende und verlässliche Hinweise auf die biologische Funktion
eines Proteinmoleküls.
hCUL-2
Elongin B

Elongin C

RBX-1
UBC
pVHL
Proteasome
HIF
stabil
abgebaut
O2
Abbildung: Schematische Darstellung des VHL-Proteins pVHL als Adatormolekül beim kontrollierten Proteinabbau. pVHLbindet über seine -Region das Beutemolekül HIF und verknüpft es über seine -Region mit
einer Reihe anderer Faktoren (Elongin C, B, Cul2, Rbx) mit dem Ubiquitinligasesystem und dem 26S Proteasom, das als zellulärer Mülleimer das gefangene HIF zerkleinert, d. h. zerstört. In der normalen Zelle ist dieses
Gleichgewicht vom Sauerstoffpartialdruck O2 der Zelle abhängig. Eine VHL Mutation immitiert wenig O 2 und
verschiebt dieses Gleichgewicht nach links. In der Folge wird mehr HIF gebildet aber nicht mehr abgebaut und
es entstehen gefäßreiche Tumoren. (Abbildung modifiziert nach William G. Kaelin jr. 1999; Nature 399: 203204)
Das VHL-Protein besitzt zwei Spiralen- und zwei Schichtenstrukturen, die ihm ähnlich einem Puzzlebaustein Buchten und Ausstülpungen verleihen. Es kann damit als Brücke zwischen anderen Puzzlebausteinen, d.h. Proteinen dienen. Man sagt auch, dass es als Verbindungsstück oder Adaptormolekül in einer Kette bzw. Funktionsreihe von Proteinen fungiert. Nach der einen Seite hin kann
es „Beutemoleküle“ binden, um sie durch den Kontakt über die andere Seite hin mit einem biologischen Entsorgungssystem (Ubiquitin-Ligasesystem) zu verknüpfen. Dieses „Binden“ und „Ver-
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
knüpfen“ entspricht einem selektiven Markierungs- und Verarbeitungsprozess, an dessen Ende die
kontrollierte Zerstörung des Beutemoleküls steht. In Analogie könnte man sagen, das VHL Protein
arbeitet wie ein „Müllmann“ der „Abfall oder Überflüssiges“ aufliest und es in eine dafür vorgesehene
Mülltonne (26S Proteasom) wirft.
Wer oder was sind die Beute- bzw. Zielmoleküle und was versteht man unter ihrer zellulären Entsorgung? Die am besten untersuchten Beutemoleküle sind die sogenannten HIF (hypoxia inducible factors = durch Sauerstoffmangel induzierbare Faktoren). Sie kurbeln die Transkription, d.h. die Übersetzung einer genetischen Information in ein Protein an, z.B. der eines Faktors für die Gefäßneubildung, dem sogenannten vaskulären endothelialen Wachstumsfaktors (VEGF). Normalerweise wird
VEGF benötigt, wenn ein Gewebe durch mangelnde Blutversorgung in Sauerstoffnot (Hypoxie) gerät.
Als Reaktion darauf bildet das Gewebe vermehrt HIF und daraufhin mehr VEGF. Dieses wiederum
regt die Gefäßneubildung an, verbessert die Durchblutung und damit die Sauerstoffversorgung. Doch
Vorsicht! Wird zuviel HIF gebildet, droht ein Überwuchern der Blutgefäße. Hier muß es also einen
feinabgestimmten Regelprozess geben, der überschüssiges HIF neutralisiert bzw. aus dem Verkehr
zieht. Genau hier greift das VHL-Protein ein. Bei Überschuß von HIF bindet es dieses und führt es
der zelluläre Entsorgung zu, allerdings nur dann, wenn es als VHL-Protein intakt und unbeschadet ist.
Ist das VHL-Protein aber auf der Grundlage einer Genmutation gestört, so kann es diese wichtige
Funktion nicht mehr wahrnehmen und es kommt zur Unterbrechung oder gar dem Zusammenbruch
dieses fein abgestimmten Regelprozesses. Die Folgen dieser Störung sind vergleichbar mit dem eines Sauerstoffmangels (Hypoxie) im Gewebe, daher sagt man auch, dass VHL-Mutationen eine Hypoxie nachahmen können. Macht man sich diesen Zusammenhang klar, so erklärt sich der Gefäßreichtum vieler VHL-Tumoren wie z.B. der von retinalen Angiomen oder der von Hämangioblastomen
des zentralen Nervensystems, aber auch der von Nierenzellkarzinomen.
Ausführliche Informationen über spezifische Störungen erhofft man sich jetzt von der Lokalisation und
der Art einzelner VHL-Mutationen. Dabei ist von Interesse wie und ob sich die VHL-Krankheitsbilder
(Phänotypen) in Abhängigkeit von der Position der Mutation im Gen (Genotyp) ändern, denn die Lage
der Mutation bestimmt, welcher Proteinabschnitt, d. h. welche Proteinbindungsregion betroffen bzw.
eingeschränkt sein wird. Darüberhinaus stellen sich weitere Fragen, z.B. welche VHL-Krankheitsbilder entstehen, wenn eine Mutation innerhalb der Bindungsregion zum Beutemolekül HIF liegt, oder
welche Krankheitsbilder entstehen, wenn eine Mutation die Verknüpfung hin zum Entsorgungssystem
stört? Mehr noch, warum verursachen auch andere Mutationen, die nicht direkt in diesen Proteinbindungsstellen liegen, ebenfalls die VHL-Erkrankung? Noch vielschichtiger wird die Betrachtung, wenn
außer HIF noch andere Beutemoleküle in Betracht gezogen werden. Welche Regelkreise und biologische Funktionen werden durch sie gestört? Es gibt bereits eine Reihe von Hinweisen, dass es diese anderen Beutemoleküle gibt, Arbeiten zur ihrer Identifizierung sind derzeit in vollem Gange.
Betrachtet man nun die einzelnen für die betroffenen Familien spezifischen VHL-Mutationen, so stellt
sich die Frage nach der jeweiligen Proteinstörung und die Rückschlüsse die daraus für die VHLErkrankung gezogen werden können. Die eingangs erwähnten VHL-Mutationen werden wie folgt in
den Proteindefekt übersetzt. Die 505C>T Mutation verursacht auf Proteinebene eine His98Tyr Veränderung, d.h. die Aminosäure Histidin wird gegen ein Tyrosin in der Aminosäurenposition 98 ausgetauscht. Analog wird aus einer 713G>A Mutation eine Arg167Gln Proteinveränderung, d.h. es findet
ein Austausch der Aminosäure Arginin gegen ein Glutamin in der Aminosäureposition 167 statt.
Während die Aminosäure 98 im Bereich der HIF-Bindungsstelle liegt, liegt die Aminosäure 167 in der
Verknüpfungsregion hin zur Entsorgungseinheit. Interessanterweise verursachen beide Proteindefekte auf den ersten Blick einen ähnlichen VHL-Krankheitsphänotyp, nämlich häufige Phäochromozytome. Bei genauerer Betrachtungsweise unterscheiden sie sich jedoch in der Kombination mit anderen
Tumoren, d. h. hier kommen unterschiedliche molekularen Mechanismen mit Hinblick auf ihre gewebespezifischen Wirkung zum tragen. Dies bedeutet, dass es wahrscheinlich nicht dem Zufall unterliegt, welche Organe im Rahmen der VHL-Erkrankung betroffen sind, sondern dass der Phänotyp im
wesentlichen von der Gewebesensitivität der jeweiligen Mutation bestimmt wird. Diese Unterschiede
erfahren derzeit große Beachtung bei der Interpretation von VHL-Proteindefekten mit Hinblick auf die
möglichen beteiligten Interaktionspartner und ihren Einfluß auf die verschiedenen Organe. Die sogenannten Genotyp-Phänotyp-assoziierten Unterschiede sollen helfen, Antworten auf die noch offenen
Fragen nach den gestörten Regelkaskaden und den organspezifischen Folgeschäden zu finden. Um
auch hier die Komplexität zu vereinfachen, konzentrieren sich die Arbeiten derzeit auf „einfache“
Phänotypen, d.h. VHL-Erkrankungen mit dem hervorstechenden Merkmal eines bestimmten Tumors,
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
wie z.B. Phäochromzytomen. Ziel ist die Aufklärung aller VHL-Protein-Bindungspartner und der kompletten Zusammenhänge der Proteinfunktionskaskaden und ihrer Störung im Rahmen der VHLTumorentstehung. Die Entwicklung spezifischer und damit wirksamer Medikamente hängt von der
Kenntnis dieser Zusammenhänge entscheidend ab.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Nov./ 2001; Heft 4; Jahrgang 2
Zusammenfassung Vorträge Informationsveranstaltung Berlin 2001
Vortrag Frau Dr. L. Neumann, Kinderärztin und Humangenetikerin Genetische
Beratungsstelle, Institut für Humangenetik Charité Campus Virchow
Thema: Genetische Beratung bei VHL
Dr. Neumann, Kinderärztin und Humangenetikerin, arbeitet in der genetischen Beratung der Charite.
Seit vielen Jahren engagiert sie sich für verschiedene Selbsthilfegruppen; 1994 gab sie maßgebliche
Impulse für die Gründung einer Berliner VHL-Selbsthilfegruppe. Seit Gründung des Vereines ist sie
Mitglied des wissenschaftlichen Beirates.
Sie rekapitulierte wesentliche humangenetische Grundlagen der VHL-Erkrankung. Da im menschlichen Genom jedes einzelne Gen zweifach vorliegt, ist auch das VHL-Gen tragende Chromosom in
einer unveränderten und einer veränderten Variante vorhanden. Entscheidet sich ein Paar, von dem
ein Teil das defekte VHL-Gen hat, für ein Kind, so besteht eine 50%ige Chance, dass das defekte
Chromosom vererbt wird. Dieser Umstand legt eine möglichst frühe Testung des Kindes nahe. Es ist
ausgeschlossen, dass die Erbanlage eine Generation überspringt. Eine Genveränderung kann jedoch
auch durch eine Neumutation entstehen. Von einer Neumutation spricht man dann, wenn bei der betroffenen Person eine Keimbahnmutation nachgewiesen werden kann, beide Elternteile aber nicht
das defekte Gen haben.
Jüngere Untersuchungen haben gezeigt, dass auch bei der Elterngeneration der von Neumutation
betroffener in einigen wenigen Blut- oder Gewebezellen die Mutation nachgewiesen werden konnte.
Erklärt wird eine solche „Mosaik“ – Situation dadurch, dass die Mutation sich erst im Lauf der Embryogenese entwickelt. Während durch natürliche Zellteilung ein Teil der Körperzellen das unveränderte
Gen weitergibt, entsteht in einer Zelle ein verändertes Gen. Diese Zelle gibt an alle ihre Tochterzellen
diese Mutation weiter. Je nachdem zu welchem Zeitpunkt der Zellteilung diese Schädigung auftritt,
können unterschiedlich viele Organe betroffen sein. Je früher dieses eintritt, desto mehr Organe können geschädigt werden. Für die betroffene Person kann es zu einigen, zumeist leichten Symptomen
kommen. Wenn dieser Mosaikstatus auch die Keimzellen betrifft, kann die Mutation, die eventuell
auch in einigen Ei- oder Samenzellen vorliegt an Nachkommen weitergegeben werden. Diese Nachkommen hätten dann eine Keimbahnmutation wie die meisten und wären VHL Patienten. Dr.
Neumann folgerte daraus, es sei unabdingbar immer die Geschwister eines betroffenen bei genetischen Tests einzubeziehen. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ihre Eltern von einem
derartigen Mosaik betroffen sind. Erste Studien haben ergeben, dass vier bis fünf Prozent aller VHL
Betroffenen auf Mosaik zurückzuführen sind.
Dr. Neumann berichtete von den Bemühungen der Forschung, anhand der genauen Art der Genveränderung (Missense, Nonsense, Deletion, Insertion) die Ausprägung der Erkrankung zu bestimmen.
Im einzelnen zeichnet sich die Möglichkeit ab, abhängig vom Typ der Mutation den Typ der Erkrankung zu bestimmen, also welche Organe betroffen sind. Der VHL Typ I ist der mit achtzig Prozent am
häufigsten auftretende Typ, er unterscheidet sich von Typ II dadurch, dass keine Phäochromozytome
vorkommen. Typ II wird in die Untertypen a, b und c unterschieden. Bei Typ IIa treten zwar
Phäochromozytome auf, aber kein Nierenkarzinom. Bei Typ IIb kann das ganze Spektrum auftreten,
während bei Typ IIc nur Phäochromozytome auftreten.
Allerdings kann man hier noch keine sicheren Ergebnisse vorweisen, so dass ausdrücklich davor gewarnt wurde, die Kontrolluntersuchungen nur auf bestimmte Organe zu beschränken.
Ferner erklärte Frau Dr. Neumann die Zweischritttheorie, mit deren Hilfe Tumorwachstum erklärt wird.
Jedes Gen, so wird argumentiert, ist zweifach vorhanden. Damit in der Zelle ein Tumor entstehen
kann, müssen beide Allele geschädigt werden. Bei VHL-Betroffenen ist das eine schon von Geburt an
verändert. Wird im Laufe des Lebens auch das zweite von einer Veränderung betroffen, setzt danach
das Tumorwachstum ein. Viele Fragen richteten sich in der folgenden Diskussion darauf, was genau
diese „zweite Bremse“ lösen kann, den zweiten Schritt verursachen kann? Leider liegen hierzu jedoch
noch keine fundierten Ergebnisse vor. Der Humangenetiker Dr. Decker merkte an, dass Anhaltspunkte vorliegen, Rauchen wirke beim VHL-Gen verändernd. Allerdings beruht diese These auf kleinen
Fallzahlen, Studien liegen dazu noch nicht vor.
Prof. Neumann rief den Betroffenen ins Gedächtnis, dass das Wachstum für jeden einzelnen Tumor
separat gesteuert würde. Bevor es zum Wachstum kommt, müsse also für jeden einzelnen Tumor individuell die zweite Bremse gelöst werden.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Abschließend erklärte Dr. Neumann, der Rückschluss von der Art der Mutation auf die Art der Symptome sei noch zu unsicher. Es sei nicht möglich, nur ein Schlüsselsymptom zu untersuchen und andere zu vernachlässigen. Dr. Decker ergänzte, die Realität sei viel komplexer als die vier Mutationstypen vermuten lassen.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Aug./ 2001; Heft 3;Jahrgang 2
Grundsätzliches zu Gentests
PD Dr. med. H. Jochen Decker
Soll ich einen Gentest machen ?
Das letzte Jahrzehnt hat eine enorme Erweiterung unseres molekulargenetischen Wissens erfahren.
Unser Verständnis von den menschlichen Genen und den genetischen Grundlagen von Krankheiten
ist sehr viel größer geworden. Gegenwärtig ist von mehr als 4.000 Krankheiten, wie z.B. der Mukoviszidose und dem von Hippel-Lindau Syndrom bekannt, daß sie genetisch bedingt sind und somit familiär vererbt werden können. Zudem ist mittlerweile bekannt, daß Genänderungen auch bei so verbreiteten Krankheiten wie Diabetes und vielen Krebsarten eine entscheidende Rolle spielen.
Die Identifizierung von krankheitsassoziierten Genen hat zu einer Zunahme der verfügbaren genetischen Testen geführt, die eine Krankheit bzw. das persönliche Krankheitsrisiko einer gesunden Person aufdecken. Damit setzen wir den Fuß in eine neue Epoche der Medizin: das Zeitalter der präventiven Medizin hat begonnen, noch schleichend aber begleitet von spektakulären Diskussion ob der
vermeidlichen Gefahren und Risiken.
Da die Anzahl von verfügbaren genetischen Testen steigt, wird die Verwendung und Interpretation
dieser Teste und die Information, die sie generieren, das Grundverständnis genetischer Prinzipien bei
der Entstehung von Krankheiten verbessern.
Wissenschaftler sind nicht nur darum besorgt, dass die angebotenen Genteste zuverlässig sind, sondern auch, dass Patienten und Gesundheits"anbieter" die Grenzen eines solchen Testes verstehen.
Eine nicht unerhebliche Gefahr bei der Anwendung von Gentesten liegt auch und gerade darin, dass
sie in ihrer Aussagekraft überschätzt werden. Das Testergebnis muss eindeutig sein, i.e. es muss klar
werden, ob ein vermehrtes Risiko vorliegt und wenn, wie hoch dies ist. Dazu ist es oft notwendig,
sorgfältig die beobachtete DNS- Sequenzvariation eindeutig als krankheitsassoziierte Mutation zu
identifizieren. Dies kann daduch geschehen, dass man in der Weltliteratur oder in den mittlerweile für
die meisten, auch für die selteneren Erkrankungen angelegten Mutationsdatenbanken einen vergleichbaren Fall aufzeigen kann, der eine identische Mutation aufzeigt, die gesichert krankheitsassoziiert ist. Die wachsende Zahl von in unserem Genom nachgewiesenen sogenannten Polymorphismen macht die Interpretation von DNS-Variabilitäten nicht einfach. Polymorphismen sind Normvarianten der DNS ohne Krankheitscharakter, i.e. sie müssen unbedingt von tatsächlich krankheitsassoziierten Mutationen auseinandergehalten werden. Wenn eben möglich sollte innerhalb der untersuchten
Familie mehrere Mitglieder untersucht werden, die eindeutig Symptome der Erkrankung aufweisen.
Findet sich in all diesen Patienten die gleiche Mutation, darf von einem "prädiktiven Wert" des Mutationsnachweises ausgegangen werden.
Wie entstehen Genmutationen?
Genmutationen können entweder von einem Elternteil ererbt werden oder während der Lebenszeit
durch verschiedenste Einflüsse entstehen. Für die Entstehunng der im von Hippel-Lindau Syndrom
auftretenden Symptomen, wie Tumoren sind nach dem klassischen Zwei-Treffer-Modell Mutationen in
beiden Bereichen notwendig. Einer ererbten VHL-Mutation muss eine somatische Mutation in der
entsprechenden Gewebezelle erfolgen.
Eine erbliche Mutation (hereditär) ist eine Genstörung, die in der DNS von praktisch allen Körperzellen zu finden ist. Erbliche Mutationen werden auch Keimbahnmutationen genannt, weil die Genänderung in den Fortpflanzungszellen (Keimzellen) vorkommt und von Generation zu Generation weitergegeben werden kann, von Elternteil zu Neugeborenen. Außerdem wird die Mutation jedes Mal kopiert, wenn sich Körperzellen während der normalen Entwicklung eines Individuums, das Träger der
Mutation ist, teilen.
Erworbene Mutationen, auch somatische Mutationen genannt, sind dagegen Änderungen in der DNS,
die während des Lebens einer Person erworben werden.
Im Gegensatz zu den erblichen Mutationen gehen somatische Mutationen der DNS aus einzelnen
Zellen hervor, die genetischen Fehler werden nur an direkte Nachkommen von jenen Zellen weitervererbt. Erworbene Mutationen können primär durch den Einfluß der Umwelt entstehen. Natürliche
Strahlung aus unserer Umwelt oder Toxinen aus unserer Nahrung in unserer Arbeitsumwelt und mutationserzeugende Viren wirken tagtäglich auf uns ein. Weltbekannt ist der Einfluß der Luftverschmutzung und des Rauchens auf die Häufigkeit von Mutationen, die zu Lungenkrebs führen können. Die
Beobachtung des Einflußes von Zigarettenrauch auf die Chromosomenstabilität ist für von Hippel-
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
Lindau Patienten von großer Bedeutung. Es konnte nachgewiesen werden, daß gerade der Teil des
kurzen Armes von Chromosom 3 nach Zigarettenrauchexposition vermehrt abreißt. Dies kann zu dem
notwendigen zweiten Ereignis führen, das ja im somatischen Bereich geschieht, nämlich die Inaktivierung des zweiten Allels des von Hippel-Lindau Gens durch den Verlust des verbliebenden normalen
Allels auf dem "gesunden" Chromosom in den entsprechenden Zielgeweben, die dann zur Tumorentstehung führen kann.
Mutationen können zu jeder Zeit in allen Zellen im Körper auftreten, wobei eindeutig die inneren
(Lunge und Darm) und äußeren Körperoberflächen (Haut) bevorzugt betroffen sind. Zudem gibt es
ein vermehrtes Auftreten der somatischen Mutationen in den Entgiftungsorganen, wie Leber und
Niere. Diese Mutationen entstehen durch die Exposition mit sogenannten mutagenen (mutationenerzeugenden) Substanzen. Somatische Mutationen sind allerdings auch oft das Ergebnis von Fehlern,
die während der Zellteilung entstehen, wenn die Zelle eine Kopie von sich selbst erstellt und sich in
zwei Zellen aufteilt. Eine der kompliziertesten Vervielfältigungen betrifft die fehlerfreie Selbstreduplikation der Steuerungsinformation, also der DNS. Die exakte Reihenfolge von drei Milliarden Basenpaare muß kopiert werden. Selbst, wenn sich nur alle 10 000 Basenpaare ein einziger kleiner Fehler einschleichen würde, könnte die Zelle dies nicht überleben ohne entsprechende Gegenmaßnahmen. Jede Zelle hat die bemerkenswerte Fähigkeit, DNS-Fehler zu erkennen und sie zu reparieren, bevor sie
sich teilt. Diese DNS-Reparaturmechanismen sind sehr ausgeklügelte, komplizierte Mechanismen,
die (1.) fehlschlagen können, (2.) durch andere Mechanismen geschädigt weren können. (3.) Es ist
ausserdem bekannt, daß dieser Mechanismus in seiner Effizienz im Alter deutlich nachläßt. Krebs ist
als Mutationsprodukt somit auch ein typisches Ergebnis des Alterns. Die lebenslang angehäufte
Wahrscheinlichkeit, eine für die Tumorentsstehung relevante Mutation zu erwerben, sowie die nachlassende Fähigkeit, sich durch angemessene Abwehrmechanismen zur Wehr zu setzen, prädisponieren den alten Menschen per se zur die Tumorentstehung.
Erbliche Mutationen werden in der DNS der Keimzellen weitergegeben. Wenn diese, eine Mutation
tragenden Zellen an den Nachwuchs weitergegeben wird, enthält jede sich im Embryo und später
während des Lebens durch Teilung entstehende Körperzelle, quasi als Hypothek für das ganze Leben, eine Mutation, die im Falle der von Hippel-Lindau Mutation alle sich aus der Keimzelle entwickelnden Körperzellen zur organspezifischen Entwicklung der VHL Symptome prädestiniert.
Worin liegt der Nutzen eines Gentestes ?
Genetische Tests können durchgeführt werden, um eine mögliche Prädisposition für eine Krankheit
zu suchen oder auch um einen Verdacht auf eine Mutation in einer Person oder Familie mit bereits
bekannter Erkrankung zu bestätigen.
Die am weitesten verbreitete Art des genetischen Tests ist die Untersuchung Neugeborener. Einige
Tests suchen nach anormalen Anordnungen der chemischen Basen im Gen selbst, während andere
Tests angeborene Stoffwechselstörungen (zum Beispiel Phenylketonurie) aufdecken, indem sie das
Fehlen eines Eiweißes, das die Zelle braucht, um normal zu funktionieren, nachweisen.
Teste, um festzustellen, ob jemand Träger einer Krankheit ist, können dazu eingesetzt werden, Paaren zu helfen, damit umzugehen, wenn einer von beiden Träger einer Mutation ist, die ernsthafte Erkrankungen erzeugt. Genetische Teste - biochemische, chromosomale und DNS-basierende - sind
häufig auch für die Pränataldiagnose von Erkrankungen wie das Down Syndrom verfügbar. Bei der
Entscheidung für einen pränatalen Test sollte im Vorfeld den beteiligten Eltern ganz klar geworden
sein, ob und wenn welche Konsequenz das pränatale Wissen um eine spezifische genetische Erkrankung haben kann. Da die wenigsten Eltern in dem Vorliegen einer von Hippel-Lindau Mutation im
Embryo einen Grund für eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft sehen, wird der von Hippel-Lindau Gentest überwiegend von Menschen mit voller Selbstbestimmungsmöglichkeit durchgeführt, i.e. die Person wird selbständig entscheiden können, einem Test zuzustimmen.
Ein Großteil der gegenwärtigen Aufregung um die Genteste entstand durch die fehlende Möglichkeit,
die positive Gewissheit um eine Krankheitsprädisposition in einer Vorerkrankungsphase zum Vorteil
des Probanden / Genträgers umzusetzen. Fehlt eine therapeutische Option in dieser sogenannten
präsymptomatischen Periode, ist der Gentest nahezu nur unter wissenschaftlichen Fragestellung als
sinnvoll anzusehen. Oft wird der Proband mit Recht seinen Anspruch auf Nichtwisen wahrnehmen
wollen. Anders beim von Hippel-Lindau Syndrom: hier dürfte sich keine diesbezügliche Problematik
ergeben, da es nach dem Vorliegen des Gentestergebnisses eindeutige klinische VorsorgeUntersuchungsprogramme gibt, die eine sinnvolle Anwendung des Mehrwissens gewährleisten.
Wenn auch eine definitive Heilung des von Hippel-Lindau Syndroms heute noch nicht möglich erscheint, so ist doch durch frühes Erkennen von beginnenden Tumorbildungen der beste heutige An-
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
satz für eine Verbesserung der Lebensqualität durch gezielte Vorsorgemaßnahmen gegeben. Dies
macht einen Gentest bei kinisch gesichertem Verdacht auf ein von Hippel-Lindau Syndrom heute zu
einem grundsätzlich sehr sinnvollen Test. Wegen der oben aufgeführten Komplexizität des Sachzusammenhänge (Interpretation des Testergebnisses) erscheint eine genetische Beratung als sehr
sinnvoll. Hier können die einzelnen oben angesprochenen Punkte, wie Testindikation, Eindeutigkeit
des Testes, Testinterpretation etc. geklärt werden.
PD Dr. med. H. Jochen Decker, Med. Direktor, Geschäftsführer Bioscientia Institut,
Konrad-Adenauer Strasse 17, 55218 Ingelheim, Tel. 06132 781 133, Fax 06132 781 262
decker.jochen@bioscientia
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Mai/2001; Heft 2; Jahrgang 2
Tumorsuppressorgene und die Zwei-Schritt-Theorie der Karzinogenese
Von Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Hiltrud Brauch
Leiterin des Onkologischen Schwerpunktes am Dr. Margarete Fischer-Bosch Institut für Klinische
Pharmakologie, Stuttgart und Mitglied der Fakultät für Medizin der Universität Tübingen
Tumoren entstehen infolge des Verlustes einer kritischen biologischen Funktion in einer Zielzelle und
die daraufhin ausgelöste vermehrte Teilung der geschädigten Zelle. Der Funktionsverlust basiert
auf einer Schädigung des Erbgutes (Genom). Das Genom jeder menschlichen Zelle ist diploid und
auf 22 Autosomenpaaren sowie zwei Geschlechtschromosomen angeordnet. Jeweils 22 Autosomen
und ein Geschlechtschromosom werden vom Vater und von der Mutter geerbt. Alle Körperzellen enthalten den gleichen Chromosomensatz. Auf diesen Chromosomen liegen auch die Gene, die für eine
normale Zelldifferenzierung und Zellteilung notwendig sind. Diese heißen Tumorsuppressorgene, weil
die normale Funktion ihrer Produkte das Tumorwachstum unterdrückt. Aus einer normalen Zelle entsteht dann eine Tumorzelle, wenn beide homologen (am gleichen Genort liegend) Kopien eines Tumorsuppressorgens inaktiviert werden. In bezug auf eine Körperzelle erfolgt die Inaktivierung der beiden Genkopien gemäß eines rezessiven Mechanismuses.
Diese Theorie kann die Onkogenese (Krebsentstehung) sowohl der hereditären (erblichen) als auch
der sporadischen (nicht erblichen, d. h. spontan entstehenden) Tumoren erklären. Die hereditären
Tumoren unterscheiden sich von den nicht-hereditärren Tumoren im Zeitpunkt des Erwerbs der Mutationen. In den hereditären Tumoren liegt die erste
Mutation bereits in der Keimbahn vor, d.h. in allen Zellen des Organismuses. Ein Tumor entwickelt
sich dann, wenn eine zweite, somatische Mutation in einer oder mehreren dieser Zellen erfolgt. In
sporadischen Tumoren finden beide Mutationen in einer Körperzelle statt. Charakteristisch für die
hereditären Tumoren ist das frühere Auftreten der Erkrankung im Vergleich zu den sporadischen Tumoren. Dies ist erklärlich, da die Zeit zum Erwerb einer somatischen Mutation kürzer ist als die Zeit
zum Erwerb von zwei somatischen Mutationen. Daher treten erbliche Tumoren meistens früh, d. h. in
der ersten Lebenshälfte und sporadische Tumoren spät, d. h. im allgemeinen erst in der zweiten Lebenshälfte auf. Die Bedeutung dieser Zwei-Schritt-Theorie liegt darin, dass der gleiche Mechanismus
einer Tumorsupressorgeninaktivierung sowohl die Entstehung erblicher als auch nicht erblicher Tumoren erklären kann. Die sporadischen Tumoren sind also die zellulären Äquivalente der hereditären
Tumoren.
Historisch betrachtet wurde die Zwei-Schritt-Theorie mit Hilfe von drei unterschiedlichen Denk- und
experimentellen Ansätzen abgeleitet. Diese basierten auf zellbiologischen, molekulargenetischen
und epidemiologischen Ansätzen wie z.B Studien über die somatischen Zellhybride aus Tumor- und
Normalzellen, die Studien über den Verlust der Heterozygotie in Tumoren (loss of heterozygity, LOH)
und die Studien über die genetische Prädisposition eines Tumorrisikos bei Familien mit familiär gehäuften Tumorerkrankungen. Sowohl die LOH- als auch Familienanalysen basieren auf der Möglichkeit zur Unterscheidung der elterlichen bzw. homologen Allele, was erst mit Hilfe moderner molekulargenetischer Techniken gelang. Ein Meilenstein hin zu diesem Fortschritt war die Entdeckung der
DNA-Polymorphismen in den späten 70er Jahren.
Der Nachweises polymorpher Allele im Erbgut von Mitgliedern belasteter Familien im Rahmen molekulargenetischer Familienanalysen führte 1986 zur Identifizierung des ersten Tumorsuppressorgens
RB1, das für die Retinoblastomerkrankung (erbliche und nicht-erbliche Augentumoren) verantwortlich
ist. Damit war die Richtigkeit der Zwei-Schritt-Theorie unter Beweis gestellt. Angewendet auf andere
familiäre Tumorerkrankungen wurden in der Folge weitere Tumorsuppressorgene entdeckt., darunter
auch das VHL-Gen, das wie RB 1 exakt einer Zwei-Schritt Inaktivierung folgt. Es wurde 1993 in einer
Gemeinschaftsleistung zweier amerikanischer Arbeitsgruppen unter Leitung von Dr. Berton Zbar und
Dr. Michael I Lerman am Amerikanischen Nationalen Krebsforschungsinstitut (National Cancer Institute Frederick, MD, USA) entdeckt.
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
VHL-Rundbrief Aug./2000; Heft 3; Jahrgang 1
Umwelteinflüsse bei der Entstehung von Genschäden
Von Priv.-Doz. Dr. rer. nat. Hiltrud Brauch
Leiterin des Onkologischen Schwerpunktes am Dr. Margaret Fischer-Bosch Institut für Klinische
Pharmakologie, Stuttgart und Mitglied der Fakultät für Medizin der Universität Tübingen
Die Erforschung der vererbbaren von Hippel-Lindau Erkrankung hat in den letzten 10 Jahren erstaunliche Ergebnisse zu Tage gefördert. Die wichtigsten Ergebnisse sind:
 Die Identifizierung des VHL Gens
 Die Möglichkeiten der molekulargenetischen Diagnose der VHL-Erkrankung:
 Bestätigung der klinischen Diagnose (Symptome vorhanden)
 Präsymptomatischen Diagnose (keine Symptome vorhanden)
 Die Entdeckung, dass die Entstehung von Nierenzellkarzinomen in der Allgemeinbevölkerung (bei
nicht erblich belastete Personen) größtenteils auch auf das Konto von VHL-Genschäden gehen
 Die Beschreibung der biologischen Funktionen des VHL-Eiweißmoleküls als molekulares Verbindungsstück (Adaptor) in zellulären Regelkreisen
 Die Erkenntnis, dass ein Wegfall oder eine Behinderung der VHL-Adaptorfunktion viele physiologische Vorgänge stören kann. Als Folge davon treten Tumoren und die mit ihnen einhergehenden charakteristischen Merkmale wie unbegrenztes Wachstum, überschießende Gefäßneubildung und ein saures Gewebemilieu auf.
 Erste Anstrengungen zur Entwicklung von Therapien im Sinne der Unterdrückung von Gefäßneubildungen und der Neutralisierung des Gewebes können jetzt gezielt unternommen werden.
Obwohl es die Folgen der Störungen des Eiweißmoleküls sind, die dem Patienten Symptome und
Beschwerden bereiten, liegt der zugrundeliegende Defekt im VHL-Gen, das den Bauplan für das
VHL-Eiweißmolekül enthält. Das Eiweißmolekül ist nämlich nur dann defekt, wenn der Bauplan dafür
Fehler (Mutationen) enthält. Diese Fehler kommen „natürlicherweise“ vor, und machen sich dadurch
bemerkbar, dass z. B. manche Menschen an der von Hippel-Lindau Erkrankung und an der an einem
nicht vererbbaren (sporadischen) Nierenzellkarzinom erkranken. Derzeit wird geschätzt, dass es in
Deutschland ungefähr 2000 VHL Erkrankte gibt und jährlich ca. 8000 Patienten ein Nierenzellkarzinomen entwickeln. Wer an einem Tumorleiden erkrankt, d.h. welche Familie einen vererbbaren VHLGenfehler tragen oder welche Personen solche Genfehler im Laufe des Lebens erwerben, scheint
vom Zufall abhängig zu sein.
Heute glauben Wissenschaftler auf der Grundlage ihrer Beobachtungen und Ergebnisse fest daran,
daß das Geheimnis dieses „Zufalls“ zu ergründen ist. Sie vermuten einen Zusammenhang zwischen
der Entstehung von Genschäden und Einflüssen durch die Umwelt. Würde sich dies bestätigen so
könnten Tumorerkrankungen später vielleicht einmal (zumindest in einigen Fällen) vermeidbar sein.
Diesem Aufgabengebiet wurde daher im Rahmen der Krebsforschung hohe Priorität eingeräumt,
denn es gilt: vermeiden ist besser als heilen.
Dass Tumorerkrankungen und die mit ihnen verbundenen Genschäden vermeidbar sein können, ist
historisch und wissenschaftlich an Bespielen belegt. Eines dieser Beispiel sei hier kurz geschildert.
Im 18. Jahrhundert fiel einem englischen Chirurgen (P. Pott) auf, dass Männer ein hohes Risiko für
Hodenkrebs hatten, wenn sie den Beruf eines Schornsteinfegers ausübten. Nachdem diese Beobachtung publik gemacht worden war, empfahlen die Schornsteinfegergilden ihren Mitgliedern Vorsorgemaßnahmen in Form eines täglichen Bades zu treffen. In der Folge sank die Zahl der Erkrankten in Nordeuropa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eindrucksvoll. Erst viel später wurde mit Hilfe
der chemischen Analyse die krebserzeugende Substanz identifiziert. Schornsteinfeger der damaligen
Zeit waren hohen Dosen sogenannter polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe (PAH) ausgesetzt, die bei der Verbrennung von Kohle entstehen. Ein Vertreter dieser Molekülklasse ist das Benzo[a]pyren, das eigentlich für sich genommen nicht reaktiv (unschädlich) ist. Gelangt es jedoch z.B.
über die Atemwege oder die Haut in den Körper, muss es chemisch so verändert werden, dass es
wieder ausgeschieden werden kann. Für diesen Zweck verfügt der Mensch über eine ganze Batterie
von Enzymen, die diese molekularen Umwandlungen vornehmen können. Leider können im Rahmen
Vererbung und molekulargenetische Diagnostik
dieses Fremdstoffmetabolismus im Körper Karzinogene entstehen. Es sind diese Karzinogene, die
direkt für die schädigende Wirkung auf das Genom verantwortlich sind und Krebs verursachen. Vom
schon erwähnten Benzo[a]pyren, das auch im Zigarettenrauch vorkommt, weis man heute, daß es die
Ausgangssubstanz für eines der stärksten Karzinogene für den Menschen ist. Seine modifizierte
Form reagiert mit der Erbsubstanz in ganz spezifischer Weise, indem es bevorzugt mit Guaninen, einem der vier Bausteine der Erbsubstanz, in wechselwirkung tritt und Mutationen erzeugt.
Was hat das alles mit Schäden im VHL-Gen zu tun? Zunächst einmal überhaupt nichts, aber wir
können aus dieser Beobachtung lernen, dass uns eine hohe Krebsinzidenz im Zusammenhang mit
molekularen Auffälligkeiten wie das Auftreten einer bestimmten Genmutation oder eines bestimmten
Mutationsmusters in Tumoren Hinweise auf den Einfluss eines Karzinogens liefern kann. Diese Überlegungen haben uns inzwischen im Falle des Nierenzellkarzinoms weitergebracht. Denn 1995 wurde
bei einer bestimmten Gruppe von Personen ein vermehrtes Vorkommen von Nierenzellkarzinomen
beobachtet. Die Personen hatten gemeinsam, dass sie die gleiche berufliche Tätigkeit ausübten. Im
Rahmen ihrer Tätigkeiten hatten sie mit sehr hohen Dosen eines organischen Lösungsmittels mit dem
Namen Trichloräthylen zu tun, das industriell zu Reinigungszwecken wie z. B. der Entfettung von Metallen eingesetzt wurde. Entsprechend dem Kenntnisstand der damaligen Zeit (50er bis Mitte der
70ger Jahre) wurden für diese Arbeiten keine besonderen Schutzvorkehrungen getroffen, so dass
diese Personen im Rahmen ihrer Tätigkeit das Lösungsmittel einatmeten oder direkt mit ihm in Hautkontakt kamen.
Das archivierte Tumorgewebe der am Nierenzellkarzinom erkrankten Patienten konnte vor kurzem
modernen molekulargenetischen Analysen unterzogen werden. Es wurde erwartet, dass diese Tumoren, wie es für Nierenzellkarzinome typisch ist, Mutationen im VHL Gen aufweisen werden. Die
Überraschung war jedoch, dass übermäßig viele und auch bestimmte Mutationen, ähnlich wie im
oben geschilderten Beispiel, in diesen Tumoren zu finden waren. Da diese Patienten keine weiteren
auffälligen Expositionen hatten, musste der molekulare Befund mit der hohen Trichloräthylenexposition in Verbindung gebracht werden. Ergänzend ist zu erwähnen, dass auch Trichloräthylen per se
nicht schädlich ist, daß es jedoch über die Atmung und Hautkontakt in den Körper gelangt und in ausscheidbare Produkte verwandelt wird. Dies geschieht zum Teil in der Niere, wo direkt vor Ort das
vermeindliche Karzinogen gebildet wird. Wenn es im Nierenepithel zur Schädigung des VHL-Gens
kommt, dann, so haben uns eine Reihe von Forschungsarbeiten gezeigt, entsteht Nierenzellkrebs. –
Der Kreis ist geschlossen.
Welche praktischen Bedeutungen haben diese Befunde für VHL belastete Familien und Personen?
Ob eine Trichloräthylenexposition bei der Enstehung einer familienspezifischen Mutation beteiligt war,
wird retrospektiv und im einzelnen nicht zu ergründen sein. Da aber VHL-Genträger schon mit einer
genetischen Prädisposition behaftet sind und die Entstehung von Tumoren auf der Grundlage einer
zweiten Genschädigung entsteht, muß der Zeitpunkt des „Erwerbs“ der zweiten Genschädigung so
lange wie möglich hinausgezögert werden. Aus diesem Grund müssen grundsätzlich alle Gefahren
vermieden werden, die eine somatische VHL Mutationen auslösen könnten. Nach heutigem Kenntnisstand gehört das Lösungsmittel Trichloräthylen zu den Substanzen, die in der Niere somatische
VHL-Genschäden hervorbringen können. VHL-Genträger sollten daher den Umgang mit hohen Dosen dieses Lösungsmittels meiden.
Ref. Hiltrud Brauch, Gregor Weirich, Maria Anna Hornauer, Stephan Störkel, Thorsten Wöhl, Thomas
Brüning Trichloroethylene Exposure and Specific Somatic Mutations in patients with renal Cell Carcinoma Journal of the National Cancer Institute 91:854-861, 1999

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